Erscheint in Wegener, Heide (Hrsg.). Deutsch - kontrastiv. Tübingen. Beatrice Primus Rektionsprinzipien 1. Einleitung Der folgende Beitrag 1 befaßt sich mit Prinzipien der verbalen Rektion im Deutschen und im Sprachvergleich. Bei der verbalen Rektion im hier vertretenen traditionellen Sinn handelt es sich um die Determination der Form eines syntaktischen Arguments durch sein verbales Regens, wobei diese Determination direkt vom Verblexem oder von einer das Verblexem inkludierenden verbalen Phrase ausgeht (vgl. zu letzterem Wegener 1985: 138f., Jacobs 1994a: 25). Der gewählte theoretische Rahmen ist präferenztheoretisch und erfreut sich in neueren Arbeiten unter der Bezeichnung 'Optimalitätstheorie' größerer Popularität (vgl. Prince/Smolensky 1993). Die Regeln bzw. Prinzipien eines solchen Modells stellen keine strikten Restriktionen dar. Sie dürfen verletzt werden. Außerdem konkurrieren sie miteinander in einer Art Wettbewerbsmodell: einige Prinzipien sind stärker als andere (vgl. Reis 1987, Bates/MacWhinney 1989). Diese Eigenschaften scheinen damit zusammenzuhängen, daß Optimalitätsprinzipien relativ zu genau einer sprachlichen Eigenschaft gelten. Was zum Beispiel bezüglich der semantischen Funktion der Kasus optimal ist, nämlich ihre Distinktheit, ist nicht notwendigerweise auch rein formal optimal. Es gibt Kasusmuster, die formal und funktional optimal sind, aber auch Kasusmuster, die nur formal oder nur funktional optimal sind. Was es äußerst selten zu geben scheint, sind Kasusmuster, die weder formal noch funktional optimal sind. Solange die Verletzung eines solchen Prinzips durch die Befolgung eines damit konkurrierenden Prinzips erklärt werden kann, handelt es sich streng genommen nicht um eine Ausnahme, weil dieser Fall in einem solchen Modell explizit zugelassen ist (vgl. Vennemann 1983). Damit stellt sich die Frage nach der empirischen Verifizierbarkeit bzw. Falsifizierbarkeit solcher Prinzipien. Eine einfache, in der Universalienforschung bevorzugte Methode bedient sich statistischer Verfahren, wodurch sich auch der Name statistischer Universalien ableitet. Diese Methode ist jedoch nicht sicher genug angesichts des soeben erwähnten Prinzipienwettbewerbs. Es gibt nämlich optimale Eigenschaften von Sprachen (z. B. die konsistente rechts- oder linksperiphere Plazierung des Kopfes einer Phrase), die nicht in allen Ausprägungen statistisch dominant sind. So sind z. B. Komplementierer auch in ansonsten kopffinalen Sprachen 1 Für wertvolle Hinweise bei der Fertigstellung dieser Arbeit bedanke ich mich bei Heide Wegener und einem anonymen Gutachter dieses Sammelbandes.
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Erscheint in Wegener, Heide (Hrsg.). Deutsch - kontrastiv ...idsl1.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/IDSLI/dozentenseiten/artikel...Rektionsasymmetrien zwischen Akkusativ und Nominativ,
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Erscheint in Wegener, Heide (Hrsg.). Deutsch - kontrastiv. Tübingen.
Beatrice Primus
Rektionsprinzipien
1. Einleitung
Der folgende Beitrag1 befaßt sich mit Prinzipien der verbalen Rektion im
Deutschen und im Sprachvergleich. Bei der verbalen Rektion im hier vertretenen
traditionellen Sinn handelt es sich um die Determination der Form eines syntaktischen
Arguments durch sein verbales Regens, wobei diese Determination direkt vom
Verblexem oder von einer das Verblexem inkludierenden verbalen Phrase ausgeht (vgl.
zu letzterem Wegener 1985: 138f., Jacobs 1994a: 25).
Der gewählte theoretische Rahmen ist präferenztheoretisch und erfreut sich in
neueren Arbeiten unter der Bezeichnung 'Optimalitätstheorie' größerer Popularität (vgl.
Prince/Smolensky 1993). Die Regeln bzw. Prinzipien eines solchen Modells stellen
keine strikten Restriktionen dar. Sie dürfen verletzt werden. Außerdem konkurrieren sie
miteinander in einer Art Wettbewerbsmodell: einige Prinzipien sind stärker als andere
(vgl. Reis 1987, Bates/MacWhinney 1989). Diese Eigenschaften scheinen damit
zusammenzuhängen, daß Optimalitätsprinzipien relativ zu genau einer sprachlichen
Eigenschaft gelten. Was zum Beispiel bezüglich der semantischen Funktion der Kasus
optimal ist, nämlich ihre Distinktheit, ist nicht notwendigerweise auch rein formal
optimal. Es gibt Kasusmuster, die formal und funktional optimal sind, aber auch
Kasusmuster, die nur formal oder nur funktional optimal sind. Was es äußerst selten zu
geben scheint, sind Kasusmuster, die weder formal noch funktional optimal sind.
Solange die Verletzung eines solchen Prinzips durch die Befolgung eines damit
konkurrierenden Prinzips erklärt werden kann, handelt es sich streng genommen nicht
um eine Ausnahme, weil dieser Fall in einem solchen Modell explizit zugelassen ist
(vgl. Vennemann 1983).
Damit stellt sich die Frage nach der empirischen Verifizierbarkeit bzw.
Falsifizierbarkeit solcher Prinzipien. Eine einfache, in der Universalienforschung
bevorzugte Methode bedient sich statistischer Verfahren, wodurch sich auch der Name
statistischer Universalien ableitet. Diese Methode ist jedoch nicht sicher genug
angesichts des soeben erwähnten Prinzipienwettbewerbs. Es gibt nämlich optimale
Eigenschaften von Sprachen (z. B. die konsistente rechts- oder linksperiphere
Plazierung des Kopfes einer Phrase), die nicht in allen Ausprägungen statistisch
dominant sind. So sind z. B. Komplementierer auch in ansonsten kopffinalen Sprachen 1 Für wertvolle Hinweise bei der Fertigstellung dieser Arbeit bedanke ich mich bei Heide Wegener und einem anonymen Gutachter dieses Sammelbandes.
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oft linksperipher plaziert (vgl. Hawkins 1990: 256f.). Ein Prinzip kann nur dann
statistisch belegt werden, wenn es im System der konkurrierenden Prinzipien besonders
stark ist oder wenn man Daten findet, die von der Auswirkung der konkurrierenden
Prinzipien nicht betroffen sind. Eine sichere empirische Überprüfung eines
Optimalitätsprinzips kann also nur bei ausreichender Kenntnis der konkurrierenden
Prinzipien gewährleistet werden. Diese Voraussetzung erfüllt der hier präsentierte
Ansatz.
Es gibt zwei Gründe für die präferenztheoretische Ausrichtung dieser Arbeit. Der
erste Grund kommt von der sprachkontrastiven Perspektive und liegt in der Tatsache,
daß viele linguistisch interessante, erklärungsstarke universale Prinzipien
Optimalitätsprinzipien sind. Der zweite zwingende Grund liegt in der lexikalischen
Natur des Untersuchungsgegenstandes. Valenz ist eine lexikalisch gesteuerte
Erscheinung, die lexikalischen Regeln unterliegt. Lexikalische Regeln erlauben
'Ausnahmen', was für viele Linguisten eine charakteristische Eigenschaft solcher Regeln
darstellt. Diese Ausführungen weisen darauf hin, daß in diesem Beitrag eine Auffassung
über das Lexikon vertreten wird, die solchen Regeln eine empirische Realität und eine
Funktion zugesteht. Lexikalische Regeln garantieren eine optimale Lernbarkeit und
Speicherung lexikalischen Wissens.
2. Das formale Rektionsprinzip
Die Kasus-Subkategorien einer Sprache mit einem syntaktisch relevanten Kasus-
system bilden keine ungeordnete Menge, sondern eine Hierarchie, die nicht von anderen
syntaktischen oder semantischen Hierarchien abgeleitet werden kann. Es hat sich einge-
bürgert, die Kasus-Subkategorien verschiedener Sprachen einheitlich zu benennen, so
daß man aufgrund dieser terminologischen Vereinheitlichung von der allgemeinen Hier-
BECOME wird wie bei Dowty (1979) verwendet und besagt, daß der vom unmittelbar
folgenden Prädikat bezeichnete Sachverhalt erst am Ende des vom Verblexem
bezeichneten Vorgangs zutrifft. Die Basisrollen aller semantischen Argumente, die in
(7) mit x bezeichnet werden, fallen unter Proto-Agens, obwohl ein Verb wie geben,
erzählen oder zeigen der Argumentstelle x mehr Agens-Basisrollen zuweist als gefallen
und haben.
Die bisherigen Ausführungen bewegen sich trotz geringfügiger Modifikationen
noch im Rahmen, den Dowty (1991) abgesteckt hat. Das ändert sich mit der
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Rekonstruktion der Unterscheidung zwischen Proto-Agens und Proto-Patiens. Dowty
versucht, den Unterschied zwischen Proto-Agens und Proto-Patiens dadurch zu
erfassen, daß er dem Proto-Patiens Basisprädikate zuordnet, die möglichst verschieden
sind von denen des Proto-Agens. Aber schon bei Dowtys kausaler Affiziertheit und der
Zustandsveränderung durch Bewegung zeigt es sich, daß der Unterschied zwischen
Agens und Patiens im Grunde genommen nicht durch den Inhalt der Basisprädikate
entsteht, denn Kausalität und Bewegung kommen auch agentivischen Rollen zu. Der
grundlegende Unterschied zwischen Proto-Agens und Proto-Patiens muß daher
woanders liegen.
Bei der Rekonstruktion des Unterschieds zwischen Agens und Patiens muß man
beachten, daß es zwei Typen von rollensemantischer Information gibt: zum einen den
Inhalt und die Zahl der einer Argumentstelle zugewiesenen Basisprädikate, zum
anderen die Strukturposition der Argumente in der Rollenstruktur eines Verbs oder
Satzes. Ich gehe davon aus, daß der Unterschied zwischen Agens und Patiens durch ihre
Position in der rollensemantischen Struktur eines Prädikats entsteht und nicht dadurch,
daß sie Argumente verschiedener rollensemantischer Basisprädikate sind. Vgl. (8):
(8) Ein beliebiges semantisches Argument x fungiert als Proto-Patiens eines rollen-
semantischen Basisprädikats P genau dann, wenn P eine von x verschiedene
Argumentposition hat, die x vorangeht (bzw. x rollenstrukturell c-
kommandiert), sonst fällt die Rolle von x unter Proto-Agens.
Die Reihenfolge der Argumente in einem in (7) illustrierten Darstellungsformat bildet
die relativen rollensemantischen Abhängigkeiten zwischen den semantischen
Argumenten eines Prädikats ab (vgl. dazu eingehender Primus 1996). Die c-
Kommando-Beschränkung in Klammern garantiert die Anwendbarkeit dieser Definition
auch für andere Standardnotationen von Prädikat-Argument-Strukturen als die in (7)
vorgestellte, z. B. PRED (y) (x), was auch ohne weitere Klammern wie folgt
interpretiert wird: (PRED (y)) (x). In einer solchen Struktur c-kommandiert x y, ohne
daß x y auch vorangeht.
Semantische Abhängigkeiten im weiteren Sinn entstehen nicht nur bei den in (5)
eingeführten Basisprädikaten. Eine Abhängigkeit besteht auch zwischen den
Argumenten von ähneln. Obwohl ähneln ein symmetrisches Verb ist (vgl.
∀x∀yÄHNEL(x, y) & ÄHNEL(y, x)), so ist das Nominativargument immer referentiell
zu interpretieren, während das Dativargument nicht-referentiell sein kann. Referentiell
(de re) vs. nicht-referentiell (de dicto) gehören bei Dowty (1991: 572f.) zu den agens-
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bzw. patiensrelevanten Eigenschaften.
Semantisch intransitive Verben haben kein zweites Argument, wenn man leere
Argumentpositionen ausschließt (vgl. jedoch Grimshaw 1990: 38f.). Bei Verbot leerer
Argumentstellen lassen sich intransitive Verben nicht durch die Besetzung
verschiedener Argumentstellen rollensemantisch voneinander unterscheiden, aber z. B.
durch den Inhalt bzw. die Zahl der Basisprädikate.
Semantische Abhängigkeiten sind transitiv. Bei dreistelligen Verben wie in (7a)-
(7d) entsteht eine Hierarchie von Abhängigkeiten. Das mittlere Argument y hat hybride
Eigenschaften, eine Option, die bei der hier vertretenen dekompositionalen, prototypen-
semantischen Konzeption von semantischen Rollen explizit zugelassen ist. Einerseits ist
y das erste Argument von POSSESS oder EXPER und fungiert somit relativ zu diesen
Basisprädikaten als Proto-Agens. Andererseits ist y in der CONTROL-Prädikation ein
zweites Argument relativ zu x und somit ein Proto-Patiens. Dies ist die wesentliche
Eigenschaft von Rezipienten, Adressaten u. ä. Rollen, die Dowty völlig vernachlässigt
hat. Für sie wird hier der Begriff des Proto-Rezipient wie folgt eingeführt:
(9) Ein beliebiges semantisches Argument x fungiert als Proto-Rezipient genau
dann, wenn x sowohl als Proto-Agens als auch als Proto-Patiens fungiert.
Auch Benefaktive wie seiner Frau in Peter strickt seiner Frau einen Pulli fallen unter
diese Proto-Rolle. In diesem Beispiel intendiert Peter (x) durch sein Stricken, daß seine
Frau (y) über einen Pulli (z) verfügt. Die relevante rollensemantische Teilstruktur ist
CONTROL(x, ... POSSESS(y, z) ...). In der CONTROL-Prädikation fungiert y als Pa-
tiens, in der POSSESS-Prädikation als Agens (vgl. Dik 1978: 32f. für den Zusammen-
hang zwischen einem Benefaktiv und einem ggf. kontrollierenden Verursacher).
Diese Bemerkungen über Proto-Rezipienten weisen darauf hin, daß Experiencer
(bzw. Träger einer psychischen Einstellung) und Besitzer rollenstrukturell
unterschiedlich eingebettet werden können. Bei Verben wie gefallen, gehören, besitzen
oder mögen handelt es sich um erste Argumente. Die traditionelle Bezeichnung
"Experiencer" oder "Besitzer" ist für solche Vorkommen reserviert. Bei Verben wie
zeigen, erklären, sagen, geben oder schenken handelt es sich um zweite Argumente, die
rollenstrukturell hybride, d. h. Agens- und Patiens-Eigenschaften aufweisen. Solche
Vorkommen werden im Folgenden auch "sekundäre Experiencer" oder "sekundäre
Besitzer" genannt.
4. Rollensemantisch determinierte Rektion
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Im folgenden Abschnitt soll nun auf der Grundlage der Kasushierarchie und der
eingeführten rollensemantischen Begriffe das semantische Rektionsprinzip vorgestellt
werden. Es ist Dowtys Verdienst, die Idee angeregt zu haben, daß sich die formale Ko-
dierung der Argumente nach der Anzahl der semantischen Basisrollen, die ein
Argument akkumuliert, richtet. Dowtys Prinzip lautet wie folgt (1991: 576): "In
predicates with grammatical subject and object, the argument for which the predicate
entails the greatest number of Proto-Agent properties will be lexicalized as the subject
of the predicate; the argument having the greatest number of Proto-Patient entailments
will be lexicalized as the direct object."
Das in der vorliegenden Arbeit angenommene Prinzip, das auf
sprachtypologischen Untersuchungen (Primus 1994, 1995) beruht, unterscheidet sich
von Dowtys Prinzip in mehreren Punkten. Im vorliegenden Ansatz werden zwei Typen
von rollensemantischer Information (die relativen rollensemantischen Abhängigkeiten,
die sich in der rollenstrukturellen Position der Argumente niederschlagen, und der
Inhalt bzw. die Zahl der einem Argument zugewiesenen Basisprädikate) und zwei
Typen von Formfunktionen (strukturell-topologische vs. morphologisch-adpositionale)
unterschieden. Dowty hat weder die Autonomie der beiden rollensemantischen
Parameter noch die Autonomie der beiden Formsysteme erkannt. Sein
Argumentselektionsprinzip basiert auf der unterschiedlichen Zahl der Basisprädikate,
die einer Argumentstelle zugewiesen werden. Deshalb trifft sein Prinzip für die nicht-
strukturelle Kodierung weitaus bessere Prognosen als für die strukturelle. Die
Autonomie der beiden Typen von Formfunktionen und die Probleme, die die Annahme
von grammatischen Relationen des akkusativischen Sprachtyps für Ergativsprachen und
Aktivsprachen aufwerfen, verdeutlichen, daß Rektionsprinzipien nicht mit Hilfe von
konglomeraten Begriffen wie Subjekt und Objekt formuliert werden können.
Ein weiterer Unterschied zu Dowty ist, daß das Prinzip auch auf einstellige und
passivische Verben Anwendung findet, während Dowtys Prinzip nur für Verben mit
Subjekt und Objekt konzipiert ist.
Ein anderer wichtiger Unterschied zu Dowtys Ansatz besteht darin, daß im vor-
liegenden Modell dem semantischen Rektionsprinzip ein stärkeres formales Rektions-
prinzip zur Seite gestellt wird. Die Interaktion dieser Prinzipien erklärt viele Daten, die
in Dowtys Ansatz nicht erfaßt werden können.
Das in Primus (1994, Kap. 4, 1995: 1100) vorgeschlagene universale Prinzip
lautet bei Fixierung des Ergativparameters auf Nominativsprachen (A = NOM und B =
AKK) wie folgt:
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(10) Für beliebige Sprachen S mit Nominativ/Akkusativ-Konstruktionen, für
beliebige Argumente, die als verbal regierte syntaktische Argumente realisiert
werden, und für beliebige Rektionssubkategorien A, B, C, wobei diese distinkt
sein sollen und A und B die ranghöchsten Kategorien in S sind, gilt:
(a) Je mehr Proto-Agens-Basisrollen einem Argument aufgrund der
unmarkierten Lesart eines Verbs (bzw. Satzes) zugewiesen werden, um so eher
erhält dieses Argument die Rektionssubkategorie A = NOM, und
(b) je mehr Proto-Patiens-Basisrollen einem Argument aufgrund der unmarkier-
ten Lesart eines Verbs (bzw. Satzes) zugewiesen werden, um so eher erhält
dieses Argument die Rektionssubkategorie B = AKK.
(10) gilt für lexikalisch regierte syntaktische Argumente. Die Formfunktionen sollen
distinkt sein, wobei A und B die ranghöchsten Formfunktionen sein sollen, die für No-
minativsprachen wie folgt spezifiziert sind: A = NOM und B = AKK. Die für (10) rele-
vanten Rektionssubkategorien sind Kasus, Adpositionen und Verbkongruenzmarker, die
im Lexikon zugewiesen werden. Ich fasse ähnlich wie Dowty (10) als lexikalisches
Prinzip auf. Das Prinzip soll unter anderem dazu dienen, lexikalische Defaults bzw. die
Absenz solcher Defaults in einer Einzelsprache zu erklären. Dabei ist zu beachten, daß
Kasusmuster, die durch grammatische Regeln entstehen, im allgemeinen den lexikali-
schen Defaults der Sprache folgen. Anders ausgedrückt: lexikalisch nicht optimale Ka-
susmuster werden nicht grammatikalisiert, wie am Beispiel der A.c.I.-Konstruktion im
Deutschen im Abschnitt 5 weiter unten gezeigt wird.
Der Bezug auf die unmarkierte Lesart eines Satzes läßt zu, daß im Rahmen der
vom Verblexem zugelassenen Interpretationsmöglichkeiten auch andere Elemente des
Satzes die Kasusselektion mitbestimmen, z. B. die Belebtheit und Definitheit eines
Arguments wie in einigen romanischen Sprachen, Modalverben oder der Verbmodus
wie im Malayalam und im Georgischen oder die negative Polarität des Satzes wie beim
Genitiv im Mittelhochdeutschen, Polnischen und Russischen.
Das Prinzip besagt, daß die verbale Rektion nicht nur auf die Unterscheidung zwi-
schen Agens und Patiens reagiert, sondern auch auf die Quantität rollensemantischer In-
formation, die ein Argument akkumuliert. Um die Prognosen des Prinzips (10) für No-
minativsprachen leichter überprüfen zu können, sollen einige der wichtigsten Korollare
explizit formuliert werden.
1. Korollar von (10a): Je weniger Proto-Agens-Basisrollen einem Argument zugewiesen
werden, um so eher kann dieses Argument eine vom Nominativ verschiedene Rektions-
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subkategorie (z. B. Akkusativ oder Dativ) erhalten.
2. Korollar von (10a): Von zwei Koargumenten mit Proto-Agens-Basisrollen erscheint
dasjenige eher im Nominativ, das mehr Proto-Agens-Basisrollen akkumuliert.
1. Korollar von (10b): Je weniger Proto-Patiens-Basisrollen einem Argument
zugewiesen werden, um so eher kann dieses Argument eine vom Akkusativ
verschiedene Rektionssubkategorie (z. B. Nominativ oder Dativ) erhalten.
2. Korollar von (10b): Von zwei Koargumenten mit Proto-Patiens-Basisrollen erscheint
dasjenige eher im Akkusativ, das mehr Proto-Patiens-Basisrollen akkumuliert.
Korollar von (10a) und (10b): Wenn von zwei Koargumenten, Ki und Kj, Ki eine hohe
Zahl von Proto-Agens-Basisrollen und Kj eine hohe Zahl von Proto-Patiens-Basisrollen
akkumuliert, dann ist so gut wie ausgeschlossen, daß Ki im Akkusativ und Kj im No-
minativ erscheint.
Das Prinzip (10) beinhaltet verletzbare Beschränkungen. Die Tendenzaussage
"um so eher" macht für eine Einzelsprache u. a. zwei Voraussagen. Zum einen besagt
sie, daß bei Argumenten mit einer hohen Zahl von konsistenten Proto-Agens- bzw.
Proto-Patiens-Basisrollen eher mit sprachspezifischen strikten Restriktionen, die (10)
folgen, zu rechnen ist als bei Argumenten mit einer geringen Zahl von konsistenten
Basisrollen. So ist zum Beispiel damit zu rechnen, daß in vielen Sprachen die 2.
Korollare von (10a) und von (10b) sowie das Korollar von (10a) und (10b) strikte
Beschränkungen darstellen (vgl. (11) im Deutschen). Zum anderen sagt das Prinzip bei
Absenz strikter Beschränkungen voraus, daß für Argumente mit einer hohen Zahl von
konsistenten Basisrollen die Häufigkeit der Verblexeme mit Rektionsmuster, die den
genannten Korollaren folgen, sehr deutlich höher liegen muß als die der Verblexeme
mit Rektionsmuster, die ihnen nicht folgen.
(10) erfaßt somit die bekannte empirische Generalisierung, daß in Nominativspra-
chen im optimalen Fall ein kontrolliert handelndes Agens im Nominativ und ein stark
affiziertes Patiens im Akkusativ erscheint. (10) trägt auch der Beobachtung Rechnung,
daß der Dativ für rollensemantisch weniger affizierte Argumente in Frage kommt (vgl.
schon Jakobson 1936: 73). (10) erklärt somit, warum zweistellige Verben wie töten und
dreistellige Verben wie geben, nehmen, erzählen oder zeigen (vgl. (7a)-(7e) weiter
oben) nicht nur im Deutschen, sondern auch in sehr vielen Nominativsprachen mit
mindestens zwei bzw. drei verbregierten Kasus-Subkategorien dasselbe Rektionsmuster
aufweisen. (10) erklärt darüber hinaus, warum Verben wie gefallen und ähneln, die
ihren Argumenten eine geringere Anzahl von Agens- bzw. Patiens-Basisrollen
zuweisen, eine größere sprachenübergreifende und sprachimmanente Rektionsvariation
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aufweisen. Solche Verben werden weiter unten im 5. Abschnitt eingehender behandelt.
Das Gegenwartsdeutsche hat einige strikte Beschränkungen, die gute Kandidaten
für strikte Beschränkungen auch in anderen Sprachen darstellen und die - wie von (10)
vorhergesagt - Argumente mit einer höheren Anzahl von konsistenten Agens- bzw.
Patiens-Basisrollen betreffen:
(11) Für syntaktische Argumente mit verbal regierten Kasus-Subkategorien gilt:
(a) Wenn zwei Koargumente Proto-Agens-Basisrollen tragen, ist ausgeschlos-
sen, daß dasjenige mit mehr Proto-Agens-Basisrollen in einem vom Nominativ
verschiedenen Kasus erscheint und dasjenige mit weniger Proto-Agens-Basis-
rollen im Nominativ.
(b) Wenn zwei Koargumente Proto-Patiens-Basisrollen tragen, ist ausgeschlos-
sen, daß dasjenige mit mehr Proto-Patiens-Basisrollen in einem vom Akkusativ
verschiedenen Kasus erscheint und dasjenige mit weniger Proto-Patiens-Basis-
rollen im Akkusativ.
(c) Wenn von zwei Koargumenten, Ki und Kj, Ki eine hohe Zahl von Proto-
Agens-Basisrollen und Kj eine hohe Zahl von Proto-Patiens-Basisrollen akku-
muliert, so ist ausgeschlossen, daß Ki im Akkusativ und Kj im Nominativ er-
scheint.
(d) Wenn ein Argument ein kontrollierendes physisch aktives Agens oder ein
kontrolliert physisch manipuliertes Patiens ist, so kann es weder im DAT noch
im GEN erscheinen.
Die Wirkung dieser Beschränkungen wird im Abschnitt 5 eingehender besprochen.
Ein scheinbares Gegenbeispiel für (10) ist die Passivkonstruktion. Die sprachen-
übergreifend konstanteste Valenzeigenschaft von Verben im Passiv ist, daß das Agens
in einer obliquen Funktion erscheint (vgl. Keenan 1985: 254, Shibatani 1985: 839), was
eine klare Verletzung des Prinzips (10) darstellen würde (vgl. Das Fenster wurde von
Max eingeschlagen). Die meisten Linguisten haben wegen dieser Besonderheit des Pas-
sivs semantische Rektionsprinzipien konstruktionsabhängig formuliert und sie auf die
Grunddiathese einer Sprache beschränkt. Das gilt auch für Dowty (1991), der sein Se-
lektionsprinzip nur für Verben mit Subjekt und Objekt formuliert. Dies scheint eine vor-
eilige Entscheidung gewesen zu sein. Das Agens im Passiv ist immer fakultativ (vgl.
Haspelmath 1990) und seine Form ist nicht verblexemspezifisch. Unter der Annahme,
daß das Agens im Passiv für die verbale Nominativrektion blockiert ist, fällt es nicht
mehr unter Prinzip (10) und der Nominativ kann an ein Nicht-Agens aufgrund des
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formalen Rektionsprinzips (2) und des darin enthaltenen Nominativgebots zugewiesen
werden.
5. Die Interaktion der Rektionsprinzipien anhand der wichtigsten
Rektionssubkategorien des Deutschen
5.1 Allgemeine Interaktionsbestimmungen
Das rollensemantische Prinzip konkurriert mit dem im zweiten Abschnitt
vorgestellten formalen Rektionsprinzip (2), das die Generalisierung einer ranghöheren
Rektionssubkategorie auf Kosten einer rangniedrigeren voraussagt. Aus der Interaktion
der beiden Prinzipien ergibt sich, daß Verblexeme mit einem Rektionsmuster, das
weder durch (2) noch durch (10) motiviert ist, äußerst selten sind. Die verletzbaren
Prinzipien bzw. Beschränkungen sind nach ihrer fallenden Wirkungsstärke im
Deutschen und in vielen anderen Sprachen wie folgt angeordnet:
(12) Das Distinktheitsgebot für Rektionssubkategorien und das Nominativgebot >>
NOM/AKK-Präferenz für zweistellige Verben und semantische Defaults
(12) ist durch folgende empirische Generalisierungen motiviert. Für die Stärke des Di-
stinktheitsgebots (vgl. (10)) spricht, daß Muster mit doppeltem Kasus auch bei formal
optimaler Verteilung (z. B. NOM/NOM, NOM/AKK/AKK) relativ selten sind.1 Hin-
sichtlich der Stärke des Nominativgebots (vgl. (2) und (4)) muß man zunächst beachten,
daß es nicht für Verbkongruenzmarker zu gelten scheint, die in Sprachen mit
gespaltener Intransitivität wie z. B. Guarani oder Lakhota im Lexikon zugewiesen
werden, also Rektions-Subkategorien im traditionellen Sinne darstellen. Solche Systeme
entbehren der Hierarchie-Voraussetzung für das Nominativgebot, vgl. Primus (1994,
Kap. 4). Wenn man von solchen Systemen absieht, manifestiert sich die Stärke des
Nominativgebots u. a. darin, daß der Nominativ in Nominativsprachen nicht auf
kontrollierende oder kausierende Agens beschränkt ist, was sich besonders deutlich bei
den einstelligen Verben zeigt. Die Wirkung und die Interaktion der hier vorgestellten
Beschränkungen wird in den nächsten Abschnitten anhand der Analyse einiger
Fallbeispiele mit Hilfe von optimalitätstheoretischen Tableaus klarer veranschaulicht.
5.2 Nominativrektion und Akkusativrektion
1 Etwas häufiger findet man NOM/NOM in Sprachen, in denen nur belebte und/oder definite Objekte den Akkusativ selegieren wie z. B. im Türkischen, im Hindi und in anderen indischen Sprachen.
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Wie weiter oben erwähnt (vgl. (4)), kann im Gegenwartsdeutschen jedes flektierte
Prädikat mit voll realisierten Rektionsforderungen seines lexikalischen verbalen Kopfes
ein (ggf. fakultatives) Nominativargument zu sich nehmen. Die Selektion des
Akkusativs ist im Gegensatz zur Selektion des Nominativs formal restringiert: im
optimalen Fall muß er mit dem Nominativ kookkurieren. Dies erklärt, warum es im
Deutschen und in anderen Sprachen kaum oder gar keine Rektionsmuster des Typs
AKK, AKK/AKK, AKK/DAT u. ä. gibt. So z. B. findet man einstellige Verben mit
AKK bei einer geringen Zahl von Verben u. a. im Alt- und Mittelhochdeutschen (mich
Bestimmungen beruhen auf einer Übergeneralisierung, denn die Beziehung zwischen
Kasus und rollensemantischer Funktion gilt beim Nominativ und Akkusativ wegen der
Stärke des formalen Rektionsprinzips immer nur in einer Richtung: Aus der Präsenz
einer hohen Anzahl von Agens- bzw. Patiens-Basisrollen für ein Argument läßt sich
seine Nominativ- bzw. Akkusativrektion ableiten (aber nicht umgekehrt). Das ist auch
die Ableitungsrichtung des allgemeinen semantischen Prinzips (10) und der
sprachspezifischen Beschränkungen in (11).
Dies scheint die wesentliche Eigenschaft eines 'syntaktischen' Kasus zu sein, die
ihn von einem 'semantischen' Kasus unterscheidet (vgl. schon Kurylowicz (1964: 188))
und wie folgt eingeführt wird:
(13) Eine Kasus-Subkategorie Kn ist 'syntaktisch' zugewiesen genau dann, wenn Kn
bei dieser Zuweisung keine rollensemantische Funktion indiziert. Eine Kasus-
Subkategorie Kn ist 'semantisch' zugewiesen genau dann, wenn Kn bei dieser
Zuweisung eine rollensemantische Funktion indiziert.
Eine Kasus-Subkategorie Kn indiziert eine rollensemantische Funktion genau dann,
wenn von der Selektion von Kn für einen Verbbegleiter eine rollensemantische Restrik-
tion für den entsprechenden semantischen Mitspieler abgeleitet werden kann.
Bei Zuweisung unter verbaler Rektion erfüllen Nominativ und Akkusativ im
Deutschen und in vielen anderen Sprachen die Bedingung für syntaktische Zuweisung.
Im hier präsentierten Ansatz läßt sich dies durch ihren hohen Hierarchierang und die
Stärke des formalen Rektionsprinzips erklären. Für den Dativ gibt es ein Default, das in
der Ableitungsrichtung vom Kasus zur semantischen Rolle sehr stark ist (vgl. (15)
weiter unten). Der verbregierte Dativ ist somit ein sehr guter rollensemantischer
Indikator.
Eine andere davon unabhängige Klassifizierung teilt die Kasus-Subkategorien in
strukturelle und lexikalische bzw. inhärente Kasus ein (Chomsky 1981: 170f.). In ver-
einfachender, technische Details vernachlässigender Formulierung kann man diese
Klassifikation wie in (14) einführen:
(14) Eine Kasus-Subkategorie Kn ist strukturell zugewiesen genau dann, wenn Kn
aufgrund struktureller Rektion zugewiesen wird. Eine Kasus-Subkategorie Kn
ist lexikalisch zugewiesen genau dann, wenn Kn aufgrund lexikalischer Rektion
zugewiesen wird.
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Strukturelle Rektion für Kn liegt genau dann vor, wenn Kn an eine bestimmte
strukturelle Position in Abhängigkeit von der strukturellen Position des Regens und
seiner Kategorie zugewiesen wird. Die Lexemwahl des Regens spielt dabei keine Rolle.
Es gibt im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung in der generativen Grammatik sehr
wenige Sprachen mit strukturell zugewiesenen Kasus. Im Englischen wird der
Nominativ einer bestimmten präverbalen, VP-externen strukturellen Position durch die
verbale Flexionskategorie INFL bzw. AGR-S zugewiesen und der Objektiv einer
postverbalen, VP-internen strukturellen Position durch die verbale Kategorie V0 bzw.
AGR-O (Objektkongruenz-Kategorie). Im Deutschen ist der adnominale Genitiv ein
guter Kandidat für einen strukturell zugewiesenen Kasus.
Einige empirische Probleme, mit denen generativ-grammatische Ansätze konfron-
tiert werden, resultieren daraus, daß sie die Klassifikation in (13) mit der in (14) gleich-
setzen (Czepluch 1996: 74, Haider 1985: 80). So zum Beispiel findet man bei Haider
(op. cit.) folgende Bestimmung für lexikalische Kasus "direct connection between mor-
phological Case and thematic function". Ein erstes Problem rührt in Sprachen wie dem
Deutschen daher, daß es im Bereich der verbalen Rektion zwar syntaktische, aber keine
strukturelle Kasuszuweisung kennt. Im Deutschen ist die Kasusfunktion eines
Verbarguments nicht von seiner strukturellen Position ableitbar. Ganz im Gegenteil, die
strukturelle Position eines Arguments leitet sich unter anderem von seiner
Kasusfunktion, genauer gesagt, von der Position seiner Kasusfunktion auf der
Kasushierarchie (1) ab (vgl. Primus 1996).
Ein anderes damit verwandtes Problem manifestiert sich beim Passiv im
Deutschen. Im Passiv wird die Nominativ- und Akkusativrektion des Aktiv-Verbs von
der entsprechenden semantischen Rolle entkoppelt. Vgl. Der Junge zerbrach den Zaun
mit Der Zaun wurde vom Jungen zerbrochen. Das ist ein klarer Hinweis dafür, daß der
Nominativ und der Akkusativ syntaktische Kasus sind. Diese Entkoppelung geht aber
im deutschen Passiv nicht mit einer festen VP-externen strukturellen Position des
Nominativarguments einher, was zu erwarten wäre, wenn die syntaktisch zugewiesenen
Kasus auch strukturell zugewiesen wären. Vgl. die Grundwortstellung des folgenden
Satzes, bei dem das Nominativargument verbnah plaziert wird, worauf schon die
intonatorische Einheit zwischen Nominativargument und Verbkomplex hinweist: weil
heute im Garten der Zaun zerbrochen wurde. Was in der generativen Grammatik als das
zuverlässigste Indiz für das Vorliegen eines strukturellen Kasus gewertet wird, seine
Alternationsfähigkeit bei Diathesen, ist offenbar eher ein Indiz für den syntaktischen
Status dieses Kasus.
20
5.3 Dativrektion
Mit rollensemantischen Restriktionen für den Dativ haben sich viele Arbeiten be-
faßt, die nicht eingehender referiert werden können. Ich möchte jedoch die neuere
Arbeit von Wegener (1985) hervorheben. Wegener (1985: 25f.) setzt für den Dativ die
Grundfunktion 'Betroffener' an und faßt diese Funktion als Oberbegriff für verschiedene
Funktionen auf, die immer wieder in der Literatur für den Dativ in Anspruch genommen
wurden: Benefaktiv, Experiencer, Rezipient, Korrespondent u. ä. Diesen Oberbegriff
präzisiert Wegener mit Hilfe folgender Merkmale (1985: 321): "belebt, weniger
involviert (als der OBJ), weniger agentisch (als der AG)", wobei mit OBJ und AG der
traditionelle Patiens- und Agens-Begriff gemeint ist. Ein Vergleich mit dem
vorliegenden Ansatz zeigt, daß Wegeners Charakterisierung des Betroffenen im
wesentlichen die Auswirkungen des Prinzips (10) bzw. der Restriktionen (11a), (11b)
und (11d) umschreibt. Ein wesentlicher Unterschied ist, daß (10) und (11) keine
semantische Rolle isolieren, sondern allgemeinere rollenkonfigurationelle
Beschränkungen darstellen. Außerdem verwendet Wegener keinen dekompositionalen,
prototypentheoretischen Rahmen, der die o. g. Graduierungen "weniger involviert als"
oder "weniger agentisch als" legitimieren könnte. Nichtdestotrotz ist Wegeners
Vorschlag bemerkenswert durch die Hervorhebung der Agenskomponente bei der
Grundfunktion des Dativs. Darin ist Wegeners Vorschlag denjenigen Ansätzen
überlegen, die die rollensemantische Funktion des verbregierten Dativs auf die
geringere Affiziertheit bzw. Betroffenheit im Sinne des Patiens-Begriffs beschränken (z.
B. neuerdings Schöfer (1992)).
Es ist der Verdienst von Blume (1994, 1996), im vorliegenden Modell nachgewie-
sen zu haben, daß es bei der rollensemantischen Grundfunktion des Dativs nicht auf
Patienseigenschaften ankommt, sondern nur auf die Präsenz einer geringen Zahl von
Proto-Agens-Basisrollen. Das Dativ-Default für das Deutsche und andere Sprachen
kann somit wie in (15) formuliert werden:
(15) Wenn einem syntaktischen Argument von einem verbalen Regens der DAT
zugewiesen wird, dann weist im Default-Fall das entsprechende semantische
Argument Proto-Agenseigenschaften in geringer Zahl auf.
Das semantische Dativ-Default ist sehr viel stärker in der in (15) formulierten Anwen-
dungsrichtung vom Kasus zur semantischen Rolle als in der umgekehrten Anwendungs-
richtung. Es steht mit dem universalen Prinzip (10) in Einklang (vgl. das 1. Korollar
21
von (10a)) und interagiert mit den Beschränkungen in (11). Damit ist ausgeschlossen,
daß das Dativargument einen kontrolliert und aktiv Handelnden oder eine physisch
kontrolliert manipulierte Entität bezeichnet (vgl. (11d)). So zum Beispiel sind in der
bekannten Lesart der entsprechenden Verben weder Der Junge putzt dem Schuh noch
Dem Jungen putzt der Schuh mögliche Rektionsmuster des Gegenwartsdeutschen. Die
Dativselektion für einen nicht kontrollierenden Verursacher ist aber möglich (vgl. (17)
weiter unten): Dem Jungen zerbrach die Vase beim Putzen. Es ist auch ausgeschlossen,
daß ein Dativargument mehr Agenseigenschaften aufweist als ein Koargument im
Nominativ (vgl. (11a)) oder mehr Patienseigenschaften als ein Koargument im
Akkusativ (vgl. (11b)).
Die bevorzugte Belebtheit der Dativargumente im Deutschen und in anderen
Sprachen muß im vorliegenden Ansatz nicht postuliert werden. Sie folgt aus den
bevorzugten proto-agentivischen Eigenschaften der Dativobjekte, insbesondere aus
ihrer Funktion als primäre oder sekundäre Experiencer (z. B. mir fällt etwas auf vs. er
erklärt/zeigt mir etwas) oder Besitzer (z. B. mir gehört etwas vs. ich gebe/nehme dir
etwas).
Zur Illustration des Dativ-Defaults werden zunächst Verben mit Experiencer-Dati-
ven besprochen. Einstellige Prädikate wie mir ist kalt oder mir ist mulmig zumute kom-
men bei einer kleinen Zahl von Prädikaten auch in anderen Sprachen vor:
(16) Rumänisch: Mie (DAT) îmi este frig. 'Mir ist kalt.'
Isländisch: πér (DAT) er kalt. 'Dir ist kalt.'
Lasisch (Dumézil 1967: 22): k'ap'lanepe-s (DAT) askurnes. 'Den Tigern war
angst.'
Daß bei einstelligen Verben Experiencer im Nominativ statistisch dominieren, hat zwei
Ursachen. Sie erfüllen das formale Nominativgebot und das allgemeine Prinzip der
Nominativselektion für ein Proto-Agens (vgl. (10a)), das bei dieser Rollenkonfiguration
allerdings sehr schwach ist und Konkurrenz bekommen kann (vgl. das 1. Korollar von
(10a)). Im Deutschen ist der semantische Konkurrent das Dativ-Default.
Um einen sekundären Experiencer im Dativ handelt es sich bei dreistelligen
Verben wie zeigen oder demonstrieren und bei dreistelligen Verba dicendi wie
erzählen, berichten oder versprechen. Zweistellige Verben mit Experiencer und
Stimulus sollen im Folgenden eingehender diskutiert werden.
Die Wirkung und Interaktion der vorgestellten universellen und
sprachspezifischen Kasuszuweisungsbeschränkungen lassen sich im Rahmen der
22
Optimalitätstheorie1 in einem Tableau (vgl. Prince/Smolensky 1993,
Archangeli/Langendoen 1997) besonders anschaulich darstellen. Input der hier
diskutierten Beschränkungen sind rollensemantische Valenzstrukturen, die mit
Stelligkeitsindikatoren in Form von Lambdapräfixen angereichert sind. Damit wird
angezeigt, welche Mitspieler als syntaktische Argumente realisiert werden und ob ggf.
ein Mitspieler syntaktisch 'unterdrückt' wird (wie z. B. im Passiv). In Tab. 1 wurde zur
Verannschaulichung die einfache, aber für die Kasuszuweisung besonders interessante
Rollenkonfiguration λyλxEXPER(x, y) gewählt. Als Kasus werden NOM, AKK und
DAT berücksichtigt, wodurch sich bei einem zweistelligen Verb 9 theoretisch mögliche
Kasusmuster ergeben. Der Genitiv und verbregierte Präpositionen wurden
ausgeklammert, weil der verbregierte Genitiv nicht mehr produktiv ist und verbregierte
Präpositionen besondere Probleme aufwerfen könnten, die einer eigenen Untersuchung
bedürfen. Die Kasusbeschränkungen fungieren als Evaluatoren über die Menge der
theoretisch möglichen Kasusmuster. In Tab. 1 werden nur die für die gewählte Rol-
lenkonfiguration relevanten Beschränkungen berücksichtigt. Die Verletzung einer Be-
schränkung wird durch * angezeigt. Höherrangige Beschränkungen erscheinen links und
durch eine Linie getrennt von tieferrangigen Beschränkungen, während zwischen
gleichrangigen oder vorläufig nicht eindeutig abstufbaren Beschränkungen keine
Trennungslinie erscheint. Die Schwäche des Dativ-Defaults ergibt sich in Tab. 1 durch
die Anwendungsrichtung von der semantischer Rolle zum Kasus.
Tab. 1 λyλxEXPER(x,y) Distinkt- NOM- sem. Dativ- NOM/AKK NOM für A
x y heit Gebot Default Präferenz AKK für P
(a) NOM AKK *
(b) AKK NOM * *
(c) NOM DAT * * *
(d) DAT NOM * *
(e) NOM NOM *!
1 Gegen die Anwendung der Optimalitätstheorie auf lexikalische Defaults könnte man einwenden, daß das Lexikon gar keine Kandidaten zur Wahl stellt, da das Kasusmuster für so gut wie jedes Verblexem fixiert ist (vgl. jedoch ich schaudere/mir schaudert). Dieser Einwand läßt außer acht, daß es Situationen gibt, wie z. B. beim Erstspracherwerb oder in der Jugendsprache (vgl. Wegener (in diesem Band)), in denen neue Kasusmuster für Verblexeme entstehen können. Nur über diese prinzipielle Wahlfreiheit läßt sich übrigens der diachrone Wandel von Kasusmustern erklären.
23
(f) AKK AKK *!
(g) DAT DAT *!
(h) DAT AKK *!
(i) AKK DAT *!
Die Kandidaten in (e)-(i) verletzen eine starke Beschränkung, wobei es andere Kandi-
daten gibt, die die betreffende Beschränkung nicht verletzen (sog. 'fatale' Verletzung
*!). Aus diesem Grund muß nicht mehr angezeigt werden, daß die Kandidaten in (e)-(i)
auch weitere schwächere Beschränkungen verletzen.
Die Kandidaten in (a)-(d) erweisen sich als bessere Kandidaten, weil sie nur
schwächere Defaults verletzen, wobei die in Tab. 1 vorgeschlagene Höherstufung des
Dativ-Defaults tentativen Charakter hat und sicherlich sehr gering ist. Die Evaluation
dieser Kandidaten erfolgt gewichtsbasiert, d.h. die Verletzungen werden kumuliert.
Optimal scheinen die Kandidaten in (a) und (d) zu sein und folglich gibt es
Lexikalisierungen für solche Muster in größerer Zahl. Die Verletzung des Dativ-
Defaults in (a) scheint durch die Befolgung der formalen NOM/AKK-Präferenz und des
semantischen Defaults für die Nominativzuweisung an ein Proto-Agens und die
Akkusativzuweisung an ein Proto-Patiens motiviert zu sein. Umgekehrt wird in (d) die
Verletzung dieser beiden Defaults durch die Befolgung des Dativ-Defaults motiviert.
Lexikalisierungen von (a) sind z. B. beachten, bedauern, beneiden, bereuen,
bewundern, hassen, lieben, mögen, schätzen, wünschen. Lexikalisierungen von (d) sind
z. B. auffallen, behagen, bekommen, belieben, einfallen, gefallen, imponieren,
mißfallen, nützen, schaden, schmeicheln, schmecken, stinken, widerstreben in der hier
diskutierten Lesart. Das Muster ist produktiv (vgl. Wegener 1985: 193): mir
langt/stinkt/ reicht das. Zweistellige Verben mit Experiencer-Dativen sind auch in
vielen anderen Sprachen anzutreffen (vgl. Shibatani 1983, Verma/Mohanan 1991). Das
Muster in (c) verletzt drei schwächere Defaults. Dies erklärt, warum es
Lexikalisierungen mit dem Experiencer im Nominativ und dem Stimulus im Dativ
kaum gibt, vgl. jedoch er bangt/fiebert/sieht/strebt seiner ersten Bergtour entgegen.
Dieses Rektionsmuster erklärt sich durch eine analogische Übertragung des semantisch
gut motivierten Musters bei den Handlungsverben mit entgegen-, die weiter unten zur
Sprache kommen (jemandem entgegeneilen, entgegenlaufen u. ä.). Das Muster in (b)
verletzt zwei schwache semantische Defaults. Folglich gibt es eine relativ geringe Zahl
24
von Verblexemen mit diesem Kasusmuster: mich wundert/interessiert/kratzt das wenig.
Das Muster in (b) darf nicht mit Konstruktionen wie Dieser Streit ärgert/nervt/be-
eindruckt ihn verwechselt werden. Deren rollensemantische Grobstruktur ist
CAUSE(x, EXPER(y, z)), wobei x und z in einer engen semantischen Beziehung
stehen, die bis zur Referenzidentität gehen kann: CAUSE(x, EXPER(y, x)). Bei
belebten Verursachern kann P-Kontrolle hinzukommen: er will sie nur ärgern. Hier
fungieren beide Argumente als Proto-Agens, das Akkusativargument als Experiencer
und das Nominativargument als Verursacher und ggf. Kontrolleur der Experience-
Situation. Das Argument x könnte aufgrund des Dativ-Defaults im Dativ erscheinen,
falls es nicht mehr Proto-Agens-Eigenschaften aufweist als das Argument y. Da es aber
mehr Proto-Agens-Eigenschaften akkumulieren kann als y (P-Kontrolle und alle darin
enthaltenen agentivischen Basisrollen), kann es aufgrund der strikten Beschränkung
(11a) nicht im Dativ erscheinen. Zu beachten ist dabei, daß sich die Kasusselektion bei
einer prinzipiell festen Kasuswahl (also keiner absolut variablen Kasusselektion wie bei
bestimmten intransitiven Verben im Batsischen) immer nach der spezifischsten Lesart
des Verblexems richtet, also in diesem Fall nach der Kontroll-Lesart.
Natürlich stellt sich bei der Variation der Kasusmuster, die die Rollenstruktur
λyλxEXPER(x,y) realisieren, die Frage, ob ihre Verteilung durch weitere hier nicht be-
rücksichtigte semantische Beschränkungen erklärt werden kann. Die Beantwortung
dieser Frage kann nur im Rahmen einer eingehenderen Spezialuntersuchung in Angriff
genommen werden (vgl. Wegener (in diesem Band)).
Zweistellige Verben mit Besitzern im Dativ sind ausgehen, fehlen, gehören, genü-
gen, mangeln, zugehören in der hier diskutierten Lesart. Auch Pertinenzdative fallen in
diese Klasse: Er trat ihm auf den Fuß. Hier besteht eine Besitzrelation im weitesten
Sinn zwischen dem im Dativ kodierten Argument und dem präpositional kodierten
Argument. Besitzverben mit einer zusätzlichen Vorgangskomponente sind z. B. das
Vermögen ist ihr zugefallen/entglitten/entgangen. Verben mit dem Besitzer im
Nominativ und dem Besitz im Akkusativ sind z. B. besitzen, brauchen, haben. Diese
Verben folgen nicht dem Dativ-Default, sondern der formalen Präferenz für NOM/AKK
bei zweistelligen Verben und dem allgemeinen semantischen Prinzip der
Nominativzuweisung an ein Proto-Agens, das allerdings bei dieser Rollenkonfiguration
eine schwache Wirkung hat.
Sekundärer Besitzer ist das Dativargument bei dreistelligen Verben wie geben und
nehmen (vgl. für eine semantische Analyse solcher Verben Kunze 1991) sowie bei
Verben mit Pertinenzdativ (er schnitt dem Kunden das Haar). Auch Benefaktive wie in
25
Peter strickt seiner Frau einen Pulli erfüllen das Dativ-Default aufgrund der weiter
oben besprochenen agentivischen Komponente des Benefaktiv-Begriffs. Darin, daß es
sich bei den Benefaktivdativen um verbregierte Dative, d. h. Dativobjekte, handelt,
folge ich Wegener (1985: 131f.).
Eine weitere Klasse von Verben mit Dativrektion sind in Blumes Terminologie
die Interaktionsverben (vgl. Blume 1996 und die Korrespondenzverben in Wegener
1985: 279f.). Unter den zweistelligen NOM/DAT-Verben bilden die Interaktionsverben
eine umfangreiche, aufgrund einiger Wortbildungsmuster offene Klasse (vgl. entgegen-,
dazwischen-, drein-, nach-). Die semantische Motivation für die Dativrektion rührt
daher, daß eine Tätigkeit, eine Handlungsabsicht oder ein spezifischer Zustand des
Mitspielers im Dativ eine Voraussetzung für die vom Verb denotierte Handlung ist.
Diese Eigenschaft, die der Dativmitspieler selbständig, also unabhängig vom Mitspieler
im Nominativ aufweist, ist nach der hier vertretenen Auffassung eine Agenseigenschaft.
Der Zustand bzw. Status des Mitspielers im Dativ ist eine Voraussetzung für das vom
Verb denotierte Geschehen z. B. bei dienen, huldigen, opfern (kirchl.). In einigen Fällen
kann das Geschehen als Reaktion auf das Verhalten des Mitspielers im Dativ aufgefaßt
werden: antworten, applaudieren, beipflichten, danken, widersprechen. In anderen
Fällen sind beide Mitspieler in annähernd gleicher Weise am Geschehen beteiligt:
NOM/AKK/AUF-Verben sind z. B. folgende: richten, schätzen, schieben, übertragen,
überweisen, vorbereiten, verteilen, zurückführen. Mit obligatorisch reflexivem
31
Akkusativ findet man folgende: sich ausdehnen, sich auswirken, sich belaufen, sich
berufen, sich beschränken, sich besinnen, sich beziehen.
Bouillon (1984) vernachlässigt einige Partikelverben mit ein-, deren
Präpositionalobjekt eine physisch kontrolliert manipulierte Entität bezeichnet:
eindreschen, einprügeln, einschlagen. Dieser Befund ist typisch für
Präpositionalobjekte: die meisten befolgen die Restriktion (11d), es gibt jedoch eine
kleine Zahl von Verben, die es nicht tun. Aus diesem Grund wurde (11d) als strikte
Restriktion auf die Kasusrektion eingeschränkt. Vgl. auch (19)-(21):
(19) (a) Peter aß den Kuchen.
(b) *Peter aß des Kuchens/dem Kuchen.
(c) Peter aß vom Kuchen.
(20) (a) Peter lädt das Heu auf den Wagen.
(b) Peter belädt den Wagen mit dem Heu.
(21) (a) Peter warf die Steine gegen die Mauer.
(b) Peter warf mit Steinen gegen die Mauer.
Das Vorkommen präpositional realisierter Argumente, die eine physisch kontrolliert
manipulierte Entität bezeichnen, wird dadurch entschärft, daß sie auch als
Akkusativargumente realisiert werden können. Das formal weniger optimale Muster
setzt somit die Präsenz eines formal und rollensemantisch optimalen Musters bei diesen
Verben voraus.
Die Tatsache, daß die präpositionale Rektion in (19c), (20b) und (21b) der seman-
tischen Restriktion (11d) nicht folgt, heißt aber noch nicht, daß die gezeigte Rektions-
alternation keine rollensemantische Motivation im Sinne des allgemeinen Prinzips (10)
hat. Das Argument im Akkusativ impliziert eine zusätzliche semantische Eigenschaft,
die das präpositional kodierte Argument nicht aufweist. Das Akkusativargument
impliziert das sukzessive Erreichen eines bestimmten verbspezifischen Zielzustands,
weshalb diese semantische Rolle von Krifka (1989: 158f.) sukzessiv affiziertes Patiens
genannt wird (vgl. eingehender Dowty (1991: 587f.) und Ickler (1990: 2f.)). Diese
Eigenschaft wurde zwar in dieser Arbeit nicht in die Liste der rollensemantischen
Begriffe aufgenommen, aber es spricht nichts dagegen dies zu tun (vgl. Dowtys
'incremental theme'). Diese Beobachtungen deuten darauf hin, daß die hier eingeführte
Liste von rollensemantischen Begriffen unvollständig ist und durch weitere semantische
32
Grundbegriffe, die die verbale Rektion steuern können, ergänzt werden muß.
Auch agentivische Argumente können als Präpositionalobjekte realisiert werden.
Weniger problematisch für die semantischen Rektionsprinzipien ist das Agens im
Passiv, wie weiter oben im Abschnitt 4. festgehalten wurde. Um markierte
Lexikalisierungen relativ zum Prinzip (10) handelt es sich jedoch beim Kasusmuster
von bekommen, kriegen und erhalten, wenn man für sie die rollensemantische Struktur
eines Verbs wie geben (vgl. (7a)) ansetzt und das Präpositionalargument als den ggf.
kontrollierenden Verursacher x auffaßt (vgl. die semantische Analyse in Kunze 1991:
130f.).
5.5 Genitivrektion
Was die Genitivrektion betrifft, so kann für das Gegenwartsdeutsche die strikte,
diachronisch bedingte Regel aufgestellt werden, daß sie unproduktiv ist: es gibt weder
neuere verbale Entlehnungen noch produktive verbale Wortbildungsmuster, die einen
Genitiv fordern. Dies läßt sich durch den niedrigen Hierarchierang und durch das
universale formale Rektionsprinzip (2b) erklären. Unter den wenigen noch vorhandenen
Verben mit GEN wählen die meisten das formal relativ optimale Muster
NOM/AKK/GEN, z. B. beschuldigen, berauben, bezichtigen, entwöhnen, unterziehen,
zeihen, mit obligatorisch reflexivem AKK z. B. sich annehmen, sich bedienen, sich
befleißigen, sich begeben, sich bemächtigen. NOM/GEN-Verben sind z. B. bedürfen,
entbehren, ermangeln, gedenken, walten. Das nicht optimale Muster NOM/DAT/GEN
gibt es nur bei zwei Adjektiven (ich war mir dessen nicht bewußt/sicher). Bei keinem
der Verben verletzt das Genitivargument die Restriktion (11d), die die Genitiv- und
Dativzuweisung an eine physisch kontrolliert manipulierte Entität ausschließt, oder die
Restriktionen (11a, b), wonach ein Genitivargument nicht mehr Agenseigenschaften als
ein Koargument im Nominativ und nicht mehr Patienseigenschaften als ein Koargument
im Akkusativ aufweisen darf.
6. Zusammenfassung
Der hier vorgestellte Ansatz zur Erklärung der Rektionsmuster im Gegenwarts-
deutschen setzt ein hierarchisches System von Formfunktionen (verbregierten Kasus
oder Adpositionen) voraus, das nicht von anderen syntaktischen oder semantischen
Hierarchien abgeleitet wird. Insbesondere wird eine strikte Trennung zwischen dem
System der strukturell-topologischen Formfunktionen und dem System der
33
morphologischen bzw. adpositionalen Formfunktionen vorgenommen. Einige
rollensemantische Rektionsrestriktionen, die als strikte Restriktionen nur für die
Kasusrektion im Gegenwartsdeutschen gelten, zeigen, daß es sinnvoll ist, auch
zwischen Kasusrektion und adpositionaler Rektion zu unterscheiden.
Auf der Grundlage eines hierarchischen Systems von Formfunktionen wurde
zunächst ein sprachenübergreifendes formales Rektionsprinzip formuliert und anhand
der Rektionsmuster des Gegenwartsdeutschen eingehender überprüft. Der erste Teil
dieses Prinzips garantiert, daß die Selektion einer rangniedrigeren Rektionssubkategorie
asymmetrisch die Selektion (mindestens) einer ranghöheren Rektionssubkategorie
impliziert. Der zweite Teil besagt folgendes: je höher eine Rektionssubkategorie auf der
Hierarchie von Formfunktionen rangiert, um so mehr verbale Regenten selegieren sie.
Das hier vorgestellte rollensemantisch determinierte Rektionsprinzip hebt sich
von alternativen Ansätzen dadurch ab, daß es ohne Hierarchie von semantischen Rollen
auskommt. Voraussetzung für dieses Prinzip ist eine multifaktorielle Auffassung von
semantischen Rollen, die zuläßt, daß sich Argumente nach der Anzahl
rollensemantischer Basisrollen unterscheiden lassen. Das semantische Rektionsprinzip
besagt nämlich, daß verbale Rektion nicht nur auf die Unterscheidung zwischen Agens
und Patiens reagiert, sondern auch auf die Quantität rollensemantischer Information, die
ein Argument akkumuliert. Was seine Reichweite betrifft, so ist das Prinzip
konstruktionsunabhängig (d. h. es gilt für Aktiv und Passiv gleichermaßen) und
sprachenübergreifend, was hier aus Platzgründen nur an Nominativsprachen und nur am
Rande gezeigt werden konnte.
Ein Rektionsmuster kann ein bestimmtes Rektionsprinzip verletzen, um damit
einem konkurrierenden Rektionsprinzip zu folgen, wie an mehreren Beispielen gezeigt
werden konnte. Die Besprechung mehrerer repräsentativer Rektionsmuster des
Deutschen und die sprachvergleichenden Bemerkungen haben die Plausibilität der hier
vorgestellten Prinzipien und Annahmen demonstriert. Einige Muster weisen eher auf
die Unvollständigkeit des hier vorgestellten rollensemantischen Begriffsapparates als
auf eine Schwäche der vorgestellten Prinzipien hin.
Erst die sprachenübergreifende Gültigkeit dieser Prinzipien garantiert, daß sie als
Erklärung für einzelsprachliche Erscheinungen dienen können. Zu diesen zählen auch
einige hier vorgestellte strikte formale und rollensemantische Rektionsrestriktionen im
Gegenwartsdeutschen. Zitierte Literatur
34
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