Elektroenzephalographische Frühdiagnose des neurodegenerativen Krankheitsprozesses bei der Demenz vom Alzheimer Typ (DAT) durch ipsative Trendermittlung (Ipsative Trend Assessment) Nach einem eingeladenen Vortrag im Rahmen des Symposions „Neurobiologische Horizonte psychiatrischer Forschung“ in der Psychiatrischen Universitätsklinik Leipzig am 3./4. April 2008 Gerald Ulrich Charité-Berliner Universitätsmedizin Mit dem pathogenetisch vieldeutigen Begriff der Demenz bezeichnen wir das klinische Erscheinungsbild der Alzheimer Krankheit. Trotz intensiver Forschung gibt es bis heute kein Verfahren, die asymptomatische Phase dieser Krankheit, die mit einem progredienten kortikalen Neuronenschwund gleichzusetzen ist, zu diagnostizieren. Zwar gibt es große Fortschritte, den Beginn der geistigen Desintegration immer zeitiger nachzuweisen, was irrtümlich bzw. irreführend als Fortschritt in der Frühdiagnose der Krankheit ausgegeben wird (55, 58, 69). Aufgrund vielfach bestätigter neuropathologischer Befunde aus den frühen 90ern wissen wir aber, dass zwischen Krankheitsbeginn und Ausbruch des Leidens eine 10-15 jährige symptomfreie Phase liegt (13,
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EEG und Frühdiagnostik der Demenz vom Alzheimer Typ und Fruehdiagnostik der Demenz... · Elektroenzephalographische Frühdiagnose des neurodegenerativen Krankheitsprozesses bei der
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Elektroenzephalographische Frühdiagnose des neurodegenerativen Krankheitsprozesses bei der Demenz vom Alzheimer Typ (DAT) durch ipsative Trendermittlung (Ipsative Trend Assessment) Nach einem eingeladenen Vortrag im Rahmen des Symposions
Rindenatrophie beruht hier auf Zellschrumpfung infolge Verminderung
des Wasseranteils, vom 65. Lebensjahr an etwa 1% jährlich. Somit ist im
13
Zweifelsfall von einer Überlagerung von physiologischer und
pathologischer Atrophie auszugehen (37, 38, 44).
Ziehen wir ein vorläufiges Resümé, dann spricht vieles dafür, endlich
das dem EEG innewohnende, bisher aber nicht einmal ansatzweise
ausgeschöpfte Erkenntnispotential zu nutzen. Der Schlüssel zum
„Spontanen Ruhe-EEG“ besteht in einer Theorie (z. B. 6, 7, 8, 9, 10, 16,
29, 30, 50, 53, 60, 61, 65, 67, 72, 78, 79, 80). Wie es scheint, reicht es in
einem theorieabstinenten, stramm empiristisch ausgerichteten Umfeld
nicht, einen solchen Schlüssel einfach nur zu präsentieren. Man muss
ihn wohl schon selber in die Hand nehmen, ihn ins Schloss stecken und
coram publico die Tür öffnen.. aber selbst damit wird man Jene nicht
überzeugen können, die nicht überzeugt werden wollen.
Schließlich wäre es ja auch ganz unrealistisch zu erwarten, dass man
altgediente Forscher, Opinion leaders zumal, deren Status in der
Wissenschaftswelt aufs engste mit einer kompromisslosen
Mikrodetailforschung verknüpft ist, für erkenntnistheoretische
Alternativkonzepte interessieren könnte.
Die gerade verfügbar gewordene neueste Technik wird wohl auch
weiterhin als Theorieersatz betrachtet werden, ebenso wie bloße
mathematische Transformationen von Messwerten (etwa die schnelle
Fourier-Transformation, FFT oder die nicht-lineare Komplexitätsanalyse,
oder – schon seit längerem - statistische Verfahren, die auf
Datenreduktion abzielen, wie etwa die Hauptkomponentenanalyse, ganz
zu schweigen von ANOVAS und MANOVAS).
Aktuell wie eh und je ist, was Künkel (50) vor einigen Jahrzehnten in
einem Handbuchbeitrag zum Thema EEG und Psychiatrie formulierte:
„Es fragt sich also, ob überhaupt die Suche nach Frequenzbändern der
richtige Weg ist …oder, ob wir uns etwas anderes ausdenken
14
müssen….Solange dieses Problem nicht vorangebracht werden kann,
wird die zur Zeit zu beobachtende Stagnation der EEG-Analyse weiter
andauern… Und wir werden der Tatsache ins Auge sehen müssen, dass
unsere Modellvorstellungen wesentlich komplizierter werden müssen,
wenn wir die topographische Differenzierung und die zeitliche
Variabilität, die Verlaufsdynamik des EEG in Betracht ziehen. Und
solange wir dieses nicht tun, können wir nicht den Anspruch erheben,
von einem Modell zu sprechen, das die EEG-Aktivität auch nur
annähernd beschreiben kann“.
Die zum Thema EEG und DAT-Frühdiagnose vorliegenden
Negativresultate sind nicht dem EEG als solchem anzulasten. Sie waren
aus unterschiedlichen Gründen geradezu unvermeidlich. Der Druck zur
Generierung von immer mehr und neuen Daten hat dazu geführt, daß
die Frage nach der Rechtfertigung bestimmter Analyseverfahren kaum
noch gestellt wird. Wo vermeintlich theoriefreies durch
methodengeleitetes Forschen verdrängt wurde, wird meist auch weniger
streng oder gar nicht geprüft, ob die Voraussetzungen für die spezielle
Art der Datenverarbeitung überhaupt gegeben sind. Das eigentliche
Problem aber liegt in den den Messungen zugrunde liegenden
Modellvorstellungen, also der Theorie, die entweder nicht näher
expliziert oder aber mit der Meßtechnologie in Eins gesetzt wird.
Der meine Arbeit bestimmende Theorierahmen gründet in den zwischen
1960 und 1980 (5, 6, 7, 8, 9, 10) weit überwiegend in Deutsch
publizierten und daher in den USA unbekannt gebliebenen Arbeiten von
Dieter Bente. Er läßt sich wie folgt umreißen. Beim spontanen Ruhe-
EEG handelt es sich:
1) Um den integralen Ausdruck der Massenaktivität der kortikalen Neurone;
15
2) Um einen Makroindikator des aktuellen Niveaus der „cerebralen Gesamtfunktion“, die sich visuell als eine bestimmten Regeln folgende, nicht-stationäre „Verlaufsgestalt“ zwischen den Polen voller Wachheit und Einschlafen erfassen läßt und auch als die spontane Zyklusdynamik des Ruhe-EEG zu kennzeichnen ist. Proportionierung und Dynamik dieser elektroenzephalographischen Vigilanzstadien stellen die psychophysiologisch relevante Information dar, die indes in der Regel durch Mittelwertbildung eliminiert wird;
3) Um ein synergetisches Phänomen mit non-linearer Systemdynamik (d.h. eben gerade nicht um einen stochastischen Prozeß, also „Noise“ bzw. eine verhaltensirrelevante „elektrische Begleitmusik“ der Rindenneurochemie;
4) Zu der regelhaften, von der Ableitezeit abhängigen intraindividuellen Variabilität (Non-Stationarität), kommt eine erhebliche, sich ebenfalls visuell bekundende interindividuelle Variabilität mit Trait- Charakter.
Diesen vier Essentials wurde bisher nur ansatzweise Rechnung
getragen. Akzeptiert man, daß es das normale EEG – auch bei
Gesunden - nicht gibt (5, 31, 36, 51, 54, 66, 73, 78, 83), dann muss man
konsequenter Weise sowohl von jeglicher primär-gruppenstatistischer
Datenverarbeitung Abstand nehmen, wie auch von
Auswertungssoftwares, die sich eines Vergleichs mit einer Normative Data Base bedienen. Übrig bleiben dann nur Einzelfallstudien in Gestalt
quantitativer Vergleiche zwischen zeitlich versetzt abgeleiteten EEGs. Es
liegt auf der Hand, daß man bei der Befolgung der Forderung, weg vom
16
Ideal möglichst großer Vergleichsgruppen und hin zur Einzelfallanalyse,
spätestens beim Publikationsversuch scheitern wird. Die Situation
scheint verfahren. Die anhaltenden Mißerfolge mit dem klinischen EEG
haben nicht etwa zum Umdenken angeregt, sondern die Methode als
solche diskreditiert.
Vor einem Jahrzehnt haben wir damit begonnen, ein quantitatives
Verfahren zu entwickeln, das den genannten Essentials – speziell der
intra- wie auch interindividuellen Variabilität - Rechnung zu tragen
versucht. Ziel ist dabei die numerische Bestimmung einer Anhebung
oder Absenkung des zerebralen Organisationsniveaus, numerisch
ausgedrückt in einem Differenzscore (79). Ein derartiger serieller oder
ipsativer Längsschnittvergleich erfordert natürlich die Ableitung
mehrerer EEGs in festzulegenden Intervallen. Berechnet wird eine Reihe
Parameter. Deren Auswahl erfolgte auf der Grundlage des oben
skizzierten Rahmenkonzepts. Das Verfahren nutzt die FFT, allerdings
nur als Instrument zur Quantifizierung der morphologischen Qualitäten
und ohne die Information über die Verlaufsdynamik zu zerstören. Es liegt
auf der Hand, dass in Ermangelung entsprechender empirischer
Befunde nicht behauptet werden kann, dass mit diesem neuartigen EEG-
Verfahren (ITA steht für Ipsative Trend Assessment)) das Problem der
Früherkennung des M. Alzheimer gelöst wäre. Erforderlich wäre hierfür
eine prospektive Studie an kognitiv unbeeinträchtigten, der Altersgruppe
zwischen 50 und 70 Jahren (12) zugehörigen Personen, von denen sich
schätzungsweise 20% in der klinisch inapparenten Phase der Krankheit
befinden (12).
„The optimal subjects in whom to intervene therapeutically are those who
are destined but not yet manifest“(44).
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Eine solche Studie wird es vermutlich aus einer Reihe von Gründen so
schnell nicht geben. Nachdem bisher fast ausschließlich theoretisch
argumentiert wurde erscheint die praktisch-empirische Frage überfällig,
ob sich die dem Krankheitsprozess inhärente Progredienz bei Patienten
mit fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit elektroenzephalographisch
(ITA) objektivieren lässt. Diese Frage lässt sich aufgrund einer Anzahl
individueller Verlaufsanalysen mit Ableitungsintervallen von 3 Monaten
uneingeschränkt bejahen. Einer abschließenden exemplarischen
Befunddemonstration sei noch ein kurzer Ausblick vorangestellt:
Hält man die hier vorgetragenen Argumente für überzeugend, dann gibt
es zu der eigentlich gebotenen, aber aus verschiedenen Gründen kaum
zu realisierenden prospektiven Studie nur die Alternative, sich mit einem
Vorsorgeangebot („Präventiv-Screening“) an die Öffentlichkeit zu
wenden. Es müsste dabei klar gemacht werden, dass es sich um eine
Pilot-Studie handelt, die durch keinerlei finanzielle Interessen seitens der
Anbieters motiviert ist Dies könnte etwa in Absprache und
Zusammenwirken mit Alzheimer-Angehörigenverbänden geschehen,
deren Mitglieder schon in eigenem Interesse an einer aktiven Mitwirkung
und Unterstützung interessiert sein sollten.
Kasuistik Abb. 1
18
Verlaufsdokumentation des spontanen Ruhe-EEG; Abl. in 12wöchigem Abstand; Kurvenbeispiele vom Ableitebeginn von jeweils 9 s Dauer; visuell keine Unterschiede zwischen I (MMSE=18), II (MMSE=17) und III (MMSE=16); ab IV (MMSE=14) über V (MMSE=11) zu VI (MMSE=9) diskrete Zunahme desd Delta-Anteils Abb. 2
Ipsative Trend Assessment (ITA) Variablen und Scorierungstabelle
I 18 (MMSE)
II 17
III 16
IV 14
V 11
VI 9
19
Geboren am: 01.01.1940
Untersuchungs-ID: 01 06Abgeleitet am: 30.04.1998 03.08.1999 Sensitivität I Sensitivität II
um: 13:24:19 10:16:18 ∆ - Score ∆ - Score
O1 - Av 1,23 0,33 -4 -7O2 - Av 0,88 0,36 -4 -7
O1 - Av 3,70 2,75 -4 -4O2 - Av 3,75 3,00 -3 -3
(als Mittelwert aus 300 konsekutiven 2s - Segmenten)
AQL 3,85 4,06 -1 -2AQR 4,01 4,06 0 0
20% ) 5,68 5,70 0 0
F3 - Av 3,30 3,48 0 0F4 - Av 3,05 3,57 -1 -3O1 - Av 3,68 3,82 -1 -2O2 - Av 2,96 3,67 -2 -3
Der quantitative Vergleich der im Abstand von ca. 14 Monaten abgeleiteten Ruhe-EEG (siehe dazu Abb. 1 mit Originalauschrieben aus der ersten Ableiteminute) zeigt eine deutliche Befundverschlechterung nahezu aller Variablen (Absenkung des globalen hirnelektrischen Organisationsniveaus), entsprechend einer testpsychologischen Verschlechterung des MMSE von 18 auf 9.
Abb.3
Verlauf der ITA-Gesamtdifferenz-Scores, bezogen auf das Ausgangs-EEG
20
IvsII IvsIII IvsIV IvsV IvsVI
Pat. W. G., 58 Jahre, m. I: 29.04.1998 II: 30.07.1998III: 29.10.1998IV: 28.01.1999 V: 22.04.1999VI: 03.08.1999
-1
-3
-6
-13
-1
-3
-10
-15
-21
-25
-20
-15
-10
-5
0
Sens. ISens. II
QUEIDA -Totalscore Verlauf
I vs II I vs III I vs IV I vs V I vs VI
Epikrise Pat. W. G.
6 Verlaufsuntersuchungen in fixen 3-Monatsintervallen zeigen einen stetigen
elektronenzephalographischen Verschlechterungstrend, dem ein ebensolcher des
kognitiven Leistungsniveaus (MMSE) entspricht.
Wenn sich ITA als geeigneter Indikator des Alzheimerschen
Neuronenschwunds erweist, bleibt noch die entscheidende Frage offen,
ob sich das Verfahren auch für ein Massenscreening eignet. Es darf
keinesfalls verschwiegen werden, daß die mehrkanalige Messung über
wenigstens 10 min hinweg artefaktanfällig ist und daher vom Personal
viel Expertise und Konzentration verlangt. Der Zeitaufwand liegt pro
Ableitung bei etwa einer Stunde. Da zu gewärtigen ist, daß das Interesse
am ITA-EEG mit der Auflistung der einzuhaltenden Kautelen abflaut,
kann fürs erste eine erheblich vereinfachte, den an ein Massenscreening
zu stellenden Anforderungen genügende Variante (als „ITA-light“)
hilfreich sein. So wäre eine Beschränkung auf die Baryzentrischen Frequenz (BF), also des Frequenzmedians des Power-Spektrums
denkbar. Dieser bereits anfangs der 70er Jahre für neurologische
Verlaufsfragestellungen als aussagekräftig propagierte geometrische
Deskriptor verhielt sich in allen bisherigen Analysen gleichsinnig zur
Änderungsrichtung der Totalscores. Der technische Aufwand wie auch
die Artefaktanfälligkeit ließen sich so entscheidend reduzieren, reicht
doch hierfür ein symmetrisch gesetztes Elektrodenpaar bei 1 minütiger
EEG MMSE I 18 II 17 III 16 IV 14 V 11 VI 9
21
Ableitezeit. Überdies können Filterung sowie visuelle
Artefakteliminierung entfallen, wenn man die langsamen Frequenzen
unterhalb von 2.5 Hz als Bereich der Bewegung-, Schwitz- und
Pulsartefakte und die raschen Frequenzen oberhalb von 15 Hz als
Bereich der Muskelpotentiale und Sedativaeffekte von der
Variablenberechnung ausschließt.
Das die EEG- Information natürlich viel besser ausschöpfende ITA-
Programm könnte zum Einsatz kommen, wenn sich beim Grobscreening
ein Anhalt für einen in Gang gekommenen Neuronenuntergang ergeben
hat oder wenn es um wissenschaftliche Fragen geht, etwa im Hinblick
auf den Erfolg präventiver oder neuroprotektiven Maßnahmen.
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