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170 Empathie
EmpathieRainer Sachse
l. Einleitung
Die Bedeutung des Begriffs ,,Empathie" ist in derPsychologie
uneinheitlich; auf das gesamte Bedeu-tungsspektrum soll hier nicht
eingegangen werden.Velmehr soll hier der zentrale Begriffsaspekt
be-handelt werden, wobei Empathie gekennzeichnetwird
als,,einfühlendes Verstehen".
2. Was ist einfühlendes Verstehen?
Vor einer genauen theoretischen Klärung soll zurbegrifflichen
Orientierung eine Definition gegebenwerden:,,Einftihlendes
Verstehen bezeichnet denpsychischen Vorgang, bei dem eine Person
ver-sucht, die Aussagen, Verhaltensweisen oder Emp-findungen einer
anderen Person zu erkennen, zuverstehen oder nachzuvollziehen. und
zwar aus derPerspektive bzw. aus den Voraussetzungen dieserPerson
heraus". Dies impliziert einerseits eine Be-obachtung derPerson
bzw. ein (aufrnerksames) Zu-hören. Andererseits erfordert es
ein,,Hineinverset-zen" in diese Person, d.h. die Bildung von
Hypothe-sen darüber, wie sich diese Person fühlt, was ihreZiele und
Motive sind usw. Aus dieser Definitionwird schon erkennbar, daß
,,Empathie" einkomple-xer Vorgang ist.
Die Bedeutung von Empathie (in diesem Sinne)ist in verschiedenen
Bereichen der Psychologie un-tenucht worden. Ein wesentlicher
Forschungsbe-reich, in dem Empathie von großer Bedeutung ist,ist
die Psychotherapie. Hier geht es um die Frage,wie Therapeuten ihre
Klienten verstehen könnenund wie sich dieses Verstehen auf die
Klientenauswirkt. Ein anderer wesentlicher Bereich beziehtsich auf
Hilfeleistungen: Es wird erforscht, inwie-weit eine Person in
höherem Maße einer anderen
3 . 1 D efinitoriscke Ab grefuung' "
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Empathie l7l
Ergebnis des Prozesses (das ,,hodukt") ist aber mitdem Prozeß
nicht identisch. Zur Vermeidung vonKonfusioh sollte man den Begriff
des ,,empathi-schen Verstehens" arf den Frozeß, abel nicht aufdas
Produkt anwenden.
Wie gut dieses Produkt" d.h. wie gut die Qualitätder
Rekonstruktion ist, das ist, wie gezeigt wurde,nicht nur vom
ernpathischen Verstehen abhäingig,sondern auch,vom Ausmaß der
Akzeptierung undvon einerReihe anderer Variablen: von der
Verftig-barkeit vonfnformation, von der Qualität der Infor-mation,
der Abwesenheit von Störbedingungenusw.
Man sollte auch zwischen empathischem Verste-hen und seiner
Wirkung unterscheiden: Ob ein Ver-stehen durch den Therapeuten auf
einen Klientenkonstruktive Wirkungen hat, hängt wiederum
vonweiteren Bedingungen ab, wie der Aufrrahmebereit-schaft .des
Klienten (vgl. Orlinsky & Howard,1986), dem Ausmaß der
Selbstexploration (vgl.Eckert, 1974) usw.
3.2 T heoretische Kkirung
Eine theoretisch-konzeptionelle Klärung dessen,was empathisches
Verstehen bedeutet, ist mit Hilfesprachpsychologischer Konzepte
möglich. Hör-mann (1976) macht deutlich, daß ,,Verstehen"
be-deutet, daß der Hörer jeweils'das vom SprecherGemeinte
rekonstruiert. Ein Sprcqher meint aberi--"r mehr (und manchmal
"u.tt uoO"t"s), als er
sag! (Herr,mann, 1982). Verstehen ist daher'als einkomplexer
Rekonstnrktionsvorgang anzusehen, beidem der Hörer unter Verwendung
eigenen Wissensversucht, dasjeweiis Gemeinte u* A"n
verfiigbarenDaten zu rekonstmieren (vgl. Sachse, 1992).
Beim ,,Verstehen des inneren Bezugssystems"muß'der llörer noch
mehr verstehen: Er muß An-nahmen darüber entwickeln, was die
Einstellungen,Motive usw. der Person sind. Der Hörer muß
alsoversuchen, ein hypgthetisches Modell des,,innererBezu$ssystems"
zu bilden, aus dem das Verhaltenoder Erleben der Person
verständlich wird, DiesesModell muß validiert werden, denn es geht
darum,die Motive usw. möglichst zutreffend zu,rekonstru-ieren und
nicht darum, der Person irgendein plausi-bles
Modell,,überzustü1pen". Hörmann ( 1976) be-zeichnet dies im
Gegensatz zum Verstehen als,,Sin-nerfassen". Dieses Modell (als
Ergebnis desempathischen Verstehens) ist dann eine
wesentlicheGrundlage therapqutischen Handelns.
Insofern ist Erirpathie im Sinne von ,,empathi-schem Versüehen"
auch etwas anderes als im Sinnevon ,,Perspektivenübemahme" (vgl.
Archer et al.,l98l; Mehrabian & Epstein, 1972). Bei der
For-
schung zur Perspeltivenübernahme wird unter-sucht, inwieweit
eine solche helfendes Verhaltenbegänstigu DiePersonen sollen sich
vorstellen, wiees einer hilfsbedürftigen Person geht, sie sollen
sichden unangenehmen Zustand dieser Person verge-genwärtigen. Diese
Art der Perspektivenübemahmemacht dem Beobachter in
F{ilfeleisnmgssituationendas Ausmaß des l.eidens bzw. der
Hilfsbedürftig-keit einer Person salient. Wenn dies beirn
Beobach-ter zu einer emotionalen Reaktion führt
(,,empathicemotion"), wird die Bereitschaft zur
Hilfeleistungerhöht.
Empathie als,,Perspektivenübernahme" impli-ziert, daß ein
Beobachter ,,sich vorstellen soll, wiees einer (beobachteten)
Person wohl geht". Coke etal. (1978) geben z.B. ihren
Versuchspersonen in derEmpathie-Bedingung die Instruktion ,,try to
imagi-ne how the person (...) feels about ttre situation andhow it
has affected the persons life" (5.755). Beidiesem Vorgehen geht es
däflrn; daß ein Beobachtersich auf bestimmte Situationsaspekte
konzentriertund dazu (aufgrund eigenen Wissens oder
eigenerErfahrungen) Vomtelhmgen entwickelt, wie es ei-ner Person in
einer solchen Situation geht (vgl. auchBatson et a1., 1981; 1983;
1989). Dieses Vorgehenirnpliziertabergerade das, was Hörmann
('1976) mit
,,Sinnerfassen" meint; empathisches Verstehengeht (von den
Anforderungen her) deutlich darüberhinaus.
4. Empathie in der Psychotherapie
Empathisches Verstehen wird heute in weiten Be-reichen der
Psychotherapie als wesentlich betrach-tet. Eingeführt hat den
Begriff in die PsychotherapieCarl R. Rogers mit seiner Konzeption
der ,,Klien-tenzentrierten Psychotherapie". Rogers
entwickelteaufgrund ausführlicher Analysen aufgezeichneterGespräehe
die therapeutischen,,conditions" oder
,,Basisvariablen" Empathie;'unbedingte Wertschät-zung und
Kongnrenz. Empathisches Verstehen be-deutet nach Rogers, daß die
Therapeutin/der Thera-peut letztlich ,,däs innere Bezugssystem"
desKlienten verstehen kann. Rogers (19V3, S:42) for-muliert d.ies
so: ,,I.{ach dieser Forrnulierung wäre esdie Funktion des Beraters,
soweit er dazu imstandeist, das innere Bezugssystem des Klienten zu
über-nehmen, die Welt so zu sehen, wie der Klient siesieht, den
Klienteri zu sehen, wie er sich selbst sieht,dabei alle
Vorstellungen vom äußeren Bezugs-system abzulegen und dem Klienten
etwas vondieem einfühlenden Verstehen mitzuteilen". Dabeikann der
Therapeut z.T. sogar mehr vom inneren
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172 Empathie
Bezugssystem des Klienten verstehen als die Klien_tiry'der
Klient selbsr (vgl. Goodman, 1991).
Die Beschreibungen von Rogers sind metapho_risch-anschaulich
(gemliß der phtinomenologischenTradition); eine
theoretisch_konzepfuelle fla*ngdes Empathie-Begriffs findet jedoch
nicht statt.
Die zwei anderen Bedingungen ,,Wertschät_zung'1und ,,Kongruenz..
sind eng mit dem Begriffdes empathischen Verstehens verbunden:
Unbe_dingte Wertschätzung bedeutet, daß der Therapeutbeim Bemi.ihen
um Verstehen seine eigen"n W.._tungen ,,zur Seite stellt.,, um für
die vom Klientengeäußerten Inhalte offen zu sein; Kongruenz
bedeu_tet, daß der Therapeut eigene Störungen (2.8. Argeaeigene
Befürchtungen usw.) wahrnehmen und alss eine Inhaltsaspekte
identifizieren kann.
Die drei Bedingungen interagieren damit beimVerstehensprozeß des
Therapeuten in bedeutsamerWeise (vgl. Biermann-Ratjen et al.,
l99l):
(l) Das Zurückstellen eigener Wertungen wirktsich günstig auf
den empathischen r/brstJhenspro_zeß aus: Stellt ein Therapeut
eigene Wertungenzurück, so kann er unvoreingenommen verarbeiten,er
kann dem Klienten zuhören und Inhalte rekon_struieren, wo er
ansonsten schnell ,,abschalten..oder gegenargumentieren würde, er
kann Inhaltezulassen, die er ansonsten lieber vermeiden
würdeusw.
(2) Umgekehrt erleichtert das empathische Ver_stehen, das
Verstehen der person uu, ihran eigenenVoraussetzungen heraus, auch
das Akzeptieren: DieTendenz, eine person wegen ihrer Handlungen
ab_zuwerten, sinkt, wenn man diese Handlungen z.B.aus der
Biographie dieser person nachvollziehenkann.
(3) Die Kongruenz des Therapeuten erleichtertebenfalls ein
genaues Verstehen: kann eine Thera-peutiry'ein Therapeut bestimmte
Wrinsche, proble_maspekte und Sichtweisen als seine erkewren,
er_leichtert dies die Unterscheidung zwischen
eigenenInhaltsaspekten und denen des *henten. Oie tvttig_lichkeit,
wirklich das zu rekonstmieren, was dieKlientinlder Klient meint,
verbessert sich.
Vermiuelt der Therapeut dem Klienten Akzeptie_rung und Empathie,
dann wirken diese Aspekteauch beim Klienten zusarnmen: Hat der
Klient denEindruck, daß er,,angenornmen.. wird; daß ernichtbewertet
oder für bestimmte Inhalte abgewertetwird, erleichtert das dem
Klienten die Selbsttiff_nung: Er kann Vertrauen zum Therapeuten
aufbau-en und diesem verstärkt auch unanlenehme oderpeinliche
Inhalte mitteilen. Und er kinn sich selbstauch, mit Untersttitzung
des Therapeuten, verstärktunangenehmen und peinlichen Inhalten
zuwendenund diese assimilieren (Stiles, lgg2).(Dies erleich_
- Altruismu.t- Beratung- jeyy(nsOsychotherapie'' "- Gefühl
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Empathie 113-
Weiterfühnende Literatur
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