Kapitel 4 Einfache Theorie chemischer Elementarreaktionen und die Temperaturabh ¨ angigkeit der Geschwindigkeitskonstanten Ziel dieses Kapitels ist ein einfaches Verst¨ andnis der Temperaturabh¨ angigkeit der Geschwin- digkeitskonstanten chemischer Elementarreaktionen. Ausgangspunkt f¨ ur unsere Darstellung ist eine elementare statistisch-thermodynamische Behandlung der kinetischen Prim¨ arprozesse. Die- se geht im Verst¨ andnis etwas tiefer als eine rein formal quasithermodynamische Diskussion etwa im Rahmen der thermodynamischen Formulierung der Theorie des ¨ Ubergangszustandes. Aller- dings m¨ ussen einige Konzepte, die erst in der Vorlesung PC VI, Statistische Thermodynamik, vorweggenommen werden. 4.1 Populationsverteilung In der statistischen Mechanik stellt sich die Frage nach der Verteilung der Molek¨ ule auf die Ener- giezust¨ ande im thermischen Gleichgewicht. Im Rahmen der klassischen Mechanik sind beliebige, kontinuierliche Energiewerte m¨ oglich, in der Quantenmechanik f¨ ur manche molekularen Bewe- gungen nur diskrete Energien. Es werden hier zun¨ achst die wichtigsten Ergebnisse f¨ ur diskrete Energien zusammengefasst und danach auf den kontinuierlichen Fall ¨ ubertragen. 127
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Einfache Theorie chemischer Elementarreaktionen und die ... · 4.1.2 Quasikontinuierliche Verteilung und Maxwell-Boltzmann-Geschwindigkeitsverteilung Werden die Energieunterschiede
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Kapitel 4
Einfache Theorie chemischer
Elementarreaktionen und die
Temperaturabhangigkeit der
Geschwindigkeitskonstanten
Ziel dieses Kapitels ist ein einfaches Verstandnis der Temperaturabhangigkeit der Geschwin-
digkeitskonstanten chemischer Elementarreaktionen. Ausgangspunkt fur unsere Darstellung ist
eine elementare statistisch-thermodynamische Behandlung der kinetischen Primarprozesse. Die-
se geht im Verstandnis etwas tiefer als eine rein formal quasithermodynamische Diskussion etwa
im Rahmen der thermodynamischen Formulierung der Theorie des Ubergangszustandes. Aller-
dings mussen einige Konzepte, die erst in der Vorlesung PC VI, Statistische Thermodynamik,
vorweggenommen werden.
4.1 Populationsverteilung
In der statistischen Mechanik stellt sich die Frage nach der Verteilung der Molekule auf die Ener-
giezustande im thermischen Gleichgewicht. Im Rahmen der klassischen Mechanik sind beliebige,
kontinuierliche Energiewerte moglich, in der Quantenmechanik fur manche molekularen Bewe-
gungen nur diskrete Energien. Es werden hier zunachst die wichtigsten Ergebnisse fur diskrete
Energien zusammengefasst und danach auf den kontinuierlichen Fall ubertragen.
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128 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
4.1.1 Boltzmannverteilung auf Energieniveaus im thermischen Gleichgewicht
und chemische Gleichgewichtskonstante
Es seien zwei Energiezustande Ei und Ej gegeben, deren Besetzungswahrscheinlichkeiten (oder
einfach “Besetzungen”) mit pi und pj bezeichnet werden (Bild 4.1). Als Besetzungswahrschein-
lichkeit pj bezeichnet man also die Wahrscheinlichkeit, bei einer Temperatur T ein Atom oder
Molekul – oder allgemein ein Quantensystem – im Energiezustand Ej vorzufinden:
pj =Cj∑k
Ck(4.1)
wobei Cj die Konzentration der Molekule im Quantenzustand Ej ist.
Das Boltzmann-Verteilungsgesetz liefert als Ergebnis das Verhaltnis der beiden Besetzungen fur
Andere Gleichungen fur die Temperaturabhangigkeit der Geschwindigkeitskonstan-
ten
In der Praxis wird haufig von temperturunabhangigen Arrheniusparametern A und EA ausge-
gangen. Da dies jedoch oft nicht genugt, werden weitere Gleichungen mit mehreren temperatu-
runabhangigen Parametern eingesetzt, um die Temperaturabhangigkeit der Arrheniusparameter
zu modellieren. Eine haufig verwendete Form ist
k(T ) = A′ T b exp
(− Ea
RT
)(4.72)
wobei A′, b und Ea als temperaturunabhangig angenommen werden. Hiermit ergibt sich fur die
temperaturabhangigen Arrheniusparameter
A = A′ (eT )b (4.73a)
EA = Ea + b RT (4.73b)
Tabellen mit entsprechenden Parametern fur zahlreiche Reaktionen finden sich bei
[Warnatz et al. 1999] und [Atkinson 1989].
4.3 Die Theorie des Ubergangszustandes
Die Theorie des Ubergangszustandes gehort zu den fruchtbarsten Theorien der Geschwindigkeits-
konstanten chemischer Elementarreaktionen. Sie wird gelegentlich auch als Theorie des aktivier-
ten Komplexes bezeichnet (englisch ”transition state theory”, TST, oder ”activated complex
PCII - Chemische Reaktionskinetik
148 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
theory”, ACT, auch ”absolute rate theory”, ART). Besonders fur unimolekulare Reaktionen ist
auch “Quasigleichgewichtstheorie” (”quasiequilibrium theory”, QET) gebrauchlich. Man kann
sie elementar mit quasithermodynamischen Konzepten einfuhren, wobei ihre Anwendung dann
auf eine Auswertung und Deutung der Temperaturabhangigkeit der Geschwindigkeitskonstanten
beschrankt ist, die nicht wesentlich uber die Auswertung und Deutung im Rahmen der Arrheni-
usgleichung hinausgeht. Ein besserer Zugang erfolgt uber statistisch-thermodynamische Konzep-
te, wobei erkennbar wird, dass die Theorie des Ubergangszustandes prinzipiell zur ”absoluten”
(ab initio) Berechnung von Geschwindigkeitskonstanten geeignet ist. Dies erlaubt ein wesentlich
tieferes Verstandnis der Grundlagen dieser Theorie. Wir werden diesen zweiten Zugang hier im
Rahmen einer sehr einfachen Darstellung wahlen. Wir wollen hier jedoch die wichtigsten Ergeb-
nisse der Theorie zusammenfassen, da sie in allen Bereichen der Chemie, von der anorganischen
uber die organische bis hin zur Biochemie von grundlegender Bedeutung ist.
4.3.1 Die physikalische Grundidee der Theorie des Ubergangszustandes: Eine
Analogie zur Effusion oder Ausstromung aus einem Behalter
Die Grundidee der Theorie des Ubergangszustandes kann man durch die Analogie des Aus-
stromens eines Gases (Teilchenzahl N) durch den engen Flaschenhals einer Flasche in ein Va-
kuum verstehen (Bild 4.15). Der Flaschenhals sei genugend eng, so dass sich der Druck p in der
Flasche nur langsam andert. Zur Berechnung der Ausstromungsgeschwindigkeit −dN/dt muss
man die Geschwindigkeit vs der Molekule am Flaschenhals mit der Querschnittsflache F des
Flaschenhalses und der Konzentration CF der Molekule am Flaschenhals multiplizieren. Die pro
Zeiteinheit ins Vakuum austretende Zahl von Molekulen ist also mit der Idealgasnaherung fur
CF gegeben durch
− dN
dt= vs F CF = vs F
pF
kBT(4.74a)
p C,pkT------=
pF p≤
p 0≈
Strömungsgeschwindigkeit vs
kBT
Abbildung 4.15: Ausstromung eines Gases aus einer Gasflasche mit engem Flaschenhals.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 149
In der Differentialnotation lasst sich dies auch anschaulich schreiben mit dem Volumen V und
dem Differential dV = Fdx, wobei die x-Achse die Stromungsrichtung angibt mit der Konzen-
tration CF = −dN/dV und vs = dx/dt (−dN = CF dV ist positiv)
− dN
dt= −dV
dt
dN
dV=
dx
dtF CF (4.74b)
Wenn die Flasche geschlossen ist, so gilt pF = p (Gleichgewichtsdruck). Bei offener Flasche kann
man bei kleinem Flaschenhals annehmen, dass der Druck am Flaschenhals ungefahr gleich dem
Gleichgewichtsdruck ist, in Wahrheit wird er etwas kleiner sein, also
pF . p (4.75)
− dN
dt= vsF
(pF
kBT
). vsF
(p
kBT
)(4.76)
Die Annahme, dass die Konzentration der Molekule am Flaschenhals gleich der Gleichgewichts-
konzentration ist, erlaubt uns eine einfache Abschatzung der Ausstromungsgeschwindigkeit bei
bekanntem p und vs. Wenn weiterhin der Flaschenhals von molekularer Dimension ist, konnen
wir annehmen, dass die thermische Geschwindigkeitsverteilung nicht wesentlich durch die Aus-
stromung gestort ist. Berucksichtigt man die Tatsache, dass im Mittel nur die Halfte der Mo-
lekule einen Geschwindigkeitsvektor in Richtung einer Ausstromung hat (d.h. CF(Ausfluss)'
p/(2kBT )) und dass fur die hier massgebliche eindimensionale Maxwell-Boltzmann-Verteilung
gilt
vs ≈ 〈|v1D|〉 =1
2〈|v3D|〉 =
√2kBT
πm(4.77)
(〈|v1D|〉 ist der eindimensionale mittlere Geschwindigkeitsbetrag (in einer Richtung), 〈|v3D|〉 der
mittlere Geschwindigkeitsbetrag aus Gl. (4.29)), so findet man
− dN
dt=
1
2
√2kBT
πmF C =
1
2
√2RT
πMF
(p
kBT
)(4.78)
Man bezeichnet den Prozess der molekularen Ausstromung auch als Effusion. Die Effusionsge-
schwindigkeit ist umgekehrt proportional zur Molekulmasse m (Molmasse M) und ist deshalb
prinzipiell zur Molmassenbestimmung oder in einem Gasgemisch von Isotopen verschiedener
Masse zur Isotopentrennung geeignet. Unabhangig davon, ob wir die wahre Stromungsgeschwin-
digkeit vs oder die mittlere thermische Geschwindigkeit 〈|v1D|〉 verwenden, erkennt man, dass
wegen der Ungleichung Gl. (4.75) die Gleichgewichtsannahme zu einer oberen Schranke fur
die wahre Ausstromungsgeschwindigkeit fuhrt. Die Berechnung der Effusionsgeschwindigkeit ist
auch an sich wichtig, und man sollte sie sich neben der allgemeinen Vorgehensweise merken. Das
PCII - Chemische Reaktionskinetik
150 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
hier diskutierte Vorgehen zur Berechnung eines Durchsatzes an einem “Flaschenhals” fur ein
kinetisches Phanomen lasst sich in einer Vielzahl von Beispielen anwenden. Wir wollen das Ver-
fahren nun auf die Reaktionskinetik von Molekulen anwenden. Zuvor seien die hauptsachlichen
gedanklichen Schritte bei dieser Vorgehensweise nochmals zusammengefasst:
1. Der kinetische Prozess wird durch einen “Flaschenhals” bestimmt, einen Raumbereich, wo
im Fall der Ausstromung eine enge Begrenzung des Gasflusses, im Falle der Reaktion des
“Reaktionsflusses” zu erwarten ist. Es ist der Ort minimaler Stoffmenge als Funktion der
Stromungsrichtung (im Gleichgewicht).
2. Die Geschwindigkeit des Prozesses wird aus der Konzentration und der Flussgeschwindig-
keit am Flaschenhals berechnet (vF = −dN/dt = vs F CF).
3. Die Konzentration CF am Flaschenhals wird als Gleichgewichtskonzentration C (im Gleich-
gewicht mit dem “Reservoir” in der Flasche oder allgemeiner der Reaktanden) und die
Flussgeschwindigkeit vs als thermische Gleichgewichtsgeschwindigkeit approximiert. Hier-
bei erwartet man, dass diese Approximation einen oberen Grenzwert fur den wahren Wert
liefert.
Bei der Anwendung auf molekulare chemische Prozesse werden wir nun zunachst besprechen,
was dort die Rolle des Flaschenhalses ubernimmt. Sodann werden wir durch Anwendung der
genannten Schritte zur Berechnung der Geschwindigkeitskonstanten mit Hilfe einer geeigneten
Gleichgewichtsannahme am Flaschenhals kommen.
4.3.2 Reaktionskoordinaten, Flaschenhalse, Sattelpunkte und Energiebarrie-
ren auf molekularen Potentialhyperflachen
Die Analogie zwischen dem Ausstromen eines Gases durch eine kleine Offnung und einer chemi-
schen Reaktion lasst sich durch Betrachtung der Landkarte der potentiellen Energien als Funk-
tion der Position der Atome in einer molekularen Umlagerung verstehen. Selbst fur einfachste
Umlagerungen wie etwa die Isomerisierung
HNC� HCN (4.79)
ware eine ”Landkarte” der potentiellen Energie in drei Dimensionen (z. B. zwei Bindungslangen
rCH und rCN sowie ein Winkel) notig. Wir konnen zur Veranschaulichung jedoch vereinfachend
annehmen, dass die CN Bindungslange rCN bei der Isomerisierung konstant bleibt. Dann hat
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 151
man wie bei Landkarten mit Hohenlinien auf einer Flache eine Darstellung der potentiellen Ener-
gie durch “Aquipotentiallinien” gleicher Energie auf einer Flache wie in Bild 4.16 dargestellt.
N C
M1M2
=y / 1
00 p
m
x / 100 pm
Abbildung 4.16: Aquipotentiallinien fur die Isomerisierung HNC� HCN bei festgehaltener Bin-
dungslange rCN. Die Graphik zeigt die potentielle Energie als Funktion der Position des H-Atoms
in einer Ebene (x, y) relativ zu C-N wie gezeichnet. x gibt die Position in Richtung der C-N
Achse und y die Position senkrecht hierzu an. Der Ursprung liegt etwa in der Mitte zwischen
C und N. Das tiefere Minimum M1 entspricht der Struktur HCN, das hohere Minimum M2 der
Struktur CNH. Der Energieunterschied zwischen benachbarten Aquipotentiallinien ist 0.5 eV
(ca. 48 kJ mol−1). Die gestrichelte Linie mit Pfeilen gibt die Reaktionskoordinate rq an, 6= mar-
kiert die Struktur des Ubergangszustandes an der Stelle r 6=q die dem “Flaschenhals” entspricht
(Sattelpunkt oder Pass auf dem Energiegebirge) nach [Murrell et al. 1978].
Die chemische Umlagerung lasst sich hier als Wanderung des H-Atoms vom Minimum M2 zum
Minimum M1 verstehen, entsprechend einer “Stromung” der Molekule von der Reaktanden- auf
die Produktseite, ungefahr entlang der eingezeichneten Reaktionskoordinate rq. Hierbei wird wie
bei der Ausstromung eines Gases durch einen Flaschenhals eine besonders ungunstige Stelle mi-
nimaler Wahrscheinlichkeit entlang rq an der Stelle r 6=q entscheidend sein (wegen der Boltzmann-
Verteilung ist die Besetzung hier am geringsten). Es ist gebrauchlich, die Darstellung auf eine
Dimension, also potentielle Energie als Funktion von rq zu beschranken. Wie in Bild 4.17 ge-
PCII - Chemische Reaktionskinetik
152 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
zeigt, erscheint der Sattelpunkt aus Bild 4.16 als Maximum der potentiellen Energie entlang der
Reaktionskoordinate rq. Es ist nun naheliegend, die Reaktionsgeschwindigkeit aus dem Gleich-
gewichtsfluss an der Stelle r 6=q zu berechnen, wobei diese Stelle mit einem speziellen Symbol 6=
als Ubergangszustand bezeichnet wird.
Abbildung 4.17: Potentielle Energie als Funktion der Reaktionskoordinate rq fur eine Isomeri-
sierung (schematisch der gestrichelten Linie mit Pfeilen (rq) in Bild 4.16 folgend).
Ganz allgemein ergibt sich die potentielle Energie eines N -atomigen Molekuls als Funktion der
3N − 6 inneren Freiheitsgrade (Koordinaten) aus der Losung der Schrodingergleichung fur die
Elektronenbewegung bei der entsprechenden (festgehaltenen) Position der Atomkerne. Das ent-
spricht der nach Born und Oppenheimer benannten Naherung fur die Molekuldynamik.
4.3.3 Faktorisierung molekularer Zustandssummen
Zur Berechnung der Gleichgewichtsbesetzung am Ubergangszustand mit Hilfe von Gl. (4.5)
bis (4.9) benotigen wir noch einige Ergebnisse aus der statistischen Thermodynamik, die wir
hier kurz zusammenfassen. Es gilt oft in brauchbarer Naherung, dass die Energien Em der
molekularen Energieniveaus als Summe von Beitragen der Translation Et, der Rotation Er, der
Schwingung Ev und der elektronischen Bewegung Ee dargestellt werden kann:
Em = Et + Er + Ev + Ee (4.80)
Wir nehmen hier an, dass nur ein Quantenzustand der elektronischen Bewegung Ee (der elek-
tronische Grundzustand eventuell mit der Entartung ge) eine Rolle spielt (dieser definiert die
Potentialflache, die als Beispiel in Bild 4.16 gezeigt ist). Es folgt aus der Summe in Gl. (4.80)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 153
und der Exponentialform der Zustandssumme, Gl. (4.7), dass die molekulare Zustandssumme
qm entsprechend diesen Beitragen faktorisiert werden kann
qm = qt qr qv ge gKernspin /σ (4.81)
Wir verwenden hier den kleinen Buchstaben q fur die Definition der Zustandssumme von einzel-
nen Molekulen und Atomen, wobei die Energieniveaus sich auf Molekule oder Atome beziehen.
Die allgemeine Zustandssumme Q in Kap. 4.1 konnte sich auch auf eine makroskopische Stoff-
menge, z. B. 1 mol eines Gases beziehen. Die allgemeinen Gleichungen sind aber vollig analog.
Hierbei ist nun in q neben der elektronischen Entartung ge noch die Kernspinentartung
gKernspin =∏i
(2Ii + 1) (4.82)
wobei Ii der Spin des Kerns i im Molekul ist. Die σ sind eine Symmetriekorrektur; Sie sind einfa-
che ganze Zahlen, die sich aus der Symmetriegruppe des Molekuls ermitteln lassen. σ ist gleich 1
fur den Fall asymmetrischer Molekule, sowie auch fur HCN oder HNC. Das Symbol σ ist nicht mit
dem Wirkungsquerschnitt zu verwechseln. Man hat in der Praxis folgende Naherungsgleichungen
fur die Anteile der Zustandssummen:
• fur die Translationszustandssumme:
qt = V
(2πmkBT
h2
)3/2
(4.83)
wobei m die Masse des Molekuls ist und V das Volumen des idealen Gases (Gl. (4.83)
impliziert die Idealgasnaherung unabhangiger Teilchen).
• fur die Vibrationszustandssumme:
qv =
s∏i=1
qvi (4.84)
mit
qvi =
(1− exp
(− hνikBT
))−1
(4.85)
s ist die Zahl der Schwingungsfreiheitsgrade (3N − 6 fur nichtlineare Molekule, 3N − 5 fur
lineare Molekule mit N Atomen). Die νi sind die Schwingungsfrequenzen zur Schwingung
i, wobei Gl. (4.85) auf der Annahme einer harmonischen Schwingung beruht.
• fur die Rotationszustandssumme:
qr =√π
(kBT
hc
)3/2
(ABC)−1/2 (4.86)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
154 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
fur nichtlineare Molekule mit drei Rotationskonstanten A,B,C und
q`r =kBT
hcB(4.87)
fur lineare Molekule, mit der spektroskopischen Rotationskonstanten B.
Da gemass Gl. (4.81) und (4.83) qm und qt proportional zu V sind, definiert man auch entspre-
chende Zustandssummen pro Volumeneinheit
qm = qm/V (4.88a)
qt = qt/V (4.88b)
Die elektronische Entartung ist in der Regel 1 fur gewohnliche Molekule mit geschlossenen
Schalen (gerade Elektronenzahl), 2 fur freie Radikale mit einem ungepaarten Elektron. Von
dieser Regel gibt es allerdings Ausnahmen (z.B. fur O2 hat man ge = 3).Weiterhin ist noch die
Zustandssumme der Translation eines Teilchens der Masse m in einem eindimensionalen Kasten
der Lange d nutzlich
qt,1D = d
(2πmkBT
h2
)1/2
(4.89a)
Wegen der Additivitat der Energien des Teilchens im Kasten
Enx,ny ,nz = Enx + Eny + Enz (4.89b)
gilt offensichtlich analog zu Gl. (4.81) mit V = d3
qt,3D = (qt,1D)3 = V
(2πmkBT
h2
)3/2
(4.89c)
Es ist auch oft gebrauchlich, die Zustandssummen der inneren Freiheitsgrade zusammenzufassen
und Gl. (4.81) zu schreiben
qm = qt qint (4.90)
qint = qr qv ge gKernspin/σ (4.91)
Fur die meisten thermodynamischen Rechnungen wird gKernspin nicht weiter berucksichtigt, da
es sich bei einer chemischen Reaktion nicht andert. Hiermit haben wir die wichtigsten Formeln
fur statistische Rechnungen nach der Theorie des Ubergangszustandes zusammengestellt.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 155
4.3.4 Statistisch thermodynamische Formulierung der Theorie des Ubergangs-
zustandes
Entsprechend der Grundidee bei der Berechnung der Effusionsgeschwindigkeit aus einem Behalter
in Kap. 4.3.1 wollen wir nun die Reaktionsgeschwindigkeit aus dem Gleichgewichtsfluss der
Molekule am “Flaschenhals” (das entspricht dem Sattelpunkt auf der Energiehyperflache) der
Reaktion berechnen. Hierzu greifen wir auf die statistisch-thermodynamische Berechnung der
Gleichgewichtskonstanten in Kap. 4.1.1 zuruck. Wir betrachten gemass Bild 4.21 Molekule mit
der Konzentration [−→X], die sich im Bereich d = r 6=q + 1
2d−(r 6=q − 1
2d)
der Reaktionskoordinate an
der Stelle des Sattelpunktes r 6=q befinden und sich, wie durch den Pfeil angedeutet, in Richtung
auf die Produktseite des Potentials hin bewegen. Der Bereich des eindimensionalen, virtuellen
“Kastens” der Lange d sei so klein gewahlt, dass das Potential V (rq) in diesem Bereich ungefahr
konstant ist, aber gleichzeitig auch so gross, dass die Zustandssumme durch eine eindimensionale
Translation mit quasikontinuierlichem Spektrum und quasiklassischer Zustandssumme approxi-
miert werden kann (siehe Kap. 4.1.2).
Wir nehmen nun an, dass die Teilchen [−→X], die sich in der Richtung von der Reaktanden- auf
rq
V rq( )
A
B
rq=
E0
d
X[ ]
rq
V rq( )
rq=
d
X[ ]
A B+
C D+
Abbildung 4.18: Potentielle Energie entlang der Reaktionskoordinate rq fur eine unimolekula-
re Isomerisierung (Links) und eine bimolekulare Reaktion (Rechts) mit Molekulen X im Be-
reich d um den Sattelpunkt (siehe auch Diskussion im Text). Streng genommen ist hier die
potentielle Energie entlang rq gezeigt, welche die Nullpunktsenergiebeitrage der Schwingungen
in allen Koordinaten ausser rq einschliesst. E0 ist also die Differenz der Energie des tiefsten
Quantenzustandes des Ubergangszustandes und des tiefsten Quantenzustandes des Reaktanden
A (die Nullpunktsenergie des Ubergangszustandes fur die Bewegung in Richtung rq wird als
vernachlassigbar klein angenommen).
PCII - Chemische Reaktionskinetik
156 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
die Produktseite bewegen, im Gleichgewicht mit den Reaktanden sind und dass keine Molekule
[←−X] von der Produktseite kommen. Im Gleichgewicht ware [
−→X] = [
←−X] = 1
2 [X] wobei [X] die
Konzentration der Molekule am Sattelpunkt im tatsachlichen Gleichgewicht ist, die sich zu ge-
nau gleichen Teilen aus [−→X] und [
←−X] zusammensetzt, da diese beiden Flusse “vorwarts” und
“ruckwarts” sich ja genau aufheben mussen. Hiermit konnen wir die Gleichgewichtskonzentrati-
on [−→X]eq berechnen (Beispiel der unimolekularen Reaktion mit Reaktand A, siehe Gl. (4.8) und
(4.9)):−→[X]eq =
q−→X
qA[A] exp
(− E0
kBT
)(4.92)
q−→X
= q 6=1
2d
(2πµkBT
h2
)1/2
(4.93)
q 6= wird als Zustandssumme des Ubergangszustandes bezeichnet, der hiermit bei festgehalte-
nem r 6=q einen inneren Freiheitsgrad (Schwingungsfreiheitsgrad) weniger besitzt als ein normales
nichtlineares Molekul (3N−7 statt 3N−6). Ansonsten erfolgt die Berechnung von q 6= wie bei ei-
nem normalen Molekul. Der ”Ubergangszustand” als terminus technicus bezeichnet den Zustand
bei festgehaltenem Wert r 6=q . Aus dieser Definition ergibt sich, dass der Ubergangszustand im
Gegensatz zu den Molekulen−→X keine meßbare Konzentration besitzt, da die Wahrscheinlichkeit,
ein Molekul mit dem exakten Wert q 6= fur die Reaktionskoordinate zu finden, genau gleich Null
ist. Der zweite Faktor in Gl. (4.93) entspricht der Translationszustandssumme fur die Molekule−→X ( = halber Wert wie fur X). µ ist die reduzierte Masse fur eine Bewegung entlang rq an der
Stelle r 6=q . µ ist in der Regel nicht einfach zu berechnen. Wir werden jedoch sehen, dass es spater
fur die Berechnung der Reaktionsgeschwindigkeit nicht benotigt wird. Man hat namlich fur die
mittlere Geschwindigkeit 〈|v1D|〉 der Bewegung von Reaktand zu Produkt am Sattelpunkt aus
der eindimensionalen Maxwell-Boltzmann-Verteilung:
〈|v1D|〉 =
(2kBT
πµ
)1/2
(4.94)
Man berechnet die Reaktionsgeschwindigkeit als Gleichgewichtsfluss am Sattelpunkt
− d [A]
dt= vc = [
−→X]eq
〈|v1D|〉d
(4.95a)
Analog zu Gl. (4.78) lasst sich auch diese Gleichung anschaulich in der Differentialschreibweise
verstehen, wenn wir −d[A]/drq = [−→X]eq/d setzen und 〈|v1D|〉 = drq/dt (−d[A] ist wiederum
positiv):
− d [A]
dt= −d [A]
drq
drqdt
= [−→X]eq 〈|v1D|〉 /d (4.95b)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 157
Also erhalt man fur die Reaktionsgeschwindigkeit vc mit der Geschwindigkeitskonstanten kuni(T )
der unimolekularen Reaktion mit der Annahme [−→X] = [
−→X]eq aus Gl. (4.92)
− d [A]
dt= vc = kuni(T ) [A]
=q 6=
qAexp
(− E0
kBT
)[A]
d
2h(2πµkBT )1/2
(2kBT
πµ
)1/2 1
d(4.96)
Sowohl die willkurlich gewahlte Lange d des Kastens am Sattelpunkt als auch die schwer zu
berechnende reduzierte Masse µ fur die Bewegung am Sattelpunkt fallen bei der Vereinfachung
dieser Gleichung durch Kurzen weg und man erhalt die 1. Eyringsche Gleichung:
kuni(T ) =kBT
h
q 6=
qAexp
(− E0
kBT
)(4.97)
kBT/h ist ein universeller Frequenzfaktor, der bei 300 K den Wert 6.23×1012 s−1 annimmt, q 6=/qA
wird als ”statistischer Faktor” (oder auch entropischer Faktor, siehe unten) bezeichnet. Das Pro-
dukt dieser beiden Faktoren entspricht ungefahr (aber nicht exakt) dem praexponentiellen Faktor
A (T ) nach Arrhenius. Die Schwellenenergie E0 ist die Differenz zwischen der Energie am Ma-
ximum des effektiven eindimensionalen Potentials in Richtung der Reaktionskoordinate rq und
der Nullpunktsenergie des Reaktanden A (siehe Bild 4.18 links). Wenn E0 gross ist, dominiert
der Beitrag des exponentiellen Faktors exp (−E0/kBT ) und entspricht ungefahr (aber wiederum
nicht genau) dem exponentiellen Faktor mit der Aktivierungsenergie EA nach Arrhenius. q 6=,
qA und exp (−E0/kBT ) sind dimensionslos, dementsprechend hat kuni (T ) in Gl. (4.97) fur die
unimolekulare Reaktion die Dimension Zeit−1.
Sowohl die molekularen Zustandssummen als auch E0 lassen sich prinzipiell alle ab initio, das
heisst aus grundlegenden quantenmechanischen und statistisch mechanischen Gesetzen, berech-
nen. Die Theorie des Ubergangszustandes ist also prinzipiell eine Theorie der Geschwindig-
keit von Elementarreaktionen, wenn auch eine Naherung. In diesem Sinne geht die Theorie des
Ubergangszustandes uber die empirische Arrheniusgleichung hinaus. Gelegentlich findet man
auch noch Formen von Gl. (4.97) und (4.99) mit einem dynamischen Korrekturfaktor, dem
Transmissionskoeffizienten κ, also z.B. statt Gl. (4.97)
k (T ) = κkBT
h
q 6=
qAexp
(− E0
kBT
)(4.98)
wobei in der Regel 0 ≤ κ ≤ 1 angenommen wird, da der berechnete Gleichgewichtsfluss am
Sattelpunkt kleiner oder gleich dem wahren Fluss ist (siehe Kap. 4.3.1). q 6=, qA und qB sowie E0
(wegen diverser Nullpunktsenergiebeitrage) hangen von den Schwingungsfrequenzen und Rotati-
onskonstanten und daher von den Massen der beteiligten Atome ab, was zu einem Isotopeneffekt
PCII - Chemische Reaktionskinetik
158 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
fuhrt, dessen Berechnung eine wichtige Anwendung der Theorie des Ubergangszustandes ist. Die
Messung und Berechnung solcher Isotopeneffekte spielt besonders auch in der biochemischen Ki-
netik von Enzymreaktionen eine Rolle (siehe z.B. [Gandour, Schowen 1978]).
Die Nomenklatur im Bereich der Theorie des Ubergangszustandes ist leider nicht sehr einheit-
lich. Es hat sich ziemlich generell durchgesetzt, den Begriff des “Ubergangszustandes” (engl.
“transition state”) als terminus technicus fur das statistische Objekt zu reservieren, das durch
die Zustandssumme q 6= und den festen Wert der Koordinate r 6=q definiert ist. Der Begriff des
”aktivierten Komplexes” wird weniger einheitlich verwendet. Manchmal ist er ein Synonym fur
”Ubergangszustand”, manchmal wird er jedoch auch fur die X oder auch die−→X Molekule ver-
wendet, was nicht dasselbe ist.
4.3.5 Theorie des Ubergangszustandes und Stosstheorie bimolekularer Re-
aktionen
Fur bimolekulare Reaktionen erhalt man aus einer vollig analogen Herleitung
kbi (T ) =kBT
h
q 6=
qA · qBexp (−E0/kBT ) (4.99)
Hier werden die molekularen Zustandssummen pro Volumeneinheit q verwendet. Die Dimension
von kbi (T ) ist Volumen×Zeit−1, wie es auch sein muss.
Gelegentlich wird ein Gegensatz zwischen der Theorie des Ubergangszustandes und der Stosstheo-
rie konstruiert, wobei dann bei Verwendung einfachster Modelle fur den Stossquerschnitt meist
der Theorie des Ubergangszustandes der Vorzug gegeben wird. Wir haben jedoch in Kapitel
4.2 diskutiert, dass das Ergebnis einer Stosstheorie vom verwendeten Modell fur den Reakti-
onsquerschnitt abhangt. Verwendet man einen (berechneten oder gemessenen) ”exakten” Re-
aktionsquerschnitt, so hat man eine exakte Stosstheorie, die unter geeigneten Voraussetzungen
experimentelle Geschwindigkeitskonstanten genau reproduziert. Dementsprechend ist es sinnvoll,
die Theorie des Ubergangszustandes als eine Theorie zur Berechnung des Reaktionsquerschnittes
aufzufassen. Man kann die bimolekulare Geschwindigkeitskonstante Gl. (4.99) nach der Theorie
des Ubergangszustandes in folgender Form schreiben
kbi (T ) =
(8kBT
πµAB
)1/2( h2
8πµABkBT
)(q 6=int
qint,A qint,B
)exp
(− E0
kBT
)(4.100)
Bei dieser Umformung haben wir die Zustandssummen gemass Gl. (4.90) in einen Translations-
anteil qt und einem Anteil qint aufgeteilt, wobei der Translationsanteil gemass Gl. (4.83) und
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 159
(4.88b) mit den Massen mA und mB der Reaktionspartner und m6= = mA +mB eingesetzt wird.
Mit der reduzierten Masse
µAB =mAmB
mA +mB(4.101)
fur den Stoss ergibt sich aus Gl. (4.99) schliesslich Gl. (4.100). Aus dem Vergleich mit Gl. (4.40)
folgt der mittlere Reaktionsquerschnitt 〈σR〉 nach der Theorie des Ubergangszustandes
〈σR〉 =h2
8πµABkBT
q 6=int
qint,A qint,Bexp
(− E0
kBT
)(4.102)
Aus verallgemeinerten Theorien des Ubergangszustandes lassen sich auch spezifische, energie-
abhangige Reaktionsquerschnitte berechnen. Man kann die Theorie des Ubergangszustandes
bimolekularer Reaktionen also auch als eine bestimmte Form der Stosstheorie bimolekularer
Reaktionen auffassen [Quack, Troe 1981].
4.3.6 Verallgemeinerte Theorien des Ubergangszustandes
Die beschriebene, statistisch-thermodynamische Herleitung der Theorie des Ubergangszustandes
beruht auf verschiedenen Naherungen. Die wichtigste ist die Annahme des thermischen Gleich-
gewichtes zwischen Reaktandenmolekulen im Grundzustand, energetisch hochangeregten Reak-
tandenmolekulen und den−→X-Molekulen. Diese Annahmen sind nicht immer gerechtfertigt. Zum
Beispiel findet man bei unimolekularen Reaktionen in der Gasphase, dass hochangeregte Re-
aktandenmolekule nicht im Gleichgewicht mit Grundzustandsmolekulen sind, wenn der Druck
gering ist. Man kann die Theorie dann verallgemeinern, indem man fur jede Anregungsenergie E
ein Gleichgewicht zwischen den Reaktandenmolekulen A(E) und den Molekulen−→X (E) annimmt
(mikrokanonisches Gleichgewicht, mikrokanonische Theorie des Ubergangszustandes).
Man kann weiterhin die Gleichgewichtsannahme ganz ersetzen durch andere dynamische Annah-
men, zum Beispiel im statistischen Modell adiabatischer Reaktionskanale, welches auch eine Be-