TOT EN T ANZNR.5/TOTENTANZR FÜNF TOTENTANZ
№
ES 5
INHALT
VORWORT S.05_DER TOTENTANZ S.11_„EVERYBODY :TANZ MIT DEM TOTENTANZ” S.33_ZYKLUS S.45_SCHRIFTREIHEN S.54_MIT: ECKEHARDT KLEINE / ANTONIA SPOHR / CSH / ELVIRA LAUSCHER / PETER ZWEY / SUNNY ERIKSONDEAD POEMS S.77_MIT: GÜNTER HESS/ MARCO KERLER /ANDREAS GRYPHIUS_KOLUMNE S.87_ULMORBID S.89IMPRESSUM S.93_BILDBEITRÄGE VON MARK KLAWIKOWSKI UND TUXURAN
BASLER TOTENTANZ
JOHANN RUDOLF FEYERABEND
05
–06
6
11
5
»EIN VORWAND, DAS WELTENGE-SCHEHEN UN-TER DER HIM-MELSKUPPEL. WAS BLEIBT AUF EWIG BESTIMMT ALLEIN NUR, DAS SCHÖNE WORT.« [FREI NACH EINER WEISHEIT
AUS DER TÜRKISCHEN DIVAN-LITERATUR]
ES
nein wirklich; dies ist und soll nicht die
erste ausgabe dieses jahres sein. ansatz-
punkte sind die reinste anmaßung. gibt
es überhaupt „die stunde null“? viel-
leicht sollte man tatsächlich anfangen,
die gegenwart einem weit gespannte-
rem zeitkontinuum entgegenzustellen
und die dinge in dessen angesicht zu
betrachten. schließlich ist es letztend-
lich die weitsicht und das bewusstsein
der vorangeganenen jahrtausende und
das darin enthaltene wissensgeflecht,
das uns zu besseren menschen machen
kann. jedoch: schreiten wir mit den jah-
ren wirklich etwa voran oder stagnieren
wir immer mehr in einer zeitschleife und
begehen dieselben fehler wie andere
kulturen vor ihrem zerfall? die dinge
werden nicht wahrer, wenn sie es vor-
her nicht schon waren. man vernimmt
dieselben klagen: die gleichen imperien,
die gleichen rebellen. was sich ändert,
sind lediglich die namen, die in stein
gemeißelten oder auf papyrus geschrie-
benen hieroglyphen oder eben heutige
schlagzeilen. bedarf es etwa einer neu-
en grundidee ...? wohl kaum, weil alles
wissen schon „ist“. was jedoch zu sagen
bleibt, ist die tatsache, dass die großen
geister, wenn überhaupt, leider nur zi-
tiert werden. man versteckt sich doch
tatsächlich allzu gern hinter namen, fern
davon, sie gewissenhaft in unsere zeit
zu retten und zu übersetzen. es scheint
manchmal sogar, je weiter wir uns vor-
an bewegen, umso vergangenheitsorien-
tierter werden wir. also bleibt die frage
offen: entwickeln wir uns weiter? oder
verstehen wir es nur, uns besser von der
misere abzulenken? wir ignorieren sogar
unsere ignoranz gegenüber der restli-
chen welt. wir führen zum beispiel krieg.
wir, das gezeichnete kind. die tatsache
verneinend, dass es keinen feind gibt.
und wer in gottes, kants oder lessings
namen hinterfragt? ablenkung scheint
das große stichwort zu sein. ablenkung,
indem wir uns vorgekaute, multimediale
identitäten aneignen, um damit unsere
existenzberechtigung zu nähren. schiller
sagte es, und doch verfangen wir uns.
sind nicht kind, sondern sklave unserer
zeit. eine mondäne gesellschaft ist ledig-
lich zu einem begriff abwegiger schmud-
del-literatur verkommen. „das wort als
die manifestation der geistesgröße“, wie
VORWORT
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es hesse zu sagen pflegte, scheint wie
eine virulente krankheit mit anglizismen
zerfressen zu werden. da niemand posi-
tion und zum „wort“ stellung bezieht,
besteht somit auch keine freiheit, ledig-
lich ein unterschied in der unfreiheit. die
menschheit im kollektiv kann frei sein,
nicht aber der einzelne mensch. man
wägt sich dennoch frei und in sicherheit,
weil die stadtwerke ulm salz und kies
auf den glatten asphalt streuen. dabei
sollte man als anständiger bürger dar-
auf bestehen, auszurutschen, zu stürzen.
dem nullpunkt entgegen zu lechzen. den
kontrabass imitierend, jenes instrument,
durch dessen gegenwart jede symphonie
erst an fallhöhe und tiefe gewinnt. den
raum öffnend. wie kann man also die
zügellose ambivalenz verstehen, ohne
auf raucherzimmer in anstalten ange-
wiesen zu sein? vielleicht sollte man al-
les verneinen. sich den umständen und
sich selbst gegenüber entfremden, bis
hin zur selbstverleumdung - sich zu-
mindest nicht allzu ernst nehmen. man
nimmt sich doch zu sehr wichtig in an-
betracht der tatsachen. schlichtweg: sich
hinsichtlich der egozentrik abtöten, um
erst dadurch den dingen klarer in die
augen sehen zu können. ein verweis
auf die zen-philosophie ist unumgäng-
lich: „leere und schweigen gehören zum
tun des erwachten". im schatten dieser
erkenntnis liegt der altruismus nahe.
verzicht auszuüben. fern von jeglichem
anspruchsmandat. loszulassen, um sich
somit wahrhaftig für immer einzufan-
gen.
ES’sche grüße,
wir freuen uns.
ES 5
ALBRECHT DÜRER-DIE APOKALYPTISCHEN REITER
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NR.5/TOTENTANZ
11
–12
s wird angenommen,
dass der Mensch das
einzige Lebewesen ist,
das sich seiner Sterb-
lichkeit bewusst ist.
So hat er sich zu allen
Zeiten und in allen
Kulturen mit dem Tod beschäftigt und da-
bei rationale Einsichten gesucht, aber auch
zahlreiche Phantasiebilder hervor ge bracht.
Im Mithraskult wurde der Tod als Schwelle
in eine bessere Welt angesehen. Das frühe
Judentum bis zum Propheten Daniel
(um 160 v. Chr.) sah in dem Tod das ab-
solute Ende: »Ob ich gleich lang harre, so
ist die Unterwelt mein Haus. Die Verwesung
heiße ich meinen Vater und die Würmer meine
Mutter und Schwestern.« (Hiob 17, 13f).
Im Buddhismus ist der Tod der Eingang
in das leidensfreie Nirwana.
Platon1 betrachtete den Tod als Trennung
zwischen Leib und Seele. Dieser Zustand
war für ihn ein Ideal, nach dem die
Philosophen im Diesseits streben,
wenn sie die reine Erkenntnis suchen,
die losgelöst von den Körpern ist.
Epikur 2 soll von einem vollständigen Ge-
gensatz zwischen Leben und Tod ge-
sprochen haben: »Mit dem Tod habe ich
nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist
er, bin ich nicht.« Seiner Lehre zur Folge
zerstreuen sich die Seelenatome wie die
Atome des Leibes, wenn der Mensch
stirbt. Die Seele als solche lebe nicht weiter.
In der Existenzphilosophie hat Søren
Kierkegaards 3 den Tod als Endpunkt
der Krankheit angesehen. Karl Jaspers
sah den Tod als »Grenzsituation des Lebens
schlechthin« 4 und Ernst Bloch rätselte:
»Zwar wir leben, aber wissen nicht wozu.
Wir sterben und wissen nicht wohin.« 5
1 Platon (427–347 v. Chr.):
Kernstück seiner Philosophie ist die
Ideenlehre, nach der die sinnlich
wahrnehmbare Welt einer unsichtbaren
Welt der Ideen nachgeordnet ist.
2 Epikur (341–270 v. Chr.): Ausgehend
von der Annahme, dass sich die Seele wie
der Körper mit dem Tode auf löst, ent-
wickelte er eine auf das Diesseits bezogene
hedonistische Lehre, die eine Seelenruhe
(Atarxie) zu Lebzeiten als Ziel formuliert.
3 Søren Kierkegaard
(1813–1855): dänischer Philosoph
und Theologe, der vielfach als ers-
ter Existenzphilosoph gilt.
4 Karl Jaspers (1883–1969):
in: »Philosophie II«, S. 203.
5 Ernst Bloch (1885–1975),
in: »Geist der Utopie«,
(München, 1918), S.143
1. Überblick
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
Für Jean-Paul Sartre 6 bricht der Tod
von außen in das sich Entwerfende und
in seine Möglichkeiten realisierende Sein
des Menschen ein. Der Mensch erfährt nie,
ob sich das Universum um ihn herum so
verändert hat, dass der Tod näher gerückt
ist oder sich entfernt hat. Tod ist für ihn
Schicksal, die »Enthüllung der Absurdität
jedes Wartens«. »Wenn wir sterben müssen, hat
unser Leben keinen Sinn, weil seine Probleme
ungelöst bleiben und weil sogar die Bedeutung
der Probleme unbestimmt bleiben.« 7 Da der
Tod außerhalb der Möglichkeiten des
Subjektes liegt, ist er die äußere faktische
Grenze der Subjektivität, er liefert den
Menschen einer objektiven Bedeutung aus.
Auch Albert Camus (1913–1960) betrach-
tete die Gewissheit des Todes als auch
die Existenz als eine Erfahrung der Ab-
surdität. Er beschreibt den Menschen als
ohnmächtig und versucht in der Erfah-
rung des Absurden einen Sinn zu sehen,
der letztlich vom Tod zerstört wird.
Sigmund Freud 7 spekulierte über einen
Todestrieb, der das Leben zurück in einen
unbelebten, starren Zustand führen wolle.
Es müsse »[…]außer dem Trieb, die lebende
Substanz zu erhalten und zu immer größeren
Einheiten zusammenzufassen, einen anderen, ihm
gegensätzlichen geben, der diese Einheiten auf-
zulösen und in den uranfänglichen, anorganischen
Zustand zurückzuführen strebe.« Freud nahm
an, dass dieser Trieb »[…]stumm im Inneren
des Lebewesens an dessen Auflösung arbeite.«7.
Dieser Thanatos genannte Trieb arbeite dem
Eros entgegen. Freud sah den Todestriebes
in Formen des Sadomasochismus und in
extremen Zuständen der Selbstzerstörung,
Psychosen und Autismus sichtbar werden.
Er verstand diesen Trieb nicht im biolo-
gischen Sinne, sondern beschrieb ihn
gerade als für gewöhnlich stumm und
unsichtbar. Für Freud ist das Ziel
allen Lebens der Tod. Das Unbewuss-
te hielte sich für unsterblich, muss sich
aber im Bewusstsein seiner Selbsterhal-
tung Destruktivität und Aggressivität
als Folgen des Todestriebes erwehren,
sie verleugnen oder vermeiden. Er stell-
te die Hypothese auf, dass daher nur die
Aggressionen des anderen, aber nicht
des Selbst erkannt werden könnten.
Carl Gustav Jung betrachtete das Leben als
Prozess zur Individuation, den Bewußt-
werdungsprozess, nicht nur als eine Schule
des Lebens, sondern eine Vorbereitung auf
den Tod. Diese Vorbereitung ist bei ihm
keine ohnmächtige Fügung, sondern ein
sich-hingeben. »Nur das ist schwierig, sich zu
lösen, nackt zu werden und leer von Welt und
Ich-Willen. Wenn man den rasenden Lebenswillen
aufgeben kann, und wenn es einen vorkommt, als
fiele man in bodenlosen Nebel, dann beginnt das
wahre Leben mit allem, wozu man gemeint war,
und was man nie erreichte. Das ist etwas unaus-
sprechlich Großes.« 8. Den Sinn des Lebens
sah Jung in der stetigen Erneuerung aus
dem Alten, dem Wechselspiel aus Werden
und Vergehen. Jeder Mensch geht dabei
seinen eigenen Weg: »[…]der Tod ist ein treuer
Begleiter des Menschen und folgt ihm als seinen
Schatten. Man hat noch einzusehen, wie sehr
Lebenwollen = Sterbenwollen ist.« Im Jenseits
des Lebens sah Jung eine Fortsetzung in
einer Art Totenland, denn »[…]das Leben der
Psyche bedarf keines Raumes und keiner Zeit.«
6 Jean-Paul Sartre (1905–1980)
in: »Das Sein und das Nichts. Versuch
einer phänomenologischen Onto-
logie« (Hamburg 1993), S.920/928
7 Sigmund Freud (1856–1939):
in: »Das Unbehagen der Kultur« ,
(Frankfurt, 1994), S. 82
8 Carl Gustav Jung (1875–1961)
in: »01.02.45, Briefe I«, S. 56
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
13
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Der Ethnologe Ernest Becker führte Ge-
danken von Kierkegaard, Freud und
anderen über den Umgang mit dem Tod
in »Die Überwindung der Todesfurcht« fort.
Er beschreibt darin die Verdrängung des
Todes über das Konzept des Heldentums.
Zunächst beschreibt er einen Narzissmus
als »Überbleibsel« der animalischen Natur
des Menschen, der ihn dazu bringe, sich
selbst für unentbehrlich zu halten. Die
Gesellschaft stelle dabei ein symbolisches
Handlungssystem mit Rollen, Sitten und
Verhaltensregeln bereit, die dem Men-
schen dazu diene, sich zu »verwirklichen«.
In diese kleine Heldenrollen eingebettet,
die dem Dasein einen vermeintlichen Sinn
geben, lernt der Mensch»[…]sich nicht zu
exponieren, nicht aufzufallen, sich einzubetten
in äußere Mächte sowohl konkreter Personen
als auch kultureller Anforderungen[…]« 9 .
Auf der Grundlage von »Die Überwindung der
Todesfurcht« und Sigmund Freud ent-
wickelten Solomon, Greenberg und
Pyszczynski 1980 die »Terror Management
Theory«. In dieser ist die Erinnerung an
den Tod eine psychische Form des Ter-
rors, den ein Individuum zu vermindern
suche. Dabei hilft die Kultur, indem
sie Sinn und Kontinuität stifte. Werden
Menschen unmittelbar an ihre Sterblich-
keit erinnert, so hielten sie sich enger an
ihre kulturellen Werte und politischen
Führer. Die Theorie erhielt erhöhte Auf-
merksamkeit durch die Anschläge vom
11. September und der Wiederwahl von
George W. Bush und Tony Blair.
9 Ernest Becker (1925–1974) in:
»Die Überwindung der Todesfurcht«,
(»The Denial of Death«, Olten, 1985), S. 49
TOTENTANZ
eben der religiösen,
literarischen und
wissenschaftlichen
Beschäftigung mit dem
Tod gab es schon in der
Antike Versuche einer
Darstellung. Der Tod
an sich ist nicht darstellbar, nicht erfahr-
bar und nicht nachvollziehbar. Er entzieht
sich jeder näheren Betrachtung. Das
Phänomen Tod wird ausschließlich über
Begleiterscheinungen sichtbar, wie einer
geraden, durchgezogenen Linie auf einem
ekg-Monitor, Totenflecken, Leichenstarre,
Verwesungsprozesse, also über Anzeichen
der Erlöschung der Lebensfunktionen.
Semiotisch 10 betrachtet sind diese Zeichen
Indizes und der Tod tritt nur über diese in
Erscheinung. Ein Index ist ein direkter auf
Erfahrung beruhender, physikalischer
Verweis auf etwas anderes. Beispielsweise
ist eine Rauchfahne am Himmel ein Index
für einen Brand oder ein grünes Flucht-
wegschild ein Index für einen Notausgang.
Im folgenden wird die Zusammensetzung
eines Zeichens beleuchtet, die Besonderheit
des Todes auf der Darstellungsebene
weiter herausgestellt und schließlich ein
Versuch einer Anwendung dieser Überle-
gungen auf die Totentänze unternommen.
Kernstücke eines Zeichens in der Semiotik,
ausgehend von Ferdinand de Saussure
(1857–1913) sind Signifikant, Signifikat und
Referent, die an den Ecken des so genannten
Semiotischen Dreickes 11 angeordnet werden.
Der Signifikant [»le signifiant«] ist nach
Sassure der materielle Zeichenträger,
das Bezeichnende, die Zeichenfolge t-o-d
oder auch die Figur Gevatter Tod in ihrer
konkreten Darstellung. Diese Zeichen ver-
weisen auf eine bestimmte Vorstellung oder
Sache, auf die Inhaltsseite des Zeichens,
die Signifikat [»le Signifé«] genannt wird.
Der Mensch hat sich demnach einen Begriff
von etwas gemacht und um diesen Begriff
zu kommunizieren, eine Bezeichnung
vereinbart; hier in Form von Wörtern,
Phonetik der Sprache oder durch gemalte
Darstellungen z.B. auf einer Wand, wie bei
den frühen Totentänzen des Mittelalters.
Der Referent als dritter Teil des Zeichens ist
das Objekt oder der Sachverhalt in der Re-
alität, worauf über Signifikant und Signifikat
Bezug genommen wird. Es ist der Teil des
Zeichens der die Bildung eines Begriffs
erst motiviert, der über eine Bezeichnung
kommuniziert wird. Der Referent enthält
als reales Objekt keine mitschwingenden
(sprachlichen) Neben-bedeutungen,
sondern ist nur das »Ding« als solches.
Denotation 12 und Konnotation 13 als Be-
standteile eines Zeichens erfüllen entspre-
chend wichtige Funktionen im Zeichen.
Beispielsweise ist das Wort »Abendstern«
zunächst eine Folge von Zeichen. Das Wort
selbst ist der Signifikant. Es bezeichnet das,
was wir uns unter Abendstern vorstellen,
in diesem Fall einen Himmelskörper. Die
Vorstellung von Abendstern ist das Signifikat.
Herausgehoben wird neben der Denotation
»Venus« eine Eigenschaft der Venus, kurz
nach Sonnenuntergang am Firmament zu
erscheinen (Konnotation). Hinter dieser
Vorstellung steht der Referent »Venus«, der
Planet als solcher ohne jegliche Konno-
tation. Die Venus als »Morgenstern« hebt
eine andere Eigenschaft heraus, verweist
jedoch auf den selben Referenten Venus.
Der Referent ist selbst eine Form des Signifikats,
das selbst nicht mehr weiter abgeleitet
werden kann. Es ist das »letzte« Signifikat,
entsprechend ein »reines« Denotat . Vorstel-
lungen sind jedoch nicht an »Vorhandenes«
gebunden, auch das Nicht-Vorhandene kann
als »Lücke« zu einem imaginären Objekt
10 Semiotik [griech. techne semeiotike,
»Lehre von den Kennzeichen«]
11 Semiotisches Dreieck: Vorläufer
des Dreierschemas in der Semiotik f inden
sich in der Sprachphilosophie der
Scholastik, in res, intellectus und vox.
In der Literatur des 19. und 20. Jhd.
tauchen verschiedene Dinge unter
der Bezeichnung S. D. auf. Die Ecken
des Dreiecks sind dabei jeweils anders
bezeichnet. In Gebrauch sind u. a. Begriffe
wie Extension [Signif ikant] und Intension
[Signif ikat], oder nach Gottlob Frege:
Begriff [Signif ikant]und Sinn [Signif ikat].
12 Denotat, Denotation
[lat. denotatum »das Genannte«]: ist ein
Gegenstand oder Sachverhalt, der sich
im Gegensatz zum Konnotat in der außer-
sprachlichen Wirklichkeit unabhängig von
jeder Emotion mit einem Bild verbindet.
13 Konnotat, Konnotation:
Nach John Mill: »wenn es außer einem
Gegenstand auch eine seiner Eigenschaften
bezeichnet«.K. [lat. connotare »mit
bezeichnen«] ist der Wortinhalt neben dem
rein begriff lichen Inhalt (Denotat), der
emotionale Begleitvorstellungen trägt.
2. Zeichen des Todes
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
15
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TOTENTANZ
der Realität werden: Es sind Zeichen ohne
Referent. Sie verweisen auf die Leere, das
Abwesende, das Paradoxe, das Hypothe-
tische. Sie finden sich in Bereichen der Ma-
thematik, Physik, Philosophie und Religion.
Beispiele sind das Nichts, Null, Vakuum oder
die Leere. Der Tod lässt sich in diese Reihe
stellen. Sein Charakteristikum ist gerade
die Abwesenheit der Lebensfunktionen,
die bei einem Lebewesen erwartet werden.
Dieses spannt den Bogen zu den genann-
ten Indizes des Todes: Sie verweisen auf das
nicht (mehr) Vorhandene. Es sind Indizes die
ins Leere, ins Nichts führen, an die Stelle
verweisen, an der sich vormals das Leben
geäußert hat. Es wird damit anschaulich,
wie sich Vorstellungen um den Dualismus
aus Körper und Seele herausgebildet
haben könnten: Das Leben verschwindet
aus dem Körper und hinterlässt genau-
genommen eine leere Stelle und wirft die
Frage auf, wohin das Leben gegangen ist.
Die Idee des Nichts als Tod wird auch in einigen
Bildern der Popkultur aufgegriffen. Sie
zeigen eine Gestalt, die in der Kostümie-
rung und mit Sense ausgestattet an den
mittelalterlichen Sensenmann angelehnt
ist. Unter der Kapuze klafft eine schwarze
Leere, an deren Stelle in den traditionellen
Darstellungen der Totenschädel ist. In
dieser Form wird das Unsichtbare, Nicht-
vorhandene durch die übergeworfene
Kapuze zu etwas Sichtbaren, Vorhandenen
gewandelt. In gewisser Weise ist darin
der Vorgang des Be-zeichnens enthalten, der
durch die Erfindung eines Zeichens für
»Nichts« das Nichts in etwas scheinbar
Vorhandenes umwandelt, es damit bannt
und kontrollierbar macht. Diese Bannung
des Todes durch Bezeichnung in Form
von Darstellungen erfüllte für die Men-
schen im 14. Jahrhuntert im Angesicht
der Pest eine wichtige Funktion. Der Tod
als konkretes Wesen, das in das Leben
der Menschen eingreift, ist ein Haupt-
merkmal der klassischen Totentänze.
Unter dem Einfluss der Epikuräer fand das
Skelett als Todessymbol bereits Eingang in
die Darstellung. Anders als in der mittelal-
terlichen Symbolik stand es für die Erinne-
rung an die Verstorbenen und mahnte dar-
an, den Tag zu nutzen (gemäß »Carpe diem«).
Das aufkommende Christentum verdrängte
zunächst die Darstellung des Todes. Eine
explizite Todessymbolik war im frühen
Christentum noch nahezu unbekannt.
Erst um etwa 1000 n. Chr. Initiierte die
klösterliche Erneuerungsbewegung eine
Veränderung des Verhältnisses zum Tod,
das sich in gesteigerter Frömmigkeit und
Heilsangst und in der intensiveren Ausein-
andersetzung mit dem jüngsten Gericht
und der Macht des Teufels niederschlug.
Die Darstellungen des Todes im Christentum
erhielten möglicherweise mit der Forderung
des Konzils 14 von Konstantinopel im
10. Jahrhundert, das Göttliche vermensch-
licht dazustellen, einen entscheidenden
Vorschub. Im Kontext des sich verän-
dernden Umgangs mit dem Glauben ging
daraus ein Wendepunkt der Theaterkultur
hervor. In Passions- und Mirakelspielen um
die zentralen christlichen Feste Weihnach-
ten und Ostern erschien das »Göttliche«
durch Schauspieler personifiziert auf der
Bühne. Neben anderen betreten Tod und
Teufel nun die Bühne als handelnde Wesen.
ugleich besteht zwi-
schen dem Tod an sich
auf der einen Seite
und seinen verschie-
denen Zeichen, die auf
»ihn« verweisen, wie
z.B. den Buchstaben
t-o-d, der personifizierten Gestalt in den
Darstellungen oder als Laut der Sprache
auf der anderen Seite kein zwingendes
Verhältnis. Es handelt sich bei allen Zeichen
des Todes immer um Symbole. Ein Symbol ist
ein Zeichen, bei dem zwischen Signifikant
und Signifikat ein arbiträres, auf Konven-
tionen beruhendes Verhältnis besteht.
Das bedeutet, dass das Bezeichnete durch
ein beliebiges Zeichen bezeichnet wird,
auf das sich die Kommunzierenden geei-
nigt haben. Grundsätzlich kann der Tod
als Symbol also jede Gestalt annehmen.
Entsprechend verwenden andere Sprachen
andere Zeichen oder Zeichenfolgen, die
dasselbe bezeichnen. Der Tod begegnet
uns in seiner ikonografischen Geschichte
auch dadurch in vielen Gestalten.
In der griechischen Kunst der Antike unter
dem Einfluss Platons wird das Problem
der Darstellungsweise des Todes umgan-
gen, indem statt des Todes selbst der Gott
des Todes Thanatos dargestellt wird, der
mit dem Tod gleichgesetzt wurde. Hesiod
beschreibt Thanatos als Gott der »ein eiserners
Herz« hat und einen »ehernen, erbarmungslosen
Sinn« zeigt. Er wird als Jüngling mit einer
nach unten gerichteten Fackel gezeigt.
Er trägt äußerlich keinerlei Anzeichen
des Todes. Sein Zwillingsbruder Hypnos
(Gott des Schlafes) hält seine Fackel nach
oben. Thanatos und Hypnos werden als
Paar vorgestellt. Das Merkmal der Fackel
erscheint gleichsam wie ein Kippschalter
mit zwei Zuständen: Schlaf, der Leben
spendet und Tod, der das Leben nimmt.
2.1 Geschichte des personifizierten Todes
14 Konzil [aus lat. concilium »Versamm-
lung«]: Versammlung von Bischöfen
und anderen hohen Vertretern der
katholischen Kirche zur Erledigung
wichtiger kirchlicher Angelegenheiten.
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
17
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Die später aufkommenden bildlichen Darstel-
lungen des Todes zeigen ihn zunächst
als eine Art Leiche, einen so genannten
Transi 15. Es lässt sich nur vermuten, dass die
Darstellung eines toten Menschen die Vor-
stellung erleichtert, dass es sich dabei um
den Tod selbst handelt. Um die Menschen
als Tote zu markieren, müssen sie sicht-
bare Indizes des Todes tragen, die auf das
nichtvorhandene Leben hindeuten. Im Falle
des Transi sind dies sichtbare Anzeichen des
Verwesungsprozesses, hagere Gestalten
mit eingefallenen Gesichtern, in Leichen-
tücher gewickelt und häufig mit Würmern
und Maden besetzt. Diese illustrative Dar-
stellung toter Menschen, die für den perso-
nifizierten Tod stehen und sie erst von den
daneben stehenden lebenden Menschen
unterscheidbar macht, wird zu einer Kons-
tante in den klassischen Totentänzen. Der
Tod wurde damit anthropomorphisiert 16.
Erst spätere Bilder zeigen den Tod als Ske-
lett, wobei das der Darstellung zugrunde
liegende Prinzip beibehalten wird. Es wird
hierbei ein anderes Stadium des toten
Menschen gewählt. Das Bild des Skeletts
wandelte sich weiter durch wiederent-
deckte genauere anatomische Kennt-
nisse. So wird der personifizierte Tod im
16. Jahrhundert als Spiegel seiner Zeit
anatomisch genauer gezeigt. Das Skelett
ist damit zu dem noch heute bekannten
ikonografischen Topos geworden, das
sich im Verlauf der Geschichte als Träger
weiterer Symbole entwickelte und damit
den Kontext seiner Zeit wiederspiegelt.
Der Tod mit der Augenbinde stellt sein gleich-
machendes, unterschiedloses Walten in den
Vordergrund. Das Motiv erschien vor allem
in der französischen Kathedralsplastik
des 13. Jahrhunderts in Paris, Reims und
Amiens. Eingerahmt wird der Tod von
einer Szene, die auf ein Gericht des Todes
über die Menschheit hindeutet. Die alle-
gorischen Bezüge der Augenbinde gingen
zunächst auf Fortuna und Amor über, später
und bis heute geläufig auf die Justitia 17.
Alfred Rethel 18 greift in seiner Holz-
schnittfolge »Auch ein Todtentanz / aus dem
Jahre 1848« auf die Darstellung der Justitia
mit Augenbinde, Waage und Schwert
zurück und überträgt Attribute wieder
auf den Tod: Im ersten Bild seiner Folge
sitzt die Justitia gefesselt im Hintergrund
und mehrere Gestalten überreichen dem
Tod ihre Waage und ihr Schwert. Auf dem
Marktplatz in folgenden Bildern hält er
die Waage am Zünglein statt am Ring.
Das Schwert übergibt er der Masse, die
er vorher vor einem Anschlag mit der
Aufschrift »Einigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit«
gegen die Monarchie aufgehetzt hat.
15 Transi [von lat. transire »vorüber-
gehen«]: spätmittelalterliche Darstel-
lung eines verwesenden Leichnams,
oft von Gewürm und Schlangen
durchwachsen, als Mahnung an die
Vergänglichkeit alles Irdischen (vgl.
Memento mori, Vanitas-Motive).
16 Anthropomorphismus
[altgriech. anthropos »Mensch« und
morphe »Form, Gestalt«]: Das Zuspre-
chen menschlicher Eigenschaften auf
Götter, Naturgewalten, Tiere etc.
17 Justitia [lat. Iustitia »Gerechtigkeit«]:
ist die römische Göttin der Gerechtigkeit
und des Rechtswesens. Als Allegorie wird sie
meistens als Jungfrau mit verbundenen Augen
dargestellt, die in einer Hand eine Waage,
in der anderen das Richtschwert hält. Dies soll
verdeutlichen, dass das Recht ohne Ansehen
der Person (Augenbinde), nach sorgfältiger
Abwägung der Sachlage (Waage) gesprochen
und schließlich mit der nötigen Härte (Richt-
schwert) durchgesetzt wird. Gelegentlich
wird sie auf einer Schildkröte stehend gezeigt,
womit symbolisiert werden soll, dass jedes
gründliche Verfahren seine Zeit braucht.
18 Alfred Rethel
(1816–1859) war ein deutscher His-
torienmaler der Spätromantik.
TOTENTANZ
Der Tod erhält damit Züge, die seine the-
matische Nähe zur Figur des Narren
und des Teufels betonen, die sich aus
der biblischen Genesis um die Erb-
sünde und aus der Theatergeschichte
des Mittelalters herleiten lassen.
Im Mittelalter wurde die Schlange, die zum
Verzehr der verbotenen Frucht verlei-
tet, mit dem Teufel gleichgesetzt. Über
den Sündenfall wird der Tod durch
den Teufel in die Welt gebracht.
Die mittelalterliche Narrenfigur wurde in
den Psalterillustrationen des 12. Jahrhun-
derts König David gegenübergestellt, der
sinnbildlich für den Glauben steht. Der
Narr steht ihm als Lästerer oder Spötter
des Glaubens gegenüber. Attribute wie der
Spiegel zeigen an, dass der Narr nur in sich
selbst verliebt ist und Gott nicht erkennen
kann. Mit der Säkularisierung des Thea-
ters übernimmt die Figur des Narren die
Rolle von Tod und Teufel als lästernde,
gottesferne Gestalt und wird ab dem
14. Jahrhundert selbst zum Sinnbild für die
Vergänglichkeit (Vanitas, siehe Kapitel 5.2)
und symbolisiert damit den Tod: Es war
eine Aufgabe des Narren, seinen Herren
an seine Sterblichkeit zu erinnern. Die
Bezeichnungen Schalk und Schelm und
Sprichwörter wie »Ein Schelm, wer böses dabei
denkt« kunden noch von dieser Verbindung.
In Rethels Totentanz zeigen sich die narren-
haften Züge in dem Versprechen von
»Einigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit«, die der Tod
nach Art eines Eulenspiegels19 wortwört-
lich meint. In Albrecht Dürers 20 Kup-
ferstich »Ritter, Tod und Teufel« (1513) wird
der Tod zum Mahner, der das physische
Ende, die Vergänglichkeit der Zeit darstellt.
Im Motiv der Vergänglichkeit mit Bezug auf
den Alltag der Menschen wurde der Tod
auch als Totengräber gezeigt, der auf eine
Schaufel gestützt am oder im Grab steht.
Das Motiv kam im französischen und
deutschen Kunstraum in Bilderserien im
14. und als Einblattdrucke im 15. Jahr-
hundert allmählich auf. Der Tod erhielt
das Attribut der Sanduhr, das ihm Eigen-
schaften des griechischen Chronos, dem
Gott der Zeit (auch der Lebenszeit) verleiht.
19 Till Eulenspiegel
war ein Narr (Gaukler) und Titelheld
eines mittelniederdeutschen Volks-
buches. Das Buch »Ein kurtzweilig
Lesen von Dyl Ulenspiegel, geboren uß
dem Land zu Brunßwick, wie er sein
leben volbracht hat…« wurde anonym
veröffentlicht. Die älteste erhaltene
Fassung stammt aus dem Jahr 1510/1511.
20 Albrecht Dürer
der Jüngere (1471–1528)
war ein deutscher Maler, Graf iker,
Mathematiker und Kunsttheoretiker
von europäischem Rang. Er war ein
bedeutender Künstler zur Zeit des
Humanismus und der Reformation.
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
19
–20
TOTENTANZ
Ein weit verbreitetes und das wohl bekann-
teste Gleichnis des personifizierten Todes
ist das des Schnitters. In den früheren
Formen hält der Tod eine Sichel. Durch
den Rückgang der Wälder wurde die Sichel
im 12. Jahrhundert allmählich und bis ins
16. Jahrhundert vollständig von der Sense
abgelöst. Diese Entwicklung vollzieht sich
ebenfalls im Symbol des Sensenmannes. In
der Vorstellung erntet der Tod das Leben
der Menschen wie die Halme des Getreides.
1350 schuf der Florentiner Buonamico
Buffalmacco 21 in der Camposanto 22 in
Pisa den berühmten Freskenzyklus
»Triumph des Todes« [»Trionfo della Morte«],
der in mehreren Episoden Szenen des
Jüngsten Gerichts und aus dem Leben
der heiligen Eremiten darstellt. Der Tod
erscheint geflügelt und senseschwingend
über einer Schar von Menschen.
Im Laufe der Jahrhunderte avancierte dieses
Motiv zu einem eigenständigen ikono-
grafischen Topos. Der »Triumphzug des
Todes« wird ausgehend vom Trecento und
Quatrocento 23 Gegenstand zahlreicher
Künstler, unter anderem bei Pieter
Brueghel dem Älteren 24, der in seinem
gleichnamigen Ölgemälde von 1562 den
Gedanken des »Mors Triumphator« mit
dem jüngsten Gericht verbindet. James
Ensor schuf 1896 eine Radierung, welche
die Szene des triumphierenden Todes in
die Stadt verlegt. In Arnold Böcklins
»Die Pest« (1898) reitet der Tod auf einem
geflügelten Ungeheuer durch die Straßen.
Mit dem Motiv des Mors Triumphators verwandt,
ist das Motiv des Todes als Reiter, wie es
bereits in der »Offenbarung des Johannes« [6,7f ]
beschrieben wird: »Und ich sah, und siehe,
ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen
Name war: Der Tod, und die Hölle folgte ihm
nach. Und ihnen wurde Macht gegeben über den
vierten Teil der Erde, zu töten damit Schwert
und Hunger und Pest und durch die wilden
Tiere auf Erden.« Der Tod ist neben Pest,
Krieg und Hunger einer der vier Reiter der
Apokalypse, wie sie in Dürers bekann-
ter Holzschnittszene »Die apokalyptischen
Reiter« von 1498 dargestellt sind. 21 Buonamico
Buffalmacco (um 1315–1336)
war ein italienischer Maler, der in
Florenz, Bolongna und Pisa gemalt hat.
22 Camposanto (Camposanto
Monumentale, »heiliges Feld«)
ist ein Gebäude in Pisa, das
einen Friedhof beherbergt.
23 Trecento und Quatrocento:
Bezeichnung für die Proto- und
Frührenaissance in Italien im
14. und 15. Jahrhundert.
24 Pieter Brueghel der
Ältere (um 1525–1569) war ein
Maler der niederländischen Renaissance,
der für seine Darstellung des bäuer-
lichen Lebens bekannt geworden ist.
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
In diesem Themenkreis bewegt sich auch
der Tod als Jäger, wie er in der Druckfolge
»Ackermann aus Böhmen« (1461) von
Johannes von Tepl 25 erscheint. Hier
verfolgt der Tod fliehende Reiter mit Pfeil
und Bogen.
Die mit dem Totentanz am ehesten verbundene
Darstellung des Todes als Spielmann weist
zahlreiche Bezüge zu magischen Vorstel-
lungen im Volksglauben auf, die auch in
Sagen wie der des Rattenfängers von
Hameln aufscheinen. Eine Verbindung
zum Phänomen der Tanzwut (siehe auch
Kapitel 4.4) und zum Volksglauben der
Armen Seelen, die sich nach Mitternacht aus
dem Grabe erheben um zu tanzen, erscheint
naheliegend. Die Verbindung zwischen
Narr und Tod, im Bild des Todes wird in
dieser Figuration noch einmal deutlich,
in der der Tod die Züge eines Unterhal-
ters erhält und durch Tanz und Musik die
Menschen aus dem Leben führt. Dieses
Paar aus Tod und Mensch mit den vorge-
stellten unterschiedlichen Bedeutungen
ist die Ausgangsbasis für den klassischen
Totentanz, in dessen Bild sich durch das
Zusammenwirken der vorgestellten Zeichen
und durch die darin enthaltene Gewich-
tung von Denotation und Konnotation
komplexere Verbindungen ergeben.
25 Johannes von Tepl (auch
Johannes von Saaz, 1350–1414) war ein
deutscher Dichter. Sein Werk »Ackermann
aus Böhmen« erzählt in 34 Kapiteln von
einem Streitgespräch des Ackermanns
mit dem Tod, den er wegen des Todes
seiner Frau anklagt. In den ungeraden
Kapiteln trägt er seine Trauer von dem
Verlust seiner Frau vor, in den gera-
den antwortet der Tod mit Logik und
Zynismus. Im vorletzten Kapitel erscheint
Gott, der dem Ackermann wegen seiner
Liebe lobt, aber dem Tod Recht gibt. Das
letzte Kapitel ist ein lyrisches Gebet für
die Seele der Verstorbenen. Es gilt als
eines der bedeutensten Werke deut-
scher Literatur des Spätmittelalters.
»Totentanz«
Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht
Hinab auf die Gräber in Lage;
Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht;
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
auch kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
In weißen und schleppenden Hemden.
¶ Das reckt nun, es will sich ergetzen sogleich,
Die Knöchel zur Runde, zum Kranze,
So arm und so jung, und so alt und so reich;
Doch hindern die Schleppen am Tanze.
Und weil hier die Scham nun nicht weiter gebeut,
Sie schütteln sich alle, da liegen zerstreut
Die Hemdlein über den Hügeln.
¶ Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein,
Gebärden da gibt es vertrackte;
Dann klippert‘s und klappert‘s mitunter hinein,
Als schlüg‘ man die Hölzlein zum Takte.
Das kommt nun dem Türmer so lächerlich vor;
Da raunt ihm der Schalk, der Versucher, ins Ohr:
Geh! hole dir einen der Laken.
21
–22
Beispielsweise besteht das Ikon König
aus der konkreten Darstellung auf der
Wand (Signifikant) und bewegt sich von
dort zur Vorstellung von einem König
(Signifikat); bleibt durch die kontextuelle
Einbettung aber nicht auf dieser Stufe
stehen, sondern bewegt sich weiter zum
Referenten Mensch, der das Denotat bil-
det. In der daneben angeordneten Figur
des Todes bleibt die Stelle des Referenten
leer. Der Tod besitzt keinen Referenten.
Auf diese Weise wird die Abwesenheit des
Lebens intuitiv sichtbar gemacht.
Auf seine Denotationen reduziert, wird im
Totentanz also der Mensch als solcher
dem Tod gegenübergestellt. Alle ande-
ren Eigenschaften, Kleidung, Alter und
sonstige Attribute des Menschen oder des
personifizierten Todes sind Konnotationen.
Dadurch, dass die Sterblichkeit des Men-
schen universal und allgemeingültig ist,
wird jedoch der Konnotation eine größere
Bühne geschaffen. Die Hauptbedeutung,
obwohl zentral, tritt in den Hintergrund,
bleibt dabei aber zugleich omnipräsent.
Die Künstler der klassischen Totentänze
hatten jeweils die Schwierigkeit zu über-
winden, nicht irgendeinen Menschen
darzustellen, sondern den Betrachter
selbst. Da sich der Betrachter nicht auto-
matisch in eine menschliche Figur im Bild
versetzt, sich nicht automatisch mit ihr
identifiziert und damit die Aussage nicht
auf sich anwendet, haben die Künstler den
Menschen Attribute verliehen oder sie in
Kontexte gesetzt, die es dem Betrachter
ermöglichen, sich selbst ins Bild zu den-
ken. Die Attribute geben dem Betrachter
eine Hilfestellung zur Identifikation.
er »Basler Totentanz«
bestand ursprünglich
aus 24 Tanzpaaren,
die in einem Reigen
miteinander tanzen.
Dabei wechseln sich
Menschen, in typische
Kleidung der Stände dargestellt, mit
Figuren ab, die den Tod symbolisieren.
Kern der Darstellung ist das einzelne tan-
zende Paar. Dieser Kern findet sich in
allen klassischen Totentänzen wieder. Sie
besteht aus zwei Zeichen: dem Menschen
und der Todesfigur mit ihren unterschied-
lichen Haupt- und Nebenbedeutungen.
Dem Symbol des Todes wird ein Ikon für den
Menschen gegenübergestellt. Die Ähnlich-
keit zwischen dem bezeichneten Gegen-
stand und dem Zeichen ist das Merkmal
eines Ikons, wie z.B. bei einem Porträt
oder lautmalerisch Begriff. Das Ikon für
den Menschen und das Symbol für den Tod
treten über die anthropomorphen Eigen-
schaften des symbolisierten Todes mit-
einander in Kontakt. Es handelt sich dabei
zunächst um äußerlich menschenartige
Figuren, die aufgrund ihrer Gemeinsam-
keiten überhaupt erst in Verbindung treten
können. Das heißt, sie müssen gleichar-
tig genug sein, um miteinander tanzen
zu können. Durch die Gemeinsamkeiten
werden sie vergleichbar. Der Vergleich
stellt jedoch ihre Unterschiede heraus. Die
Einbettung in eine Szene mit vielen, im
Prinzip gleichen Paaren lässt ihren Stand in
der Ständegesellschaft als Konnotationen
erscheinen, während der Mensch als Referent
aller Ikone erscheint: Alle Figuren sind in
erster Linie Menschen und erst nachgela-
gert sind sie Könige, Äbte oder Bettler.
2.2 Das tanzende Paar
¶ Getan wie gedacht! und er flüchtet sich schnell
Nun hinter geheiligte Türen.
Der Mond, und noch immer er scheinet so hell
Zum Tanz, den sie schauderlich führen.
Doch endlich verlieret sich dieser und der,
Schleicht eins nach dem andern gekleidet einher,
Und, husch, ist es unter dem Rasen.
¶ Nur einer, der trippelt und stolpert zuletzt
Und tappet und grapst an den Grüften;
Doch hat kein Geselle so schwer ihn verletzt,
Er wittert das Tuch in den Lüften.
Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück,
Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück,
Sie blinkt von metallenen Kreuzen.
¶ Das Hemd muß er haben, da rastet er nicht,
Da gilt auch kein langes Besinnen,
Den gotischen Zierat ergreift nun der Wicht
Und klettert von Zinne zu Zinnen.
Nun ist‘s um den armen, den Türmer getan!
Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan,
Langbeinigen Spinnen vergleichbar.
¶ Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt,
Gern gäb er ihn wieder, den Laken.
Da häkelt – jetzt hat er am längsten gelebt –
Den Zipfel ein eiserner Zacken.
Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins,
Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,
Und unten zerschellt das Gerippe.
(von Johann Wolfgang von Goethe, 1815.)
TOTENTANZ
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
Der Mensch in den Darstellungen bleibt also
immer als erstes Mensch, denn er sieht sich
in der Szene mit dem Tod konfrontiert,
erst nachgeordnet wird ein bestimmter
Mensch, eine bestimmte Zielgruppe, ein
bestimmter Betrachter angesprochen. Das
bedeutet, der Referent Mensch als Lebewesen
wird möglicherweise dadurch besonders
betont, weil er in seinem Gegenpart, dem
Tod, abwesend ist und weil er die gemein-
same Konstante zwischen allen dargestell-
ten Menschenikonen (im semiotischen Sinne)
bildet. Der »Basler Totentanz« ermöglicht
die Identifikation mit den Figuren, indem
Menschen verschiedener Stände über
äußerliche Attribute wie der Kleidung
identifizierbar werden. Es ist anzuneh-
men, dass ein mittelalterlicher Betrachter
das Wandbild wie eine »Tabelle« gelesen
hat. Er konnte anhand der Kleidung und
der Position im Bild seinen Repräsentan-
ten ermitteln, also den Menschen in der
Darstellung, der ihn selbst gleichsam ins
Bild holt und diesen Vorgang für andere
Menschen und deren Vertreter nachemp-
finden. Er konnte damit erkennen, dass
jeder einzelne Mensch seinen Platz in dieser
»Tabelle« findet, vom Papst bis zum Bettler.
Da jedes Paar in seiner Hauptbedeutung
genau dieselbe Aussage trägt, beinhaltet
der »Basler Totentanz« in gewisser Weise das
Merkmal der Wiederholung, das wie be-
schrieben, die Eigenschaft des Menschen an
sich hervorstellt. Das Bild stellt mit den
24 Paaren 24-mal das Gleiche dar, wobei
sich jeweils die Konnotation (die Stände-
attribute) verändern. Dadurch, dass jedem
dargestellten Menschen das Gleiche wider-
fährt, erscheint der Tod als Gleichmacher
aller.Diese Konnotationen sind im gesell-
schaftlichen Kontext wichtig, um dem Be-
trachter eine Identifikation zu ermöglichen.
Um 1538 wird der Totentanz-Reigen von
Hans Holbein dem Jüngeren 26 von der
Wand gelöst und auf seinen Kern reduziert.
Das einzelne Paar aus einem Menschen
und der Personifikation des Todes löste den
Reigen ab. Gewissermaßen verschwindet
die Redundanz der Information, dafür wird
dem Betrachter eine höhere Abstraktions-
leistung abverlangt, da die gleichmachende
Wirkung des Todes nun nicht mehr un-
mittelbar über viele gleiche Paare gezeigt
wird, sondern über die Denotation »Mensch«.
Schließlich muss diese Konstellation
aus Mensch und Tod selbst ein Zeichen
sein, das vergleichbar mit dem Beispiel
»Abendstern« eine innenliegende Eigen-
schaft des Menschen (eine Konnotation)
nach außen trägt: seine Sterblichkeit.
26 Hans Holbein der
Jüngere [1497 oder 1498–1543]:
war ein deutscher Maler. Auf einem
Selbstbildnis, das er kurz vor seinem
Tod malte, bezeichnet er sich selbst
als Basler. Er zählt zu den bedeu-
tendsten Malern der Renaissance.
23
–24
ls so genannten
Europäischen Totentanz
bezeichnet man eine
seit dem 14. Jahrhun-
dert aufkommende
bildliche Darstellung
zur Todesthematik,
die meistens durch Textzeilen ergänzt
wird. Darin soll die Gewalt des Todes
über das Leben ausgedrückt werden. Der
Tod wird durch Personifizierung in Form
einer Skelettgestalt oder Transi dargestellt,
sowie die Gruppe der Tanzenden durch
eine Reihe von Allegorien. In Frankreich
entstanden verbreitete sich diese Art
der Darstellung überall in Europa, doch
zentrierte sie sich vorwiegend im deutsch-
und französischsprachigen Raum.
Jene Wandmalereien zur Todesthematik
können uns einen Eindruck bestimmter
Dimensionen der europäischen Kultur des
ausgehenden Mittelalters und der Frühen
Neuzeit geben. Die Pest, der gefürchtete
Schwarze Tod, den die Menschen in jenem
Jahrhundert schmerzlich erfahren muss-
ten, lässt im Spiegel des Totentanzes die
geistige Verfassung der Menschen im ge-
samten Europa erkennen. Auf der Schwelle
vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit stellt
der Totentanz einen wesentlichen Teil
der religiösen »Erbauungsliteratur« dar,
indem er vor den Konsequenzen eines
sündigen, unbußfertigen Lebens warnt.
Im Zuge seiner Geschichte hat der Europäische
Totentanz eine weitläufige Entwicklung
gemacht. Durch die Epochen hindurch
hat er sich als Darstellungsform immer
mehr differenziert und divergiert. Von den
anfänglich monumentalen Wandgemälden
entwickelte er sich bis hin zur völligen
künstlerischen Autonomie. Doch zu jeder
Zeit war der Totentanz eine Plattform
für die Angst vor Sterben und Tod und
ein Forum für zunächst religiöse, dann
gesellschafts-politische und schließlich
individuell-künstlerische Inhalte zur
Todesthematik. Der Erfolg dieser Gattung
liegt in der gestalterischen Vielfalt, der
Möglichkeit verschiedenster Assoziationen
und nicht zuletzt in seiner Ambivalenz
zwischen Todesangst und Lebenslust.
3. Der Europäische Totentanz
TOTENTANZ
m die folgenden
Ausführungen zum
mittelalterlichen Toten-
tanz besser verstehen
zu können, werden
seine wichtigsten
formalen Merkmale
kurz beschrieben, an späterer Stelle aber
noch detaillierter dargestellt. Die frühen
Totentanzdarstellungen muss man sich
folgendermaßen vorstellen: An einer ca.
60–80 m langen Kirchenwand oder Fried-
hofsmauer sind lebensgroße Figuren mit
Versen darunter oder darüber abgebildet.
Bei dem Motiv handelt es sich um eine
Reihe tanzender Gestalten, immer ein
Skelett oder Transi abwechselnd mit einem
Menschen. Die Textzeilen bestehen aus
Bildüberschriften wie z.B. »Tod und Graf«,
welche die Szene eindeutig betiteln, und
einer Art Dialog zwischen der Todesgestalt
und dem totgeweihten Menschen.
»Ihr müsst alle nach meiner Pfeife tanzen«, diese
oder ähnliche Worte werden dem per-
sonifizierten Tod jener mittelalterlichen
Darstellungen oft in den Mund gelegt. Und
genau das ist auch die zentrale Aussage
des Totentanzes: die Unvermeidlichkeit
des Todes. Alle Menschen, unabhängig
welchen Standes und welchen Alters
müssen sich dem Tod fügen. Die Gleich-
heit vor dem Tod ist das wesentliche
Merkmal des Totentanzes und im Mittel-
alter das zentrale Motto. Er ist somit ein
deutlich formuliertes Memento mori 2 7.
Das Moment des Tanzens ist das zweite
Hauptkennzeichen dieser Darstellungs-
form zu jener Zeit. Besonders die ambiva-
lente Verbindung von Tod und Tanz, von
der Angst um das eigene Leben auf der
einen Seite und der Lust am Leben auf der
anderen Seite verliehen dem Totentanz
seine Popularität. Im Jahrhundert der Pest
waren die Menschen um so empfänglicher
für ein Bild, das Tanz und Tod, Lust und
Verfall in sich vereint. Das Memento mori,
verpackt im Bild des Tanzes, kann als
Oxymoron 28 aufgefasst werden, das mit
seiner Dialektik 29 über die Zeiten hin-
durch bis heute die Menschen fasziniert.
Die mentalen Strukturen des mittelalterlichen
Menschen müssen in die Interpretation
des Totentanzes einbezogen werden,
denn seine Darstellungsform transpor-
tiert neben Vorstellungen von Tod und
Leben auch Auffassungen von Gesell-
schaft und Weltanschauung. Ebenso
spiegelt er den offiziellen kirchlichen
Glauben, sowie den Volksglauben wieder.
Als älteste erhaltene Totentanzdarstellungen
werden das Fresko in der Abteikirche
La Chaise-Dieu in der Auvergne (um
1410) und das berühmte Wandgemälde
an der Kirchhofsmauer des Franziskaner-
klosters Aux Saints Innocents in Paris
(1424/1425) geschätzt. Von Frankreich
ausgehend verbreitete sich der Toten-
tanz zunächst in der Bretagne, dann am
Mittelrhein und in Norddeutschland,
später in Böhmen, im Baltikum, in Italien,
Katalonien und England, schließlich
überall in Europa. Die berühmtesten
Totentanzdarstellungen finden wir in
Paris, Basel, Lübeck und Luzern, seine
Zentren blieben demnach im deutsch-
und französischsprachigen Raum.
Die europäische Dimension des Totentanzes
wird nicht nur in seiner Verbreitung
deutlich, sondern ist am Erfolg dieses
Mediums abzulesen: offensichtlich gab es
eine relativ vergleichbare mentale Ver-
fassung der Menschen im ausgehenden
Mittelalter. Die Pestepidemien, der
massenhafte jähe [plötzliche] Tod hat die
Menschen Europas in eine permanente
Verunsicherung des Lebens gestürzt.
4. Totentänze des Mittelalters
27 Memento mori [lat. »Gedenke
zu sterben« (dass du sterben musst); häuf ig
als »gedenke des Todes« übersetzt]: Etwas,
das uns an unsere Vergänglichkeit
erinnert. Noch Anfang des 20. Jahr-
hunderts war es üblich, dass einige
Männer in ihren Hosentaschen oder an
der Uhrkette einen kleinen Gegenstand
mit sich herumtrugen, der sie an ihre
eigene Sterblichkeit erinnern sollte.
Es handelte sich z. B. um kleine Sand-
uhren, in denen die Lebenszeit zu verinnen
scheint, kleine Nachbildungen von
Totenmasken, und häuf ig sogar ein kleiner
offener Sarg, in dem der Verfall des
menschlichen Körpers dargestellt wurde.
28 Oxymoron [von griech. oxys
»scharf(sinnig)« und moros »dumm«]: eine
rhetorische Figur, bei der eine Formulie-
rung aus zwei gegensätzlichen, einander
widersprechenden oder gegenseitig
ausschließenden Begriffen in einem Wort
(z. B. Hassliebe) oder als Begriffspaar
(z. B. alter Knabe) gebildet wird.
29 Dialektik [über lat. (ars) dialectica
»Kunst der Gesprächsführung«]: 1) innere
Gegensätzlichkeit. 2) philosophische
Arbeitsmethode, deren Wesen dar-
in besteht, (in Rede und Gegenrede)
Widersprüche aufzudecken und zu
überwinden und dadurch die Wahrheit
zu f inden, Erkenntnis zu erlangen .
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
25
–26
ür das Verständnis des
Europäischen Totentanzes
ist der historische
Kontext seiner Entste-
hungszeit von grund-
legender Bedeutung.
Mit dem Ausbruch der
Pest im Jahr 1348 begann das größte Mas-
sensterben Europas und man kann sagen,
dass das 14. Jahrhundert das Jahrhundert
des großen Todes war. Es wird geschätzt,
dass in nur fünf Jahren, zwischen 1347
und 1352, ca. dreißig Prozent der Bevöl-
kerung Europas durch diese Krankheit
umkamen. In einer von der Pest befallenen
Stadt starb etwa jeder zweite Einwohner.
Im Vergleich dazu kamen während des
Zweiten Weltkrieg fünf Prozent der Gesamt-
bevölkerung Westeuropas durch Krieg und
Massenvernichtung um. Durch das 14. und
15. Jahrhundert zogen sich immer wieder
neue Pestwellen, die die Menschen in einen
stetigen Angstzustand versetzten und sie
empfänglich machten für die makabren
Tänze in den Tod. Die meisten der frühen
Totentänze stehen ganz offensichtlich im
Zusammenhang mit den Pestepidemien.
Das große Peststerben brachte einen Zu-
sammenbruch der gesellschaftlichen
Verhältnisse und Konventionen mit sich:
Familienbindungen, Freundschaften und
Gruppenbeziehungen zerrissen; Ärzte,
Priester und Notare verweigerten oft aus
Panik ihre Berufspflichten; Häuser von
Verstorbenen wurden schamlos geplündert
und die Kirche trieb nicht selten Handel mit
den Sterbesakramenten. Die Pest brach-
te ohnmächtiges Entsetzen mit sich, es
herrschte ein kollektives Gefühl des Unter-
gangs und eine trostlose Grundstimmung.
Talismane, Duftstoffe und Beschwörungen
halfen nicht, um die gefürchtete Krankheit
zu bannen. Die einzige Möglichkeit ihr
zu entkommen war die Flucht aus ihrem
Umfeld, was oft den Armen und Schwachen
nicht gelang. Die Pest kam immer in
Wellen, welche die Menschen durchaus
beobachten konnten und dazu gehörte das
hilflose Warten auf ihre Ankunft. Das ist die
Stunde der Bußpredigt, der radikalen Gei-
ßelungen und des großen Memento mori. Die
Zeit war reif für das Bild des Totentanzes.
Doch führte das »Bedenke, dass du sterben musst!«
nicht nur zu frommen Bußübungen. Memen-
to mori impliziert immer auch ein Carpe diem
[aus lat. »Nutze/pflücke den Tag!«], denn »…es
könnte dein letzter sein.« Es gibt Berichte von
wildesten Festen und Orgien, ein weiteres
Zeichen für die kollektive Hysterie. Das har-
te Gegenüber von Leben und Tod in jener
Zeit war die Voraussetzung für den Toten-
tanz mit seiner dramatischen Wirkung.
Zu erwähnen ist an dieser Stelle die
Narrenliteratur, die im 15. Jahrhundert
entstand. Es handelt sich dabei um eine
volkstümliche, satirische Literatur, welche
die menschlichen Schwächen beschreibt
und durch Karikieren und Übertreibung
den Leser zu belehren, sowie Kritik des
Zeitgeistes auszudrücken versucht. Das
Motiv der Narrenliteratur ist die verkehrte
Welt. Auch der tanzende, foppende, sprin-
gende Tod der Totentänze ist verkehrte
Welt. Doch im Gegensatz zur Narrenlitera-
tur kann beim Totentanz kein Schmunzeln
oder Lachen diese verkehrte Welt aufheben.
Der Tod ist nicht lustig. Der Totentanz, in
dem sich Tod und Vitalität, Grauen und
Lust, Schrecken und Ekstase vereinen ist der
Kosmos eines Dämons 30. Und das Prinzip
dieses Dämonischen ist der ästhetische
Schock der Vereinigung von Tanz und Tod.
4.1 Der Historische Kontext
30 Dämon [über lat. daemon aus griech.
daímon »göttliches Wesen, (böser) Geist«]: a)
Teufel, Wesen zwischen Gott und Mensch.
b) das Böse im Menschen.
c) unheimlicher, auf jemanden
große Macht ausübender Geist.
TOTENTANZ
s wird vermutet, dass
es sich bei den frühes-
ten monumentalen
Totentänzen des 14.
Jahrhunderts um eine
säkulare Erscheinung
handelt, die – ähnlich
der Justitia – die Gleichheit aller Menschen
betont. Die großen Bettelorden »instru-
mentalisierten« die Totentänze dann
ihrem Ideal entsprechend zu religiösen
Zwecken. Dabei wurden die Darstellun-
gen mit christlichen Motiven gefüllt und
die Aspekte des Tanzes traten nach und
nach in den Hintergrund. Die Botschaft war
nicht mehr in erster Linie das Prinzip der
Gleichheit, sondern der Schrecken eines
plötzlichen, des gefürchteten jähen Todes,
der die Menschen unvorbereitet aus dem
Leben reißt. Ganz im Sinne des Memento
mori sollten die Totentanzdarstellungen zu
einem bußfertigen, gottgefälligen Leben
ermahnen. Im Zusammenhang mit dem
großen Peststerben jener Epoche, das den
Boden für die überwältigende Angst vor
dem Tod bereitete, kann der Totentanz als
gemalte Bußpredigt verstanden werden.
Die frühen Totentänze wurden in Form von
Wandgemälden entweder im Inneren von
Kirchen, überwiegend in Beichtkapellen,
oder außen an Kirchhofs- oder Friedhofs-
mauern angebracht. Da es sich meistens um
Kirchen oder Klöster der Dominikaner
oder Franziskaner handelte, kann
man die Totentanzdarstellungen als eine
andere, damals neue Form der Bußpredigt
in städtischen Predigerorden interpre-
tieren. Diese Vermutung kommt daher,
dass bei den bekanntesten Totentanz-
darstellungen (z.B. in La Chaise-Dieu,
Lübeck, Basel, Berlin, Straßburg) zu
Beginn eine Predigerszene steht, in wel-
cher der Prediger als Dominikaner
oder Franziskaner dargestellt wird.
Bei einigen Totentänzen ist statt der ein-
leitenden Predigerszene ein anderes Motiv
wie z.B. der Sündenfall oder das Jüngste
Gericht zu Beginn oder auch am Ende der
Reihe abgebildet. Immer jedoch handelt
es sich dabei um christliche Bilder, die
auf das individuelle Sündersein anspre-
chen und der Totentanzdarstellung ihren
heilsgeschichtlichen 31 Rahmen geben.
Der Totentanz entstand demnach in einer
städtischen Umgebung des Klerus.
Durch die Platzierung der 60–80 m großen
Wandmalereien in Beichtkapellen oder
an Kirchhofsmauern wurde das Gemälde
gemeinsam erlebt: betrachtet, gelesen und
durch musikalische Untermalung »gehört«.
So wie die Bußpredigt die Gemeinde
zum kollektiven Zuhören zusammen-
bringt, so vereint der Totentanz als deren
bildnerische Entsprechung dessen die
Menschen bei kollektiver Anschauung.
4.2 Der Totentanz als gemalte
Bußpredigt
31 Heilsgeschichte: Der Begriff
entstammt dem jüd.-christl. Denken.
Strenggenommen bezeichnet er eine
Geschichtsinterpretation, die in der Mensch-
heitsgeschichte eine Entwicklung auf ein
Ziel außerhalb derselben sieht, eben zum
Heil, zu dem jedes geschichtliche Ereignis
in Beziehung gesetzt wird. Im weiteren
Sinne wird nahezu jede religiöse Geschichts-
interpretation als H. bezeichnet. Die in ihr
beschriebenen Ereignisse sind entweder gar
nicht oder nur lückenhaft außerhalb der
religiösen Tradition überliefert. Deshalb ist
meistens nicht zu entscheiden, inwieweit die
H. mit geschichtlichen Fakten übereinstimmt.
Die Mitte der christl. H. [»Fülle der Zeit«,
Gal. 4,4; Eph. 1,10] befindet sich räumlich in
der römischen Provinz Judäa, zeitlich in den
ersten Jahrzehnten der christl. Zeitrechnung:
Leben und Wirken, Tod durch Kreuzigung
und Auferstehung des Jesus von Nazareth als
Jesus Christus. Als dessen Ankündigung und
Vorbereitung gilt die Schöpfungsgeschichte
der Bibel mit dem Sündenfall. Die Geschichte
nach Christus gilt als letzte Zeit oder Endzeit,
in der das Evangelium zu allen Völkern dringt,
bis die Zahl der Geretteten voll sein und der
christl. Messias Jesus Christus in Herrlich-
keit zum zweiten Mal kommen wird. Die
kritische Geschichtswissenschaft der Neuzeit
hat allerdings gezeigt, wieviele mythische
Bilder auch in die Geschichtsdarstellung
der Bibel eingeflossen sind – und zugleich
darauf aufmerksam gemacht, dass jedes
Erzählen auswählend und gewichtend ist.
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
27
–28
Die Intention der Bußpredigt bzw. des Toten-
tanzes ist es, dem Einzelnen die Verantwor-
tung seines Handelns vor Augen zu führen
und ihn zu einem Leben den christlichen
Idealen entsprechend zu ermahnen. Diese
Mahnung geht einher mit der Warnung vor
den Konsequenzen eines sündigen Lebens.
Denn kommt der Tod im falschen Moment,
so gibt es nur noch die Verdammnis. Die
Totentänze bauen eine Brücke zwischen
dem Bewusstsein individueller Sündhaf-
tigkeit und dem Tod als Übergang ins
Jenseits. Dieses Jenseits differenziert sich
in der Vorstellung des mittelalterlichen
Menschen entsprechend dem vorhergegan-
genen Handeln im Diesseits und gliedert
sich in Himmel, Hölle und Fegefeuer. Zu
Zeiten der Schwarzen Pest, die oft als Strafe
Gottes verstanden wurde, war der plötz-
liche Tod nicht selten und die Bußpredigt
gewann an Wichtigkeit für die Menschen.
Die Darstellung des jähen Todes und mit
ihm die Gefahr der ewigen Verdammnis
sollten zur Reflexion der eigenen Christ-
lichkeit anstossen und eine Umkehr, eine
positive Wende im Leben bewirken.
Die Totentanzdarstellungen, die den uner-
warteten Tod abbildeten, sind eine für
das christliche Memento mori sehr geeig-
nete Form. Der Erfolg des Totentanzes
als breitenwirksames Medium liegt im
Zusammenspiel des Motivs der Buß-
predigt – das ihm seine »didaktische«
Funktion gibt – und seiner Ästhetik. Im
Laufe der Zeit wird er sich später durch
die verschiedenen Möglichkeiten seiner
Gestaltung immer mehr vom kirchlichen
Kontext lösen und autonomisieren.
TOTENTANZ
22
in wichtiger An-
haltspunkt für das
Verständnis des
Totentanzes als eine
Form der Bußpredigt
ist seine Verbindung
zur so genannten
Ars Moriendi [lat. »Die Kunst des Sterbens«].
Als Ars Moriendi bezeichnet man eine
ebenfalls im 15. Jahrhundert beliebte
Gattung von Erbauungsbüchern, in denen
die Kunst des rechten, heilsamen Sterbens, das
zur Seligkeit führen soll, gelehrt wird.
Beide Gattungen haben inhaltliche Berüh-
rungspunkte: Sie zielen auf die Umkehr des
Sünders angesichts der drohenden Ver-
dammnis ab, indem sie versuchen, Angst
vor dem plötzlichen Tod hervorzurufen.
Doch liegt der Unterschied darin, dass bei
den Ars Moriendi das angestrebte Ster-
ben, das idealerweise ein bußfertiges
sein sollte, betont wird. Dargestellt ist
ein Sterbender, meistens im Bett lie-
gend, von Skelettgestalten umgeben. Der
Tod steht unmittelbar bevor. Der Aufruf
zur Buße und die geistige Seelsorge des
Sterbenden stehen im Vordergrund.
Beim Totentanz dagegen liegt der Fokus durch
die Darstellung des unerwarteten, zum
Tanz auffordernden Todes auf dem Schock-
effekt. Dieser soll den Menschen die Unum-
gänglichkeit des Todes, vor dem alle gleich
sind, vermitteln und sie auf diese Weise zur
Buße bewegen. Es werden tanzende, das
heißt, noch lebendige Personen dargestellt,
welche als totgeweiht gelten, weil sie von
einem foppenden, entlarvenden Tod zum
Tanz aufgefordert werden. Im Gegensatz
zur Ars Moriendi lassen die Totentänze mit
ihrer Darstellung vom unvorbereiteten Tod
keine Sterbevorbereitung im christlichen
Sinne zu. Daher ist die Mahnung und die
von ihr provozierte Angst vor einem jähen
Tod, der jede rechtzeitige Buße verhindert,
ein wesentlicher Inhalt des Totentanzes.
Dennoch stellen beide – Totentanz und
Ars Moriendi – eine Möglichkeit dar, dem
Thema Sterben und Tod und den damit
verbundenen Ängste eine Form zu ge-
ben. In beiden Gattungen manifestieren
sich psychische Befindlichkeiten
und Phantasien der Menschen dieser
Zeit – primär in bildlicher Form.
4.3 Der Totentanz und die Ars Moriendi
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
29
–30
23
ie charakteristische
Dialektik des Toten-
tanzes besteht nicht
nur im Verhältnis
Todesangst und Lebens-
lust, sondern ebenso
in der Mischung von
belehrender Absicht der Bußpredigt und
Elementen des archaischen Volksglaubens,
sowie profaner bürgerlicher Kultur.
Um breitenwirksam zu sein, mussten Medien
wie Totentanz und Ars Moriendi im Alltag
nahe an der Vorstellungswelt der Rezipi-
enten verankert sein. Diese Vorstellungs-
welt der Menschen in jener Zeit implizierte
auch so genannte magische Elemente wie
z.B. die Vorstellung vom Tod als erbar-
mungsloser Gestalt, der vergleichbar dem
Rattenfänger von Hameln durch
Flötenmusik alle Menschen ohne Ausnahme
in eine Reihe und damit in den Tod zwingt.
Weiterhin existierte die Vorstellung von
einer Gegenwart der Toten, das heißt
einer gewissen Aktivität der Toten z.B. bei
ihren nächtlichen Tänzen auf dem Friedhof.
In Sagen und Legenden hieß es, wer die
Toten beim Tanzen gesehen hat, läuft Ge-
fahr zum Mittanzen gezwungen zu werden,
also zu sterben. Diese Vorstellungen boten
die Basis für die Verbindung von Tanz
und Tod, die den Totentanz konstituiert.
Die Religionswissenschaft definiert Tanz als
gemeinschaftsbildendes Szenario und
schreibt ihm auf der Ebene archaischen
Denkens die Funktion der Abwehr böser
Geister zu. Als der Totentanz enstand,
war Bannung und Beschwörung der
zentrale Gedanke hinter dem Bild des
Reigens von Skeletten und Todgeweihten.
Denn nach einem Grundsatz der Magie
könne Gleiches mit Gleichem gebannt
werden, daher verhelfe schon allein die
Abbildung von Toten bzw. des personi-
fizierten Todes zur Bannung, wobei der
Tanz als Abwehrzauber gegen den jähen
Tod, gegen die Pest verstanden wurde.
Der Totentanz wird somit Ausdrucksmittel
eines gemeinschaftlichen Schicksals und
kollektiver Ängste. Das, was sonst nur
unfassbar drohend gegenwärtig gewesen
wäre, bekommt eine Form, die der kollek-
tiven Angst in Zeiten der Pestepidemien
Ausdruck verlieh. Diese Form ist einfach,
die Motive für jeden verständlich, und
doch vielschichtig und assoziationsreich.
Was genau aber bedeutet der Tanz im Toten-
tanz? Das Erschreckende und gleichzei-
tig Faszinierende an dieser Darstellung
ist nicht die Gestalt des Todes, die dem
Menschen des Mittelalters viel »vertrauter«
war als uns heute, sondern der Umstand,
dass das Skelett tanzt. Das eigentliche
Grauen ist, dass der Tod agil und leben-
dig oft in wilden Tanzbewegungen dar-
gestellt ist und somit als gruselige und
groteske 32 Imitation des Lebens verstanden
werden soll. Im Moment des Tanzes aber
liegt der elementare ästhetische Reiz.
In diesem Zusammenhang ist die Beleuchtung
des Tanzes und seine Einbindung in den
mittelalterlichen Lebensalltag wichtig.
Tanz ist die reinste Form des Spiels und Be-
wegung um seiner selbst willen. Tanzen ist
eine archaische Lebensäußerung, Ausdruck
von Lust bis hin zu Ekstase. Die Kirche
tolerierte immerhin bis ins siebte Jahrhun-
dert den Tanz als liturgische 33 Handlung,
aber seit Augustinus (354–430 n. Chr.)
wurde er von der Kirche immer drastischer
verurteilt, weil er in jeder Form gefährlich
sei und die kultische 34 Form dieser Hand-
lung eine archaische Kraft freisetze.
4.4 Das Moment des Tanzes
32 grotesk [über frz. grotesque aus gleich-
bed. ital. grottesco, zunächst in Fügungen
wie grottesca pittura »Malerei, wie man sie
in Grotten u. Kavernen gefunden hat«]: a)
durch eine sehr starke Übersteigerung
oder Verzerrung bestimmte Ordnungen
umkehrend und absonderlich, phan-
tastisch wirkend. b) absurd, lächerlich;
sonderbar, verzerrt, überspannt.
33 Liturgie [über kirchenlat. liturgia
aus griech. leitourgia »öffentlicher Dienst«
zu leitos »das Volk betreffend« u. ergon
»Werk, Arbeit, Dienst«]: amtliche od.
gewohnheitsrechtliche Form des kirch-
lichen Gottesdienstes. L. umfasst das
gesamte gottesdienstliche Geschehen:
Wort und Gesang, Gestik, Bewegung
und Gewänder, liturgische Geräte,
Symbole und Symbolhandlungen.
34 Kult [aus lat. cultus »Pf lege« zu
colere »behaupten«, vgl. Kolonie]: 1) an
feste Vollzugsformen gebundene Reli-
gionsausübungen einer Gemeinschaft.
2) übertriebene Verehrung für eine
bestimmte Person, Sache oder einen
Gegenstand. Ein Kult umfasst in jedem
Fall folgende drei Aspekte: ein Objekt
oder eine Sache (um die sich der Kult
dreht), eine Gruppe von Individuen (die
diesen ausführen) und eine Reihe mehr
oder weniger ritualisierter Handlungen.
TOTENTANZ
Von der Kirche gefürchtet war nicht so sehr
der schreitende Tanz der höfischen Ge-
sellschaft, sondern die so genannten
Sprung- und Reigentänze. Aus diesen ging
im 14. Jahrhundert der Paartanz hervor,
bei dem Mann und Frau sich umschlingen.
Der so genannte gesprungene Paartanz
wurde durch seine Ausgelassenheit und
Wildheit zu einer beliebten Möglichkeit der
eigenen Grenzerfahrung. Nach Auflösung
des Kettenreigens erhielt auch dieser
Einzug in die Totentanzdarstellungen.
Die Kirche musste einen langen Kampf gegen
den Tanz führen. Dabei muss man sich
vergegenwärtigen, dass der Kirchhof
bis zum Beginn der Neuzeit in der Regel
ein Ort der Öffentlichkeit war. Und der
Friedhof war kein Hof ausschließlich im
Sinne von Ruhe und Frieden für die Toten,
sondern oftmals ein Ort, wo an den Seiten
der Beinhäuser Läden und Buden errich-
tet wurden. Jener Ort hatte Asylrecht, das
heißt er musste jedem (z.B. Verstoßenen)
Einlass gewähren. Weiterhin war er ein
von Steuern befreiter Platz, weshalb in den
meisten Fällen ein geschäftiges Treiben
herrschte. Das Konzil von Rouen verbot
1231 das Tanzen im Bereich des Friedhofes,
um der Zügellosigkeit Herr zu werden.
Bei der so genannten Tanzwut, auch
Veitstanz 35 genannt, handelte es sich
um kollektive Ausbrüche, bei denen die
Menschen in Massen so lange und wild
tanzten, bis sie erschöpft umfielen oder
sogar starben. Es soll bei dieser Form der
Massenhysterie durchaus zu anstößigen
Szenen gekommen sein. Nach Ansicht der
Kirche hatte hier der Teufel seine Finger
mit im Spiel. An dieser Stelle kann die
Brücke zum Totentanz geschlagen wer-
den, denn für den gläubigen Menschen
des Mittelalters steht der tanzende Tod
assoziativ dem tanzenden Teufel sehr nahe.
Im Totentanz werden Leben und Tod vereint:
Das Motiv des Tanzes steht für Vitalität
und Lebenslust und die Personifizierung
des Todes für Verwesung und Grauen.
Diese dialektische Verbindung macht den
Europäischen Totentanz als ästhetisches
Medium aus. Seine Entstehung fällt in eine
Zeit, in der die Menschen wussten, dass
der Tanz immer auch Annäherung und
Liebesspiel mit dem Ziel die Vereinigung
bedeutete. Der personifizierte Tod imitiert
durch den Ausdruck lustvoller Bewe-
gungen im Tanz das Lebens und definierte
somit eine neue Form des Makabren.
35 Veitstanz [von »Heiliger Vitus/Veit«,
lebte um 300 n. Chr., Schutzpatron u. a. der
Tänzer]: Der Hintergrund zum V. ist nicht
restlos geklärt. Es wird angenommen,
dass durch den massenhaften Pesttod
ganze Bevölkerungssteile in eine religiöse
Hysterie verfallen sind, die zu ausschwei-
fenden, ekstatischen Tänzen geführt
haben soll. Andere Quellen geben an,
dass vergiftetes Mutterkorn des Getreides
oder Drogen mit halluzinogener Wirkung
(z. B. Engelstrompeten) dazu geführt
haben sollen. Die Nervenkrankheiten
Chorea major (Huntington) und Chorea
minor (Sydenham) wurden früher V.
genannt. Zur Heilung wallfahrte man im
14. Jahrhundert zur Veitskapelle bei Ulm.
NINA SCHÜTTE / SVEN EHRENTRAUT
31
–32
m Jahr 1805 wurde der
so genannte »Basler
Totentanz«, ein kultur-
historisches Zeugnis
des Spätmittelalters,
beim Abriss der Fried-
hofsmauer des ehe-
maligen Dominikanerklosters durch das
städtische Bauamt zerstört. Seit Mitte des
15. Jahrhunderts hatte auf der Innenseite
der ca. 60 Meter langen Mauer ein gemalter
Totentanz mit lebensgroßen Figuren exis-
tiert. Menschen, die in naher Umgebung
wohnten, hatten sich für den Abriss der
Mauer und einer Umgestaltung des Fried-
hofs hin zu einer Grünanlage eingesetzt.
Der Stadt kam diese Forderung entgegen,
da die zukünftige Parkanlage mit weit
geringeren Kosten verbunden war als die
Restaurierung des Bildes und die Instand-
haltung des alten Friedhofes. Der Hilferuf
einiger Kunstfreunde, die auf die einst so
berühmte Attraktion der Stadt und den kul-
turhistorischen Wert dieses Wandgemäldes
hingewiesen hatten, wurden nicht gehört.
Dass der »Basler Totentanz« beinahe ohne Wi-
derstand abgerissen wurde, kann auf ein
verändertes Bewusstsein der Menschen des
beginnenden 19. Jahrhunderts gegenüber
Darstellungen von Todesthematik gedeutet
werden. Mit der Reformation von 1529 wa-
ren die Gebäude des Dominikanerklosters
in die Hände der Stadt übergegangen, die
das Wandgemälde an der Friedhofsmauer
der Predigerkirche durch regelmä-
ßige Restaurationen ordentlich in Stand
gehalten hatte. Im Barock beschäftigten
sich die Menschen zwar mit einem anderen
Hintergrund als im Mittelalter, aber eben-
falls intensiv mit der Todesthematik und
der »Basler Totentanz« erfreute sich großer
Beliebtheit. In der Aufklärung dagegen
wurden Darstellungen von Tod und Ver-
dammnis nicht mehr als so wichtig betrach-
tet und das besagte Werk verlor an Beach-
tung bis hin zur völligen Verwahrlosung.
Das mag daran liegen, dass man im neuen
Zeitalter, in dem sich die Menschen allmäh-
lich von religiösen Zwängen und Ängsten
befreit hatten, einem Wandgemälde, das die
Gewalt des Todes darstellen und zur Buße
ermahnen sollte, nichts mehr abgewinnen
konnte. Es war nicht mehr von Interesse,
das Relikt einer überwundenen Zeit zu
bewahren und Geld für die Instandhaltung
aufzubringen. Der »Basler Totentanz« war
nicht etwa einer Zerstörung aus religiösen
Motiven zum Opfer gefallen, sondern einem
neuen Zeitalter mit anderen Werten und
Vorstellungen. Glücklicherweise haben ei-
nige Kunstinteressierte beim Abriss wenige
bemalte oder beschriebene Stücke aus der
Mauer herausschlagen und retten können,
daher existieren heute noch drei Text- und
19 Bildfragmente, die im Historischen
Museum Basel zu sehen sind.
Um sich dieses berühmte Werk der frühen
Totentanztradition vorstellen zu können,
wird der »Basler Totentanz« im Folgenden
nach einer Aquarellkopie von Johann
Rudolf Feyerabend (1779–1814)
aus dem Jahr 1806 beschrieben.
4.5 Der »Basler Totentanz«
TOTENTANZ
KONTAKT:
WWW.NINASCHUETTE.DE
ABB. ANDREAS VESALIUS
33
–34
HERAN IHR STERBLICHEN! DIE AUSSTELLUNG „EVERYBODY: TANZ MIT DEM TOTENTANZ“ IN MEMMINGEN
FLORIAN L. ARNOLD
FLORIAN L. ARNOLD
die thematische und gestalterische vielfalt der totentänze im 20. jahrhundert ist bedeutend. wie schon in vorangegangenen jahrhunderten blieb der totentanz primär eine darstellungsform der europäischen kunst- und kulturlandschat; doch spätestens nach den traumatischen umbrüchen des ersten weltkriegs 1914 bis 1918 entfaltet sich der totentanz quer durch alle genres. so kennen wir totentanzdarstellungen in literatur, malerei, graik und skulptur, aber erstmals auch im ilm (vorangegangen waren 1898 die gebrüder lumière 1898 und im jahr 1905 georges meliès 1905 darstellungen animiert tanzender skelete), in der musik („totentänze“, u. a. für klavier und orchester von franz liszt und später von cesar bresgen). als nippes, kitsch- und gagkunst (schlüsselanhänger,
computeranimationen, videospiele und –clips, internetkunst etc) taucht der tod immer wieder auch im alltag auf. es ist kein zufall, dass ältere to-tentanzdarstellungen, etwa rethels totentanz oder holbeins „todesbilder", in der zeit um den ersten weltkrieg herum in ungewöhnlich hohen aulagen wieder veröfentlicht werden. es folgen zahlreiche nachahmungen und neuschöpfungen zeitgenössi-scher künstler. insbesondere der deutschsprachige raum bringt totentanzwerke in nahezu unüber-schaubarer anzahl hervor; mehr denn je spielt das zeitgeschehen für die totentanzdarstellung eine bedeutende rolle – ausschlaggebend sind sozialpolitische und gesellschatliche faktoren. der totentanz wird zudem auch für karikaturisten und politische zeichner – etwa im „simplicissimus“ in
FLORIAN L. ARNOLD
ABB. WALTER SCHELS
35
–36
der ersten hälte des 20. jahrhunderts – in das genre „satire“ überführt mit selten gekannter bissigkeit, aber auch einer neuen qualität. george grosz, lyonel feininger, karl arnold sind nur einige, die den fei-xenden tod als sinnbild einer menschenfeindlichen gegenwart auszeichnen. der ursprünglich stark im christlichen glauben verwurzelte totentanz wird zum synonym für den vernichtungswillen einer säkularisierten welt.
wer sich dem thema auf eine weise annähern möchte, die frei ist von klischeehaten gruselund gänsehautefekten, der sollte die bis 9. mai in der „mewo“ (kunsthalle memmingen) gezeigte ausstellung „everybody: tanz mit dem totentanz“ nicht versäumen. schon der erste blick in die
ausstellung macht deutlich, dass das thema von allen seiten beleuchtet wird; skelete scheinen in der dreistöckigen halle dem licht entgegen zu wirbeln – das licht einer gläsernen decke freilich, die zum einstigen postamt gehört, in dem die „mewo“ untergebracht ist. deren hintergrund bilden fotograien der mumien aus der berühmten „kapuzinergrut“ von palermo, erstaunlich gut erhaltene leichen, deren stille zusammenkunt wie das morbid angehauchte werk eines zeit-genössischen künstlers wirkt. in der mite des saals: ein großer erdhaufen – die assoziation zu einem grabhügel ist natürlich kein zufall – und darin ilme zum thema. an den wänden ringsum auf augenhöhe: malereien des künstlers peter gilles, der einen teil seiner expressiven gemälde
HERAN IHR STERBLICHEN!
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mit blut fertigt; ob es das eigene blut ist, wie gern kolportiert wird, oder doch „nur“ tierblut, tut der wucht dieser bilder keinen abbruch. gilles gibt der tradierten totentanzdarstellung ihre ursprüngliche funktion zurück: der totentanz ist etwas entlarven-des, aufdeckendes und ofenbarendes. er erzählt uns etwas über unsere weigerung, sich mit dem tod abzuinden. im irrglauben, mitels medizin, wellness, sport und ignoranz ewig jung bleiben zu können, trit uns das sterben von menschen, die uns nahe sind, bis ins mark. zugleich ist der tod in fernsehen und internet etwas, das kaum aufregen-der ist als die aktuelle wetermeldung. er berührt uns nicht mehr, so inlationär erscheint er uns in seinen erscheinungen. doch aus diesem grund ist die totentanz-thematik in der gegenwartskunst wichtig und aktuell. zeitgenössische darstellungen sind nicht auf kopistische verarbeitungen der bildüberlieferung angewiesen, vielmehr verknüpfen sie sich mit gegenwärtigen themen. unsere realität wird in dieser ausstellung gekonnt mit dem topos tod verbunden, unsere wahrnehmung sukzessiv vom erdgeschoss bis ins dachgeschoss geschärt
und wachgerütelt. für die kulturell sonst eher träge stadt memmingen ist diese ausstellung ein regelrechter quantensprung, hinter dem der kölner kunstsammler hartmut krat steckt. er ließ von 25 renommierten künstlerinnen und künstlern je ein großformatiges faksimile-buch mit dem 1463 von bernd notke gemalten totentanz in der marienkirche zu lübeck künstlerisch überarbeiten. das im zweiten weltkrieg zerstörte werk des spätmitelalterlichen meisters erfährt in den überzeichnungen, übermalungen und bearbeitun-gen von enrique asensi und giampiero zanzi sowie einer „verbrennung“ von peter gilles eine lebendige aktualisierung. „heran ihr sterblichen – umsonst ist alles klagen – ihr müsset einen tanz nach meiner pfeife wagen“, lockt der tod, und alle müssen ihm gehorchen. da nutzt kein irdischer besitz, kein titel, keine diesseitige herrschatlichkeit. so ist der papst, zum letzten tanz aufgefordert, empört: „wie, scheut der tod den blitz von meinem banne nicht?“ der tod, einen leeren sarg geschultert: „komm, alter vater, komm, kreuch aus dem vatican,
ERSTMALS IN IHRER GESCHICHTE HAT DIE MENSCH-HEIT DAS POTENTIAL ERREICHT, SICH SELBST AUSZULÖSCHEN.
HERAN IHR STERBLICHEN!
ABB. PETER GILLES
ABB. MICHAEL BRENDEL
in diesen sarg hinein! hier trägt dein scheitel nicht – der hut ist viel zu hoch – du mußt itzt enger wohnen!“ frohlockt der tod im lübecker totentanz, einem der bekanntesten mitelalterlichen totentanzreigen. viele objekte und totentanzarbei-ten, angefangen bei hans holbein d. j., daniel hopfer oder mathäus merian d. ä. im 16. jahrhundert bis zur klassischen moderne mit beiträgen zum thema von ernst barlach, alfred kubin, max klinger oder alfred rethel ergänzen die kernidee der ausstellung. unterm strich sind rund einhundert arbeiten von etwa fünfzig künstlern zu sehen.
das menschliche skelet als materielles substrat jenseits aller metaphysik ist für nahezu jeden künstler ausgangspunkt seiner arbeit. der „every-body“, der körper, wird aber auch von künstlern wie den fotografen walter schels oder rudolf schäfer an der bemerkenswertesten schnitstelle gezeigt: am übergang vom noch begehrenswerten und geliebten objekt/ subjekt zur schrecken verursa-chenden sache – zur leiche. der blick in pathologie, seziersaal, anatomie und leichenschauhaus wird zur nagelprobe für den betrachter. darf man diese
schlafenden gesichter als „schön“ empinden? man tut sich leichter, mit begrifen wie „würde“ das schmerzliche moment dieser „letzten ansichten“ zu umschifen. denn diese menschen – kinder, erwachsene, greise – die von schels und schäfer so überaus achtsam, nachgerade liebevoll ins bild gesetzt werden, endeten doch nach dem betätigen des auslösers in den gesellschatlich ungeliebten und verborgenen, hinter bunkerartigen anlagen wohlversteckten räumen von krematorien. kein zufall, dass der tote etwas geworden ist, dass selbst angehörige nur noch selten zu gesicht bekommen. in unsere gut aufgeräumte gesellschat passen querschläger wie krankheit, sterben und tod nicht. „everybody dies, but me!“ scheinen die „lebenden greise“ von lorida zu verkünden, wenn sie mit über 80 auf skates zum „inal-autumn-date“ rasen.
dass der tote körper immer nur im kontrast mit dem lebendigen fasziniert, versteht sich von selbst. und so kontrastiert die „mewo“-präsentation immer wieder das vitale von menschen unserer zeit mit der arbeit des anatomen. von den darstellungen des lämischen anatomen andreas vesalius
DAUER DER AUSSTELLUNG
8. NOV. 2009 –9. MAI 2010 ÖFFNUNGSZEITEN DI –SO UND FEIERTAGE 11-17 UHR,
FLORIAN L. ARNOLD
EINTRITT 3 EURO / ERMÄSSIGT 2 EURO
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HERAN IHR STERBLICHEN!
über röntgenbilder bis zu den abbildungen der plastinate eines gunter von hagens wird der blick des besuchers geführt, der die ambivalenz der sezierenden bemühung um den menschen – um das, was er ist, wenn er ist – begreifen soll. das abenteuer unserer körperwerdung von unserer geburt bis zur entsorgung des irdischen rests stellt aber immer auch alle faceten des menschlichen daseins dar. . da sind auch skurrile momente, etwa in dem in einer miniaturisierten mülleimer gezeigten animationsilm „totentanz“ von robi müller und fritz hauser oder der nachbildung des diamantverzierten totenschädels von damien hirst. da erzeugt die raumgreifende installation von micha brendel („planets and plazents“ 2005 sowie „der park für den letztlich liegenden“, 1995) einen eigenen ästhetischen reiz, dem auch die tatsache, daß hier eingelegte, getrocknete und plastinierte organe zum einsatz kommen, keinen abbruch tut. ein amüsiertes lächeln stellt sich ein, wenn die masken von südseevölkern frech grinsende knochenschädel nachbilden. auch die todesarten-serie von claudia reinhardt („killing me sotly“), die wirkliche selbstmorde berühmter frauen foto-
graisch nachempindet, gehört hierher; die grenze zwischen iktion und dokumentation bewegt sich auf diesen fotos auf einem hauchschmalen grat.so lebendig, facetenreich und – ja! – ästhetisch ist der tod seit langem nicht mehr gezeigt worden wie in „everybody“.
der rundgang durch diese von fritz franz vogel und kunsthallenleiter joseph kiermeier- debre kuratierten ausstellung endet schließlich im dachgeschoss in einer art kino-situation: stühle vor einem großbildschirm. doch was unterhaltung und zerstreuung am ende eines mitunter erschüternden ausstellungsrundgangs versprechen könnte, ist ein letzter höhepunkt – den zu verdauen freilich nicht jedem gegeben ist. wir sehen einem ungarischen arzt bei seiner routi-nierten arbeit in einem gerichtspathologischen labor zu. mit sachlichprofessioneller gelassenheit zeigt der ilm einen menschen, dessen beruf der tägliche umgang mit dem tod ist. er seziert tote menschen und berichtet nebenher, stellenweise im plauderton, von seinem leben und seiner familie. und da ist sie wieder, unsere realität:
ABB. ROBI MÄLLER / FRITZ HAUSER
sie zeigt uns, wie unpathetisch alles zu ende geht, wie hillos wir tatsächlich sind. dass der vermeintli-che sieg über krankheiten mehr und mehr zum pyr-rhussieg verkommt im angesicht neuer seuchen, nachlässiger gesundheitspolitik und der allmacht der pharmakonzerne. zukuntsvisionen erschöpfen sich im glauben an ständigen wirtschatlichen und technischen fortschrit, in der heilserwartung unauhörlich wachsender produktion und unauhörlich ansteigendem konsums um den preis der wachsenden zerstörung natürlicher lebens-grundlagen. der totentanz ist wieder in der mite der gesellschat angekommen. und er ist, dies zeigt die so gelungen konzipierte schau in der „mewo“, dem tabu entkommen. tod und vernichtung sind nicht nur anlass für wohnzimmertauglichen grusel, sondern ernst zu nehmende auforderung, sich mit problemen nicht abzuinden. kein wunder, dass in diesem jahr die künstlerszene der stadt würzburg das dachthema „apokalypse“ probt. für künstler, die mit wachen sinnen ihre zeit beobachten, ist er mehr denn je probates mitel zur kritik.
die totentänze unserer zeit werden einmal als spiegel für die problemstellungen des angehenden 21. jahrhunderts begrifen werden können, mancher totentanz gar dokumentarischen charakter erhalten.
eine letzte anmerkung sei an dieser stelle noch gemacht: seit zwölf jahren gibt es eine internati-onale totentanzvereinigung, die bildmotive des totentanzes und seine bedeutung vom mitelalter bis in die gegenwart erforscht. in einer zeit, die den tod am liebsten verdrängt, trägt die „ars moriendi“ – die „kunst des sterbens“ – dazu bei, das gedächt-nis der menschen für diese kunstform zu öfnen.
MEWO KUNSTHALLE BAHNHOFSTRASSE 1
87700 MEMMINGEN TEL.: 08331. 850-771
E-MAIL: [email protected]
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FOTOGRAFIEN VON MICHAEL PETERS
DANSEMACABRE, VANITAS, ARS MORIENDI
MICHAEL PETERS
"THANX FOR THE BEAUTI-FUL PERFORMERS: YUMI-KO, DIDIER, YOSHIKO, ZULU"
MICHAEL PETERS
MICHAEL PETERS
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MICHAEL PETERS
MICHAEL PETERS
ZYKLUS
eben sah ich aus dem erkerfenster des zimmers in die beleuchtete nacht und stellte fest, dass die beiden elegant geschwungenen torlügel zu unserem grundstück, hellweiß gestrichenes eisen, nach beiden seiten jederzeit weit ofen stehen. dies also auch im winter, da man doch die tore wegen der kälte schließen sollte! wem kalt ist, der wird nicht abgehalten, unser grundstück zu betreten und wer dies heimlich oder stillschweigend vorhat, der sollte es in jedem fall tun, denn draußen auf der straße ist es leicht zu erfrieren. nicht leicht im sinn von beschwingt oder sorglos, sondern es ist leicht für den winter, jemandem das blut in den adern gefrieren zu lassen. da ist es ratsam, erstmal sich innerhalb des geöfneten tores auf seiten des grundstücks zu beinden. möglicherweise mut zu fassen, einige meter bis zum treppenabsatz zu
gehen, sogar die wenigen steinernen stufen zur villa aufwärts zu nehmen und an der haustür zu klingeln. ob jemand öfnet, bleibt abzuwarten. falls nicht, sollte man während der nacht in bewegung bleiben. falls doch, sollte man nicht zögern, die annehmlichkeiten beheizter und belebter räume zu nutzen.
FENSTERECKEHARDT KLEINE
ECKEHARDT KLEINE
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DANSE MACABREANTONIA SPOHR
„der regionalexpress nach nürnberg, planmäßige abfahrt 6:28 uhr, verspätet sich wegen personen-schadens um 45 minuten. voraussichtliche abfahrt des zuges ist 7:13 uhr.” „toll, den anschlusszug nach wuppertal kriegen wir dann nicht mehr.“ andreas war stinksauer und jule trat gegen ihre sportasche: „personenschaden. warum sagen die nicht einfach: es hat sich schon wieder ein selbst-mörder vor den zug geschmissen und jetzt müssen alle warten, bis wir die gliedmaßen eingesammelt haben?“ „das wort mitgefühl kommt in deinem wortschatz wohl nicht vor. der arme teufel.“ gisela fand jules rotzigen kommentar einfach nur unangebracht. aber die ließ sich nicht auhalten: „er häte ja auch von einem hochhaus springen können oder sich die pulsadern aufschneiden oder tableten schlucken oder sonst etwas, ohne hier den ganzen verkehr aufzuhalten. das ist doch asozial sowas.“ „auf jeden fall sitzen wir jetzt hier mindestens eine dreiviertelstunde fest. will sonst noch jemand einen kaugummi?“ gisela versuchte die aukommende aggressive stimmung zu ersticken: „eigentlich ist es schon scheiße; ich meine, da stirbt ein mensch und wir beklagen uns wegen ein bisschen verspätung.“ doch dieses argument war für jule nicht einsichtig.
was sich ihrer achtzehnjährigen zielstrebigkeit in den weg stellte, war asozial, da musste sie keine langwierigen philosophischen überlegungen anstellen: „sollen wir jetzt alle heulen oder was? in afrika verhungert alle paar minuten ein kind. das juckt auch keine sau.“ „nein, aber ich inde es hat was mit menschenwürde zu tun“, sagte andreas, „wenn wir über die gleise fahren, wo eben einer gestorben ist und käsebrot essen als wäre nichts gewesen, dann ist das schon irgendwie würdelos.“
jule, die gewillt war, die wartezeit zumindest sinnvoll zu nutzen, hob ihr linkes bein in richtung ohr und klemmte es gegen den fahrkartenautoma-ten. dann begann sie, federnd die innenseite ihrer oberschenkel zu dehnen. gisela wollte ihren augen nicht trauen: „hey, sag mal spinnst du? demolier hier nicht die einrichtung. wenn dich der schafner sieht.“ „hier gibt’s überhaupt keine menschen mehr. nur noch automaten – alle wegrationalisiert.“ trotzdem nahm jule ihr bein brav wieder herunter und wandte sich an andreas: „ich wusste gar nicht, dass du so ein gutmensch bist. was willst du denn machen? eine mahnwache organisieren? so mit kerzen anzünden und betrübt gucken?“ „nein, es kann ja durchaus was kreatives sein.“ andreas ließ
SCHRIFTENREIHEN
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ANTONIA SPOHR
sich von der kleinen nicht provozieren „ich dachte da mehr so an einen totentanz. wir improvisieren einen totentanz.“ „hier auf dem bahnsteig? und was sollen die leute denken?“, fragte gisela. „da indest du immer alle so spießig, aber wenn man zu dir mal sagt, komm tanzen wir ein bisschen auf dem bahnsteig, dann sagst du gleich: und was sollen die leute denken. meinst du nicht, dass du vielleicht selber auch so ein klein bisschen spießig bist?“ das saß. „na gut, tanze ich halt im bahnhof. von mir aus nackt, wenn's sein muss. aber ich inde die idee trotzdem scheiße.“ „und warum?“ „wo soll da der sinn liegen?“ „tanzen muss also immer einen sinn haben? „oh nee, jetzt werd' doch nicht gleich wieder so philosophisch!“, maulte jule, die von der idee eigentlich ganz angetan war. „also ich habe mir das in etwa so vorgestellt ...“
andreas bückte sich und kroch dann mit erhobe-nem hintern auf allen vieren um jule und gisela herum, wobei er mit dem kopf rollte, als wolle er ihn gleich zum würfeln verwenden. „was genau stellst du jetzt bite dar?“ „den tod.“ „pass bloß auf, dass der dich nicht hier rumkrabbeln sieht. wenn der sich verarscht fühlt, nimmt der dich glat mit“, sagte gisela. „gerade als tänzer muss man sich mit
den großen themen auseinandersetzen: angst, terror, tod, verlassenwerden, liebe, sehnsucht ...“ andreas verharrte selbst während seiner tanzphilo-sophischen betrachtungen noch in der unbeque-men haltung des todes. „deshalb musst du hier ja nicht wie ein gestörter durch den dreck robben.“ doch andreas ließ sich von gisela nicht wie eine ihrer neunjährigen balletschülerinnen behandeln: „mein wahlspruch lautet: mut zur lächerlichkeit. wenn du dich nicht mal was traust, dann bleibt tanz eine nete form von gymnastik, wird aber niemals kunst.“ „wenn ich dich erinnern darf: wir sind eine amateurtruppe. wir können froh sein, wenn das er-gebnis zumindest halbwegs ästhetisch aussieht. nur weil wir jetzt zu einem workshop fahren, der von pina bausch geleitet wird, musst du hier nicht so rumspinnen. deine pina ist dir wohl etwas zu kopf gestiegen.“ gisela hate bereits hektische lecken im gesicht. „siehst du, genau das nenne ich kleingeist. kunst machen immer nur die großen. wer nicht berühmt ist, soll das mit der kunst lieber gleich bleibenlassen. was ist denn das für ein ansatz? so, ihr stellt euch jetzt da hinten hin. jule, du bist ein kleines mädchen, gisela macht die alte frau und ich hole euch ab und wir tanzen einen gemeinsamen reigen.“ andreas formte seine hände zu pranken
„WAS GENAU STELLST DU JETZT BITTE DAR?“ „DEN TOD.“
DANSE MACABRE
TOTENTANZ
MARK KLAWIKOWSKI
HENKERSMAHLZEIT
und begann sich immer schneller, immer schneller im kreis zu drehen. dann hielt er abrupt inne und strebte mit großen verlangsamten schriten jule entgegen. er umfasste ihre taille und hob sie nach oben und sie strampelte wild mit ihren beinen und machte ein erschrecktes milchmädchengesicht. plötzlich fuhr ein ruck durch ihren körper und sie ließ sich lächelnd von andreas zurück auf den boden setzen. sie hob ihr bein zu einer fast perfek-ten arabesque und tänzelte dann in glückseligen walzerschriten um andreas herum. der sprang mit einem grand jeté auf gisela zu, die zu hören meinte, wie die nähte seiner hose rissen. die leute um sie herum machten mit ihren cofee-to-go- pappbe-chern einen schrit zur seite, um nicht aus versehen einen fuß ins gesicht zu bekommen. zwar wussten sie nicht, was dieser sonderbare tanz ohne musik zu bedeuten hate, sofern sie es überhaupt als tanz auf-fassten. aber immerhin verkürzte es die wartezeit, wenn sich einige verrückte zum afen machten und diese hier schienen ja ansonsten harmlos zu sein.
da trat ein leicht pummeliger mann mit halbglatze auf den bahnsteig. er trug einen braunen anzug, der
schon etwas abgewetzt wirkte und dessen ärmel einige zentimeter zu lang waren. in der rechten hand hielt er einen aktenkofer, in der linken eine sense. er sprach andreas an, als dieser nach einem besonders anstrengenden sprung kurz innehielt, um wieder genug lut zu bekommen:„entschuldigen sie, wenn ich mich einmische, aber ich interessiere mich sehr für tanz. ich inde ihre contact improvisation höchst außerordentlich. in meiner jugend habe ich ja auch getanzt, aber ir-gendwann ist man froh, wenn die krat noch für den beruf reicht, da ist dann nichts mehr mit hobby.“ „was machen sie denn berulich? sind sie vertreter für landwirtschatsgeräte oder gartenbau oder so was?“, fragte gisela, die über die unterbrechung froh war. dennoch war ihr dieser kleine mann, der sich mit anbiedernder leutseligkeit zwischen sie gedrängt hate, eher unsympathisch. ganz ofen-sichtlich ein selbstdarsteller, der jeden augenblick nutzte, um sich selbst reden zu hören. „wegen der sense meinen sie? das ist gut, das hat mich bisher auch noch niemand gefragt, das muss ich mir merken. nein, nein, ich bin in einem
TUXURAN: FÜR UNS
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ANTONIA SPOHR
weltweit operierenden transportunternehmen bereichsleiter für miteleuropa, der exitus gmbh. deshalb inde ich auch ihr kleines stück hier so rüh-rend antiquiert. wir arbeiten ja heute viel eizienter und gerade der kundenkontakt beschränkt sich nur noch auf den bruchteil einer sekunde. sonst wäre auch der personalaufwand viel zu hoch. wenn sie nur mal überlegen, wie viele menschen so an einem tag sterben ...“ „entschuldigung, ich glaube, ich verstehe sie da nicht so genau. was genau transportieren sie?“, andreas knif die augenbrauen zusammen. „seelen. wir sind spezialisiert auf den trans-port menschlicher seelen. kurzzeitig haten wir aufgrund einer fusion auch den transport von cha-mäleon-, schaf- und katzenseelen im programm, aber den bereich haben wir got sei dank wieder abgestoßen. aber ich erzähle ihnen da schon viel zu viel. wir operieren gemeinhin sehr diskret.“ „sie wollen uns doch nicht ernsthat weiß machen, sie seien der tod?“ „nein, wo denken sie hin, tod nannte man bei uns eigentlich nur die sachbearbei-ter und auch die schon lange nicht mehr. das heißt jetzt executive oicer, wie in jedem international geführten unternehmen.“ andreas wollte dem ofensichtlich geistig verwirrten mann den rücken zudrehen, um weiterzutanzen, doch dieser ließ sich nicht so leicht ignorieren: „sehen sie, so ist das immer, sage ich den leuten die wahrheit, halten sie mich für einen lügner und spaßvogel, erzähle ich ihnen irgendeinen hanebüchenen mist, glaubt mir jeder. bite, wie sie wollen, eigentlich halte ich gar nichts von so billiger efekthascherei, aber anders scheint es einfach nicht zu funktionieren.“
er klopte dreimal mit seiner sense fest gegen den fahrkartenautomaten und war plötzlich weg. doch kaum haten sich die drei versichert, dass er tatsächlich verschwunden war, stand er mit schel-mischem gesichtsausdruck wieder vor ihnen. „ha, sehen sie, jetzt sind sie beeindruckt. aber was ich eigentlich erzählen wollte: ich komme auch kaum mehr ins theater. das letzte stück, was ich mir von pina bausch angesehen habe, war, glaube ich, der fensterputzer. das ist aber auch jahre her. dabei soll-te man öters ausgehen. das leben ist so kurz. vita brevis, ars longa sage ich immer. und ihre kleine
auführung hier, wirklich, ich bin beeindruckt. ich könnte ihnen kostenlos unsere goldene kunden-karte anbieten. das erspart ihnen auf den weg ins jenseits unnötige wartezeiten: sie können unsere viplounges nutzen und bei einigen bestatungs-unternehmen bekommen ihre angehörigen damit sogar prozente. aber wir sind erst noch dabei, dieses netzwerk auszubauen.“ keiner machte anstalten, auf dieses verlockende angebot einzugehen. außerdem hate es der herr mit der sense plötzlich eilig. denn jule, gisela und andreas haten zwar vollkommen vergessen, dass sie sich auf dem bayreuther bahnhof befanden, aber nichtsdestotrotz fuhr plötzlich der verspätete zug nach nürnberg ein und die aussteigenden fahrgäste drängten auf den bahnsteig. „es war wirklich interessant, sich mit ihnen zu un-terhalten, aber jetzt muss ich meinen platz suchen, ich habe nämlich reserviert. ich wünsche ihnen eine angenehme reise!“ „sie wollen doch nicht etwa in zug arbeiten?“, andreas bekam als erster den mund wieder auf. „doch, doch ich habe eigent-lich immer meinen laptop dabei.“ er schaut die drei lächelnd an. „nicht, was sie jetzt wieder denken. ich bin schon lange nicht mehr ins tagesgeschät involviert. einen schönen tag noch!“
jule, gisela und andreas wurden von den anderen reisenden in den zug gedrängt und verloren dabei den herrn von der exitus gmbh aus den augen. und nachdem der pummelige mann, einen kleinen tumult verursachend, seine sense auf die gepäckab-lage gelegt hate, war er von den anderen geschäts-leuten nicht mehr zu unterscheiden.
DANSE MACABRE
AUCH WENN ALLES UNS OFT SINNLOSUND NICHTIG ERSCHEINT;WAS SIND DAS NUR FÜR SPUREN ÜBERALL?
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KONTAKT: TUXURAN / VIVA PREKARIA
WWW.MYSPACE.COM/TUXURAN
sie ging über einen bürgersteig mit tiefen löchern, sah einen rollstuhlfahrer miten auf der autobahn und durch ein fenster konnte sie ein pappmaché-skelet erspähen. sie aber hate etwas anderes vor und lief weiter, während ihre weißen kniestrümpfe nach unten rutschten. an einer neonlichtbeleuch-teten bäckerei an der ecke progreso/ mexicaltzingo machte sie halt. ihre kleine bestickte rosarote lederbörse in der hand, besah sie sich die auslage, presste die stirn an die scheibe. dahinter lauter zuckrig-klebrige, kunterbunte köstlichkeiten. zierrat überall, inmiten von staubigen holzregalen, vor gesprungenen mauerwänden. manch einer häte sich vielleicht erschreckt, sie jedoch sah voller entzücken darauf. auf den farbig dekorierten schä-deln war in kunstvoller schrit pedro, maria, isabel und javier graviert. so einen wollte sie haben und großmama esperanza noch heute abend bringen. oder doch lieber ein schokoladiges etwas, das sich bei näherem hinsehen als miniatursarg entpuppte? sie ging hinein und schloss die halbblinde tür hinter
sich. fast fühlte sie sich der ohnmacht nahe ob so viel unwiderstehlicher gerüche. das marzipan hate es ihr ganz besonders angetan. und die grellgrünen blüten aus zuckerguss auf dem wohlgeformten schädel. großmama esperanza würde sie lieben und vielleicht noch einmal sprechen zu ihr. nach einer weile hate sie sich entschieden: der da, der sollte es sein. hastig lief sie zurück über den holprigen bürgersteig, ganz hinauf – die papiertüte in der einen, die kleine bestickte rosarote lederbörse in der anderen hand. außer atem raschelten tausende von gelben papierblüten unter ihren füßen und sie fühlte, dass sie großmama esperanza immer näher kam. auf dem friedhof oben am berg spielte sie schon, die musik. und forderte auf zum tanz mit den toten.
MEXIKO
CSH
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MEXIKO
FOTO: CSH
whiskey passte in sein leben, wie max und moritz in die schule. zu bodenständig und alltäglich war es sonst, fern von luxus, schwäbisch-bieder. doch der whiskey war seine leidenschat, die er – zwar dosiert – aber doch regelmäßig genoss.
mit beiden händen umfasste er dabei fest das viereckige glas mit dem dicken boden. fast sah es aus, als ob er sich daran wärmte. er hob es gegen das licht und genoss den dunklen ockerton, den er durch die zwischenräume seiner inger betrachten konnte. dann roch er an der lüssigkeit und dem leicht rauchigen aroma, das neben dem alkohol in seine nase stieg. schluck für schluck ließ er den whiskey dann durch seine kehle rinnen.
frieder trank nur single malt whiskey, mindestens 15 jahre in einem eichenfass gereit. „eine sünde“, sagte seine frau martha, „so ein haufen geld für eine lasche!“ „ein geschmack nach eiche, nach reife und viel zeit“, entgegnete frieder ruhig. fast schien es, als wollte er noch weiter reden, doch ich habe ihn in den zwanzig jahren, in denen ich frieder gekannt habe, nie mehr dazu sagen gehört. es war für ihn ein fast schon poetischer satz. ein satz, der eigentlich ebenso wenig zu ihm passte, wie der
whiskey und die ganze zeremonie, die er darum machte.
frieder und ein weizen – prima. oder ein dunkles hefe – perfekt. oder auch mal ein frisch gebrannter klarer – wunderbar. etwas lüssiges, alkoholisches, das in eine beiz passte, irgendwo auf dem land oder in der nähe des eisenbahnschuppens, in dem er seit seiner frühpensionierung unendlich viel zeit verbrachte. sommers wie winters, ja auch wenn es im schuppen nur knapp über 0 grad warm war. einen ehemaligen lokführer konnte so leicht nichts abschrecken, schon gar nicht das weter.
jahrzehntelang hate er im freien auf der lok geses-sen, nur von vorne vom kohlenfeuer angeheizt, oder angekokelt, wie er manchmal witzelte. hier im lokschuppen war frieder in seinem element. er restaurierte und werkelte, organisierte und schate. aus alten lokruinen, die sein von ihm mit gegründe-ter verein einkaute, wurden fahrbare sonntags-freuden für nostalgiker. der dampf der alten loks zeichnete regelmäßig seine spuren am himmel der schwäbischen alb. keine aufgabe war frieder da-bei zu schwierig. er besorgte ersatzteile von überall her und was er nicht fand, das machte er selbst. er
DER ERINNERUNGS TRANK ELVIRA LAUSCHER
SCHRIFTENREIHEN ELVIRA LAUSCHER
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war handwerker genug und kein material war für ihn unbesiegbar. frieder schate stets, dass es sich ihm unterwarf und in der form endete, wie er es sich vorgestellt hate. metall oder holz – was spielte das schon für eine rolle? man liebte ihn für seinen erindergeist, für seine hartnäckigkeit und auch für seine humorvoll ruppige art. die jungen zugbegeis-terten, die ebenfalls im schuppen halfen, sahen zu ihm auf, bewunderten sein wissen. er war noch von einem alten schlag, der heute nicht mehr so häuig zu inden ist. im schuppen trank er keinen whis-key, erzählte er mir einmal. „das passt nicht, mädel“, meinte er. ich war nie in dem schuppen gewesen und konnte mir kein bild davon machen.
doch wenn er davon erzählte, von dort oder auch vom krieg, dann zeigte sich eine gewisse härte und ausdauer in seinem gesicht. so sah ein kämpfer aus, ein überlebender, ein macher. einer, der immer auf dem boden geblieben war, im wahrsten sinne des wortes. auch im krieg hate ihn niemand umhauen können, weder die klirrende kälte in norwegen, noch die zahlreichen insekten auf seiner pritsche, die ihn heimsuchten. und schon gleich gar nicht der „russ“. wenn er seinen malt in den händen hielt, wurde sein gesicht ein bisschen
weicher, nicht ofensichtlich, leider. sonst häte ich ihn schon damals gefragt, was es damit auf sich hat. vielleicht jedenfalls, denn so gut kannten wir uns all die jahre nicht, in denen wir nur stundenweise gemeinsam beim essen saßen, an den feiertagen oder auch mal an einem normalen sonntag, wenn es eben wieder an der zeit war für einen besuch bei den großeltern. jahre später dann sah ich es wieder, das weichere gesicht, das verletzlichere.
frieder war schwach und alt geworden, hate seiner martha schon lange für immer auf wiedersehen gesagt. ein schlaganfall hate ihn aus der ehemals gemeinsamen wohnung und in ein altenheim gebracht. irgendwann hate er eingesehen, dass er nicht mehr alleine sein konnte und irgend-wann gab er sich auch immer mehr auf. er saß im rollstuhl, kämpte nur noch mit ein paar mitbe-wohnerinnen, die ihm nicht zusagten. sozusagen als kleine selbst gewählte aufgabe. die damen spielten diese verbalen auseinandersetzungen – man könnte fast meinen – gerne mit. ansonsten war frieder sehr beliebt. seine ruppige, charmante art, seine ehrlichkeit und seine gradlinigkeit, die sich in der unterteilung seiner nahen umwelt in „die isch scho recht“ oder „a bese frau“ zeigte, geiel
“WENN ICH DIE OCKERFARBENE FLÜSSIG-KEIT DURCH MEINE FINGER HINDURCH BETRACHTE, DENKE ICH AN CHARLES UND AN FRIEDER“
DER ERINNERUNGSTRUNK
den menschen um ihn herum. die mitarbeiter des heimes liebten ihn, auch die damen, die mit ihm logopädie oder krankengymnastik machten, ließen sich von seinem rauen charme direkt in sein herz entführen. fürsorglich waren sie allesamt, auch als es schlechter um frieder stand und er immer mehr abmagerte. aber er hate ein schönes alter erreicht mit über 90, da zwingt man niemandem mehr ein ungewolltes essen rein. auch keinen whiskey.
zu beginn hate er noch manchmal einen getrunken im heim. doch hat ein ritual, das man von zu hause mitbringt, einen anderen stellenwert in einer frem-den umgebung. nur noch selten sah man ihn mit dem viereckigen glas und seinem malt. manchmal zu beginn, wenn er mit seiner lieblingsplegerin moni da saß und über alte zeiten redete, holte sie ihm die lasche und ein glas. hin und wieder holte sie dann wohl auch zwei und nippte, wenn sie kurz vor feierabend noch zu ihm kam, auch an einem whiskey. doch je mehr frieder abbaute, desto seltener sah ich ihn mit einem glas mit ockergelber lüssigkeit. was ich nun eher sah, war das gesicht darunter. er nahm immer öter meine hand, wenn ich sie ihm reichte und streichelte sie. eine zärt-liche und leicht hillose geste, die ich nicht mal bei seiner martha gesehen hate. seine beide hände umfassten meine und seine obere streichelte mich immer wieder, hin und her. so lange, bis es fast unangenehm wurde und man gerne mal selbst quer darüber gefahren wäre. später habe ich dann seine hand gestreichelt. es war klar, dass es nicht mehr lange ging mit frieder. auch frieder wusste das und kämpte trotzdem gegen das unvermeidliche an. zuerst wusste keiner warum. er hate doch alles gehabt und wollte selbst nicht mehr. und doch hielt ihn etwas, was ihm sein herz so schwer machte, dass es ihn nicht gehen lassen wollte. tagelang kämpte er in einer art wach-traum-zustand. wenn er sich mit seltsam glasig und trüb gewordenen augen aufrichtete, murmelte er manchmal unver-ständliche worte. dazwischen ein name. charles.
nie zuvor hate ich den namen charles gehört und ich kannte auch keine geschichte über einen charles. moni übrigens auch nicht und auch nie-mand sonst, den ich fragte. manchmal richtete er sich auf und zeigte auf den himmel. „ssssie kommn ...“, nuschelte er, kaum verständlich und dann schrie er und schnaute panisch. seine hand machte
eine wegwischende bewegung, als ob er etwas verjagen wollte. „charles ...“
charles, immer wieder charles. ich fragte, ob das am himmel lugzeuge waren. er nickte. ob er mich wirklich verstanden hat, weiß ich nicht. auch nicht, ob die anderen fragen, die ich ihm nach und nach 2 stellte, bei ihm noch ankamen. ich habe nur eine tiefe schuld bei ihm gespürt, die ihn nicht in ruhe ließ. ob es eine tatsächliche schuld war oder eine eingebildete, die eines überlebenden, der seinen freund durch unglückliche umstände vor über fünfzig jahren im krieg verloren hat, ich weiß es nicht. und werde es auch nie erfahren. an einem nachmitag, als ich bei ihm war, füllte ich mir das glas. ich wollte ihn auch mal probieren, diesen malt. er schien ihn zu riechen, murmelte „schhheeißßß ßßßß kerllll, charles“.
„du hast ihn sehr gemocht, diesen charles ...“ frie-der nickte und für einen moment wirkte er wacher als in den letzten tagen. „wer auch immer charles war und was du auch getan hast, er hat dir schon lange vergeben. vielleicht tret ihr euch auf der anderen seite“, meinte ich. er stöhnte – es klang erleichtert – auf. ich habe ihn keine anderen worte mehr danach sagen hören. manchmal trinke auch ich nun einen whiskey. die stimmung dafür muss richtig sein und auch der ort. ich habe den korb-sessel vor dem fenster im schlafzimmer gewählt. dort habe ich den schönsten blick über die lichter der stadt. und wenn ich trinke, muss es ein single malt whiskey sein, mindestens 15 jahre in einem eichenfass gereit. aus reiner gerste, mit frischem quellwasser und hefe angesetzt und über einem torfeuer gebrannt. wenn ich die ockerfarbene lüssigkeit durch meine inger hindurch betrachte, denke ich an charles und an frieder. wer charles war, werde ich nie erfahren und auch nicht, warum jemand von den inseln – vielleicht aus schotland? – im krieg auf die deutsche seite geriet. aber ich höre diesen unbekannten genussvoll sagen: „ein geschmack nach eiche, nach reife und viel zeit.“ und dann sehe ich die zwei jungen männer, die die gläser erheben. und ich sehe die unbeschwerten gesichter, junge gesichter. ich proste ihnen zu und spüre auf meiner zunge den vollen geschmack des malt.
SCHRIFTENREIHEN ELVIRA LAUSCHER
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TUXURAN:
NICHTLIEBEN / IST NICHT HASSEN IST / ANGST HABEN
1. der tanz ist form und ausdruck der freude. ot steckt darin wie im trotzigen tango auch ein stachel voll hohn und parodie auf den tod, den geheimen widerpart, der augenblicklich kommen mag, um die lust am tanz jäh zu beenden. totentanz also bedeutet eine paradoxie. der tod bzw. etwas totes ist anlass oder gegenstand der freude, die nicht identisch sein muss mit der lebensfreude. die freu-de kann auch dem tod gelten und den toten, als den vom leben in der knechtschat befreiten. denken wir an die märtyrer und gefolterten, die ihre qual im hofnungsvollen blick auf den tod überstehen, der sie von unerträglichen schmerzen befreit. ihr tanz indet im geheimen ihrer gedanken stat. auch der selbstmörder vollführt einen letzten tanz ot an der grenze, die er wortlos passiert.
2 . dem wort totentanz entspringt ein brunnen höchster bedeutung und deutbarkeit. denn nichts ist ungewisser und unbewusster als der grenzbe-reich zwischen tod und leben. einerseits verweist der begrif auf tänze jenseits der zeitmauer, ande-rerseits beschwören auch die lebenden auf vielsei-tige weise den tod immer wieder mit neuen und alten tänzen. schließlich gibt es jenes zwischen-
reich, wo die untoten und zombies verschiedener herkunt hausen, die in der regel freilich wenig neigung zum tanzen zeigen. aber auch ihr schlürfen und stapfen im schwarzen sand ihrer unmündigkeit ist ot als rudimentäre tanzart erklärt worden.
3. von arno schmidt stammt die fantasie, dass die toten nicht sterben können, solange sie noch zitiert, verehrt und auf irgendeinem gedächtnissockel weiterleben müssen. sie hofen alle auf endgültiges vergessenwerden, sie verluchen die tage, als sie noch am leben waren und nichts als überlebenslan-gen ruhm begehrten. genau dieser ruhm verwehrt ihnen nun den ewigen schlaf, nach dem sie sich sehnen. jedes mal also, wenn einer, der schon beinah vergessen ward, wieder von einem dieser lebendigen einfaltspinsel in erinnerung gerufen wird, verfällt dieser post mortem und wider willen verehrte in verzweilung und wirt vor wut und verzweilung das nacht-geschirr der ewigkeit aus den fenstern dort.
4 . ganz anders dachte der philosoph und dichter walter benjamin. ihm war gewiss, dass es eines tages eine innerweltliche erlösung aus der qual und dem
WENN DIETOTEN UND UNTOTEN TANZEN PETER ZWEY
PETER ZWEY SCHRIFTENREIHEN
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schlachthaus der geschichte geben wird. dieser hofnung genügten ihm zufolge die sichtbaren anzeichen, dass immer wieder unabgegoltenes der geschichte zu aktueller geltung kommt. wenn eine vertane oder unerfüllte möglichkeit der geschichte nach jahrhunderten plötzlich wirklichkeit wurde, sah er darin vorzeichen eines tanzes, der am tag der befreiung von ungerechtigkeit und barbarei den jubel der menschheit bewegen wird.
5. im limbus zwischen himmel und hölle in dantes „götlicher komödie“ sitzen die ungläubigen, genauer solch tugendreiche und verdiente leute wie platon und moses, die keine gelegenheit haten, dem christentum beizutreten, da es dieses zu ihrer lebenszeit noch gar nicht gab. vermutlich war ih-nen während der langen wartezeit, deren dauer bis auf den tag keiner ermessen kann, nach tanz nicht nur als ausdruck der vorfreude zumute, alsbald in den himmel der seligen aufgenommen zu werden. möglicherweise arbeiten sie auch zur stunde noch an kunstvollen iguren, von denen wir gläubigen bis heute nichts ahnen. denn was wissen wir schon von takt und rhythmus der tänze, die außerhalb von raum und zeit im rampenlicht des allmächtigen vollführt werden?
6. der katholische theologe hans urs von balthasar besuchte einmal eine der berühmten vorlesungen des wiener schritstellers karl kraus. der satiriker las aus seiner tragödie „die letzten tage der menschheit". von balthasar quälte bald die un-heimliche erscheinung, dass der entfesselte tanz der worte das publikum im saal in lauter tote seelen verwandelte und loh rasch von dem orte, wo der magier und dichter diese art von totenbeschwörung abhielt. von balthasar wusste danach nie, ob er mit toten oder mit untoten zusammen dieser veran-staltung beiwohnte. von der die irdischen grenzen überwindenden krat des sprachmagiers karl kraus aber war er fortan überzeugt.
7. schließlich miodrag pavlovics buch von der „bucht der aphrodite". darin relektiert der serbische dichter auf ein großes jugoslawisches versöhnungsfest, das nur glücken kann, wenn dabei auch die verstorbenen und einst zu unrecht verurteilten und zu tode gekommenen zum feste erscheinen können. er vermisst den festlichen tanz-boden dieses zukuntsereignisses in alle richtungen. wie wäre eine einladung an die besonderen gäste aus dem totenreich abzufassen und wer könnte sie überbringen? denn nur wenn keiner fehlt und der letzte gast zum ersten passt, wie ein denkstein auf den anderen, ist diese utopie erkennbar und erfüllbar.
WENN DIE TOTEN...
1. EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN
ES ist doch so: wenn wir ehrlich sind, meine damen und herren, die rentner plündern die rentenkassen. kaltblütig, mit zitrigen, faltigen hän-den werfen sie unser geld für gehhilfen, stützstrapse und andere fetisch-artikel raus und nehmen uns jungen die letzten jobs weg, wie die ausländer in den siebziger jahren uns die arbeit und die frauen wegschnappten. weil sie immer mehr brauchen, gierig nach tableten, sex und macht. nächte durch-zechend und auf pille torkeln sie früh morgens durch die neubaugebiete und machen unnötig lärm bei der zeitungsaustragerei oder rutschen uns bei der regalbestückung im edeka zwischen den beinen rum. wir lieben lebensmitel. nachmitags hängen sie deliriös-augenringig in apotheken rum, wie jun-kies in den ixerstübchen der großstädte, quetschen egoman den letzten cent aus unserem gesundheits-system heraus. weil der staat nichts dagegen unter-nimmt, helfen sich bürger nun selbst. mancherorts verkaufen bauarbeiter stahlgiterstützen frisch und gegen blixas bargeld von der baustelle weg, anstat sie einzubauen. sind sowieso überbewertet,
stahlstützen braucht kein mensch. der diabolische plan ist folgender: sind die neubauten errichtet, veranstalten dj builder & co unter wortspielerisch-vertuschenden pseudonymen ü60-teetänzchen in den kurzlebigen untergeschossen. oma, save the last dance for me ...
laut joseph beuys steckt in jedem menschen dieser erde angeblich ein künstler. andy warhol räumte gar jeder kreatur in ihrer lebenszeit 15 minuten ruhm ein. die konsequenz dieser debil daher gesagten worte = casting shows & model-wgs = schate papa benedikt letztes jahr als vorhölle ab – dachte ich. ES war so: er, neu im amt, warf 49 mit zahlen be-druckte kugeln in seine vorhölle-tombola-trommel, ähnlich dem loto, aber 15 war es nicht. es iel die 16. krebs. wegen der neuen highspeed-zertrüm-merungsmaschine in heidelberg, vorerst nur für privatpatienten, sorry. schade. kindesmisshandlung durch kirchenangehörige wäre die 14 gewesen – er hate den ruf eines spielers. an dieser stelle sei der chartbreaker „alma mater“ inklusive der hitsingle „the kids are alright“ von mc benedikt empfohlen – it’s a sony – amen.die 15 bleibt im jackpot. 1 und 5 ergibt 6. 3 mal 6 ergibt 666.
DEAD CAN DANCEES SAY VON ROCKY SUNNY ERIKSON
SUNNY ERIKSON SCHRIFTENREIHEN
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2. DIA DE LOS MUERTOS
kennen Sie zufällig den ilm „once upon a time in mexico“? johnny depp wurde gerade von bösen buben beide augen ausgestochen, somit schnappt er sich einen mexikanischen jungen, der ihn zum stadtzentrum führen soll. in der szene greit er dann in seinen hosenschlitz und fragt den jungen: „hast du so was schon mal gesehen?“ – er holt dann eine pistole raus, das nur am rande erwähnt. der „dia de los muertos“ (tag der toten) ist einer der bedeu-tendsten feiertage, an dem in mexiko traditionell der toten gedacht wird. die vorbereitungen für die zeremonie beginnen mite oktober, gefeiert wird dann vom 31. oktober bis zum 2. november, je nach region auf unterschiedliche weise. der „dia de los muertos“ wurde im jahr 2003 von der unesco in die liste der meisterwerke des mündlichen und im-materiellen erbes der menschheit eingetragen. die feierlichkeiten in ihrer traditionellen form gelten als bedroht, sie werden zunehmend vom nordamerika-nischen halloween beeinlusst.
3. DEAD CAN’TDANCE
tote tragen keine karos. wir bilden uns ein, die menschen werden sich ob unserer lasziven fähigkeit orgien zu feiern, an uns lebemensch erinnern, dem auf seinem grabstein gemeißelt wird: rip – einer, der feiern konnte. die realität sieht anders aus. der deutsche und der schwabe an sich kann feiern, wenn zwanzigtausend andere das gleiche fühlen (nichts) und brüllen (tor!) wie er. ist aber sein lebensbejahendes charisma als beitrag zum gelun-genen feste gefragt, implodiert er. der gast wirt sein geschenk auf den tisch, tätschelt den jubilar ab, frisst das bufet leer und redet den ganzen abend nur mit seinem begleiter, wippt mit den puschen und verdaut. der gastgeber ist einfach froh, wenn er wieder nach hause kann. die willigentänzer-exoten bauen sich um die tanzläche auf wie eine mauer beim freistoß und warten bis ihr song kommt. aber was ist ihr song, was von dead kennedys? ich dränge mich – werde ich versehent-lich eingeladen – gerne als platenleger auf, um das „feiern“ und gespräche zu vermeiden. eine frau wünscht sich „my papa was a rolling stone“, ich
SAUBER RAUSGEWISCHTER IHK-OPTIMISMUS, BANKFILIALENFREUND-LICHKEIT UND VERSICHERUNGSAGEN-TURAUGENZWINKERN. FREUDENTANZ. DONAUWALZER. DIE ANDEREN REIHEN SICH BITTE EIN IN DIE POLONAISE ZUM ARBEITSAMT.
DEAD CAN DANCE
lüge, ich häte den song nicht, schalte sofort ab, als sie zu schwärmen beginnt, schaue mir ihre nase an, ihre haare und ich sehe, dass sie lippenstit an den zähnen trägt. ich nicke zustimmend und singe in mich hinein „your papa was a neanderthaler“. ich frage sie, ob das auf ihrem kopf eine perücke ist oder irgendwas vom bufet. sie verlässt mich, verklärt summe ich „your papa was the steinheimer mensch“ vor mich hin. hilfreich ist, wenn wir in zukunt veranstaltungen einen beinamen geben, um auf deren inhalt hinzuweisen. so könnte ein geburtstag schlicht „sorry for me“ heißen. Die ü30-partys nennen wir „dead men walking“ und eine hochzeit ist in zukunt fröhlich „the last waltz“. ES lebe der zentralfriedhof und alle seine toten, der eintrit ist heute ausnahmslos für lebende verboten.
wir erinnern uns trotz viel verdrängungsarbeit leider doch noch an das city fest der stadt ulm, wel-ches von dieser selbst – einsichtig und weise – auch aus mangelndem interesse, abgeschat wurde. ein wahrlich gruseliger totentanz war das. das einzige, was an ein „fest“ erinnerte, waren pfandfreie (in-telligent), zerbrochene maßkrüge um das münster verteilt, und ein paar alte säcke, die man gegen halb zwölf von minderjährigen mädchen losreißen musste, die ihre töchter häten sein können und schlimmstenfalls waren. 2010 nun, erstrahlt die stadt in einem ganz anderen, herrlichen licht. ein selbstbewusstsein ist da, ein innovatives ego hat sich verfestigt in jedem einzelnen von uns. spitze im wilden süden. heute würden wir hildegard knef nicht mehr davon jagen, nur weil sie mal ihre titen in die kamera gehalten hat. gut, das donaufest wird immer teurer, dafür kann endlich das roxy weg, wenn die neue mehrzweckhalle in neu-ulm steht. außerdem bekommt dann die kradhalle mehr sonne ab. und immer wieder hören wir, dass wir vergleichsweise ja in der diesen und der jenen spar-te die besten sind. das ganze leben ist ja nur noch ein wetbewerb. keiner fragt, ob wir die glücklichs-ten sind. aufstrebende superstars und model-wgs plärren aus den fernsehern, sie wollten doch nur die besten sein. frischgebackene eltern sind stolz, nicht etwa voller freude über das kleine lebewesen. na gut, es ist gesund, das ist ja nichts besonderes. irgendein talent wird es schon zum vorschein
bringen, das superkind. sauber rausgewischter ihk-optimismus, bankilialenfreundlichkeit und versicherungsagenturaugenzwinkern. freudentanz. donauwalzer. die anderen reihen sich bite ein in die polonaise zum arbeitsamt. ich glaube, die ärms-ten völker feiern am besten.
4. WE LOVE ULM
die bleeb geeks haben es auf den punkt gebracht. knallig weiß und rot strahlt es uns vonspatzenschwarzen t-shirts entgegen und muntert uns auf. „we are the world, we are the children“ – und die stimme des volkes ist laut. ulmer ulmer und doch hat die stadt sich – was das feiern angeht, noch ein kleines unbeugsames dorf, den galli-ern in rom ähnelnd – erhalten, der verein leise. silentium. der verein forderte die umbenennung des schwörmontags in störmontag. ist ja nur der feiertag der stadt. so mussten stadtrat und gastrono-mieprominenz stundenlang über die lärmbelästi-gung debatieren, lösungen inden für einen leisen schwörmontag. wenigstens gilt das lachen, schreien und toben von kindern laut endlich verankertem gesetz zuküntig nicht mehr als lärmbelästigung, wie industrielärm. bundesweit –geht doch.memento mori
SUNNY ERIKSON SCHRIFTENREIHEN
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DEAD CAN DANCE
DPM
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DEAD POE–
MS
DEAD POEMS
MIT ZÄRTLICHEM BLICK SEH’ ICH /DEN WEITEN UND WEICHEN SPRUNG /DER KATZE ÜBER DEN ZAUN. /WIE EIN TRITT AN EINE MÜLLTONNE /KLINGT DER SCHLAG DER VORDER-ACHSE / AUF IHREN LEIB / IHR MECHA-NISCH HINREICHEND ZERSTÖRTER LEIB / WIRD VON KRÄMPFEN DES TO-DES / HÜFTHOCH UND SCHRITTWEIT/HERUMGESCHLEUDERT. /IHR MUND VERSPRÜHT BLUT/ UND ICH TRETE ZURÜCK / UM NICHT SCHMUTZIG ZU WERDEN. / DEN FOL-GENDEN WAGEN / VERTRET’ ICH DIE SPUR, / DA ES MIR STILLOS SCHIENE /SIE 2 MAL TÖTEN ZU LASSEN. /DER KADAVER KOMMT IN DER RINNE ZUR RUHE / UND ICH WEISS /SEHR KLAR UND SEHR WACH; /„DIES IST DER TOD DURCH GEWALT/
MORGENSPAZIERGANG DURCH EIN DORF1980 BEIM GANG VON ... NACH ...
GÜNTER HESS
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UND ICH JOB’ GERADE /ALS WAFFEN-ENTWICKLER.“ / ALS MENSCH VON KULTUR / UNTERNEHME ICH SCHRIT-TE, SIE SOGLEICH UND DISKRET /DEM BLICK JENER DENKBAREN KIN-DER, / DIE SIE MÖGLICHERWEISE GE-LIEBT, ZU ENTZIEHEN. / DEN SCHOCK UND DEN RAUSCH / MEINES EINTRITTS IN DAS BEWUSSTSEIN DES TÖTENS /VERBERG’ ICH MIT ROUTINIERTER GE-SCHWÄTZIGKEIT / KURZFRISTIG BLIND DER INTERESSENLAGEN RINGSUM. /DIES ÄRGERT MICH NACHHER NOCH LANGE. /GÜNTER HESS
DEAD POEMS
EIN SCHÖNER GREIS TRITT AUF MIT STIL UND STILLE, / VERGILBTER GLANZ VON STRAFFEN / JUGENDTA-GEN. / IM ROT DES GÜRTELS ZEIGT SICH SEIN VITALER LEBENSWILLE. /DER WEISSE ANZUG WIRKT SALOPP /GETRAGEN. / SEIN KÜHLER BLICK VER-ACHTET SCHON DES LEBENS FÜLLE. /SEIN GANG ERZÄHLT VON KLUG BEHERRSCHTEN ALTERSPLAGEN.
TOTENTANZ
GÜNTER HESS
DEM GEDICHT VON G. TRAKL:„DER HERBST DES EINSAMEN“ ZUGEEIGNET
GÜNTER HESS
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DER BLICK EINES HÜHNERBARONS /BEIM BLICK AUF DIE EIER-FABRIK /MIT SEINEN 10.000 HÜHNERN: /JEDES VON IHNEN LEGT TÄGLICH EIN EI / UND JEDES HAT EINEN HALS /FÜR DIE SUPPENHUHN- KÖPFUNGS-MASCHINE. /WER VERSTÜNDE DIE LUST DARIN NICHT? /DOCH WER GÄBE DIES, /AUCH VOR SICH SELBER, /AUCH ZU? /GÜNTER HESS
... AUF SEIN HÜHNER-SILO ... ?
DAS GEHEIMNIS DER MACHT
DEAD POEMS
KERNSPIN-TOMOGRAPHIE / KAMMER-KIND IN KRANKENBETT / DER GEDAN-KE AN TABAK UND / SAUERSTOFF AUF DER NASE / SCHWINDEL IN BEIDE /RICHTUNGEN / KARDIOGRAPHIE /IM SINNE DER KUNST / KAFFEETASSE EINE / AM TAG STATT STÄNDIG /INFUSION FÜR ZWISCHENDURCH PLUS / PILLEN MORGENS ABENDS / EKG ALL INCLUSIVE / BLUTABNAHME KÖRPER /FIEBERT MIT 3 LITER AM TAG / GETRÄNK NACH WAHL WASSER / IN DER LUNGE UND DER / GEDANKE AN TABAK / INTENSIV ERFÄHRT HERZ WAS /ES HEISST ZU SCHLAGEN DOCH / ES HAUT MICH NICHT UM / NICHT VOM SOCKEL AUF / DEM ICH KNIE /
KURZBERICHT INTENSIVKAFFEE KIPPEN KETTENKARUSSELL
MARCO KERLER
MARCO KERLER
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DEAD POEMS
TUXURAN:
URTEILE SIND SO ENDGÜLTIG UND DAMIT FALSCH
TUXURAN
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TUXURAN: RUHE / TRITT
ANGESICHTS UNSERER WERKE/ BEINAH NUR/ MIT DEM KOPF/ IM NEBEL/ EIN
DU SIEHST, WOHIN DU SIEHST, NUR EITELKEIT AUF ERDEN. /WAS DIESER HEUTE BAUT, REISST JENER MORGEN EIN; / WO ITZUND STÄDTE STEHN, WIRD EINE WIESE SEIN, / AUF DER EIN SCHÄFERSKIND WIRD SPIELEN MIT DEN HERDEN; / WAS IT-ZUND PRÄCHTIG BLÜHT, SOLL BALD ZERTRETEN WERDEN; / WAS JETZT SO POCHT UND TROTZT, IST MORGEN ASCH UND BEIN; / NICHTS IST, DAS EWIG SEI, KEIN ERZ, KEIN MARMOR-STEIN. / JETZT LACHT DAS GLÜCK UNS AN, BALD DONNERN DIE BESCHWER-DEN. / DER HOHEN TATEN RUHM MUSS WIE EIN TRAUM VERGEHN. / SOLL DENN DAS SPIEL DER ZEIT, DER LEICHTE MENSCH, BESTEHN ? / ACH, WAS IST AL-LES DIES, WAS WIR FÜR KÖSTLICH ACH-TEN, / ALS SCHLECHTE NICHTIGKEIT,
ES IST ALLES EITEL
ANDREAS GRYPHIUS
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ALS SCHATTEN, STAUB UND WIND, / ALS EINE WIESENBLUM, DIE MAN NICHT WIEDERFIND'T! / NOCH WILL, WAS EWIG IST, KEIN EINZIG MENSCH BETRACHTEN. /ANDREAS GRYPHIUS /
HAUPTVERTRETER DES VANITAS-MOTIVS IN DER LITERATUR. /
(VANITAS: LATEINISCH "LEERE, NICHTIGKEIT, EITELKEIT")
DEAD POEMS
Titel Artist Name Beitrag
totentanzstunde. darf ich bitten? wenn's sein muss – der tanzmeister trägt ein durchlöchertes sakko. und sie, die tanzmeisterin? ein kostüm mit nichts drunter. andere damen sind bloß als kostüme vor-handen. da gibt's mit dem handkuss probleme. aber der tanzmeister läßt keine ausreden gelten. und immer wieder der tango. der wird gegen den uhrzeigersinn getanzt. andere sagen: im uhrzeigersinn – egal, der uhrzeigersinn ist je-denfalls wichtig. ruckartig, abgehackt, schreitend. beim tango gibt's kein auf und ab, deshalb der lieblingstanz der toten. und natürlich ist er auch ohne kopf tanzbar. sie dürfen die dame jetzt küssen. ach so, das gilt bei der trauung. können auch tote einander das jawort geben? wenn sie's ehrlich meinen, bestimmt. wohin aber dann mit den blumen?
das wird erst zum abschlussball wichtig, jetzt sind die anfän-gerschritte dran. und der gute benimm. oha, die füße nicht auf’n tisch! wer braucht schon tische, zu essen gibt's eh nichts. man-cher tanzt sich die seele aus dem leib. ja, auch männer. frauen besäßen gar keine, hatten älte-re tanzmeister gemeint, die sind jetzt pensioniert. die tanzmeis-terin achtet auf richtiges schuh-werk. wer barfuß tanzt, fliegt. und wird doch nicht automatisch zum engel – tja, wenn das so ein-fach wär. manchmal schaut trotzdem ein engel vorbei. die dürfen das ja nicht – tanzen. fliegen schon, doch bloß zu nützlichen zwecken. da bleibt man doch lieber brav auf dem boden. die engel sehen also gern zu. aber nicht die, immer nur einer. sie könnten sich sonst gegenseitig verpfeifen. der tanz-
KOLUME KAIROS
KOLUMNEKAIROS
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Name Beitrag
meister wird dann nervös. theo-retisch dürfte er den engel ja rauswerfen, aber er fürchtet sich vor dessen schweigen. die kerle reden doch nichts. die toten spielen sich vor ihnen gern auf. und riskieren auch mal nen walzer, den mögen die engel besonders. da gehen sie richtig mit. das tanzmeisterpaar knirscht dazu mit den zähnen. wenn der engel dann weg ist, wird zur strafe polka geübt. was die gegen den walzer haben? wahrschein-lich den körperkontakt. und das schwingen. oder das österreichi-sche, das ihm irgendwie anhaf-tet. die tanzmeister sind nicht, wie's immer heißt, alle aus deutschland. woher sie wirklich kommen, weiß aber keiner genau. sie scheinen sämtliche sprachen zu können, ihre haut ist mal dunkel, mal hell. zumindest sieht
sie so aus, wer kann das bei der beleuchtung schon sagen. ja doch, es gibt licht. aber es wirkt wie von glühwürmchen erzeugt. wir haben hier keine sonne, sorry, sagte neulich einer auf eng-lisch. kairos
TOTENTANZSTUNDE
TUXURAN:WAS WILL ICH MIT EINEM JENSEITS /IN DEM MEIN HIERSEITS VERGOLTEN WIRD /NIEMAND WEISS WAS DARÜBER /ICH LEBE LIEBER /HIER UND JETZT /SCHON GUT
POSSENKOFER: du, ich glaub, wenn ich
hier noch länger in ulm lebe, dann
bring ich jemanden um.
TSCHNABARBIER: was? ja – bist du
deppert? was ist denn in dich ge-
fahren?
POSSENKOFER: weiß nicht. das macht
die atmosphäre in ulm, vor allem
nachts. wenns in den straßen dunkel
wird. da spür ich den mörder in mir…
TSCHNABARBIER: den mörder in dir?
du – ich kenn dich nicht wieder!
POSSENKOFER: geht mir auch so. ich
seh mich früh im spiegel und sag
mir: das bin ich. und abends seh
ich in den spiegel und sag mir: das
bin ich immer noch. aber wenn ich
nachts in den spiegel seh, seh ich
was, was ich nicht gern seh.
TSCHNABARBIER: den mörder in dir …
POSSENKOFER: oder irgendwas ande-
res. etwas, das diese stadt in mir
wachruft.
TSCHNABARBIER: dann zieh lieber
weg! wenn du einen umbringst, hat
nämlich keiner was davon.
POSSENKOFER: stimmt. einer ist tot,
einer sitzt im knast – und die stim-
mung in der stadt wäre ruiniert.
TSCHNABARBIER: ja, und wie! die
leute kommen doch gern nach ulm,
weils bei uns so ruhig und be-
schaulich ist. keine gangs. keine
straßenschlachten. keine somnambu-
len mörder …!
POSSENKOFER: ich bin ja auch kein
mörder, also, jedenfalls noch nicht.
ich wills ja auch nicht werden.
wenn ich es wollen würde, würde ich
zum arbeitsamt gehen und umlernen.
TSCHNABARBIER: das geht?
POSSENKOFER: freilich. gehst zum
schalter zwölf – „sonderbereich kre-
ative berufe“ – und da sagst du:
ich hab ein talent zum mördern. und
dann hilft man dir schon weiter …!
TSCHNABARBIER: also hast du dich
schon erkundigt?
POSSENKOFER: nein, ein freund von
mir. hat sich komplett umschulen
lassen auf mord und totschlag. mit
allem, was dazu gehört: strangulie-
ULMORBID
belauscht von florian l. arnold
TSCHNABARBIER UND POSSENKOFER
FLORIAN L. ARNOLD
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ren und filetieren, ausweiden und
alle tricks mit säure und zement
und …
TSCHNABARBIER: pfui, hör auf! ich
wills gar nicht so genau wissen!
POSSENKOFER: warum fragst du dann?
TSCHNABARBIER: höflichkeit.
POSSENKOFER: dabei ist das wirklich
interessant. das arbeitsamt zahlt
die umschulung komplett – weil die
sich sagen, dass alle beteilig-
ten etwas davon haben. der mörder
hat einen job. und er sorgt auch
dafür, dass etwas gegen die überbe-
völkerung getan wird. entlastet ja
auch die rentenkasse, das darf man
auch nicht vergessen! und dann ist
es auch gut für den wohnungsmarkt
– weil ja viele leute rücksichts-
los jahre- und jahrzehntelang die
schönsten wohnungen blockieren.
da gehen die freiwillig sonst nie
raus! aber wenn so ein berufsmör-
der einen hinweis und ein feines
trinkgeld bekommt: „du, da hast du
300, mach mir mal die wohnung am
michelsberg 23 klar …“ – dann geht
der los und …!
TSCHNABARBIER: hör auf! das ist un-
appetitlich!
POSSENKOFER: wir leben nun einmal
in schwierigen zeiten. die arbeit
liegt nicht auf der straße …
TSCHNABARBIER: nein. sie liegt ah-
nungslos im bett, mit einem dolch
in der brust!
POSSENKOFER: sei nicht sarkastisch.
natürlich wird heute sehr human
gemördert. ich kenn einen, der
spricht mit seinem opfer sogar den
ganzen vorgang durch. er sagt ihm
genau, wann er was macht und wozu
er es macht. und die opfer entwi-
ckeln sogar verständnis für seine
arbeit. neulich erst sagte ihm ein
altes mütterchen, dessen wohnung
frei werden musste, dass sie selbst
interesse an dieser arbeit hätte,
weil sie ja ihren ehemann sowieso
schon mit einer spur strychnin im
schweinebraten um die ecke gebracht
hat und weil bis heute keiner ge-
merkt hat, dass ihre vermieterin
anno 67 – eine gewisse brunhilda
brotkranz, die eine ganz gräss-
liche miet-hyäne war! – dass sie
diese brunhilda brotkranz mit der
richtigen portion safranfarbener
arsen-kekse ausgeschaltet hat.
TSCHNABARBIER: und so was wohnt
hier? – in ulm?
POSSENKOFER: ja, sicher. sie ist 88
und keiner ist ihr jemals auf die
schliche gekommen.
TSCHNABARBIER: wenn das einer er-
fährt! die stadt wäre ruiniert. die
grundstückspreise würden verfallen!
die touristen würden ulm meiden wie
die pest. und in unsere schöne neue
mitte würden die matratzen-händler
einziehen! ein graus!
POSSENKOFER: das nennst du einen
graus? na, ich bitte dich. ein graus
ist, was mir ein makler kürzlich
berichtete. er wollte ein haus im
fischerviertel verkaufen – schöne
lage, leicht renovierungsbedürftig,
sonst lieb – er hatte schon käu-
fer, ein nettes ehepaar aus metten.
da stellte sich raus, dass unterm
keller zwanzig gerippe lagen – ver-
mutlich pesttote, vielleicht auch
hugenotten, die man damals gern
einen kopf kürzer gemacht hat, im
… jahrhundert. man weiß es nicht.
FLORIAN L. ARNOLD ULMORBID
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was sollte er machen? er hat eine
lage beton drüber gegossen und dem
netten ehepaar aus metten nix er-
zählt. und die leben glücklich und
zufrieden in ihrem häuschen.
TSCHNABARBIER: und zwanzig zenti-
meter unterm kellerboden warten
zwanzig tote – na danke, da lebe
ich doch lieber im hochhaus.
POSSENKOFER: auch alles untote.
TSCHNABARBIER: bitte was?
POSSENKOFER: seltsame stellen gibt
es hier. geh mal nachts am fort
albeck herum. da siehst du lich-
ter – hörst töne und schattenspiele
an den morschen kalksteinwänden –
und wenn du dann fliehst, eiskalt
vor entsetzen und vorahnungen, quer
durch die kleingärten, da fällst
du über sie, über die untoten,
die sich im mondlicht sonnen und
tagsüber in ihren grüften unterm
frauengraben aufs dunkel warten, um
dann …!
TSCHNABARBIER: du spinnst ja kom-
plett.
POSSENKOFER: ich sag nur, was ich
weiß.
TSCHNABARBIER: beweise! ich will
beweise!
POSSENKOFER: wenn ich dir diese
beweise gebe – dann muss ich meinen
freund karli holen, den berufsmör-
der, der sich vom arbeitsamt um-
schulen ließ. weil du dann nämlich
zuviel weißt …!
TSCHNABARBIER: was war der karli
vorher?
POSSENKOFER: koch.
TSCHNABARBIER: und jetzt tötet er
für geld?
POSSENKOFER: nein, für die renten-
kasse, für den wohnungsmarkt , für
eine gesunde durchmischung von
verschiedenen altersgruppen in den
wohngebieten – dafür tut ers! sogar
die soziologen finden das gut …
oder waren es die soziopathen? das
weiß ich nicht mehr so genau …
TSCHNABARBIER: ja, du hast recht.
du würdest gut zu dem verein pas-
sen: mord und totschlag auf be-
stellung. und ein nettes trinkgeld
fällt auch ab – oder nennt man das
leichengeld? mörderkohle? kopf-
pauschale?
POSSENKOFER: da fällt mir was auf!
TSCHNABARBIER: was?
POSSENKOFER: eigentlich – wenn ich
so unser gespräch bedenke – dann
weißt du jetzt schon zu viel.
TSCHNABARBIER: äh – hm? wie?
POSSENKOFER: wart mal – ganz kurz –
ich ruf mal eben den karli an, geht
ganz schnell …
TSCHNABARBIER (panisch): was hastn
vor – wie? was?
POSSENKOFER: du, das tut nicht weh,
karli ist lieb – der sagt dir, wie
es geht und dann ist es schon fast
vorbei …!
TOTENTANZ
IMPRESSUMherausgeber: hakan dagistanliredaktion: florian l. arnold, hakan dagistanlilektorat: claudia simone hoffeditorial design: fuk Laboratories beata niedhart www.fuklab.orgdruck: induprint ulm
kontakt: [email protected] 4959497
www.kunstzeitschrift.es
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