Eberle Sophia, Eller Natalie, Gaisebner Annika, Hammer Laura (2019): „Wir erobern uns die Stadt zurück!“ Eine empirische Studie über Frauen* und deren Erfahrungen im Umgang mit Street Harassment. Wien: FHCW Prüfungsrelevant für den Wissenstest sind: Seiten 8 – 42 Liebscher Arthur (2019): Ehrenamtliche Bewährungshilfe in Österreich. Ein kritischer Diskurs umdie Vorteile ehrenamtlicher Bewährungshilfetätigkeiten. Wien: FHCW Prüfungsrelevant für den Wissenstest sind: Seiten 13 – 31 Moritz Maria (2020): Soziale Arbeit in Österreich, die Geburt eines Berufes. In: Bakic Josef, Brunner Alexander, Musil Verena(Hg.): Profession Soziale Arbeit in Österreich. Wien: Löcker, S.11-24 Prüfungsrelevant für den Wissenstest sind: Seiten 11 - 24 Schmitzberger Lisa Maxime (2019): Empowerment und Soziale Arbeit im österreichischen Assistenzhundewesen. Betroffene durch Kooperation stärken. Wien: FHCW Prüfungsrelevant für den Wissenstest sind: Seiten 16 - 35
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Eberle Sophia, Eller Natalie, Gaisebner Annika, Hammer Laura … · 2020-02-26 · halb auch im Deutschen der Originalbegriff verwendet wird (vgl. Auernhammer 2015: 55). Mit ein Grund
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Eberle Sophia, Eller Natalie, Gaisebner Annika, Hammer Laura (2019): „Wir erobern uns die Stadt
zurück!“ Eine empirische Studie über Frauen* und deren Erfahrungen im Umgang mit Street
Harassment. Wien: FHCW
Prüfungsrelevant für den Wissenstest sind: Seiten 8 – 42
Liebscher Arthur (2019): Ehrenamtliche Bewährungshilfe in Österreich. Ein kritischer Diskurs umdie
IV. Anhang .............................................................................................................................. 87
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I. Theorie
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1. Einleitung
Die vorliegende Bachelorarbeit thematisiert die Problematik “Street Harassment”, da trotz dessen
Alltäglichkeit nicht viel darüber gesprochen, beziehungsweise dagegen unternommen wird. Da wir
selbst sowie auch Frauen* in unserem Umfeld regelmäßig Erfahrungen mit Belästigung im öffent-
lichen Raum machen, besteht ein persönliches Interesse an der vorliegenden Thematik. Es ist
uns ein Anliegen, neue Handlungsstrategien und Reaktionsmöglichkeiten aufzuzeigen, um dieses
Repertoire weiteren Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Somit möchten wir einen Beitrag zu
einem sensiblen Umgang mit Street Harassment leisten, um Frauen* die Chance zu bieten, sich
in der Öffentlichkeit wohler zu fühlen.
Die ersten Überlegungen zu unserer Bachelorarbeit sind im Rahmen der Lehrveranstaltung „For-
schung- und Projektentwicklung: Diskriminierung und Soziale Arbeit – Umgang mit Diskriminie-
rungserfahrungen und Bedingungen einer anti-diskriminierenden Sozialen Arbeit“ gesammelt wor-
den. Nach längerer Betrachtung und Ausschluss einiger Ideen sind wir zu der Problematik „Street
Harassment“ gelangt, woraufhin das Themengebiet eingegrenzt und näher definiert wurde. Von
Beginn an waren wir uns einig, dass uns die Formen der Belästigungen und die damit einherge-
henden Erfahrungen von Betroffenen sehr interessieren. Des Weiteren wollten wir mehr darüber
wissen, wie Frauen* konkret mit Belästigung im öffentlichen Raum umgehen und welche Strate-
gien sie einsetzen, um diese zu bewältigen. Aus diesem Grund erschließt sich unsere For-
schungsfrage wie folgt: „Mit welchen Formen von Street Harassment sind Frauen* zwischen 18
und 30 Jahren konfrontiert und welche Gegenstrategien werden angewandt?“ Auf dieser Frage-
stellung beruht unsere theoretische wie auch empirische Forschung.
Zu der Thematik Street Harassment gibt es bislang nur wenige Forschungsergebnisse und Lite-
raturquellen, weshalb nur begrenzt Material zur Verfügung steht. Dennoch haben wir uns bemüht,
vielfältige Quellen und Perspektiven in unsere Arbeit einzubringen. Für die Beantwortung der For-
schungsfragen dienten uns literarische Quellen sowie unsere qualitative Forschung.
Zur Einführung in den Theorieteil definieren wir den Begriff “Street Harassment” und erläutern
dessen Ursachen sowie Entstehung. Die darauffolgenden Aspekte, welche in der Arbeit behandelt
werden, sind der öffentliche Raum, die subjektiven Wahrnehmungen von Frauen* und diverse
Formen der Belästigung. Auch das Konzept der Intersektionalität wird in dieser Arbeit thematisiert.
Darüber hinaus wurde in Bezug auf die möglichen Gegenstrategien nicht nur ein Schwerpunkt
daraufgesetzt, wie die Betroffenen handeln können, sondern auch welche gesellschaftlichen Mög-
lichkeiten und rechtlichen Rahmenbedingungen es gibt.
9
In der Empirie werden die Ergebnisse durch unsere qualitative Forschung begründet. Es wurden
hierfür jeweils zwei Expertinnen- und Betroffeneninterviews sowie eine Gruppendiskussion ge-
führt. Unterdies werden die individuellen Definitionen der Befragten und deren Erfahrungen in
unserer Arbeit veranschaulicht. Hier lehnt sich die empirische Auseinandersetzung mit Intersekti-
onalität an. Diesbezüglich stellte sich uns die Frage, inwiefern Frauen* mit Diversitätsmerkmalen
andere Erfahrungen mit Belästigung im öffentlichen Raum machen als Cis-Frauen1. In Folge er-
läutern wir angewandte und empfohlene Strategien seitens der Betroffenen und der Expertinnen
in Bezug auf Street Harassment. Zusammenhängend damit gehen wir im selbigen Kapitel ebenso
auf die Wünsche der befragten Frauen* näher ein. Weiters werden die Reaktionen des Umfelds
vor und nach der Belästigung thematisiert und abschließend die gesellschaftlichen Einflüsse auf
Street Harassment behandelt.
Für den Titel unserer Arbeit „Wir erobern uns die Stadt zurück“ haben wir uns von der Frauenbe-
wegung in den 1970er Jahren in Deutschland inspirieren lassen. Diese führten in der Walpurgis-
nacht von 30. April auf 1. Mai mehrere Jahre lang Demonstrationen durch. Ihr Motto dabei lautete
„Wir erobern uns die Nacht zurück“, womit sie auf Gewalt an Frauen* aufmerksam machen wollten
(vgl. Strobl Ingrid 2018).
In der vorliegenden Bachelorarbeit wird bei “Frauen” und “Männer” ein Genderstern (*) hinzuge-
fügt, um alle Frauen* und Männer* zu inkludieren und eine geschlechtergerechte Sprache zu ver-
wenden. Darüber hinaus soll hervorgehoben werden, dass es sich bei den Geschlechterrollen um
soziale Konstruktionen handelt. Generell verstehen wir unter Frauen* und Männer* alle Personen,
welche sich als solche identifizieren und fühlen. Um bestehende Geschlechterkonstrukte zu ver-
deutlichen, wird bei Bezeichnungen, welche bewusst von Männern und Frauen sprechen, kein
Genderstern angeführt. Zudem wird dieser auch bei weiteren weiblichen sowie männlichen Be-
nennungen nicht verwendet.
Durch die intensive Auseinandersetzung mit Street Harassment sind wir uns der Aktualität und
der Alltäglichkeit der Thematik bewusstgeworden. Unsere Arbeit soll die oftmals einschneidenden
Erfahrungen von Betroffenen mit Theoriebezügen verknüpfen, und so einen Beitrag zur Aufklä-
rungsarbeit leisten. Es ist uns zudem ein Anliegen, über diese Bachelorarbeit hinaus für die
Rechte von Frauen* einzustehen und unser erworbenes Wissen in unser weiteres Studium sowie
in den späteren Arbeitsplatz einfließen zu lassen.
1 Unter Cis-Frauen versteht man weibliche Mehrheitsangehörige
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2. Street Harassment
Im folgenden Kapitel wird erläutert, worum es sich bei Street Harassment handelt. Da es keine
einheitliche Definition gibt, werden verschiedene Sichtweisen von unterschiedlichen Autor*innen
beleuchtet und ausgeführt.
2.1 Definition
Street Harassment ist ein Problem, wovon fast jede Frau* betroffen ist, ohne die Problematik
zwingend benennen zu können (vgl. Hofer 2018: 5). Zahlreiche Studien belegen, dass 80 bis 90
Prozent aller Frauen* schon mindestens einmal von Street Harassment betroffen waren (vgl. Kearl
2013: 5). Somit handelt es sich hierbei um ein Phänomen, mit welchem zahlreiche Frauen* tag-
täglich konfrontiert sind (vgl. Kearl 2010).
Der Begriff stammt aus dem Englischen, jedoch fehlt eine adäquate deutsche Übersetzung, wes-
halb auch im Deutschen der Originalbegriff verwendet wird (vgl. Auernhammer 2015: 55). Mit ein
Grund für das Ausbleiben einer deutschen Begrifflichkeit könnte das Fehlen eines umfassenden
wissenschaftlichen Diskurses im deutschsprachigen Raum zu dem Thema sein. Alternativ kann
von Belästigung im öffentlichen Raum gesprochen werden (vgl. Hofer 2018: 5).
Holly Kearl, eine Autorin, welche sich intensiv mit der Thematik auseinandersetzt, definiert Street
Harassment als „unwelcome words and actions by men in public places that invade the physical
and emotional space of unknown women in a disrespectful, creepy, startling, scary, or insulting
way” (Kearl 2010: 6f.). Dies bedeutet, die Handlung wird zwischen einander fremden Personen
gesetzt. Betroffene werden vor allem durch ein Gefühl der Unsicherheit in ihrem Handlungsraum
eingeschränkt. Darüber hinaus beinhaltet die Definition, dass die betroffenen Frauen* diese Inter-
aktionen nicht wünschen, dazu also gewissermaßen gezwungen werden (vgl. Hofer 2018: 6).
Eine weitere Definition ist jene von Deirdre Davis. Sie geht auf fünf Faktoren ein, die Street Ha-
rassment ausmachen. Erstens beschreibt sie, dass es sich hierbei immer um Handlungen im öf-
fentlichen Raum handelt. Derjenige, der diese ausführt, und dies ist ihr Faktor Nummer zwei, ist
ein der Frau* unbekannter Mann*. Als drittes Kriterium führt die Autorin an, dass ein „Danke“ von
der Betroffenen, die Situation ausufern lassen könnte. Davis begründet dies mit dem in der Situ-
ation vorhandenen Machtverhältnis. Sobald das Gespräch durch das Bedanken zu einem Dialog
wird, verliert der Mann* seine mächtigere Rolle in der Interaktion, was ihm zuwider werden kann.
Der vierte Faktor ist erfüllt, wenn sich die Bemerkungen auf den Körper der Frau* richten. Dies
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kann auch nicht sichtbare Körperteile betreffen. Als fünftes und letztes Kriterium macht Davis da-
rauf aufmerksam, dass die Handlungen meistens abfällig sind, wobei selbst positive Bemerkun-
gen unangenehm sein können (vgl. Davis 1994: 138f.).
Laut Brigitte Temel muss es sich bei Street Harassment nicht immer nur um sexuelle Belästigung
handeln. Ebenfalls fallen Rassismus, Ableismus, Homofeindlichkeit oder Ähnliches darunter (vgl.
Temel 2017: 35).
Die Definitionsversuche gehen hauptsächlich auf die Belästigungserfahrungen von Frauen* ein.
Nach Persson Perry Baumgartinger sind durchaus auch andere Personen von der Problematik
betroffen (vgl. Baumgartinger 2008: 104f.). Er macht auf die oftmals vorhandene Grundannahme
aufmerksam, dass „mächtige (Bio-)Männer (Bio-)Frauen2 belästigen und diese dadurch teilweise
oder ganz ohnmächtig machen. Damit wird auch davon ausgegangen, dass es einzig und allein
(Bio-)Frauen und (Bio-)Männer gibt“ (Baumgartinger 2008: 104f.). Er kritisiert somit die vorhan-
dene Heteronormativität des Diskurses und die damit verbundene Verfestigung der Geschlech-
terverhältnisse (vgl. ebd.).
Eine Studie des Österreichischen Institutes für Familienforschung (ÖIF) der Universität Wien be-
schreibt, weshalb sich Street Harassment hauptsächlich auf Erfahrungen von Frauen* bezieht.
Dabei kommt hervor, dass Belästigung im öffentlichen Raum ebenso Männer* treffen kann. Diese
wird jedoch von ihnen oftmals anders gedeutet und nicht als Bedrohung wahrgenommen. Männer*
stellen ihre Erfahrungen häufig so dar, als hätten sie trotz der Belästigung die Kontrolle über die
Situation behalten (vgl. Kapella et al. 2011: 103f.). Jedoch ist gerade der Faktor der Angst und die
damit einhergehende Einschränkung im öffentlichen Raum bei der Definition von Street Harass-
ment wesentlich (vgl. Auernhammer 2015: 57).
2.2 Ursachen und Entstehung von Street Harassment
Woher kommt dieses Phänomen, beziehungsweise was begünstigt das Entstehen von Street Ha-
rassment? In dem folgenden Kapitel wird näher darauf eingegangen.
Die Gesellschaft, in der wir leben, wird als „westlich“ bezeichnet. Werte, an denen wir vorgeben,
diese „Westlichkeit“ messen zu können, sind unter anderem wie weit beispielsweise Homosexu-
alität und die Rechte von Frauen* von der Bevölkerung akzeptiert werden. Dies sind jedoch
2 Unter BioMänner und BioFrauen werden Personen verstanden, welche sich jenem Geschlecht zugehörig fühlen, mit welchem sie geboren wurden.
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Scheineigenschaften der „Westlichkeit“. Immer noch wird die heteronorme Paarbeziehung zwi-
schen einem Mann und einer Frau – meistens aus der weißen Mittelschicht – in Mitteleuropa als
Norm angesehen und alles daran gemessen, so Vivar, Rostock, Schirmer und Wagels (vgl. et al.
2016: 8ff.). Der „Westen“ präsentiert sich somit als homofreundlich, in der Realität gibt es dennoch
zahlreiche Diskriminierungsfälle an Minderheiten wie homosexuellen Menschen und Transmen-
schen. Noch schwieriger wird es für Personen, die bereits aufgrund anderer rassifizierter Zuschrei-
bungen oder ihres sozio-ökonomischen Status gefährdet sind, diskriminiert zu werden (vgl. ebd.:
10f.).
Diese in der westlichen Gesellschaft herrschende Heteronormativität ist daran beteiligt, dass es
zu ungleich verteilten Macht- und Herrschaftsverhältnissen kommt, die im patriarchalischen Sinn
erhalten bleiben. Dies begünstigt das Entstehen von Belästigungen im öffentlichen Raum (vgl.
Baumgartinger 2008: 104).
Eine Erklärung dessen, woher diese Konstrukte kommen und weshalb sie erhalten bleiben, liefert
Pierre Bourdieu in seinem Werk „Die männliche Herrschaft“:
„Ihre besondere Kraft zieht die männliche Soziodizee daraus, daß [sic!] sie zwei Operati-
onen zugleich vollzieht und verdichtet: sie legitimiert ein Herrschaftsverhältnis, indem sie
es einer biologischen Natur einprägt, die selbst eine naturalisierte gesellschaftliche Kon-
struktion ist“ (Bourdieu 2005: 44f.).
Bourdieu beschreibt die Aufrechterhaltung der „männlichen Herrschaft“ damit, dass den Ge-
schlechtern ihre Rollen mit biologischen Begründungen zugeschrieben werden. Den Männern*
werden in der Arbeitsteilung die Aufgaben zugesprochen, welche die Familie erhalten. Sie müs-
sen also die „Starken“ und „Mächtigen“ sein. Diese Schemata sind historisch in unserer Gesell-
schaft verankert und werden von Generation zu Generation weitergegeben, wodurch sie sich
selbst festlegen und legitimieren (vgl. Bourdieu 2005: 63ff.).
Die patriarchale Geschlechterordnung wird uns demnach schon von klein auf mitgegeben. Zu-
sätzlich lernen wir schon früh, so Olena Prykhodko, dass Männer* einen starken sexuellen Drang
haben, welchen sie befriedigen und ausleben müssen. Dies führt gewissermaßen zu einer gesell-
schaftlich erschaffenen Entschuldigung für sexuelle Belästigung (vgl. Prykhodko 2008: 41).
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Bourdieu entwickelte den Begriff der „symbolischen Gewalt“. Diese ist aber keineswegs weniger
brutal als die physische Gewalt. Sie unterscheidet sich ausschließlich darin, nicht körperlich, son-
dern geistig ausgeführt zu werden. Im Zuge dieser Definition spricht er von Frauen* als Betroffene
der symbolischen Gewalt (vgl. Bourdieu 2005: 64f.).
Erziehung und auch Medien tragen ihren Teil zu der symbolischen Gewalt gegen Frauen* bei.
Dass Männer* stark und rau sein müssen, wird bereits in der frühen Kindheit gelernt. Hingegen
wird Weiblichem das Brav sein und das Feinfühlige zugesprochen (vgl. Prykhodko 2008: 45).
Frauen* wird nachgesagt, Entscheidungen aufgrund von Emotionen zu treffen. Hingegen werden
Männer* objektiver dargestellt. Diese Verfestigung der Geschlechter kann Frauen* dazu bringen,
sich weniger zu trauen, über ihre Erfahrungen von Street Harassment zu sprechen, da sie fürchten
müssen, keinen Glauben geschenkt zu bekommen (vgl. Prykhodko 2008: 42f.). Männern* wird
zusätzlich die Chance geboten, wieder in die Rolle des mächtigen Aufpassers zu schlüpfen (vgl.
Hofer 2018: 11) und „die ‚eigenen Frauen‘ vor dem ‚bösen Fremden‘ zu beschützen“ (ebd. 2018:
11).
In den Gender Studies wird diesbezüglich von der Genderkonstruktion gesprochen. Dabei wird
davon ausgegangen, dass „Geschlecht“ – anders als das biologische „Sex“ – in einem gesell-
schaftlich-kulturellem Rahmen durch Rollen(-bilder), Zuweisungen und Klassifikationen erzeugt
wird. Dazu gehört auch das „Doing Gender“. Dies bezeichnet jene Handlungen und Interaktionen
im täglichen Leben, die heteronormative Macht- und Strukturverhältnisse wiedergeben (vgl. Czol-
lek, Perko et al. 2009: 20f.). Hierzu zählen ebenso „die Herstellung normativer Geschlechterrollen
(männlich und weiblich) durch Sprache und Handlungen, durch Gestik und Mimik, durch Auftreten
und Art sich zu kleiden, auch durch die Art und Weise, andere Menschen wahrzunehmen, anzu-
sprechen und zu behandeln“ (Czollek, Perko et al. 2009: 21). Dem entgegenwirken kann die „Gen-
derdekonstruktion“, bei welcher Männer* und Frauen* die gleichen Funktionen und Rollen einneh-
men - entgegen aller stereotypen Auffassungen von Geschlechterrollen (vgl. ebd.: 22).
14
3. Öffentlicher Raum
Da Street Harassment im öffentlichen Raum stattfindet, wird in diesem Kapitel näher darauf ein-
gegangen, wie dieser definiert wird, beziehungsweise welche Rolle Frauen* im öffentlichen Raum
haben. Dabei wird sowohl auf Historisches als auch auf Gegenwärtiges Bezug genommen.
Es gibt eine Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum. Die Entstehung von Raum be-
schreibt Maria Koch als Produktion von „gesellschaftliche[n] Konventionen, Macht- und Ge-
schlechterverhältnisse[n]“ (Koch 2013: 32). Wir selbst produzieren uns also unsere Räume.
Der öffentliche Raum ist durch gesellschaftliche und soziale Ordnungen gekennzeichnet. In ihm
findet das soziale Leben statt. Menschen halten sich an diese, selbst, wenn viele davon keine
niedergeschriebenen Gesetze sind, sondern allgemeine Vorstellungen darüber, was als sittlich
gilt und anerkannt ist (vgl. Hofer 2018: 9). Wie es zu den Vorstellungen über das weibliche Ver-
halten im öffentlichen Raum gekommen ist, wird im nächsten Abschnitt genauer erläutert.
3.1 Frauen3 im öffentlichen Raum
In ihrem Buch erklärt Koch, dass es vor allem zur Zeit der Industrialisierung sowie danach eine
klare Trennung des öffentlichen und privaten Raumes gegeben hat, wodurch es zu einer Auftei-
lung zwischen arbeitenden und bürgerlichen Frauen kam. Somit entstand ein Diskurs darüber,
wie sich Frauen angemessen verhalten sollen (vgl. Koch 2013: 27).
Den bürgerlichen Frauen im 18. und 19. Jahrhundert wurde der private Raum als Handlungsbe-
reich zugeschrieben. Aufgrund dessen kam es zu Diskussionen, wie sie sich im öffentlichen Raum
bewegen und verhalten dürfen (vgl. Koch 2013: 27). Frauen aus der bürgerlichen Schicht hatten
die klaren Aufgaben, sich um den Haushalt zu kümmern und (vgl. ebd.: 27) „die Familie vor dem
Schmutz und dem Dreck der immer schneller wachsenden Stadt zu schützen“ (ebd.: 27). Das
Zuhause in Obhut der Frau wurde als sicherer Ort für die ganze Familie angesehen. Im Gegenzug
hieß dies jedoch, dass alles, was draußen in der Stadt vorging, schmutzig war. In der Hinsicht
beinhaltet das auch diejenigen Frauen, die sich im öffentlichen Raum aufhielten. Die bürgerliche
Frau konnte sich also nicht ohne Begleitung ihres Mannes in die Stadt wagen, da dies als unsittlich
3 In diesem Kapitel sprechen wir oft von „der“ Frau und „dem“ Mann. Wir sind uns durchaus bewusst, dass mit diesen Formulierungen jene Geschlechterverhältnisse reproduziert werden, die wir im Laufe unserer Arbeit kritisieren. Dennoch empfinden wir es wichtig, in diesem Kapitel die Entwicklung dessen, wie sich Frauen und Männer im öffentlichen Raum bewegen, so wiederzugeben, wie sie auch stattgefunden haben. Dazu zählt demnach auch, die Geschlechter im historischen Sinne klar zu trennen, um somit die Problematik dahinter noch deutlicher sichtbar zu machen.
15
angesehen worden wäre. Der öffentliche Raum, so wurde argumentiert, sei schlichtweg zu ge-
fährlich für sie. Zugleich waren Frauen abhängig vom zahlenden Mann, was es erschwert hätte,
sich in der Stadt frei zu bewegen und zu handeln (vgl. Koch 2013: 28f.).
Jedoch waren die Straßen im 18. und 19. Jahrhundert nicht leer von Frauen. Diejenigen aus der
Unterschicht, die arbeiteten, bewegten sich sehr wohl alleine in den Städten, um sich ihren Le-
bensunterhalt zu sichern und ihre Familien zu versorgen. Allerdings konnte jede Frau, welche sich
nachts alleine in der Stadt herumtrieb, verdächtigt werden, als Prostituierte zu arbeiten (vgl. Koch
2013: 28f.). Vor allem die offene, umtriebige Sexualität der Frauen aus der Unterschicht wurde
als gefährlich eingestuft, obwohl zahlreiche Männer aus den bürgerlichen Schichten regelmäßig
die Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen hatten (vgl. Maderthaner 2003: 303f.).
Erst durch bessere Bildungsmöglichkeiten und die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen
schafften es Frauen, sich langsam zu emanzipieren und ihren Platz in der Gesellschaft einzufor-
dern (Koch 2013: 30). Im Zuge der Frauenbewegung in den 1970er Jahren wurde die männliche
Beherrschung, auch auf den öffentlichen Raum bezogen, zur Sprache gebracht. Street Harass-
ment und damit einhergehende Themen wie Selbstbestimmung, die alltägliche Gewalt von Män-
nern gegen Frauen, Frauen als Objekte und Ähnliches wurden behandelt (Becker 2008: 57). Es
wurde auf die Rechte von Frauen aufmerksam gemacht, sich alleine im öffentlichen Raum bewe-
gen zu dürfen, wann und wie sie wollten. Die vorhandene sexualisierte Gewalt ist somit ebenfalls
thematisiert worden (Becker 2008: 59).
3.2 Angsträume
Durch die Frauenbewegung in den 1970er Jahren und der Thematisierung von Street Harassment
kam es auch zur Entwicklung von Begrifflichkeiten. Die Gewalt im öffentlichen Raum wurde zum
„Gewaltraum“. Durch Diskussionen und Sicherheitsdebatten kam die Angst der von Gewalt be-
troffenen Frauen* zur Sprache. Dadurch ging der Gewaltraum verloren und der „Angstraum“ ent-
stand. Dieser Wandel in der Begrifflichkeit wird von Becker kritisiert, da dabei der eigentliche
Grund der Angst, nämlich die Gewalt von Männern* gegen Frauen*, aus dem Blick gerät (vgl.
Becker 2008: 60f.). Dies spiegelt die vorhandenen Herrschafts- und Machtverhältnisse wider und
lässt sie weiterhin bestehen. Weiblichkeit wird demnach als ängstlich, schwach und feige darge-
stellt. Frauen* müssten dieser Logik nach beschützt werden, wodurch eine Emanzipation er-
schwert wird (vgl. Becker 2008: 62).
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Zusätzlich spricht Becker an, dass der eigentliche Angstraum nicht die Öffentlichkeit, sondern der
private Raum sein müsste, da es dort ersichtlich zu mehr Gewalt kommt. Der Begriff des Angst-
raumes entkräftet diese Thematik jedoch (vgl. Becker 2008: 62f.). Nicht unschuldig daran sind
Erziehung und Medien wie Zeitungen, Fernsehen und Internet. Die Angst vor dem Fremden im
öffentlichen Raum wird Frauen* regelrecht injiziert (vgl. Koch 2013: 34).
Laut Koch halten sich Mädchen mit ihren Freundinnen immer noch in näherem Umfeld zu ihren
Wohngegenden auf als Jungen und beschäftigen sich mit häuslicheren Tätigkeiten in ihrem tägli-
chen Leben. Zusätzlich stehen Mädchen unter einer stärkeren Kontrolle als Jungen. Ein Grund
dafür ist eine größere Furcht um die Mädchen, potenzielle Opfer von (sexualisierter) Gewalt im
öffentlichen Raum zu werden. Diese Angst wird den Kindern schon von klein auf mitgegeben und
trägt ebenfalls dazu bei, die Geschlechterverhältnisse aufrecht zu erhalten und den Gewaltraum
zum Angstraum zu machen (vgl. Koch 2013: 32).
17
4. Subjektive Wahrnehmungen von Frauen*
Es ist Ziel des folgenden Kapitels, Einblick in die verschiedenen Sichtweisen und Erlebniswelten
von Frauen* zu gewähren und Faktoren ersichtlich zu machen, welche die subjektive Wahrneh-
mung beeinflussen. Dies ist vor allem für die Abgrenzung von Street Harassment sehr bedeutsam.
Ein und dieselbe Handlung kann für eine Frau* als Schmeichelei oder Kompliment gelten, jedoch
bereits für die Nächste unter Street Harassment fallen (vgl. Kearl 2010: 89).
4.1 Form
Je nach Form von Street Harassment wird die Situation unterschiedlich bewertet und anders auf-
gefasst. Prinzipiell ist beobachtbar, dass ‚leichtere‘ Formen von Aufmerksamkeiten positiver auf-
genommen werden als ‚schwerere‘ Formen von Belästigungen. Beispielsweise wird das Anlä-
cheln, Anschauen, Begrüßen oder Führen von belanglosen Konversationen von der Mehrheit der
Frauen* positiv beziehungsweise neutral bewertet. Dies gilt ebenso für Situationen, welche unter
dem Gesichtspunkt von Anstand und Höflichkeit eintreten, wie zum Beispiel Türen öffnen,
schwere Taschen tragen oder eine Sitzgelegenheit zur Verfügung stellen. Durch diese Tätigkeiten
werden vermehrt positive Emotionen, voran Fröhlichkeit und Dankbarkeit, ausgelöst. Hingegen
werden Handlungen, welche auf die Erscheinung des Individuums Bezug nehmen oder einen se-
xuellen Kontext aufweisen, vom Großteil als Belästigung empfunden. Dies hat oft negative Ge-
fühle wie Wut, Angst oder Gereiztheit zur Folge (vgl. Kearl 2010: 92f.).
Oft hängt die Interpretation des Geschehens auch davon ab, wie die Situation verlaufen ist. Wenn
ein positiver Ausgang stattgefundet und die betroffene Frau* keinen Schaden erlitten hat, so ist
die Tendenz größer, etwas als „harmlos“ bzw. „nur als Kompliment“ anzusehen. Bei negativem
Ausgang wird dies weniger beobachtet (vgl. Kearl 2010: 94).
4.2 Öffentliche Medien
Frauen*, welche sich intensiv mit öffentlichen Medien identifizieren, entsprechen oft stärker ver-
ankerten Stereotypen (vgl. Kearl 2010: 99). Dies trifft zu, da Medien, vor allem das Fernsehen,
jedoch auch Musikvideos, Magazine und das Internet, Frauen* auf verschiedene Arten sexuali-
sieren. Auffällig ist dabei, dass sexuelle Kommentare, welche sich häufig auf die körperliche Er-
scheinung beziehen, zu 85% von Männern* getätigt werden (APA 2007: 4f.). Männer* werden als
Autoritätspersonen dargestellt, die machtvoll sind und Wissen besitzen. Frauen* hingegen erhal-
18
ten das Image der emotionalen Beobachterinnen, welche von Gefühlen konstant beeinflusst wer-
den und keine objektive Entscheidung treffen können (vgl. Prykhodko 2008: 43). Dadurch werden
Frauen* auf den Wert eines sexuellen Objektes reduziert, dessen Aufgabe es ist, als Lustobjekt
zu dienen (vgl. Kearl 2010: 99). Zudem wird in öffentlichen Medien die große sexuelle Lust des
Mannes* und die damit einhergehende Belästigung als Norm angesehen (vgl. Prykhodko 2008:
41). Dies kann zu einer Einschränkung des Selbstwertgefühls sowie zu einer Limitation der Selbst-
bestimmung führen (vgl. Hofer 2018: 10). In weiterer Folge kann Street Harassment als ange-
nehme Aufmerksamkeit eines Mannes* angesehen werden und somit für einzelne Frauen* wün-
schenswert sein (vgl. Kearl 2010: 99). Koch meint dazu: „Durch den reflexiven Umgang mit Me-
dien und die neutrale Berichterstattung könnte das Selbstbild von Frauen* verändert werden“
(Koch 2013: 51). Je mehr Reflexion und kritisches Hinterfragen stattfinden, desto wahrscheinli-
cher ist es, Rollenbilder aufzubrechen (vgl. ebd.: 51). Hierbei ist es wichtig zu erwähnen, dass
dies Zuschreibungen sind, welche westliche Gesellschaften Männern* beziehungsweise Frauen*
zuteilen. Wir möchten uns klar von diesen Kategorisierungen abgrenzen, da wir der Meinung sind,
es gibt weder den typischen „Mann“ noch die typische „Frau“.
4.3 Häufigkeit
Die Häufigkeit von Street Harassment wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst. Frauen*
welche sich alleine in städtischer Umgebung aufhalten oder öffentliche Verkehrsmittel benützen,
haben ein höheres Risiko, Street Harassment im Alltag zu begegnen. Zudem ist das Alter ein
beeinflussender Faktor, aufgrund der häufigeren Betroffenheit von jüngeren Frauen*. Ebenfalls
relevant ist die Gleichstellung der Geschlechter innerhalb der jeweiligen Gesellschaft, da dies
Street Harassment verringern könnte (vgl. Kearl 2010: 95).
Laut Kearls Studien ist eine Korrelation zwischen der Häufigkeit und Wahrnehmung von Street
Harrassment gegeben. In der Studie wurde unter anderem erfragt, welche Emotionen ausgelöst
werden, wenn Frauen* Kommentare zu ihrem Aussehen erhalten. Frauen*, welche täglich oder
wöchentlich mit dieser Form von Street Harassment konfrontiert waren, gaben Wut (55%) und
Ärger (54%) als Hauptemotionen an. Die Gruppe, welche diese Situation maximal fünf Mal erlebt
hat, nannte Ärger (54%) und geschmeichelt sein (24%) als führende Empfindungen. Dies lässt
erkennen, dass Frauen* welche regelmäßig mit Street Harassment konfrontiert sind dazu neigen,
das Verhalten von Männern* weniger positiv zu beurteilen (vgl. Kearl 2010: 95f.).
19
4.4 Sicherheitsgefühl
Das Sicherheitsgefühl in der jeweiligen Situation wirkt sich auf die erzeugten Emotionen aus. Prin-
zipiell hängen auch in der Kindheit gemachte Erfahrungen stark mit dem Sicherheitsgefühl im
öffentlichen Raum im Erwachsenenalter zusammen (vgl. Koch 2013: 52f.). Koch erklärt diesen
Zusammenhang wie folgt:
„jene Frauen, die gelernt haben, auf sich aufzupassen, und dass es unter Umständen für
sie gefährlich werden könnte, im Erwachsenenalter mehr Unsicherheiten aufweisen. Im
Gegensatz dazu haben die Frauen, die sich in ihrer Kindheit frei, auch ohne Aufsicht der
Eltern Raum aneignen konnten, heute weniger Unsicherheiten“ (Koch 2013: 53f.).
Ist das Empfinden der Sicherheit niedriger, wird eine Situation schneller als gefährlich und angst-
einflößend wahrgenommen. Faktoren, welche ein starkes Gefühl der Geborgenheit erzeugen,
sind: In Gesellschaft sein, sich in einem öffentlichen, belebten Ort aufhalten sowie das Tageslicht.
Umstände, welche das Individuum unsicher fühlen lassen, sind vor allem das Alleinsein sowie das
Aufhalten an verlassenen Orten. Andere Faktoren, welche sich negativ auf das Sicherheitsgefühl
auswirken, sind beispielsweise Dunkelheit, unbekannter Standort sowie die Überlegenheit des
Täters durch Körpergröße oder Alter (vgl. Kearl 2010: 96ff.). Entgegenwirkend gibt es innerhalb
Wiens Projekte, welche die „Sicherheit im öffentlichen Raum“ erhöhen sollen, indem beispiels-
weise Straßen heller beleuchtet werden (vgl. Koch 2013: 34).
4.5 Absichten der Belästigung
Je nach Äußerlichkeit und Absicht des Mannes* werden Situationen und Kommentare anders
aufgefasst. Erscheint er für die betroffene Frau* attraktiv oder wohlhabend, kann das Verhalten
positiver bewertet werden. Laut Kearl hat es auch einen Einfluss, ob das Gegenüber der gleichen
Herkunft, Hautfarbe, Altersklasse oder sozialen Gruppierung angehört. Umso ähnlicher die Be-
troffene dem Täter ist, desto milder fällt die Bewertung der Tat aus (vgl. Kearl 2010: 90).
Frauen* unterschieden bei der Absicht des Mannes* zwischen zwei Kategorien. Die erste Gruppe
hat zum Ziel, Frauen* ein Kompliment zu machen, die Zweite hingegen verhält sich ihnen gegen-
über respektlos. Je nach Zuordnung wird somit auch eine Aktion eines Mannes* im öffentlichen
Raum als Kompliment oder Belästigung empfunden. Die Kategorisierung selbst wird von multidi-
mensionalen Faktoren beeinflusst, beispielsweise von gesellschaftlichen Normen und dem
Selbstbewusstsein der Betroffenen (vgl. Kearl 2010: 98f.).
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4.6 Ort
Je nachdem in welchem öffentlichen Raum sich eine Person aufhält, wird eine Situation schneller
als bedrohlich oder harmlos eingestuft. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass sich jede Person
im Laufe ihres Lebens bewusstwird, wie sie sich im öffentlichen Raum adäquat verhält. Diese
ungeschriebenen Gesetze und Regelungen werden stark von gesellschaftlichen und soziologi-
schen Faktoren beeinflusst. Durch diese festgelegten Strukturen wird ein Idealverhalten, bezie-
hungsweise natürliches Verhalten vorgegeben, an dem sich die Geschlechterrollen von Männern*
und Frauen* orientieren (vgl. Hofer 2018: 9).
Wie bereits erwähnt, ist im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum oft von „Angsträumen“ die
Rede (vgl. Becker 2008: 62). Es lässt sich sagen, dass Gewalt, welche Frauen* in der Öffentlich-
keit erleben, in den Hintergrund rückt, hingegen die Angst von Betroffenen in den Fokus gestellt
wird (vgl. Koch 2013: 36).
4.7 Persönlichkeiten und Wertehaltungen von Frauen*
Wie der aktuelle Forschungsstand zeigt, ist für die Wahrnehmung der jeweiligen Situation, in wel-
cher es zu Street Harassment kommt, die körperliche und psychische Verfassung der Frau* rele-
vant (vgl. Temel 2017: 35). Anhand von Studien wurde festgestellt, dass vor allem Frauen*, die
sehr traditionell oder unpolitisch sind, dazu neigen, Belästigung im öffentlichen Raum als Kompli-
ment zu bewerten (vgl. Kearl 2010: 90). Es sind verschiedene Persönlichkeiten, Lebensumstände
und Wertehaltungen von Frauen* hervorzuheben, weshalb dies nicht vereinheitlicht werden kann
und soll.
Abschließend lässt sich sagen, dass der Großteil von Frauen* Belästigungen im öffentlichen
Raum auch als solche empfindet. Einzelne nehmen dies jedoch durch die oben genannten Fak-
toren sowie gesellschaftlich konstruierte Normen als Kompliment wahr (vgl. Prykhodko 2008:41).
In diesem Zusammenhang ist die Wortmeldung von Prykhodko relevant: „Women are taught to
see it as a compliment“ (Prykhodko 2008: 41).
21
5. Intersektionalität
Bei der Forschung zu Street Harassment kann aufgrund verschiedener Erfahrungen von unter-
schiedlichen Frauen* die Intersektionalität nicht außer Acht gelassen werden.
Verschiedene Kategorien wie Race4, sexuelle Orientierung, ökonomischer Status und physische
Beeinträchtigungen führen zu einer vielschichtigen Art der Diskriminierung und somit auch zu öf-
fentlicher Belästigung (vgl. Kearl 2010: 45). Sobald sich unterschiedliche Diskriminierungsformen
in einem Individuum überschneiden, wird von Intersektionalität gesprochen.
Kimberle Crenshaw (2004) beschreibt in ihrem Beispiel eine intersektionale Überschneidung an-
hand eines Unfalls an einer Kreuzung:
„Intersektionalität entstand einfach aus der Idee, dass wenn du direkt im Weg von mehre-
ren Exklusionsarten stehst, es sehr wahrscheinlich ist, dass du von beiden getroffen wirst.
Diese Frauen sind verletzt, aber wenn der Race- und der Gender-Krankenwagen am Ort
des Geschehens eintreffen, sehen sie die Frauen auf der Kreuzung liegen und sagen:
‚Okay, wir können nicht erkennen, ob dies gerade eine rassistische oder eine sexistische
Diskriminierung war. Und solange sie uns nicht sagen können, welche es war, können wir
ihnen auch nicht helfen’” (Crenshaw 2004; Übersetzung Schrader, zit.n. Schrader, Langs-
dorff 2014: 11).
In Bezug auf Street Harassment kann sich die Belästigung im öffentlichen Raum auf eine Kate-
gorie oder auf mehrere beziehen und folglich unterscheiden sich die Erfahrungen und Formen
hinsichtlich dieser (vgl. Temel 2017: 35). Treffen mehrere Kategorien zusammen, kann es zu
neuen, unterschiedlichen Formen der Diskriminierung kommen und muss es nicht zu einer Inten-
sivierung bereits bestehender Formen führen (vgl. Köbell 2010: 29).
Indem die Überschneidungen von Diversitätsmerkmalen bewusstgemacht werden, ist es möglich,
Street Harassment besser entgegenzuwirken (vgl. Kearl 2010: 45).
4 Aufgrund der negativen Behaftung des Ausdrucks “Rasse” haben wir uns dazu entschieden, den englischen Begriff “Race” zu verwenden.
22
5.1 Race und Religion
Women* of Colour5 werden nicht nur wegen ihrem Geschlecht, sondern zusätzlich aufgrund der
Kategorie „Race“ diskriminiert. Sie haben einen „schlechteren“ Stand in der Gesellschaft und sind
dadurch verletzlicher und angreifbarer als Weiße Frauen*. Laut Holly Kearl (2010) erhöht die Zu-
gehörigkeit zu dieser Kategorie demnach nicht nur die Wahrscheinlichkeit, mit rassistischen Äu-
ßerungen konfrontiert, sondern zusätzlich Zielobjekt von Street Harassment zu werden (vgl. Kearl
2010: 46).
Holly Kearl (2010) zufolge ist dafür unter anderem das Vorurteil über die sexuelle Verfügbarkeit
von Women* of Colour verantwortlich. Dieses ist auf die Kolonialzeit zurückzuführen, in welcher
die ansässigen Frauen häufig als Sklavinnen gehalten und zum Gegenstand sexueller Vergnü-
gung gemacht wurden (vgl. Kearl 2010: 47). Zusätzlich nimmt sie Bezug zur gesellschaftlichen
Angst vor „ausländischen“ oder „andersgläubigen“ Personen. Besonders Musliminnen werden mit
terroristischen Handlungen in Verbindung gebracht und als Folge mit fremdenfeindlichen Aussa-
gen konfrontiert (vgl. Kearl 2010: 50).
5.2 Sexuelle Orientierung und Transgender
Durch die Heteronormativität in der westlichen Gesellschaft werden Cis-Frauen als die Norm an-
gesehen. Intersexuelle Personen sowie homosexuelle, bisexuelle und transsexuelle Frauen* ent-
sprechen demnach nicht der Erwartung und sind im öffentlichen Raum von zusätzlichen Formen
von Street Harassment betroffen oder erleben diese in einer anderen Art und Weise (vgl. Kearl
2010: 54f.).
Wenn homo- oder bisexuelle Frauen* sexuell belästigt werden, wird ihnen damit ihre sexuelle
Orientierung abgesprochen. Dies geschieht, indem Männer* die Erwartung haben, dass Frauen*
heterosexuell ausgerichtet sind (vgl. Kearl 2010: 55).
Manche Frauen* verheimlichen ihre sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit aus Angst davor,
mit bedrohlichen Reaktionen konfrontiert zu werden (vgl. Kearl 2010: 55). Dies wird gesellschaft-
lich gefördert, da ein Teil der Allgemeinheit die Meinung vertritt, Homosexualität sei etwas Privates
und nicht im öffentlichen Raum zu zeigen (vgl. Hauer, Springer 2008: 145f.).
5 Women* of Colour ist ein Begriff, um Frauen*, die nicht der weißen Mehrheitsbevölkerung angehören und demnach von Rassismus betroffen sind, zu bezeichnen.
23
Homosexuelle Frauen* werden häufig wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und nicht
nur aufgrund ihres Geschlechts. Dies betrifft Frauen*, die ihre sexuelle Ausrichtung offen zeigen
oder bei welchen vermutet wird, sie könnten homosexuell sein (vgl. Hauer, Springer 2008: 135).
Frauen*, deren Homosexualität offen zu erkennen ist, sind oft von aggressiveren Formen von
Street Harassment betroffen. Weicht das äußere Erscheinungsbild von der weiblichen Norm ab
oder werden in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten ausgetauscht, werden die Betroffenen oft zum
Gegenstand homophober Aussagen oder Handlungen (vgl. Kearl 2010: 55f.). Diskriminierende
Gesetze begünstigen dies. Darüber hinaus wird Homosexualität häufig zu wenig thematisiert oder
gar ausgeblendet (vgl. Hauer, Springer 2008: 135). Ergänzend ist zu erwähnen, dass besonders
Transfrauen* häufig von Street Harassment und gewalttätigen Übergriffen im öffentlichen Raum
betroffen sind (vgl. Kearl 2010: 57).
5.3 Frauen* mit Behinderung
Laut Holly Kearl gibt es zu Street Harassment in Verbindung zu Frauen* mit einer Beeinträchti-
gung nicht viel Forschung und Literatur. Diese erfahren Street Harassment häufig in Form von
behindertenfeindlichen Kommentaren oder durch bewusstes Ignorieren ihrer Sexualität, da
Frauen* mit Behinderung von der Gesellschaft oft als asexuell dargestellt werden (vgl. Kearl 2010:
60f.).
Obwohl Personen mit einer Beeinträchtigung häufig Sexualität abgesprochen wird, unterscheiden
sich Erfahrungen von Frauen* und Männern* oftmals. Mädchen und Frauen* mit Behinderung wird
vermittelt, sie seien keine vollwertigen Frauen*, unattraktiv für Männer* und werden somit weder
eine Beziehung führen noch Kinder bekommen. Dementsprechend liegt oftmals ein größerer Fo-
kus auf Selbstständigkeit und somit auf der Ausbildung, da aufgrund der Annahme von fehlender
Heirat davon ausgegangen wird, sie müssten später für sich selbst sorgen (vgl. Köbsell 2010:
21f.). Zudem werden vermeintliche Hilfeleistungen wie das ungefragt Begleiten über die Straße,
bei welchem ein körperlicher Kontakt hergestellt wird, als überspielte Formen von Diskriminierung
erlebt (vgl. MA 57 2015: 22).
24
6. Formen von Street Harassment
Street Harassment kann sich in unterschiedlichen Handlungen äußern. Wie schon erwähnt, gibt
es keine einheitliche Definition von Belästigung im öffentlichen Raum, weshalb die Einteilungen
der Formen dementsprechend variieren. Je nach Betrachtung der Verfasser*innen werden unter-
schiedliche Handlungen Street Harassment zugeordnet. Um die verschiedenen Arten der Über-
griffe ersichtlicher zu machen, haben wir uns für die folgende Gliederung entschieden. In dieser
wird vor allem auf Erfahrungen Bezug genommen, welche Holly Kearl (2010) in ihrem Buch „Stop
Street Harassment“ anführt.
6.1 Nonverbale Akte
Zu dieser Kategorie zählen Handlungen, welche beispielsweise anzügliches Grinsen oder exzes-
sives Anstarren miteinschließen. Dabei erzählen Frauen*, diese Erfahrungen vor allem in Verbin-
dung mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erleben. Vulgäre Gesten, wie die Zunge aus dem Mund
zu strecken, gehören ebenfalls zu den nonverbalen Akten. Zudem beinhaltet diese Kategorie die
Bedrängung von Fremden in der Öffentlichkeit. Dazu zählt nicht nur das Verfolgen zu Fuß, son-
dern auch das Nachfahren mit dem Auto (vgl. Kearl 2010: 12f.).
Des Weiteren ist das Entblößen von Geschlechtsteilen (vgl. Auernhammer 2015: 57) sowie Mas-
turbieren im öffentlichen Raum eine sexuelle Belästigung, von welcher viele Frauen* betroffen
sind. Es wird von Erfahrungen berichtet, wobei sich Männer* beispielsweise in Parks, Büchereien
oder U-Bahnen in Gegenwart von Frauen* selbst befriedigen und diese dabei anstarren oder da-
rauf aufmerksam machen (vgl. Kearl 2010: 14f.).
6.2 Verbale Akte
Diese Handlungsweisen beziehen sich auf Nachpfeifen, Küss-Geräusche sowie auf Hupen. Hier-
bei wird vor allem die Alltäglichkeit thematisiert, da diese Art von Übergriffen einem Großteil der
Frauen* widerfährt (vgl. Kearl 2010: 12ff.).
Ebenso fallen darunter jegliche Formen von sexistischen Äußerungen und homophoben wie auch
transphoben Beleidigungen (vgl. Hofer 2018: 6). Frauen* erzählen von Männern*, welche sie als
‚Nutte‘ bezeichnen, sexuelle Forderungen stellen oder deren Aussehen kommentieren. Dabei wird
ihnen vor allem aus dem Auto sowie auf der öffentlichen Straße hinterhergerufen oder sie werden
25
direkt angesprochen (vgl. Kearl 2010: 12f.). Hierzu zählt auch hartnäckiges Ausfragen zu Name
oder Handynummer, wenn die Betroffene das Aushändigen dieser abweist (vgl. Hofer 2018: 6).
6.3 Körperliche Angriffe
Bei Street Harassment kann es auch zu physischen Übergriffen in der Öffentlichkeit kommen.
Dies beinhaltet Berühren oder Begrapschen mit sexueller Absicht sowie unerwünschte Kussver-
suche. Auch tätliche Angriffe wie Stoßen oder Schlagen zählen zu dieser Kategorie (vgl. Auern-
hammer 2015: 57). Eine Betroffene berichtet davon, in einer Menschenmenge von unterschiedli-
chen Männern* angefasst, eingeklemmt und gekratzt worden zu sein, auch ihre Kleidung wurde
zerrissen. Andere Frauen* sprechen von Berührungen auf Oberschenkel und Brüsten sowie von
Tätern, welche ihnen den Weg versperren (vgl. Kearl 2010: 14).
Die Kategorie körperliche Angriffe schließt ebenso sexuelle Überfälle wie auch Vergewaltigungen
mit ein. Betroffene erzählen hierbei von sexuellem Missbrauch am Heimweg, im Park oder in der
Nachbarschaft (vgl. Kearl 2010: 15).
26
7. Gegenstrategien
Das folgende Kapitel handelt von unterschiedlichen Gegenstrategien, welche in Bezug auf Street
Harassment angewendet werden können. Diese beziehen sich nicht nur auf Empfehlungen an
Betroffene, sondern auch auf eventuelle gesellschaftliche Möglichkeiten und rechtliche Maßnah-
men.
7.1 Gegenstrategien von Betroffenen
Um Street Harassment entgegenzuwirken, ist es wesentlich, die Frauen* zu stärken, damit sie
sich in der Öffentlichkeit weder ängstlich noch eingeschränkt fühlen. Sie müssen sich bewusst
sein, dass es nicht ihre Schuld ist und sie sich nicht unangebracht verhalten oder kleiden. Um das
zu erreichen, ist es notwendig, Frauen* das Wissen über Gegenstrategien sowie in der akuten
Situation anwendbare Taktiken näher zu bringen. Viele ignorieren die Belästigung und meiden
eine Konfrontation, oft aus Sicherheitsgründen. Dieser Ansatz kann unter gewissen Umständen
hilfreich sein, lässt jedoch viele Frauen* entmachtet oder frustriert fühlen. Demnach ist es wichtig,
sich im Vorhinein über nützliche Gegenstrategien zu informieren, um diese sinnvoll anwenden zu
können (vgl. Kearl 2010: 149ff.).
7.1.1 Persönliche Vorbereitung
Um sich präventiv auf Street Harassment vorzubereiten, gibt es unterschiedliche Ratschläge, um
dies zu verwirklichen. Sofern das Angebot besteht, kann an frauenspezifischen Selbstverteidi-
gungs- und Selbstbehauptungskursen teilgenommen werden. Hierbei gibt es unterschiedliche
Methoden, weshalb es ratsam ist, verschiedene Kurse auszuprobieren, um eine individuell pas-
sende Anwendungsstrategie zu finden (vgl. MA 57 2015: 9ff.). Einige der Angebote sind speziell
auf sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum fokussiert. Die Teilnahme lässt oft positive Auswir-
kungen erkennen: „Sich wohler fühlen im Alltag, sich der eigenen Kraft und Stärke bewusst sein,
selbstbewusst auftreten, Ängste reduzieren, die Wehrhaftigkeit steigern und vieles mehr” (MA 57
2015: 9). Darüber hinaus gibt es auch zuhause die Option, unterschiedliche Variationen von Ant-
worten zu üben und Situationen im Gedanken durchzuspielen. Dadurch können Betroffene ein
Repertoire an Erwiderungen aufbauen, wodurch es einfacher wird, die für sich selbst beste Reak-
tion im richtigen Augenblick anzuwenden (vgl. MA 57 2015: 15).
Holly Kearl empfiehlt, Bücher oder online Geschichten über diese Thematik zu lesen und sich
aktiv damit auseinanderzusetzen. Dabei motiviert sie, drei für einen selber realistisch vorstellbare
27
Erwiderungen auf Street Harassment aufzuschreiben, zu üben und bei einer Konfrontation anzu-
wenden. Daraufhin sollen die eigenen Erfahrungen vielfach mit dem sozialen Umfeld oder den
Medien geteilt werden (vgl. Kearl 2013: 13). „You can make a big difference by taking action,
speaking out, and sharing stories” (Kearl 2013: 13).
7.1.2 Allgemeine Empfehlungen hinsichtlich Reaktionen auf Street Harass-
ment
Entscheidet sich eine Frau* in einer von Street Harassment betroffenen Situation den Täter mit
seinem Handeln zu konfrontieren, so gibt es unterschiedliche Empfehlungen, um dies weitestge-
hend zu ermöglichen. Zum einen trägt eine starke Körpersprache dazu bei, ein selbstbewusstes
Vorgehen und Kraft zu zeigen. Hierbei soll darauf geachtet werden, dem Gegenüber in die Augen
zu schauen und mit einer festen und klaren Stimme zu sprechen. Auch wenn sich die Frau* nicht
selbstsicher fühlt, so kann sie dennoch ruhig und überzeugt auftreten (vgl. Kearl 2010: 151ff.).
Darüber hinaus sorgt ein lauter Tonfall möglicherweise für die Aufmerksamkeit Dritter, welche den
Vorfall hören und einschreiten können (vgl. MA 57 2015: 16). Während der Konfrontation ist es
empfehlenswert, dem Täter in die Augen zu schauen: „Damit zeigst du ihm, dass du dich nicht
einschüchtern lässt. Je eher du Grenzen setzt, desto größer ist die Chance, dass sie respektiert
werden” (MA 57 2015: 16).
Von Fluchen oder Wutausbrüchen wird stark abgeraten, da dies zu einer aggressiven oder auch
gewalttätigen Reaktion des Täters führen kann. Weiteres wird empfohlen, sich nicht zu entschul-
digen oder herauszureden sowie in keinen Dialog zu treten oder Fragen zu beantworten. Es be-
steht keine Notwendigkeit, auf Vorwürfe oder Drohungen einzugehen. Umso wichtiger ist es, seine
eigenen Standpunkte zu vertreten und diese zu wiederholen. Wenn die Betroffene das Gefühl hat,
gesagt zu haben, was sie dem Täter mitteilen wollte und damit zufrieden ist, so kann sie damit
abschließen und gehen (vgl. Kearl 2010: 151ff.).
Im Allgemeinen ist darauf zu achten, nach Möglichkeit jegliche Bedrohungssituationen zu meiden.
Es wird davon abgeraten, von der eigenen Seite einen körperlichen Angriff zu starten, sofern das
Gegenüber diesbezüglich keine Anstalten macht. Darüber hinaus sollten diverse Waffen wie Pis-
tolen und Messer wie auch Tränengas und Pfeffersprays in einer Konfrontation nicht angewendet
werden, da sie bei falschem Umgang die Betroffene wehrlos machen und gegen sie selbst ver-
wendet werden können. Daher ist vor allem die Nutzung von lauten akustischen Alarmgeräten
empfohlen. Die Verwendung von Trillerpfeifen oder anderen Geräten, welche auf Knopfdruck ein
Warnsignal von sich geben und gut in die Handtasche passen, sind eine effektive Option, um sich
28
lautstark bemerkbar zu machen und den Täter abzuschrecken (vgl. MA 57 2015: 14f.). Bei einer
körperlichen Bedrängung können die Formen „sehr unterschiedlich sein: Schreien, Treten, Lau-
fen, oder Griffe der Selbstverteidigung anwenden” (MA 57 2015: 32). Falls die Möglichkeit besteht,
sollten bei roter Ampel Autofahrer*innen auf die Situation aufmerksam gemacht oder bei mehreren
Haus- oder Wohnungstüren geklingelt werden (vgl. MA 57 2015: 32).
7.1.3 Spezifische Empfehlungen in Bezug auf verbale Erwiderungen
Ist eine Frau* von Street Harassment betroffen und möchte den Täter darauf aufmerksam und
dafür verantwortlich machen, so muss sie sich in kürzester Zeit auf eine unerwartete Situation
eine Antwort überlegen. Demnach kann es von Nutzen sein, sich über wirksame Ideen zur Erwi-
derung zu informieren (vgl. Kearl 2010: 151). Dadurch haben Betroffene die Möglichkeit, ihre Zu-
rückweisung im direkten Kontakt zu verbalisieren (vgl. Hofer 2018: 14).
In erster Linie ist es wichtig dem Täter zu vermitteln, dass sein Handeln nicht toleriert wird (vgl.
MA 57 2015: 16). Folgende Beispiele ermöglichen eine Konfrontation durch einfache und klare
Sätze: „‚Greifen Sie mich nicht an!’ ‚Lassen Sie mich in Ruhe!’ ‚Gehen Sie weg, aber sofort!’ ‚Hören
Sie auf, mich zu bedrängen, mich anzugreifen, sich an mich zu drücken!’” (MA 57 2015: 16).
Effektiv wirkt vor allem, auf das Verhalten aufmerksam zu machen und dieses zu benennen sowie
darauf hinzuweisen, inwiefern diese Handlung unangemessen war (vgl. Kearl 2010: 156). „Beläs-
tiger werden in ihrem Verhalten entmutigt, wenn ihnen klar rückgemeldet wird, dass das Verhalten
inakzeptabel ist und nicht toleriert wird” (Hofer 2018: 14). Demzufolge soll die Betroffene dem
Täter selbstsicher sagen, womit er aufhören muss und was sie möchte. Dabei ist es wichtig, die
Äußerung nicht in einer Frage zu formulieren, beispielsweise, wenn sie ihn dazu auffordert, sich
zu entfernen. Als hilfreiche Orientierung dient eine A-B-C-Aussage. In A wird dem Täter das Prob-
lem geschildert, B erläutert die Auswirkungen und bei C erklärt die Betroffene klar, was sie
möchte. Dies erläutert Kearl in einem Beispiel: „When you make kissing noises at me it makes me
feel uncomfortable. I want you to say, ‚Hello, ma’am,‘ from now on if you want to talk to me” (Kearl
2010: 156). Darüber hinaus soll ein allgemeiner Appell an den Täter gerichtet werden, welcher
sich gegen Street Harassment äußert. Ebenso wird empfohlen, darauf zu achten, nicht die Person
sondern die Handlung anzugreifen. Es ereignet sich als sinnvoller, auf das Fehlverhalten zu ver-
weisen als den Täter abzuwerten und zu beschimpfen. Vor allem könnte dies auch zu einer Es-
kalation der Situation führen. In Menschenmengen ist es nützlich, den Täter lautstark zu identifi-
zieren. Dieser fühlt sich daraufhin möglicherweise ertappt und gedemütigt, was seine Belästigung
vermutlich beendet (vgl. Kearl 2010: 155f.).
29
Weitere Gegenstrategien wären, den Täter in einer gewissen Art und Weise zum Nachdenken
anzuregen und ihm damit zu zeigen, dass seine Handlung ihr Ziel verfehlt hat. Dies kann bei-
spielsweise durch kritische Fragen oder schlagfertige Erwiderungen erfolgen (vgl. Kearl 2010:
155). Eine Betroffene erzählt von einem Erlebnis, als ein junger Mann* in einer Gruppe, von wel-
cher sie schon des Öfteren belästigt wurde, auf ihren Po gegriffen hatte. Daraufhin drehte sie sich
zu ihm um, gratulierte ihm und fragte, ob dies das erste Mal sei, dass er eine Frau* berührt hatte.
Hinterher lachten die Männer* über ihren Freund und ließen die Frau* folglich in Zukunft in Ruhe
(vgl. Kearl 2013: 18). Eine weitere Entgegnung hinsichtlich Street Harassment ist übertriebenes
oder geschocktes Verhalten verbunden mit einem harten Gesichtsausdruck. Dabei können Be-
stürzung und Empörung verbal sowie nonverbal wiedergegeben werden (vgl. Kearl 2010: 155).
Dementsprechend sind Gesten und Worte hilfreich, um dem Gegenüber die eigene Stärke zu
verdeutlichen und Grenzen zu signalisieren: „Bis hierher und nicht weiter” (MA 57 2015: 35).
Darüber hinaus ist es möglich, zur Verstärkung der Gegenstrategien auch weitere Hilfsmittel hin-
zuzuziehen. Hierzu erweist sich beispielsweise ein Notizbuch als äußerst hilfreich. Im Falle von
Street Harassment kann dieses eingesetzt werden, um die Handlung in Anwesenheit des Täters
aufzuschreiben. Die Betroffene soll dem Gegenüber daraufhin in einer übertriebenen Darbietung
nach Datum, Uhrzeit und Sonstigem fragen und behaupten, sie schreibe einen Bericht über Be-
lästigung im öffentlichen Raum. Eine andere Möglichkeit wäre, den Täter forschende Fragen zum
Thema Street Harassment zu stellen, beispielsweise wie oft er Frauen* belästigt oder wie er ent-
scheidet, welche Personen er sich dafür auswählt. Dabei macht es Sinn, ihm die Präsenzen seiner
Mutter, Schwester oder Freundin zu vergegenwärtigen oder ihn dazu zu ermuntern, sich in deren
Rolle einzufühlen (vgl. Kearl 2010: 156).
Weiters ist es möglich, online Karten auszudrucken, auf welchen über Street Harassment infor-
miert wird, um diese den Tätern aushändigen zu können (vgl. Kearl 2010: 156).
7.1.4 Vermeidungsverhalten
Um Street Harassment zu vermeiden, entwickeln Frauen* unterschiedliche Strategien, um der
Belästigung zu entgehen. Dieses Verhalten bildet sich vor allem aus eigenen Erlebnissen und
Erfahrungen anderer sowie aus Warnungen von Eltern oder Lehrer*innen (vgl. Kearl 2010: 109).
Viele Frauen* sind, sobald sie sich im öffentlichen Raum bewegen, stets in Alarmbereitschaft. Das
bedeutet eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine Analysierung der Umgebung (vgl. Temel 2017:
30
36). Dadurch werden Strategien angewandt, wie das Wechseln der Straßenseite oder die Benut-
zung einer anderen Route (vgl. Kearl 2010: 114). Währenddessen achten einige auf eine energi-
sche und strebsame Gangart sowie auf eine Steigerung des Tempos. Eine Vermeidung des Au-
genkontakts wie auch eine finstere oder abweisende Mimik lässt Frauen* sicherer fühlen (vgl.
Temel 2017: 35). Weiters werden das Tragen von Kopfhörern (vgl. Kearl 2010: 115) oder Son-
nenbrillen, unauffällige Kleidung (vgl. Temel 2017: 35) und Telefonieren ebenfalls als Handlungs-
strategien angewendet (vgl. Kearl 2010: 108). Um Street Harassment zu meiden, nutzen viele
Frauen* auch die Möglichkeit, die Handlung zu ignorieren oder ihr aus dem Weg zu gehen, bei-
spielsweise durch das Nichtbeachten von Zurufen oder das Wechseln von Wagons in Zügen (vgl.
Kearl 2013: 4). In öffentlichen Verkehrsmitteln ist es ratsam, sich in das Abteil unweit der Fahrerin
oder des Fahrers oder in die Nähe anderer Fahrgäste zu setzen. Auch an der Haltestelle ist es
empfohlen, den Rücken zur Wand zu wenden und sich in geringe Entfernung zu anderen Men-
schen zu begeben (vgl. MA 57 2015: 28f.).
Darüber hinaus fühlen sich einige Frauen* vor allem nachts nur sicher, wenn sie in einer Gruppe
oder zumindest mit einer weiteren Person unterwegs sind. Das beinhaltet eine sorgfältige Pla-
nung, um das Sicherheitsgefühl zu stärken. Dunkle und isolierte Plätze sowie diverse Gegenden
werden vermieden, trotz öffentlicher Verkehrsmittel oder kurzem Heimweg werden Taxis genutzt
und Hilfsmittel mitgeführt. Orte, an denen Betroffene schon sexuelle Belästigung erfahren haben,
werden des Öfteren so gut wie möglich umgangen. Dies kann zur Folge haben, dass Frauen*
Arbeitsplätze, Hobbies oder sogar ihr Zuhause wechseln, da diese nicht erreichbar waren, ohne
mit Street Harassment konfrontiert zu werden (vgl. Kearl 2010: 116ff.).
Diese Handlungsstrategien zur Vermeidung von Street Harassment werden zwar von Frauen*
freiwillig ausgeführt, jedoch sind es erzwungene Entscheidungen. Dies führt zu einer begrenzten
Beweglichkeit in öffentlichen Räumen sowie einer Einschränkung der Freiheit. Frauen* wird
dadurch nicht nur eine innere Ruhe verwehrt, sondern auch das Recht aberkannt, sich im öffent-
lichen Raum genauso zu verhalten wie es Männern* möglich ist (vgl. Kearl 2010: 105ff.).
7.1.5 Meldung an Autoritätspersonen
Eine weitere Möglichkeit um Männer* auf Street Harassment aufmerksam zu machen sowie die
persönliche Rolle zu stärken, ist den Täter bei Autoritätspersonen zu melden. Eine Beschreibung
des Aussehens des Täters, eventuell sogar ein Foto, und eine Schilderung des Ereignisortes sind
hierbei hilfreich. Darüber hinaus ist es von Vorteil, Menschen im Umfeld auf die Belästigung des
Mannes* aufmerksam zu machen und diese bei Zustimmung als Zeug*innen hinzuzuziehen. Hält
31
sich der Täter während der Handlung im Auto auf, ist es eine weitere Möglichkeit das Kennzeichen
aufzuschreiben und folglich Anzeige zu erstatten. In Fällen von Drohungen, Begrapschen, Verfol-
gung, Masturbieren oder anderen bedrängenden Formen der Belästigung im öffentlichen Raum
kann dies an die Polizei oder an Sicherheitsbeauftragte weitergegeben werden (vgl. Kearl 2010:
158f.). Ebenso besteht die Möglichkeit, sich an Mitarbeiter*innen einer Mädchen- und Frauenbe-
ratungsstelle zu wenden (vgl. MA 57 2015: 17).
Da Street Harassment häufig in Zusammenhang mit öffentlichen Verkehrsmitteln auftritt, ist es
empfehlenswert, die Vorfälle den Zuständigen zu melden. Beispielsweise sind Bushaltestellen, U-
Bahn-Stationen oder Züge Schauplätze, an welchen Frauen* vielfach belästigt werden. Um dies
zu unterbinden, sollte hier die Ressource genutzt werden, das Fehlverhalten an Verkehrsange-
stellte oder über eine online Beschwerde zu melden (vgl. Kearl 2010: 160). Weiters besteht in den
U-Bahnen und Straßenbahnen die Möglichkeit, die Notsprecheinrichtung zu nutzen sowie in dring-
lichen Situationen die Notbremse zu ziehen. In Bussen wird empfohlen, den Fahrer oder die Fah-
rerin zu verständigen. Findet die Belästigung am U-Bahnsteig statt, so kann bei der Betätigung
der Notruftaste direkter Sprechkontakt zu der Leitstelle aufgenommen werden, welche bei Erfor-
dernis auch die Rettung oder Polizei benachrichtigt (vgl. MA 57 2015: 29).
Ist es Betroffenen möglich, den potenziellen Arbeitsplatz des Täters ausfindig zu machen, so kön-
nen sie die Arbeitgeber*innen über die Belästigung informieren. Dabei kann auf Firmenlogos an
Autos, Kleidung oder auch auf Uniformen geachtet werden. Für die nähere Identifikation des Tä-
ters müssen Ort und Zeitpunkt ebenfalls erwähnt werden. Dadurch fällt es Arbeitgeber*innen leich-
ter, den Angestellten für seine Handlung verantwortlich zu machen und Maßnahmen zu ergreifen
(vgl. Kearl 2010: 161).
Die Meldung an Autoritätspersonen erweist sich vor allem als besonders sinnvoll, wenn sich die
Betroffene im Moment der Belästigung nicht sicher oder fit genug fühlt, um unmittelbar darauf zu
reagieren. Somit hat sie die Möglichkeit, auch im Nachhinein Dritte über Street Harassment zu
informieren. Natürlich gibt es Polizist*innen, Arbeitgeber*innen und andere Autoritätspersonen,
welche ebenfalls Frauen* in der Öffentlichkeit belästigen oder die Beschwerde nicht ernstnehmen.
Nichtsdestotrotz wird es Menschen geben, die dem Problem Beachtung schenken und sich gegen
Street Harassment einsetzen (vgl. Kearl 2013: 12).
32
7.2 Gesellschaftliche Gegenstrategien
Nicht nur Betroffene können gegen Street Harassment ankämpfen. Ebenso gibt es viele Möglich-
keiten der westlichen Gesellschaft, Belästigung im öffentlichen Raum entgegenzuwirken. Daher
soll der Fokus in folgendem Kapitel auf die gesellschaftlichen Gegenstrategien gelegt werden.
7.2.1 Bewusstsein von Männern* stärken
Holly Kearl (2010) beschreibt in ihrem Buch „Stop Street Harassment“ einige Vorgehensweisen,
um gegen Street Harassment vorzugehen.
Frauen* auf offener Straße zu beleidigen, sie anzureden oder ihnen auf eine andere unerwünschte
Art Beachtung zu schenken, wird meist als männlich angesehen. Männer* können sich auf diese
Weise vor sich selbst und auch vor anderen beweisen und ihre Heterosexualität hervorheben (vgl.
Kearl 2010: 133). Um Street Harassment entgegenwirken zu können ist es wichtig, Männern*
einen anderen Zugang zu ihrer Männlichkeit zu geben (vgl. Kearl 2010: 135).
Zugleich muss Frauen* gegenüber Respekt gelehrt werden. Da diese in Führungspositionen meist
unterrepräsentiert sind und in Medien oft auf ihr Äußeres reduziert werden, ist es notwendig, ein
realitätsgetreues Bild von Frauen* zu verbreiten, um diesem mehr Achtung entgegenzubringen
(vgl. Kearl 2010: 136 f.). Schon in Schulen sollte mit geschlechtersensibler Pädagogik angesetzt
werden. Es gibt Vorbereitungen für Lehrende, damit diese lernen, besser mit Auseinandersetzun-
gen zwischen Schüler*innen umzugehen und den Unterricht an den Bedürfnissen der Mädchen
zu orientieren. Zudem ist es wichtig, gezielt mit den Jungen einen gewaltfreien Umgang zu erar-
beiten. Dabei gibt es einige Organisationen, die Programme zu Gewaltprävention an Schulen bie-
ten (vgl. MA 57 2015: 18f.).
Es ist erforderlich, Männern* mehr Wissen über die Problematik von Street Harassment zu ver-
mitteln. Dies kann erfolgen, indem sie an die Thematik aus der Sichtweise der Betroffenen heran-
geführt und ihnen ergänzend die Fakten aufzeigt werden (vgl. Kearl 2010: 138). Laut Holly Kearl
(2010) ist das Einschreiten männlicher Personen bei öffentlicher Belästigung effektiver, weshalb
es wesentlich ist, unbeteiligte Männer* darin zu bestärken, Street Harassment entgegenzuwirken
(vgl. Kearl 2010: 140). Dritte sollen über Möglichkeiten informiert werden, wie sie auf Street Ha-
rassment reagieren und dagegen intervenieren können (vgl. Kearl 2010: 140 f.).
33
7.2.2 Bewusstsein der Betroffenen und Dritter stärken
Es ist wichtig, Frauen* aufzuzeigen, dass sie keine Schuld an der Entstehung von Street Harass-
ment haben. Sie sollten dabei unterstützt werden herauszufinden, wie sie als Betroffene adäquat
mit zukünftigen Situationen umgehen können (vgl. Kearl 2010: 149).
Wie bereits beschrieben, gibt es verschiedene Gegenstrategien von Betroffenen. Einige von die-
sen Handlungsweisen sind Vermeidungsstrategien, jedoch erweisen sich laut Kearl offensive Me-
thoden gelegentlich als wirksamer. Deswegen ist es wichtig, Frauen* zu helfen, Verhaltensweisen
zu entwickeln, mit welchen sie auf Street Harassment reagieren können, wie es für sie selbst am
angemessensten und gleichzeitig am wirksamsten ist (vgl. Kearl 2010: 151 f.).
Darüber hinaus ist es nötig, die Rolle der Frauen* im öffentlichen Raum zu stärken. Becker (2008)
zufolge kann dies durch eigene Frauenräume erreicht werden. Unter Frauenräume versteht Be-
cker Orte in der Öffentlichkeit, zu welchen lediglich Frauen* Zutritt haben. Diese werden von der
westlichen Gesellschaft häufig nicht als öffentliche, sondern als private Rückzugsorte angesehen,
da sich dort ausschließlich Frauen* aufhalten. Hieran kann kritisiert werden, dass einige lediglich
von Männern* besuchte Orte sehr wohl als öffentlich zugängliche Räume wahrgenommen werden
(vgl. Becker 2008: 71f.).
Auch Personen, die Street Harassment miterleben, haben gewisse Möglichkeiten, die Betroffenen
zu unterstützen, ohne sich dabei selber in Gefahr zu bringen. In der akuten Situation kann die
Polizei gerufen werden, dadurch wird möglicherweise sogar der Täter von der Belästigung abge-
schreckt. Auch empfiehlt es sich, andere darauf aufmerksam zu machen und hinzuzuziehen. Nach
der akuten Situation sollten Dritte bei der Betroffenen bleiben und sie beruhigen (vgl. MA 57 2015:
63).
7.2.3 Allgemeinheit informieren
Um Street Harassment entgegenzuwirken ist es notwendig, auf das Thema aufmerksam zu ma-
chen. Besonders die ungefährlich wirkenden Formen von Street Harassment, welche jeden Tag
stattfinden, müssen mehr in den Fokus gestellt werden. Diese werden oft heruntergespielt und
dadurch die Erfahrungen und Reaktionen der Frauen* in Frage gestellt (vgl. Hofer 2018: 12f.).
Holly Kearl (2010) zeigt mehrere Möglichkeiten auf, durch welche dies erreicht werden kann. In-
dem Frauen* ihre Geschichte mit anderen teilen, kann das öffentliche Interesse geweckt werden.
Dies kann sowohl persönlich als auch online erfolgen. Verschiedene Webseiten im Internet geben
34
die Möglichkeit, persönliche Erzählungen mit Street Harassment zu veröffentlichen und dadurch
zahlreiche Personen zu erreichen (vgl. Kearl 2010: 165 ff.).
Ebenso muss besonders auf die Belästigung von Frauen* mit Behinderungen aufmerksam ge-
macht werden. Ableismus ist in westlichen Gesellschaften wenig thematisiert bis hin zu tabuisiert,
weshalb es schwierig ist, Vorfälle von Übergriffen anzusprechen. Aus diesem Grund ist es wichtig,
auf diese Problematik aufmerksam zu machen. Auch der Umgang mit Menschen mit Behinderung
könnte durch mehr Aufklärung verbessert werden (vgl. MA 57 2015: 22).
Zudem gibt es Veranstaltungen, bei welchen über Street Harassment aufgeklärt wird und Infor-
mationen übermittelt werden (vgl. Kearl 2010: 171). Filme und Dokumentationen zu dieser The-
matik tragen ebenfalls dazu bei, das öffentliche Interesse auf Street Harassment zu lenken (vgl.
Kearl 2010: 174 ff.).
7.2.4 Klare Regelungen und fachlicher Austausch
Wie bereits zu Beginn aufgezeigt, gibt es viele verschiedene Definitionen von Street Harassment.
Mit einer eindeutigen Regelung wäre es leichter dagegen vorzugehen (vgl. Kearl 2010: 186). Zu-
sätzlich muss noch mehr zu der Thematik geforscht werden, um möglichst informiert zu sein und
besser entgegenwirken zu können (vgl. Kearl 2010: 187 f.). Um Wissen auszutauschen und die
Problematik zu thematisieren ist es effektiv, Konferenzen zu Street Harassment zu veranstalten.
Kampagnen gegen Belästigung im öffentlichen Raum sind ebenfalls zweckmäßig, da sie einer-
seits informieren und andererseits eine ernsthafte Verbesserung bewirken können (vgl. Kearl
2010: 188 f.).
Laut Baumgartinger (2008) müssten Gesetze, die zum Beispiel Rassismus oder Homophobie för-
dern, abgeändert oder außer Kraft gesetzt werden. Auf diese Weise ist es möglich, rechtlich ge-
schaffene gesellschaftliche Missverhältnisse zwischen verschiedenen Personengruppen aufzulö-
sen (vgl. Baumgartinger 2008: 118). Zudem könnten durch eine Mischung von Gesetzen, über-
legter Stadtplanung und der Auseinandersetzung mit dem Thema in den Medien Methoden ent-
wickelt werden, was bestenfalls zu einer Verbesserung und Förderung des Sicherheitsgefühls und
der Wahrnehmung der Frauen* in der Öffentlichkeit führt (vgl. Ernst 2008: 90).
Wie im folgendem Kapitel näher beschrieben, sind manche Formen von Street Harassment straf-
bar und Frauen* können sich rechtlich dagegen wehren. Eine einschneidende Gegenstrategie
wäre es, alle Handlungen, welche unter den Begriff Street Harassment fallen, gesetzlich zu sank-
tionieren (vgl. Kearl 2010: 190).
35
7.3 Rechtliche Rahmenbedingungen
In dem folgenden Abschnitt wird die aktuelle rechtliche Situation in Österreich erfasst. Zudem
sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, ab wann bei Street Harassment aus rechtlicher Perspek-
tive eingegriffen werden kann. Da die Spannbreite von symbolischer Gewalt bis hin zu körperli-
chen Übergriffen reicht, sind die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich. Den-
noch wird versucht, die Unterschiede der rechtlichen Aspekte je nach Art mit Hilfe des Strafge-
setzbuches (StGB BGBI Nr. 1974/60) deutlich zu machen.
In der Regel können alle Formen, demnach verbale, non-verbale und tätliche Angriffe strafrecht-
lich verfolgt werden. Aufgrund des Umfangs der Arbeit wird hauptsächlich auf §107a (Beharrliche
Verfolgung), §115 (Beleidigung) und §218 (Sexuelle Belästigung und öffentliche geschlechtliche
Handlungen) näher eingegangen. Bei schwerwiegenden Formen von Street Harassment finden
§201 (Vergewaltigung) sowie §202 (Geschlechtliche Nötigung) Anwendung. Zudem ist auch noch
§107 (Gefährliche Drohung) relevant.
§107a befasst sich mit einer spezifischen Form von Street Harassment, der beharrlichen Verfol-
gung. Dabei lautet Abs.1 und 2 des Gesetzestextes wie folgt:
„(1) Wer eine Person widerrechtlich beharrlich verfolgt (Abs. 2), ist mit Freiheitsstrafe bis
zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu bestrafen.
(2) Beharrlich verfolgt eine Person, wer in einer Weise, die geeignet ist, sie in ihrer Le-
bensführung unzumutbar zu beeinträchtigen, eine längere Zeit hindurch fortgesetzt,
1. ihre räumliche Nähe aufsucht.“
Durch §115 werden verbale Äußerungen, also Beschimpfungen und Verspottung (trifft zu, wenn
eine Person lächerlich gemacht wird) wie auch körperliche Misshandlungen (z.B. Ohrfeigen,
Schütteln, Haare reißen) grundlegend strafrechtlich verfolgbar. Wenn es sich um körperliche An-
griffe handelt, muss zudem eine Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit einer Körperverletzung (§§
83-88 StGB) durchgeführt werden (vgl. Auernhammer 2015: 67). „Damit §115 jedoch überhaupt
zur Anwendung gelangen kann, hat ein weiteres Tatbestandsmerkmal erfüllt zu sein: Die Hand-
lung muss ‚öffentlich’ oder ‚vor mehreren Leuten‘ vollzogen werden“ (Auernhammer 2015: 68).
Von „öffentlich“ wird definitionsgemäß gesprochen, wenn ungefähr 10 Personen bei der Tat an-
wesend sind (vgl. Auernhammer 2015: 68).
36
§115 Abs. 1 StGB besagt:
„Wer öffentlich oder vor mehreren Leuten einen anderen beschimpft, verspottet, am Kör-
per mißhandelt [sic!] oder mit einer körperlichen Mißhandlung [sic!] bedroht, ist, wenn er
deswegen nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist, mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestra-
fen.“
In §218 sind sexuelle Belästigungen, wie das unerwünschte Berühren oder Grabschen sowie das
Durchführen von öffentlichen geschlechtlichen Handlungen wie folgt tatbestandsmäßig:
„(1) Wer eine Person durch eine geschlechtliche Handlung
1. an ihr oder
2. vor ihr unter Umständen, unter denen dies geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu
erregen,
belästigt, ist, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe
bedroht ist, mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu
360 Tagessätzen zu bestrafen.
(1a) Nach Abs. 1 ist auch zu bestrafen, wer eine andere Person durch eine intensive
Berührung einer der Geschlechtssphäre zuzuordnenden Körperstelle in ihrer Würde
verletzt.
(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer öffentlich und unter Umständen, unter denen sein
Verhalten geeignet ist, durch unmittelbare Wahrnehmung berechtigtes Ärgernis
zu erregen, eine geschlechtliche Handlung vornimmt.“
Unter „geschlechtliche Handlung“ fallen nicht nur das Anfassen von Geschlechtsteilen oder der
(weiblichen) Brust, sondern auch die Berührung der eigenen Geschlechtsorgane. Somit erfüllt
auch die öffentliche Masturbation den Tatbestand. Mündliche Äußerungen, wie die Aufforderung
zu sexuellen Handlungen, sind nicht in §218 inkludiert. Hierbei ist es für die Tatbestandserfüllung
wichtig, dass die Konfrontation mit der Situation für die Betroffenen nicht annehmbar ist und mit
Ekel, Ärger und Angst in Verbindung steht (vgl. Auernhammer 2015: 70f.).
Grundlegend kann an den Gesetzesregelungen bemängelt werden, dass nicht alle Formen, be-
ziehungsweise Handlungen, welche bei Street Harassment vorkommen, gerichtlich verfolgt wer-
den können. Beispielsweise ist das Nachpfeifen, was eine häufige Form von Street Harassment
ist, nicht klar im Gesetzestext erwähnt (vgl. Auernhammer 2015: 67ff.).
37
In weiterer Folge ist Gleichberechtigung ein Menschenrecht, welchem auf globaler Perspektive
derzeit nicht nachgekommen wird. Frauen* wie Männer* haben das Recht, sich in öffentlichen
Räumen zu bewegen und sicher zu fühlen (vgl. Kearl 2010: 122f.).
Somit lässt sich konkludieren, dass das österreichische Rechtssystem noch weiterentwickelt wer-
den muss, um Street Harassment besser unterbinden und bestrafen zu können.
38
II. Empirie
39
8. Methodischer Zugang
Ziel des folgenden Kapitels ist es, den methodischen Zugang der empirischen Forschung zu er-
läutern. Es wird angegeben, aus welchen Gründen die unterschiedlichen Interviewformen ausge-
wählt sowie nach welchem Schema die Interviewpartnerinnen ausgesucht wurden.
8.1 Auswahl der Erhebungsmethoden
Im Allgemeinen handelt es sich bei Street Harassment um ein sensibles Thema, zu welchem nicht
viel Forschungsmaterial und Informationen vorhanden sind. Aus diesem Grund wurde eine quali-
tative Forschung durchgeführt, basierend auf einer Gruppendiskussion mit Betroffenen, Expertin-
neninterviews und Einzelinterviews mit Betroffenen.
Die Gespräche haben wir persönlich in dem Zeitraum von Juni bis Oktober 2018 durchgeführt.
Um die Ergebnisse auswerten zu können, wurden die Interviews mit einem Tonaufnahmegerät
aufgezeichnet. Hinsichtlich des Datenschutzes haben alle Interviewpartnerinnen eine Einver-
ständniserklärung unterzeichnet.
Insgesamt wurden elf Frauen* befragt. Die Expertinnen- und Einzelinterviews haben wir separat
durchgeführt, um eine möglichst angenehme Atmosphäre für die Befragten zu schaffen. Bei der
Gruppendiskussion waren aufgrund des größeren Arbeitsaufwandes alle vier Teammitglieder an-
wesend.
8.2 Umsetzung der Gruppendiskussion und Einzelinterviews mit Betroffenen
Um ein vielseitiges Bild von Erfahrungen zum Thema Street Harassment zu erlangen und die
Alltäglichkeit herauszuheben, wurde die Gruppendiskussion als Methode gewählt. Diese erwies
sich als äußerst effizient, da gruppendynamische Vorgänge zu authentischen Wortmeldungen
führten, zumal die Teilnehmerinnen unmittelbar aufeinander reagierten. Zudem ermöglichte die
Gruppendiskussion eine natürliche Atmosphäre, in welcher die Teilnehmerinnen selbst entschei-
den konnten, inwieweit sie sich am Gespräch beteiligen. Gleichzeitig wollten wir mit den Betroffe-
nen Gegenstrategien entwickeln und teilen, weshalb wir ein Brainstorming mit Hilfe eines Flip-
charts durchgeführt haben.
Bei allen Betroffenen handelte es sich um uns bekannte Personen, welche wir via soziale Medien
kontaktierten. Die offizielle Einladung wurde per E-Mail versandt. Vor der Durchführung erstellten
wir einen passenden Leitfaden. Die Gruppendiskussion bestand aus sieben Teilnehmerinnen,
40
welche sich in einem Zeitraum von eineinhalb Stunden über ihre Erfahrungen mit Street Harass-
ment austauschten. Geleitet wurde die Diskussion von zwei Mitgliedern der Bachelorgruppe. Die
zwei weiteren Mitglieder führten währenddessen Protokoll. Als Räumlichkeit wählten wir einen
Raum der FH Campus Wien, den wir adäquat vorbereiteten. Um den Befragten einen Anreiz für
deren Beteiligung zu bieten, errichteten wir ein reichhaltiges Buffet für ein gemütliches Beieinan-
dersein nach der Diskussion. Dieses Angebot ist sehr gut bei den Teilnehmerinnen angekommen.
Bei der Auswahl der Teilnehmerinnen war es uns wichtig, auf die Intersektionalität Rücksicht zu
nehmen. Teilgenommen haben fünf Cis-Frauen, eine homosexuelle Frau* sowie eine Transfrau*.
Bei der Auswahl von Cis-Frauen war es wesentlich, unterschiedliche äußere Erscheinungsbilder
vertreten zu haben, darunter Frauen* mit kurzen Haaren, Dreadlocks, Tattoos, Piercings und un-
terschiedlicher Statur. Ursprünglich wurden zusätzlich eine Schwarze Frau*, eine Frau* mit kör-
perlicher Beeinträchtigung wie auch eine Muslimin mit Kopftuch eingeladen. Da diese aufgrund
von Schwierigkeiten bei der Terminfindung am Tag der Gruppendiskussion nicht teilnehmen konn-
ten, haben wir uns entschlossen, mit zwei der Betroffenen jeweils ein Einzelinterview zu führen,
um den Aspekt der Intersektionalität besser berücksichtigen zu können. Hierbei nutzten wir den-
selben Leitfaden wie bei der Gruppendiskussion.
Das erste Einzelinterview wurde mit einer Frau* mit körperlicher Beeinträchtigung durchgeführt.
Aufgrund ihrer vorübergehenden eingeschränkten Mobilität fand dies bei ihr zuhause statt. Das
Zweite wurde mit einer Schwarzen Frau* in einer Räumlichkeit der FH Campus Wien umgesetzt.
Beide Interviews dauerten ungefähr 25 Minuten.
Rückblickend lässt sich sagen, dass sich für Erfahrungen bezüglich Intersektionalität das Setting
eines Einzelinterviews als sehr vorteilhaft erwiesen hat, da ein geschützter Rahmen bestand, in
welchem die Betroffenen offener über ihre Erlebnisse sprechen konnten. Im Vergleich dazu, teil-
ten die Frauen* mit Diversitätsmerkmalen in der Gruppendiskussion vorwiegend ihre Erfahrungen
als Frauen*, wobei die Mehrfachdiskriminierungen in den Hintergrund rückten.
41
8.3 Umsetzung der Expertinneninterviews
Das systematisierende Expert*inneninterview, welches der Informationsgewinnung des Erfah-
rungswissens der Expertinnen dient, wurde angewandt, da wir einen fachlichen Zugang zur The-
matik erhalten wollten. Eine Organisation, welche sich ausschließlich mit Street Harassment be-
fasst existiert bislang nicht, weshalb wir auf ZARA und den 24-Stunden Frauennotruf zurückge-
griffen haben. Diese kontaktierten wir durch eine E-Mail Anfrage. Es erklärte sich je eine Juristin
bereit, an einem Interview bezüglich Street Harassment teilzunehmen. Um die Expertinneninter-
views durchzuführen war es notwendig, einen weiteren Leitfaden zu erstellen. Die Interviews rich-
teten sich nach diesem, variierten jedoch in der Abfolge und wurden an die jeweiligen Interviewsi-
tuationen angepasst.
Folglich werden die zwei befragten Organisationen näher vorgestellt und ihre Relevanz für unsere
Forschungsarbeit begründet.
ZARA ist ein Verein für Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit, welcher verschiedene Schwer-
punkte hat. Hauptsächlich gibt es eine Beratungsstelle sowie eine Trainings GmbH, wobei auch
der Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiger Stellenwert zukommt (vgl. I5, Z. 22-31). Thematiken der
Trainings sind beispielsweise der Umgang mit Vorurteilen, Argumentationstraining gegen Stamm-
parolen oder Zivilcourage (vgl. I5, Z. 25-30). Die Beratungsstelle berät kostenlos Betroffene und
Zeug*innen bei Fällen von Rassismus wie auch Hass im Internet, wobei es sich um eine eher
kurzfristige Beratung und Betreuung handelt (vgl. I5, Z. 17-42). Damit die Organisation zuständig
ist, bedarf es immer einer rassistischen Ursache (vgl. I5, Z. 104f.).
In dem Interview mit der Expertin kristallisieren sich folgende Hauptaufgaben von ZARA hervor:
das Führen von „psychosozialen Entlastungsgesprächen“ (I5, Z. 41), jährliches Erstellen des Ras-
sismus Reports (vgl. I5, Z. 55f.) sowie die rechtliche Beratung von Klient*innen (vgl. I5, Z. 117f.).
Diese inkludiert das Verfassen von Interventionsschreiben, in welchen um eine Entschuldigung
oder Wiedergutmachung vom Täter angesucht wird (vgl. I5, Z. 153-185) wie auch die Begleitun-
gen zur Polizei zur Erstattung einer Anzeige (vgl. I5, Z. 165-167). Ansonsten ist ZARA eine erste
Anlaufstelle, in welcher Opfer ernst genommen werden und Empowerment und Verständnis er-
fahren (vgl. I5, Z. 109-114). Falls nötig werden die Klienten*innen zu anderen Institutionen ver-
wiesen, vor allem wenn therapeutische Unterstützung notwendig ist (vgl. I5, Z. 118-121).
42
Ausschlaggebend für die Wahl von ZARA war die Zuständigkeit für Frauen*, welche eine Mehr-
fachdiskriminierung erfahren. Da ein Fokus unserer Bachelorarbeit auf der Intersektionalität liegt,
war der Zugang der Expertin zu Rassismus besonders interessant für uns.
Bei der zweiten von uns ausgewählten Organisation handelt es sich um den 24-Stunden Frauen-
notruf. Dieser wird von der Expertin wie folgt beschrieben:
„Den Frauennotruf gibt es seit mittlerweile 22 Jahren. Wir arbeiten mit Frauen und Mäd-
chen ab 14, die von Gewalt betroffen sind. Schwerpunkte sind insbesondere sexualisierte
Gewalt, körperliche Gewalt und psychische Gewalt. [...] Dann verstehen wir uns auch als
Clearing Stelle, wo wir Frauen auch in andere Einrichtungen verweisen. Wir begleiten zu
Gerichtsverhandlungen, aber auch zur Polizei und wenn es nötig ist auch ins Kranken-
haus. Das machen wir in erster Linie bei sexualisierter Gewalt und bei körperlicher Gewalt.
Also wir machen auch persönliche Gespräche. Bei uns arbeiten Psychologinnen, teilweise
mit Psychotherapie Ausbildung, Sozialarbeiterinnen und Juristinnen” (I4, Z. 16-25).
Laut Expertin kommt zu ihnen nur „die Spitze des Eisbergs” (I4, Z. 55), wobei die häufigste Form
des Kontakts telefonisch verläuft. Auf die Frage, wann sich Betroffene an den Frauennotruf wen-
den, erklärt die Expertin, dass dies von verschiedenen Faktoren wie Vorgeschichte, Vorerfahrun-
gen und der eigenen Position zum Thema Gewalt abhängt. Häufig gehen die Anrufe mit extremer
Unsicherheit und großem Schamgefühl der Betroffenen einher (vgl. I4, Z. 110-115).
Wir haben den Frauennotruf kontaktiert, da sich alle Frauen*, welche Gewalt oder sexuelle Be-
lästigung erfahren haben, an die Organisation wenden können. Durch das Angebot des 24- Stun-
den Frauennotrufs haben die Klientinnen die Möglichkeit Bestärkung zu erfahren, ihre Gefühle zu
erläutern sowie bei konkreten rechtlichen Schritten Unterstützung zu erhalten (vgl. I4, Z. 55-58;
I4, Z. 142-144). Da der Frauennotruf eine große Bandbreite an betroffenen Frauen* anspricht,
konnten durch das Interview vielfältige Erfahrungen in Bezug auf die Thematik gesammelt wer-
den.
8.4 Umsetzung der Datenauswertung
Um die Daten aller geführten Interviews auszuwerten, wurden die Tonbandaufnahmen transkri-
biert und das Gesagte in Schriftsprache festgehalten. Folglich wurden die transkribierten Inter-
views in Bezug auf die Beantwortung der von uns gestellten Forschungsfrage verglichen, katego-
risiert und schließlich codiert. Unser Kategoriensystem bestand aus zwölf Hauptkategorien, mit
43
mehreren Unterkategorien. Auf Basis einer darauffolgenden Interpretation erstellten wir den Fließ-
text des empirischen Teils.
44
9. Individuelle Definitionen von Street Harassment
Im Theorieteil wurde bereits auf verschiedene Definitionen von „Street Harassment“ eingegangen.
Ziel dieses Kapitels ist es, die diversen Definitionen der Interviewpartnerinnen, welche aus Be-
troffenen sowie Expertinnen bestand, zu erläutern. Vor allem die Definitionen der Betroffenen sol-
len im Vordergrund stehen, da diese der wichtigste Ausgangspunkt für unsere Forschung sind. In
diesem Zusammenhang ist es wesentlich, das Konzept der Definitionsmacht zu ergänzen. Dieses
besagt, dass jede betroffene Frau* selbst festlegen darf und soll, was sie unter sexualisierter Ge-
walt versteht. Ziel dieses Konzeptes ist es, das individuelle Erleben der Frauen* in den Fokus zu
stellen und objektiven Kriterien weniger Bedeutung zuzuschreiben. Folglich würde dies bedeuten,
dass Frauen* sich nicht mehr rechtfertigen müssen und Formen von sexueller Gewalt, welche
keine gesetzlichen Konsequenzen nach sich ziehen, auch als solche wahrgenommen werden
(vgl. DEFMA 2008: 1ff.). Das Konzept ist auf Street Harassment zu übertragen, da auch hier se-
xuelle Belästigung inkludiert ist.
Generell sind die empirisch erarbeiteten Definitionen beinahe deckungsgleich mit der Fachlitera-
tur, wobei wir nicht viele Abweichungen erkennen konnten. Diese Zusammenhänge werden auf
folgenden Seiten erläutert.
Expertin 2 definiert „Street Harassment“ wie folgt: „Ich glaube ich würde Street Harassment als
alltägliche Belästigung und Gewalthandlung bezeichnen, im öffentlichen Raum durch fremde Per-
sonen“ (I4, Z. 29-30). In den weiteren Aussagen von E2 wird deutlich, dass für sie Belästigung im
öffentlichen Raum bereits bei Kommentaren über das Aussehen einer Frau* beginnt. Ansonsten
zählt sie vulgäre Gesten, sexuelle Kommentare, Entblößungen, Masturbation sowie das Angreifen
einer Frau* gegen ihren Willen dazu (vgl. I4, Z. 30-38). Für E2 fallen bereits belästigende Hand-
lungen, welche “unter dem Strafbarkeitslevel bleiben” (I4, Z. 40f.) unter Street Harassment. Die
Expertin stellt auch Überlegungen dazu an, inwiefern das Strafbarkeitslevel veränderbar ist und
es von der gesetzlichen Lage abhängt, was strafrechtlich verfolgt wird (vgl. I4, Z. 41-45). Expertin
1 geht bei der Frage nach der Definition von Street Harassment auf die Täter ein. Sie betont, dass
die diese oft unbekannt sind, vor allem in Situationen beim Vorbeigehen oder in öffentlichen Ver-
kehrsmitteln (vgl. I5, Z. 159-161). Dies entspricht auch den Definitionen von Kearl und Davis,
welche im Kapitel “1.1 Definition” beschrieben wurden.
Betroffene 2 hingegen, bei der es sich um eine Schwarze Frau* handelt, fokussiert sich bei der
Definition zum einen auf sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum, zum anderen auf Rassismus.
Als Beispiel nennt B2 das Beschimpfen sowie das Hinterherrufen auf der Straße (vgl. I3, Z. 27-
45
33). Im Gegensatz dazu meint B3, eine Betroffene mit körperlicher Behinderung, folgendes zur
Definition: „Für mich wäre das, wenn man jemanden komisch anschaut, wenn er ein bisschen
anders ist oder wenn’s jetzt in die schlimmere Phase geht, dass man Leute wirklich belästigt, im
Sinne von Angreifen oder in ihren persönlichen Raum eingreift“ (I2, Z. 10-12). Diese Aussagen
lassen die Vermutung entstehen, dass die eigene Definition von Street Harassment von der Bio-
graphie und den individuellen Erfahrungen abhängt. Die Betroffenen inkludieren häufig Formen
von Street Harassment in ihre Definition, mit welchen sie selbst schon in Kontakt gekommen sind.
Darüber hinaus werden bei den befragten Frauen* individuelle Unterschiede ersichtlich, was be-
reits als Belästigung im öffentlichen Raum wahrgenommen wird. B3 empfindet es bereits als
grenzüberschreitend, wenn sie von Greenpeace-Verkäufer*innen angesprochen wird und diese
ihr auf der Mariahilferstraße nachlaufen (vgl. I1, Z. 65-72). Zusätzlich meinen B3 und B6, dass für
sie schamloses Anstarren und Anglotzen nicht mehr in Ordnung sind (vgl. I1, Z. 88-89; I1, Z. 75-
76). Von B9 werden Hinterherpfeifen, ungewolltes Ansprechen sowie sexuelle Geräusche, welche
an einen gerichtet werden, als grenzüberschreitend wahrgenommen (vgl. I1, Z. 86-87).
Anhand der diversen Zitate ist die Unterschiedlichkeit der oben genannten Grenzen erkennbar,
wodurch das Verhalten der Täter verschieden wahrgenommen werden kann. Dies wird auch in
der Aussage und Definition von einer Betroffenen deutlich: „Ich glaube, das ist einfach eine Grenz-
überschreitung, also was meine Grenzen betrifft. Also sei es jetzt eben verbal oder körperlich
irgendwie“ (I1, Z. 73-74).
Bei der Frage, wie die Interviewpartnerinnen die Einteilung von Holly Kearl empfinden, welche in
Kapitel 6 erläutert wurde, reagierte der Großteil der befragten Personen mit zustimmenden Äuße-
rungen. Dies wird bei folgendem Zitat einer Betroffenen erkennbar: „Ich finde es gut eingeteilt,
weil [...] alle drei stellen eine andere Art von Belästigung dar und man kann genauso nur verbal
belästigt werden, als auch dann im schlimmsten Fall [...] körperlich“ (I1, Z. 157-159). Lediglich bei
der Vergewaltigung waren sich die Frauen* bei der Gruppendiskussion uneinig: „Ich würde eine
Vergewaltigung nicht mehr als Belästigung bezeichnen, ich glaube das ist etwas anderes“ (I1, Z.
160-161). B9 argumentiert jedoch, die Einteilung seitens Kearl mit Vorsicht zu betrachten, da ver-
schiedene Formen nicht nach Schweregrad gewertet werden sollten. Dies spricht der Frau* even-
tuell ihre individuelle Wahrnehmung der Situation ab:
„Ich finde die Einteilung grundsätzlich interessant [...], aber ich glaube da muss auch ganz
vorsichtig damit umgegangen werden, dass man dann nicht so sagt: ‚Ah das eine ist
schlimmer als das andere‘ oder so, weil das auch immer ganz individuell ist wie die Person
das erlebt“ (I1, Z. 164-167).
46
Diese Aussage untermauert die Bedeutsamkeit des Konzeptes der Definitionsmacht, welches be-
reits erläutert wurde.
Ein weiterer Aspekt, welcher in der Gruppendiskussion ersichtlich wurde, ist die Unterscheidung
zwischen absichtlichem/bewusstem oder unabsichtlichem/unbewusstem Street Harassment.
Während absichtliche Handlungen eindeutig als Street Harassment deklariert werden, können
unabsichtliche Belästigungen toleriert, beziehungsweise von Betroffenen normalisiert werden. Im
Interview wurde zudem deutlich, dass es einen Unterschied macht, ob die Frau* mit der Handlung
einverstanden ist oder nicht. B4 äußert sich dazu folgendermaßen: „Also ich persönlich empfinde
es dann als übergriffig, wenn ich dem Gegenüber signalisiere, dass ich das eigentlich gar nicht
möchte“ (I1, Z. 108-109). Interessant ist dabei die Aussage von B5: „Ich glaube es fängt manchmal
schon früher an, einfach wenn die Situation was mit mir anstellt. Da muss ich mich nicht wehren,
da muss ich nichts machen – sobald das irgendwie an mich rankommt“ (I1, Z. 118-120). Dies
deutet erneut auf die individuellen Grenzziehungen der Betroffenen hin.
47
10. Erfahrungen
Jede Frau* hat eine andere Biografie und ist hinsichtlich ihrer Persönlichkeit und Wahrnehmung
individuell. Demnach sind die mit uns geteilten Erfahrungen einzigartig, vielschichtig und nicht
direkt miteinander vergleichbar. Es waren jedoch einzelne Muster erkennbar, wie etwa verschie-
dene Umstände oder Emotionen, die häufiger in den einzelnen Erzählungen genannt wurden.
Ziel dieses Kapitels ist es, die komplexen Erfahrungen zu analysieren, Bestandteile in Unterkapitel
zu interpretieren und in Bezug zu setzen. Es werden die generellen Umstände, welche von den
Betroffenen und Expertinnen mit Street Harassment in Verbindung gebracht oder in Erzählungen
erwähnt wurden, veranschaulicht. Weiters werden die unterschiedlich ausgelösten Emotionen an-
geführt und beeinflussende Faktoren herausgearbeitet. Zudem gehen wir darauf ein, wie häufig
Street Harassment von den befragten Frauen* erfahren wird und ob die Erlebnisse ihre Nutzung
des öffentlichen Raumes verändern.
Um zu verdeutlichen, wie komplex und unterschiedlich Erfahrungen mit Street Harassment sein
können, werden einige Beispiele genannt. B4 berichtet von folgendem Erlebnis:
„Da saß dieser ältere Herr da, ja eigentlich schräg vis-a-vis vor mir und hat sich einen
runtergeholt. Einfach so mitten in der S-Bahn, also in der Straßenbahn und es war hell-
lichter Tag […] Und es hat irgendwie jeder gesehen, jeder hat sich geekelt aber keiner hat
was gesagt. […] Und ich hab gesagt […], dass er das bitte zu Hause machen soll, wo sich
niemand belästigt fühlt […]. Ich weiß nicht, ob ihn das irgendwie angemacht hat, aber da-
raufhin hat er dann angefangen direkt mich die ganze Zeit dabei anzusprechen und ge-
wisse Geräusche zu machen und ‚Ja Baby und das gefällt dir doch’ und keine Ahnung was
und ich saß eigentlich nur da und so. Keiner hat was gesagt und der Typ saß einfach da
bis er gekommen ist. Dann ist er ausgestiegen“ (I1, Z. 214-230).
B5 hat folgendes erfahren: "Dass ich das öfter schon gehört habe, gerade beim Nachpfeifen, dass
mir dann Typen gesagt haben: ‚Weißt du, es ist immer nur die hässlichste Freundin die sich von
denen, denen Nachgepfiffen wird, die sich aufregt.’ Und das ist so schlimm" (I1, Z. 799-802).
Betroffene 7 schildert eine Situation, in der sie nachts an einem Bahnhof von einem betrunkenen
Mann* belästigt wurde, der trotz ihrer klaren Ablehnung immer wieder das Gespräch mit ihr suchte
(vgl. I1, Z. 174-184). Weiters erzählte sie:
48
„Da hab ich mich zu einem anderen Typen quasi so bisschen hingestellt, dass zumindest ir-
gendjemand sieht, was da los ist. Und wie er dann gerade weggegangen ist, hat mich der
andere Typ dann angesprochen. Und ich dachte er will jetzt so fragen, ob vielleicht eh alles
okay ist und so. Und er hat mich dann auch gefragt, ob ich was mit ihm trinken gehen möchte"
(I1, Z. 313-319).
10.1 Rahmenbedingungen
Im Zuge unserer Interviews sollte unter anderem herausgefunden werden, welche verschiedenen
Umstände zum Entstehen oder zum Erleben von Street Harassment beitragen. Durch die Antwor-
ten von unseren Interviewpartnerinnen hat sich herausgestellt, wie viele verschiedene Aspekte zu
berücksichtigen sind. Als häufigste Einflussfaktoren wurden die Uhrzeit und der Ort erwähnt.
Viele Betroffene berichten, Street Harassment vermehrt in öffentlichen Verkehrsmitteln (vgl. I3, Z.
27-30) wie in Straßenbahnen (vgl. I1, Z. 216-218; I3, Z. 167-169), U-Bahnen (vgl. I1, Z. 277-280;
Z. 638-647; I3, Z. 33-52), Zügen (vgl. I1, Z. 174-206; Z. 290-291) sowie Autobussen (vgl. I1, Z.
185-194; Z. 275-277) erlebt zu haben. Zudem erzählt Expertin 1, häufig diverse öffentliche Ver-
kehrsmittel als Ort der Belästigung angegeben zu bekommen. E1 zählt auch das Taxi, in welchem
es ebenfalls vermehrt zu sexueller Belästigung kommt, zum öffentlichen Raum, da es sich bei
dem oder der Fahrer*in um eine fremde Person handelt (vgl. I4, Z. 88-94). Bahnhöfe werden so-
wohl von zwei Betroffenen als auch von E1 als Tatort angeführt (vgl. I1, Z. 314-322; I3, Z. 63-66;
I4, Z.88-89). Das Stadtzentrum wurde ebenfalls genannt (vgl. I3, Z. 180-181).
Des Weiteren macht es laut manchen Betroffenen einen Unterschied, ob sie sich in ländlichen
Gebieten oder in einer Stadt befinden. B1 hat das Gefühl, am Land aufgrund ihrer körperlichen
Beeinträchtigung deutlich häufiger angestarrt zu werden. In der Stadt hat sie damit weniger Prob-
leme. Sie führt das darauf zurück, da in einer Stadt mehr Personen mit einer Beeinträchtigung
leben und die Menschen deshalb aufgeschlossener und aufgeklärter sind (vgl. I2, Z. 171-175).
Ein zusätzlicher Aspekt, den B3 hervorhebt ist, dass am Land oft weniger Leute in der Umgebung
sind, die einem in einer akuten Situation helfen können (vgl. I1, Z. 333-336). Im Gegensatz dazu
meinen die Betroffenen B8, B4 und B6 öfter in der Stadt mit Street Harassment konfrontiert wor-
den zu sein oder dort für sie schlimmere, beziehungsweise unangenehmere Situationen erlebt zu
haben (vgl. I1, Z. 241-258; Z. 323-325). Von B3 wird auch ihr eigenes Äußeres als Umstand an-
gesehen. „Ich werde am Land mehr angestarrt. Ich meine, dass kann jetzt auch gut an meinem
Auftreten liegen, weil ich behaupte, dass ich ein bisschen alternativ ausschaue“ (I1, Z. 338-340).
49
Von der Expertin 1 werden zusätzlich die Schnellbahn, Supermärkte, Stiegenhäuser, Universitä-
ten, Sanitäter in Rettungswagen, der Wiener Prater, Aufzüge, Krankenhäuser, Schwimmbäder
und die Sauna als bekannte Tatorte genannt (vgl. I4, Z. 88-100). Auch von B3 und B8 wird der
Supermarkt in jeweils einer Erfahrung erwähnt (vgl. I1, Z. 304-308; Z. 352-354).
Ebenfalls wurde Street Harassment häufig in Verbindung mit dem Ausgehen genannt (vgl. I1, Z.
365-367; I3, Z. 101). Einige Frauen* berichten, in Clubs oder Lokalen auf unterschiedliche Weisen
belästigt worden zu sein (vgl. I1, Z. 230-233; Z. 301-304; I3, Z. 84). Die Kombination mit Alkohol
fördert laut manchen Betroffenen Street Harassment oder wurde von ihnen in ihren Erfahrungen
erwähnt (vgl. I1, Z. 175-178; Z. 359-367). B2 bemerkt, dass auch der Anschein sie selbst wäre
betrunken, Street Harassment begünstigt. „Und die denken, dass man selber ziemlich betrunken
und dann hilflos ist und dann eher ja dazu sagt, zum Beispiel ob man mitgeht etwas Trinken” (I3,
Z. 177-180).
Die Uhrzeit hat ebenfalls einen Einfluss auf die Häufigkeit und die Formen von Street Harassment.
Der Großteil der befragten Frauen* und Expertinnen berichten vorwiegend von Belästigungen in
der Nacht und am Abend (vgl. I1, Z. 175-189; Z. 286-362; Z. 423-425; I2, Z. 190-192; I3, Z. 184-
192). B7 meint folgendes: „Ich habe auch eher die Erfahrung gemacht, dass es eher am Abend
oder in der Nacht war, was aber glaube ich damit zusammenhängt, dass da weniger Menschen
unterwegs und die Leute teilweisen betrunken waren“ (I1, Z. 359-362). B8 hat wenig Zusammen-
hang mit der Uhrzeit erkennen können. Sie wurde sowohl bereits vormittags als auch am Abend
mit Street Harassment konfrontiert. Jedoch hält sie die Wahrscheinlichkeit am Wochenende be-
lästigt zu werden für höher (vgl. I1, Z. 349-355). Insgesamt konnten wir bei der Interpretation er-
kennen, dass Street Harassment am häufigsten in der Nacht oder am Abend erlebt wird.
Wie oben erwähnt wird auch die Form von der Uhrzeit beeinflusst. B6 erzählt, Nachpfeifen ver-
mehrt untertags und Anstarren und Begrapschen abends zu erleben (vgl. I1, Z. 363-364). Die
Betroffene B2 schildert, zur Mittagszeit eher im Stadtzentrum oder in der U-Bahn belästigt zu
werden (vgl. I3, Z. 180-181). B4 meinte hierzu:
„Also das Körperliche kam eher so am Abend beim Fortgehen, am Wochenende vielleicht,
wenn dann vielleicht doch ein bisschen mehr Alkohol im Spiel war. Und Nachpfeifen und
dieses tägliche Belästigen wie auch in Verkehrsmitteln oder so, das ist untertags genauso
wie am Abend“ (I1, Z. 365-369).
Ebenso geben einige Betroffene an besonders belästigt zu werden, wenn wenige Menschen in
der Umgebung, aber auch wenn sie alleine sind (vgl. I1, Z. 333-336; Z. 359-362; I3, Z. 151-152).
50
Das Alleinsein in öffentlichen Verkehrsmitteln wurde von B2 und B4 als Situation genannt, in der
Street Harassment wahrscheinlicher wird (vgl. I1, Z. 423-425; I3, Z. 190-192). Im Gegensatz dazu
hat B2 einige Vorfälle von Belästigungen in Menschenmengen erlebt. Sie begründet dies dadurch,
dass viele Leute dem Täter auch ein Gefühl der Sicherheit geben können oder dieser die Anony-
mität bewusst ausnutzt (vgl. I3, Z.42-45; Z. 124-129; Z. 151-156). Auch B3 berichtet von einer
ähnlichen Erfahrung: „Es ist total krass, dieses ‚Ich bin so sneaky, die bemerkt mich eh nicht und
dann ist es ja auch nicht schlimm’” (I1, Z. 303-304).
In unserer Theorierecherche konnte kaum Literatur zu begünstigenden Umständen gefunden wer-
den. Jedoch haben laut Kearl Frauen*, welche sich alleine in städtischer Umgebung aufhalten
oder öffentliche Verkehrsmittel benützen, ein höheres Risiko Street Harassment zu begegnen
(vgl. Kearl 2010: 95), was mit unseren Erkenntnissen übereinstimmt. In Kapitel 4.6 „Ort“ wurde
verdeutlicht, dass eine Situation je nach Örtlichkeit der Belästigung schneller als bedrohlich oder
harmlos eingestuft wird. Obwohl es verschiedene Umstände gibt, die Belästigung im öffentlichen
Raum begünstigen, kann es täglich an jeglichen öffentlichen Orten zu jeder beliebigen Uhrzeit zu
einer Konfrontation mit Street Harassment kommen.
10.2 Emotionen
Gegenstand des folgenden Kapitels sind die während Street Harassment ausgelösten Emotionen.
Viele Frauen* gaben an aufgrund unterschiedlicher Ursachen wütend zu sein (vgl. I1, Z. 622-653;
I3, Z. 230) B5 stört es, sich überhaupt Gedanken bezüglich Street Harassment machen zu müssen
(vgl. I1, Z. 542-544). Betroffene 3 erlebt das folglich: „Bei manchen Sachen bin ich so wütend,
dass ich zur Polizei gehe. Bei manchen Sachen denke ich mir ‚Nee, das ist jetzt nervlich scheiße.’
Klar. Aber mit drei Mal Augenrollen ist das weg und ich muss eben nichts mehr machen“ (I1, Z.
455-458).
Expertin 1 meint dazu: „Manchmal rufen Frauen auch im Ärger an […]. Aber sehr oft sind es
einfach unglaubliche Unsicherheit und Schamgefühle“ (I4, Z. 113-114). Die Betroffene 2 be-
schreibt ihre Emotionen wie folgt: Ich fühlte mich „sehr, sehr unfair behandelt. Vor allem ausge-
nutzt, weil man dann nur als Körper betrachtet wird und nicht als Mensch mit einer Persönlichkeit“
(I3, Z. 147-148). B5 berichtet von einem machtlosen, lähmenden Gefühl in akuten Situationen
gefolgt von einem Schuldgefühl und Wut auf sich selbst, nicht anders reagiert zu haben (vgl. I1,
Z. 426-437). Auch B6 fühlt sich ohne es zu wollen schlecht und schuldig sowie auch wütend (vgl.
I1, Z. 388-391). Befragte 9 schildert, sich nach Konfrontationen, vor allem in jüngerem Alter, sehr
51
schlecht gefühlt zu haben. Durch das Anwenden von verbalen Gegenstrategien kann sie inzwi-
schen besser damit umgehen, auch wenn sie die Situationen trotz allem noch lange beschäftigen
(vgl. I1, Z. 373-381). Betroffene 8 gab ebenfalls an, viel über erlebte Konfrontationen nachzuden-
ken (vgl. I1, Z. 382-387).
Street Harassment wird von B7 als sehr unangenehm empfunden, wobei bei ihr besonders Angst
entsteht, wenn niemand in der Umgebung ist. Zudem denkt sie nach einer Konfrontation noch
lange über das Erlebte nach (vgl. I2, Z. 395-403). Die Befragten 6 und 7 würden bei Belästigung
gerne anders reagieren, jedoch werden sie durch ihre Angst davon abgehalten, da der Täter teil-
weise als aggressiv eingeschätzt wurde (vgl. I1, Z. 254-270; Z. 563-565).
B8 äußert sich folgendermaßen: „Es ist mir auch schon öfters passiert, dass mir Leute hinterher-
gelaufen sind. Und ich wusste dann einfach nicht was ich machen soll, weil ich ganz alleine auf
der Straße war und weil niemand anders sonst dort war. Da kommt man schon ins Verzweifeln“
(I1, Z. 329-332). Interviewpartnerin B2 berichtet ebenfalls, von Männern* verfolgt und angespro-
chen worden zu sein, als sie alleine am Heimweg war. In solchen Situationen war bei ihr Angst
die vorherrschende Emotion (vgl. I3, Z. 84-91). Später im Interview schildert sie noch eine Erfah-
rung, in welcher sie sich sichtlich unwohl fühlte, ihr jedoch keiner zur Hilfe gekommen ist (vgl. I3,
Z. 54-60).
„Das Problem ist, dass ich das in vielen Situationen einfach in mich hineinfresse, anstatt
diese Konfrontation zu suchen, weil das auch sehr anstrengend ist. [...] Also man das Ge-
fühl hat, dass es zu nichts führt, wenn man da nicht unterstützt wird. Wenn man immer
allein ist” (I3, Z. 198-202).
Es ist auffallend, dass besonders der Umstand alleine zu sein, Angst bei den Betroffenen auslöst
und das Gefühl der Wut in den Hintergrund rückt.
Street Harassment ruft bei B3 einigermaßen gleichgültige Gefühle hervor, was an ihren vielen
Erlebnissen mit Belästigungen liegen könnte (vgl. I1, Z. 673-677). B1 berichtet, Konfrontationen
gut ignorieren zu können, was dazu führt, dass erlebte Situationen möglicherweise wenige Emo-
tionen bei ihr auslösen (vgl. I2, Z. 85-89).
Dem Täter wird viel Macht zugeschrieben, wodurch Schuldgefühle und Gefühle von Machtlosig-
keit ausgelöst werden. Auch das Umfeld kann die Emotionen der Betroffenen beeinflussen. Wird
das Verhalten des Täters von anwesenden Personen toleriert, kommt es vermehrt zu Unverständ-
nis und dem Gefühl der Hilflosigkeit.
52
Bezugnehmend auf Kapitel 4 „Subjektive Wahrnehmungen von Frauen*“ gibt es Faktoren, welche
das Erleben von Street Harassment beeinflussen, wodurch dieses als Kompliment wahrgenom-
men werden kann. In den Interviews werden ausschließlich Erfahrungen genannt, welche nega-
tive oder gleichgültige Emotionen auslösen. Es wurde außer Acht gelassen, dass Aufmerksam-
keiten unter gewissen Umständen auch positiv empfunden werden können. Demnach werden
Erfahrungen, welche aus verschiedenen Gründen wie etwa Attraktivität des Täters, nicht als be-
lästigend wahrgenommen und teilweise nicht als Street Harassment erkannt. Diesen Aspekt hät-
ten wir in den Interviews durch die Frage „Siehst du Street Harassment auch als Kompliment?“
thematisieren können.
In dem vorherigen Kapitel beschriebene Umstände wie Uhrzeit oder Ort haben oftmals einen Ein-
fluss auf die ausgelösten Emotionen und die angewandten Gegenstrategien der Frauen*. Letztere
stehen ebenfalls in einer Wechselwirkung zueinander.
10.3 Subjektive Wahrnehmung der Häufigkeit und Veränderung der Nutzung des
öffentlichen Raumes
Eine weitere Frage, die an die Betroffenen gestellt wurde, bezieht sich auf die Häufigkeit mit der
Street Harassment erlebt wird. Ziel der Fragestellung war es herauszufinden, mit welcher Fre-
quenz das Erleben von Belästigung im öffentlichen Raum wahrgenommen wird. In weiterer Folge
wollten wir wissen, ob und wie die Nutzung des öffentlichen Raumes beeinflusst wird.
Die Befragten 7 und 9 meinen, im Monat durchschnittlich zwei bis drei Mal mit Street Harassment
konfrontiert, jedoch oft unaufmerksam zu sein und Belästigungen nicht immer wahrzunehmen
(vgl. I1, Z. 478-482). Auch B5 wird zwei bis drei Mal pro Monat im öffentlichen Raum belästigt,
berichtet allerdings, nonverbale Formen in der Stadt aufgrund der vielen Menschen nicht direkt
auf sich zu beziehen (vgl. I1, Z. 469-472).
Laut B2 hängt die Häufigkeit mit der sie Street Harassment erlebt von der Uhrzeit und davon ab,
wie häufig sie ausgeht und öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Besonders nonverbale Formen ver-
drängt die Befragte oftmals lieber, als diese diskriminierend zu deuten, weshalb ihr die Einschät-
zung wie oft sie belästigt wird schwer fällt (vgl. I3, Z. 158-162). Mehrere Betroffene hingegen be-
richten, Street Harassment unter Hinzuziehung der nonverbalen Formen mehrmals pro Woche zu
erleben (vgl. I1, Z. 462-477). Im Gegensatz dazu meint B1, nie mit Street Harassment konfrontiert
zu sein. Da sie hauptsächlich von behindertenfeindlichen Kommentaren und Blicken berichtet (vgl.
I2, Z. 71-92), nimmt sie diese möglicherweise nicht als Street Harassment wahr oder blendet sie
53
aus. Die von ihr genannten Formen fallen jedoch unserer Definition zufolge unter Belästigung im
öffentlichen Raum.
Im Allgemeinen unterscheiden sich die Aussagen der befragten Frauen* voneinander, von mehr-
mals wöchentlich bis dahin nie Belästigungen zu erfahren. Besonders nonverbale Formen werden
scheinbar öfter erlebt, jedoch auch häufig nicht bemerkt oder bewusst ausgeblendet. Wie schon
im Unterkapitel „Rahmenbedingungen“ veranschaulicht, hängt die Frequenz mit der Street Ha-
rassment erlebt wird zudem mit dort genannten Faktoren wie der Uhrzeit und dem Ort zusammen.
Bei der Frage nach der Veränderung der Nutzung des öffentlichen Raums unterscheiden sich die
Einschätzungen der befragten Frauen*. B6 und B1 meinen, ihre Erfahrungen mit Street Harass-
ment haben nichts oder nur wenig an ihrer Nutzung des öffentlichen Raumes verändert (vgl. I1,
Z. 504-505; I2, Z. 121-122). Auch B4 und B8 geben an, sich nicht in ihrer Nutzung eingeschränkt
zu fühlen, allerdings hat sich ihre Wahrnehmung verändert, was zu vermehrter Aufmerksamkeit
im öffentlichen Raum führt (vgl. I1, Z. 485-498).
Die Befragten sehen die Wahrnehmung und die Einschränkung der Nutzung getrennt voneinan-
der, jedoch beeinflussen sich diese gegenseitig, da eine veränderte Wahrnehmung zu einer un-
bewussten Umstellung des Verhaltens führt. Durch die erhöhte Aufmerksamkeit achten die be-
fragten Frauen* vermehrt auf die Umgebung, sind konzentrierter und vorsichtiger (vgl. I1, Z. 485-
503).
B7 erzählt, trotz ihrer negativen Erfahrungen, Orte an denen Street Harassment wahrscheinlich
ist nicht zu meiden. Jedoch wird ihr Verhalten dahingehend beeinflusst, dass Vermeidungsstrate-
gien, wie das Beobachten der Umgebung eingesetzt werden (vgl. I1, Z. 518-527). Betroffene 9
möchte sich nicht einschränken lassen, empfindet jedoch vermehrt Angst im öffentlichen Raum
(vgl. I1, Z. 530-532). Eine weitere Betroffene hebt hervor, sich in der Stadt uneingeschränkter zu
fühlen als am Land, nichtsdestotrotz bemerkt sie auch dort eine leichte Veränderung ihres Ver-
haltens (vgl. I1, Z. 541-547). Hingegen spricht B2 von einer deutlichen Einschränkung der Nut-
zung. Die Betroffene erzählt, sich viele Gedanken über ihre Kleidung zu machen und auch be-
wusst weniger reizvoll anzuziehen (vgl. I3, Z. 183-190).
Auffallend war, dass ein Großteil der befragten Frauen* angab, wenig bis keine Einschränkungen
in der Nutzung des öffentlichen Raumes zu erleben. Die meisten Betroffenen sind der Meinung,
keine oder kaum Änderungen zu erfahren, allerdings beschreiben sie, sich mehr Gedanken zu
machen und aufmerksamer zu sein. Bei allen ist das Bewusstsein einer potentiellen Gefahr im
öffentlichen Raum belästigt zu werden vorhanden. Die betroffenen Frauen* geben Großteils an,
54
sich nicht einschränken lassen zu wollen, jedoch ist anhand der Interviews bemerkbar, dass es
dennoch häufig zu einer unbewussten Änderung kommt. Das Nachdenken über eine mögliche
Belästigung wird von uns bereits als Einschränkung gesehen.
Zudem kann ein Zusammenhang mit den Kapiteln „Rahmenbedingungen“ und „Emotionen“ er-
kannt werden. Die Angst als Grundemotion ändert aus unserer Sicht das Verhalten in Bezug auf
die Nutzung des öffentlichen Raumes, auch wenn diese unbewusste Veränderung nicht er-
wünscht ist. All dies führt zu der Annahme, dass die stetige Alarmbereitschaft so gegenwärtig
geworden ist, wodurch sie als Normalität angesehen wird.
11. Erfahrungen in Bezug auf Intersektionalität
Bei der empirischen Forschung stellte die Intersektionalität einen wichtigen Aspekt dar, weshalb
versucht wurde, eine heterogene Gruppe an Frauen* zu interviewen. Das Ziel dabei war, ein mög-
lichst umfangreiches Bild von Street Harassment zu erhalten sowie die unterschiedlichen Erfah-
rungen von verschiedenen Frauen* zu inkludieren. Folgendes Kapitel stellt diese in den Mittel-
punkt.
Es ist uns zuvor ein Anliegen zu betonen, dass unsere Forschung aufgrund ihrer überschaubaren
Größe Limitationen ausgesetzt ist. Aus diesem Grund wird bei folgenden Unterkapiteln von den
subjektiven Empfindungen und Erfahrungen einzelner betroffenen Frauen* erzählt. Somit sollen
die folgenden Aussagen nicht als absolut oder als für die gesamte Kategorie sprechend angese-
hen werden, da sie von Einzelpersonen getätigt wurden. Intersektionalität und der oft damit ein-
hergehenden Diskriminierungen wie Rassismus, Ableismus oder Homofeindlichkeit fallen laut Te-
mel, wie bereits in der Theorie erläutert, auch unter Street Harassment (vgl. Temel 2017: 35).
11.1.1 Race
Wie bereits in Kapitel 4 thematisiert, werden Women* of Colour nicht nur aufgrund ihres Ge-
schlechts, sondern auch hinsichtlich weiterer Merkmale, wie beispielsweise der Hautfarbe diskri-
miniert. Dies wird auch von einer Expertin so erlebt: „Wirklich blöd ist es, wenn sich verschiedene
[Anm. Merkmale überschneiden], weil ich da gerade den Fall von einer Schwarzen Studentin lese.
Die wird diskriminiert, weil sie eine Frau* und weil sie Schwarz ist. Das wird dann oft sehr uner-
träglich“ (I4, Z. 325-327). Dabei kommt es zu Überschneidungen und Wechselwirkungen von Dis-
kriminierungsmerkmalen, wobei nicht immer differenziert werden kann, aufgrund welchem Faktor
Women* of Colour Street Harassment erleben. Anschaulich spiegeln die Aussagen von B2 die
55
Schwierigkeit wider, bei non-verbalen Situationen zu unterscheiden, ob es sich um eine Diskrimi-
nierung handelt oder nicht:
„Du sitzt jetzt in einer U-Bahn, und neben dir ist ein Platz frei, aber keiner will sich dann
dazusetzen. Und dann fragt man sich: Okay gut, ist es jetzt aus rassistischen Gründen
oder weil sie keinen Bock haben zu sitzen? Dementsprechend sind nonverbale Zeichen
dann so weit interpretierbar, sodass du entweder diskriminiert wirst oder eben nicht. Und
das weiß man dann nie” (I3, Z. 76-80).
Generell ist auffallend, dass die befragten Expertinnen sowie die Betroffene von vielen unter-
schiedlichen Formen der Belästigung sprechen, mit denen Women* of Colour konfrontiert werden.
Expertin 2 berichtet von Klientinnen, welche aufgrund verschiedener Merkmale wie Hautfarbe,
Akzent oder Name von Belästigung betroffen sind. Sie stellt fest, dass Akzent oder Name im öf-
fentlichen Raum nicht relevant sind. Hingegen macht eine nicht Weiße Hautfarbe Personen um
ein Vielfaches vulnerabler, da es sich um ein sofort sichtbares Merkmal handelt (vgl. I5, Z. 81-86).
In der Fachliteratur wird zusätzlich argumentiert, dass Frauen* welche offensichtlich von der
„Norm“ abweichen, häufiger mit Belästigung im öffentlichen Raum konfrontiert werden (vgl. Kearl
2010: 46). Die befragte Schwarze Frau* erzählt von ihren Erfahrungen diesbezüglich: „Wenn es
um Rassismus geht, dass dich dann Leute auf der Straße beschimpfen oder dir schlechte Dinge
hinterherrufen. Also dementsprechend gibt es bei mir dann viele Facetten, wie man da jetzt öf-
fentlich geharassed werden kann“ (I3, Z. 30-33). Des Weiteren sind Women* of Colour Diskrimi-
nierungen ausgesetzt, mit welchen sonst keine Gruppierung von Frauen* konfrontiert wird. Als
Beispiel nennt B2 folgende eindrückliche Situation:
„Zum Beispiel habe ich einmal auf den Bus gewartet, das war in Leopoldau. Und ich bin
einfach nur gesessen und hab gelesen. Plötzlich fährt da ein Auto vorbei und da, keine
Ahnung, zwei Typen, also zwei Jugendliche schreien da einfach Neger raus. Ich denk mir
so wow, cool. Da weiß man, da kann man dann auch nicht mehr [...] darauf reagieren, weil
die einfach dann weitergefahren sind und ja. Das war es dann auch schon wieder. Aber
dann sitzt man alleine damit“ (I3, Z. 64-69).
Bei manchen als schwerwiegend erlebte Diskriminierungserfahrungen oder Formen von Street
Harassment nehmen die Opfer die Schuld auf sich und überlegen, was mit ihnen nicht stimmt.
Dazu erläutert Expertin 1 einen konkreten Fall, bei dem eine Schwarze Frau* zu ihr in die Orga-
nisation gekommen ist, da sie innerhalb einer kurzen Zeitspanne drei sexuellen Belästigungen
ausgesetzt war. Daraufhin suchte die Klientin nach Aspekten, die sie falsch gemacht haben
56
könnte (vgl. I4, Z. 327-329). Die Expertin meint dazu: „Ich glaube, das Gefühl hat man schnell
einmal, dass man einen Fehler gemacht hat, dass man was falsch gemacht hat. Und da geht es
auch irgendwie darum ein Stück zu relativieren. Dass das in der Regel nichts mit der konkreten
Person zu tun hat“ (I4, Z. 329-332).
Ansonsten berichtet die Befragte 2 auch von häufiger Konfrontation mit Stereotypen, die mit der
Hautfarbe einhergehen. Beispielsweise wird von der Annahme berichtet, die Landessprache nicht
zu beherrschen sowie nur an Men of Colour sexuell interessiert zu sein (vgl. I3, Z. 95-100; Z. 121-
124). Dadurch ist erkennbar, dass Women* of Colour aufgrund ihrer Diversitätsmerkmale benach-
teiligt, beziehungsweise anders behandelt werden. Abschließend macht noch eine weitere Erfah-
rung von B3 darauf aufmerksam:
„Ja beim Fortgehen ist [...] mir aufgefallen, dass die Typen mich anders behandeln als die,
die nicht Schwarz sind. Wo es etwas länger gebraucht hat um herauszukristallisieren, was
da jetzt eigentlich anders ist. Und zwar ist es so, dass man öfter das Gefühl hat, dass die
Typen das als eine Mutprobe sehen einen anzusprechen. Oder wenn sie’s dann schaffen
mit dir ein gescheites Gespräch zu führen, dann bist du eher so ein Pokal, so ‚Oh mein
Gott, ich hab mit einer Schwarzen geredet‘ oder ‚Ich hab’s geschafft mit der zu flirten‘ [...]
oder eine Liste abhakt, welche exotischen Dinge man jetzt erlebt hat“ (I3, Z. 110-119).
11.1.2 Religion
Bei unserer empirischen Forschung berichtet eine Expertin von mehreren Vorfällen der Belästi-
gung aufgrund vom Christentum abweichenden Religionen, weshalb es uns ein Anliegen ist, dazu
ein eigenes Unterkapitel zu verfassen. In dem geführten Interview mit der Expertin von ZARA wird
in Bezug auf Religion und Street Harassment fast ausschließlich von Kopftuchträgerinnen und
deren Erfahrungen berichtet. Sie spricht dabei von einer „klassischen Mehrfachdiskriminierung“
(I5, Z. 79). Die Expertin erzählt, dass sich immer wieder Frauen* mit Kopftuch aufgrund von Be-
lästigungen, Beschimpfungen und körperlichen Übergriffen an ZARA wenden (vgl. I5, Z. 60-64).
Diese Fälle sind deshalb so häufig, „weil das sowas Offensichtliches ist, wo man ja gar nicht vorher
ins Gespräch kommen muss, sondern das ist was, was man sofort sieht“ (I5, Z. 68-69). Somit
fallen in einer christlich geprägten Gesellschaft Musliminnen durch ihr Kopftuch schneller auf. Da
diese Personen sichtlich oft Diskriminierungen erfahren, deutet dies auf eine Anti-Muslimische
Einstellung innerhalb der westlichen Bevölkerung hin. Als Beispielfälle erwähnt die Expertin fol-
gende Situationen: „Körperliche Übergriffe, Beleidigung wegen Kopftuch in der Straßenbahn,
Kopftuch in TV-Diskussion als Symbol des Bösen bezeichnen, etc.“ (I5, Z. 358-360). Während
57
des Interviews erläutert E2 ebenso einen häufigen Zusammenhang zwischen Religion und Ras-
sismus (vgl. I5, Z. 100-106).
In einer kurzen Aussage der Expertin wird die Diskriminierung von jüdischen Frauen* durch „Heil-
Hitler Rufe“ oder Beschimpfungen erwähnt (vgl. I5, Z. 364-365). Es wird jedoch von den interview-
ten Betroffenen und Expertinnen nicht näher darüber berichtet. Allgemein wurden in den Inter-
views nur der Islam sowie das Judentum thematisiert, weshalb nicht auf weitere Religionen ein-
gegangen wird.
11.1.3 Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung
Um über das Konzept der Heteronormativität hinauszugehen, haben wir eine homosexuelle Frau*
und eine Transfrau* im Rahmen unserer Gruppendiskussion interviewt. Die befragte homosexu-
elle Frau* ist ohne Erwähnung ihrer sexuellen Orientierung auf ihre Erfahrungen als Frau* einge-
gangen. Wir schließen daraus, dass einerseits eventuell keine, beziehungsweise wenig intersek-
tionale Erfahrungen diesbezüglich bestehen. Dies ist dann der Fall, wenn die von der Heteronor-
mativität abweichende Sexualität nicht in der Öffentlichkeit gezeigt wird, da es sich um ein un-
sichtbares Merkmal handelt, das nicht gleich erkannt wird. Andererseits könnte das Setting der
Gruppendiskussion nicht passend gewesen sein, um über Erfahrungen in Bezug auf Intersektio-
nalität zu sprechen, da hauptsächlich Cis-Frauen anwesend waren. Auch B9 spricht hauptsächlich
von ihren Erfahrungen als Frau*, berichtet jedoch auch von transphoben Vorfällen:
„Und dann gab es noch transmisogene Vorfälle. Also speziell frauenfeindlich gegenüber
Transfrauen. Dass ich irgendwie angesprochen wurde [...], also so ganz intime Fragen, ob
ich operiert bin so Sachen. Oder ob ich noch einen Penis habe, oder so. Oder ob ich
eigentlich ein Mann oder eine Frau bin. So Sachen habe ich auch erlebt“ (I1, Z. 207-211).
Dieses Beispiel steht im Gegensatz zu Kearls Aussage, bei transphoben Formen von Belästigung
handle es sich häufig um aggressive Vorfälle (vgl. Kearl 2010: 57). Jedoch deckt sich die Erfah-
rung von B9 mit der Annahme, dass Frauen* mit einer LTBQ6 Identität zusätzliche Handlungen
von Street Harassment erleben (vgl. Kearl 2010: 54f.).
6 Lesbian-Trans-Bisexual-Queer
58
11.1.4 Frauen* mit körperlichen Behinderungen
Da es sehr wenig Forschung über das Erleben von Belästigung im öffentlichen Raum von Frauen*
mit Behinderungen gibt, war es für uns von Relevanz diese Perspektive sichtbar zu machen.
Im Interview mit der Expertin 1 kam hervor, dass vor allem vulnerable Personengruppen, wie äl-
tere Frauen* oder Frauen* mit Behinderungen von Street Harassment betroffen sind (vgl. I4, Z.
65-69). Köbsell erläutert, vor allem Frauen* mit Behinderungen seien Blicken und Fragen bezüg-
lich ihrer Beeinträchtigung ausgesetzt (vgl. Köbsell 2010: 24). Laut Kearl erleben Frauen* mit Be-
einträchtigung Street Harassment durch behindertenfeindliche Kommentare sowie durch bewuss-
tes Ignorieren ihrer Sexualität (vgl. Kearl 2010: 60f.). Im Interview mit einer Betroffenen bestätigte
sich diese Annahme, da B1 von folgender Erfahrung berichtet: „Ich bin damals von der Schule
nach Hause gelaufen und sie haben mich blöd angeredet: Ich laufe komisch, ich bin nicht normal
und dann haben sie angefangen mich hin und her zu schubsen und mir die Schultasche vom Leib
zu reißen“ (I2, Z. 34-36). Die Konfrontation mit verbaler Belästigung wird von B1 auch in unter-
schiedlichen Settings erlebt: „Da hatte ich einmal eine Situation in der Diskothek, da ist eine Frau*
zu mir gekommen die hat zu mir gesagt, wenn sie so laufen würde wie ich, dann würde sie zu
Hause bleiben“ (I2, Z. 150-152).
Auf die Frage, ob sie sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum erfahren hat, antwortet sie: „We-
niger eigentlich. Also eigentlich gar nie irgendwas“ (I2, Z. 199). Dies deutet darauf hin, dass die
Sexualität von Frauen* mit Behinderungen im Hintergrund steht und diese häufig auf ihre körper-
liche Beeinträchtigung reduziert werden. Laut Köbsell wird Behinderung im Allgemeinen mit ne-
gativen Attributen wie Abnormität, Abhängigkeit und Unattraktivität verbunden (vgl. Köbsell 2010:
18). Dadurch werden Frauen* mit Beeinträchtigung eventuell nicht als sexuelle Wesen gesehen.
Hinzu kommt folgendes: „Liegt eine Beeinträchtigung vor, wird das Merkmal „behindert“ so domi-
nant, dass Geschlecht oftmals kaum oder keine Berücksichtigung findet“ (Köbsell 2010: 20). Es
lässt sich daraus schließen, dass Frauen* mit einer Behinderung nicht nur ihre Sexualität, sondern
auch das Geschlecht und ihre Weiblichkeit teilweise abgesprochen werden (vgl. Köbsell 2010:
20f.).
B1 erzählt, schon mit jungen Jahren ihre ersten Konfrontationen mit Street Harassment erlebt zu
haben, wobei sie sich daraufhin häufig versteckte, weinte und danach mit ihren Eltern darüber
redete (vgl. I2, Z. 128-130). Zum heutigen Zeitpunkt verwendet die befragte Betroffene bei Kon-
frontation mit Street Harassment häufig das Ignorieren der Blicke oder Kommentare sowie das
Aufklären des Gegenübers über ihre Behinderung als Gegenstrategien (vgl. I2, Z. 130; Z. 152-
155; Z. 274-278). B1 erklärt, auf die Frage wie sie diesen Umgang erlernt hat, folgendes:
59
„Ich glaube, das kommt mit der Zeit, dass du einfach wenn etwas ständig da ist, dass du
es einfach wegschaltest. Dass dir das am Anfang auffällt, okay die schauen jetzt alle ko-
misch. Wenn sie aber immer alle komisch schauen, dann schaltet man das automatisch
aus, aber es hat jetzt keinen Wendepunkt irgendwo gegeben, dass ich gesagt habe, okay,
ab dem Zeitpunkt fange ich das jetzt an zu ignorieren. Das war einfach so automatisch
irgendwann." (I2, Z. 260-265)
Eine weitere Erkenntnis, welche aus dem geführten Interview gezogen werden kann, ist die Ab-
weichung des Täterbildes bei Frauen* mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die Befragte räumt
ein, von jüngeren Personen und Jugendlichen häufig unangenehme Blicke zugeworfen zu bekom-
men (vgl. I2, Z. 58-60). Parallel dazu geht die Belästigung von Frauen* wie auch von Männern*
aus. B1 meint, keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern erkennen zu können, was auch
bei ihren berichteten Erfahrungen deutlich wird (vgl. I2, Z. 250f). Aufgrund dessen lässt sich dar-
aus schließen, dass auch das Alter der Täter stark variiert:
„Einmal gab es einen Vorfall mit einer älteren Dame. Die hat mich angeredet, warum ich nicht
in einem Rollstuhl bin, sondern laufe. Dann habe ich gesagt ‚Ja, weil ich laufen kann und dann
ist das für mich besser‘. Und dann hat sie gemeint ‚Ja es schaut aber komisch aus‘. Dann war
das für mich so: ‚Okay ich möchte Respekt von der Person haben‘, aber es ist mir schon
schwer gefallen, irgendwie Respekt vor ihr zu haben, wenn kein Respekt zurückkommt und
sie mich blöd anredet“ (I2, Z. 44-52).
60
12. Strategien der Betroffenen
Eine der Hauptfragen, welche anhand unserer Forschung beantwortet werden soll, ist wie die
betroffenen Frauen* auf Street Harassment reagieren oder handeln (können). Aus diesem Grund
wird im folgenden Kapitel auf die unterschiedlichen Formen von Gegenstrategien eingegangen,
wobei zwischen drei Bereichen differenziert wird: konfrontative Methoden, Vermeidungsstrategien
und Möglichkeiten, weitere Personen miteinzubeziehen. Wie bereits im Theorieteil erläutert, sollen
die Frauen* durch die genannten Strategien gestärkt werden und Möglichkeiten finden, um im
Falle einer Belästigung auf unterschiedliche Arten handeln zu können.
12.1 Konfrontationsstrategien
Es gibt verschiedene Wege, wie Betroffene reagieren können, wenn sie auf Street Harassment
stoßen, unter anderem die Konfrontation mit dem Täter. Konfrontationsstrategien sind Handlun-
gen, welche aktiv in der Belästigungssituation eingesetzt werden können. Aus der empirischen
Forschung geht hervor, dass der Großteil dieser Methoden verbal ausgeführt wird. Das bedeutet,
die Frauen* sprechen den Täter direkt an, wobei die Reaktionen sehr unterschiedlich sein können.
Es gibt Betroffene, die bewusst ruhig bleiben und versuchen, den Mann* sachlich auf die Tat
anzusprechen (vgl. I1, Z. 577-579; Z. 603-608; Z. 628-681). Interviewpartnerin B1 gibt an, in Situ-
ationen in welchen sie aufgrund ihrer körperlichen Behinderung belästigt wird, den oder die Tä-
ter*in wenn möglich darauf anzusprechen und ihm*ihr ihre Situation zu erklären. Dadurch erhofft
sie sich, der oder die Täter*in unterlassen diesbezügliche zukünftige Handlungen (vgl. I2, Z. 271-
278).
Die Betroffenen sprechen hingegen davon, dass es nicht immer möglich ist, ruhig zu bleiben. Den
Interviewpartnerinnen zufolge ist es manchmal besser lauter zu werden (vgl. I1, Z. 654-672). B4
sagt dazu: „Wenn man sich immer noch sehr unwohl oder sogar bedrängt fühlt, dann sollte man
auch wirklich lauter werden und seinen Standpunkt klar machen“ (I1, Z. 666-668). Jedoch merkt
B6 an, wie schwierig es sein kann, in einer Situation in welcher sich die Frau* unwohl fühlt, die
Stimme zu erheben (vgl. I1, Z. 895-898). Obwohl Street Harassment bei den befragten Frauen*
hauptsächlich negative Gefühle hervorruft, versuchen die Frauen* dennoch höflich und nicht ag-
gressiv darauf zu reagieren (I1, Z. 577-579; Z. 603-607; Z. 628-630). Hierbei kann eine Verknüp-
fung zur Genderkonstruktion im Theorieteil hergestellt werden. Eine Hypothese diesbezüglich
wäre, dass es Frauen* schwer fällt lautstark auf Street Harassment zu reagieren, zumal sie bereits
in der Kindheit erlernt haben, sich in der Öffentlichkeit ruhig zu verhalten. Nur eine der Befragten
berichtet davon, sich körperlich gegen eine Belästigung gewehrt zu haben. In ihrem Fall hat sie
61
dem Täter, der ihr auf den Po gegriffen hat, in die Seite geboxt (vgl. I3, Z. 212-216). E2 empfiehlt
körperliches Wehren zu vermeiden, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten (vgl. I5, Z.
271-273). Im Theoriekapitel „Allgemeine Empfehlungen hinsichtlich Reaktionen auf Street Ha-
rassment“ wird ebenfalls von Gewalt in Form von physischen Angriffen und Wutausbrüchen als
Handlungen abgeraten.
Als wichtiger Teil der Reaktion wird empfunden, ein selbstbewusstes Auftreten zu zeigen und klar
zu machen: „Ich bin jetzt hier und lass mich nicht vertreiben“ (I1, Z. 630). Eine Aussage die B6
einsetzt, ist dem Täter zu sagen „Du überschreitest meine Grenzen, ich mag das nicht und bitte
geh!“ (I1, Z. 568). Diese Strategie deckt sich mit der von Holly Kearl bereits im Theorieteil näher
erläuterten A-B-C-Aussage, in welcher die Betroffene bei A klar macht, was das Problem ist, bei
B die Auswirkungen davon erläutert und bei C sagt, was sie gerne möchte (vgl. Kearl 2010: 156).
Beim Ansprechen des Täters ist es laut Expertin wichtig, den Mann* zu siezen. Durch das Duzen
könnte bei Außenstehenden der Eindruck erweckt werden, es handle sich um einen privaten
Streit, wodurch ein Nicht-Einschreiten Dritter die Folge sein könnte (vgl. I4, Z. 272-279).
Auch ein lautes „Nein!“ oder den Täter darauf aufmerksam zu machen, wie er es finden würde,
wenn selbige Situation seiner Freundin oder Schwester passiert, werden als überzeugende Aus-
sagen erachtet (vgl. I1, Z. 577-579; I3, Z. 246-250). Manche Frauen* antworten mit einem kurzen
Kommentar, andere suchen das Gespräch mit dem Mann*, um ihn über sein belästigendes Han-
deln aufzuklären (vgl. I1, Z. 407-411; I2, Z. 134-136). Laut B2 wäre es für ihr Gewissen oft besser
eine Diskussion anzufangen. Dies kostet jedoch viel Zeit und der Täter reagiert dennoch oft ver-
ständnislos (vgl. I3, 236-244). Die Aussichtslosigkeit in Kombination mit fehlendem Verständnis
sind Gründe, warum es schwer sein kann Mut gegen Street Harassment aufzubringen. Allerdings
stellt eine der Expertinnen fest, dass es nicht immer die Aufgabe der Betroffenen ist, dem Täter
das Falsche an seiner Handlung klar zu machen. Das Wichtigste sollte sein, sich nicht in Gefahr
zu begeben (vgl. I5, Z. 259-263). Denn lässt sich eine betroffene Frau* in eine Diskussion verwi-
ckeln, kann es durchaus sein, dass ein bereits aggressiver Täter noch gewaltbereiter wird (vgl. I5,
Z. 268-270). Diese Erkenntnisse decken sich mit der theoretischen Recherche.
Kommt es zu einer Belästigung, so sind es die Frauen* selbst, die trotz der ausgelösten Emotio-
nen abschätzen müssen, welche Reaktion angemessen ist (vgl. I1, Z. 407-411; Z. 448-451; Z.
670-681). Es ist möglich, dass der Mann* aggressiv wird, sobald sich die Betroffene zur Wehr
setzt. Somit erhält die Frau* die unfreiwillige Aufgabe „auf ruhige Art und Weise meinen Stand-
punkt klar zu machen, so dass ich die Person nicht reize“ (I1, Z. 621-622). Dadurch wird der
62
Betroffenen, für eine Situation welche sie nicht selber ausgelöst hat, eine große Verantwortung
übertragen. Befragte B2 drückt die dabei ausgelöste Unsicherheit folgendermaßen aus:
„Und es ist ziemlich schwierig in dieser Situation gerecht zu reagieren. Also es ist schwie-
rig, da muss man immer vorsichtig sein, was echt bescheuert ist, weil man sich dann fra-
gen muss ‚Okay gut, werde ich jetzt nein sagen und der beginnt weiter mit mir zu reden?
Oder werde ich ihn komplett ignorieren und vielleicht könnte er aggressiver werden? Oder
er geht‘. Das ist schwierig. Es gibt viele verschiedene Arten wie der dann reagieren könnte“
(I3, Z. 207-212).
Zusätzlich hängt die Wahl der Strategie auch von der Form der Belästigung und der Tagesverfas-
sung der Betroffenen ab (vgl. I1, Z. 441-443).
Eine andere Möglichkeit der Konfrontation ist die nonverbale Reaktion. Von den Befragten werden
solche Handlungsschritte als sinnvoll bezeichnet, wenn es sich um Anstarren als Belästigungs-
form handelt. Die Gegenstrategie der Betroffenen ist in solchen Fällen vor allem das provokante
Zurück-Starren (I1, Z. 109-113; Z. 438-441). Es ist unklar ob es in jeder Situation zweckmäßig ist
nonverbal zu reagieren.
Abschließend ist zu erwähnen, dass es für die Frau* nicht immer möglich ist zu handeln, selbst
wenn sie gerne möchte. Beispielsweise gibt es keine Chance auf eine Konfrontation, sollte sie
von einem vorbeifahrenden Auto aus belästigt werden (vgl. I3, Z. 66-68, Z. 195-198).
12.2 Vermeidung von Street Harassment
Auch wenn klar gesagt werden muss, dass die Verantwortung für Street Harassment nicht bei den
Betroffenen liegt, überlegen sich die Frauen* dennoch oftmals schon im Vorhinein, wie sie solche
Situationen vermeiden können. Hierfür gibt es zahlreiche unterschiedliche Strategien.
Eine davon ist der Versuch Selbstsicherheit auszustrahlen (vgl. I1, Z. 493-508; Z. 527-529). „Ich
mache meine Schultern breit und versuche so selbstbewusst wie möglich auszusehen und setze
mein Bitch-Face auf“ (I1, Z. 495-496). Ebenso versuchen die Betroffenen die Umgebung aufmerk-
sam wahrzunehmen (I1, Z. 527-529) und alles im Blick zu haben, beziehungsweise Menschen in
der Nähe zu finden, zu welchen sie sich falls notwendig dazu stellen können (vgl. I1, Z. 521-524).
Eine weitere Möglichkeit ist es, nicht alleine, sondern in Gesellschaft nach Hause zu gehen, be-
ziehungsweise zu vermeiden, sehr spät in der Nacht alleine unterwegs zu sein (vgl. I1, Z. 327-
63
329). Letztere Strategie bedeutet jedoch eine gewisse Einschränkung der persönlichen Freihei-
ten.
Um sich vor allem auf körperliche Übergriffe vorzubereiten, wurde das Absolvieren eines Selbst-
verteidigungskurses genannt. Dabei schildern die Befragten, dass es sinnvoll ist, Situationen aus-
probieren zu können und Handlungsschritte zu üben. Beispielsweise lernen Teilnehmerinnen laut
loszuschreien oder sich körperlich zur Wehr zu setzen (vgl. I1, Z. 889-918). Dies löst bei den
Frauen* ein Sicherheitsgefühl aus, noch bevor es zu einer Belästigung kommt. Auch die Expertin
rät zu einer solchen Art der Vorbereitung (vgl. I4, Z. 343-353).
Oftmals benötigen Betroffene einfach nur den Rückhalt, jemandem Bescheid geben zu können,
falls sie in eine unangenehme Situation geraten. Um jederzeit anrufen zu können hält B9 ihr Handy
bereit und hat eine App installiert, mit welcher sie andere Menschen in der Umgebung alarmieren
kann (vgl. I1, Z. 532-538). Im Vergleich dazu berichtet B7, dass sie immer einen Pfefferspray mit
sich trägt (vgl. I1, Z. 524-526). Von der Expertin E1 wird aber klar davon abgeraten, einen Pfef-
ferspray oder gar Waffen wie Messer zur Verteidigung mit sich zu führen, da sie gegen einen
selbst verwendet werden können. Sie empfiehlt hingegen akustische Warnsignale in Form von
Handtaschenalarmen oder Pfeifen. Beim Einsetzen des Signals kann die Schrecksekunde beim
Täter genutzt werden, um davon zu laufen und sich in Sicherheit zu bringen, oder um andere
Menschen auf die Situation aufmerksam zu machen (vgl. I4, Z. 148-166; Z. 270-298).
Aus diesen Aussagen geht klar heraus, wie viele Gedanken sich Frauen* über ihr Verhalten im
öffentlichen Raum machen müssen, um sich sicher zu fühlen und eine Belästigung zu vermeiden.
Dies zeigt die Präsenz von Street Harassment in den Köpfen der Frauen*. Wie in der Theorie
erwähnt, wird schon jungen Mädchen, im Gegenteil zu Jungen, eingeprägt, dass sie Gefahren im
öffentlichen Raum ausgesetzt sind.
Sollte es dennoch zu einer Belästigung kommen, gibt es neben den genannten Konfrontations-
strategien auch andere Reaktionen, mit welchen die Betroffenen versuchen dem Täter aus dem
Weg zu gehen. Wenn B2 aufgrund ihrer körperlichen Behinderung belästigt wird, blendet sie die
Handlungen oft aus (vgl. I2, Z. 130-142). Es kann sinnvoll sein eine Belästigung zu ignorieren,
wenn mit dem Täter keine Konversation begonnen werden möchte (vgl. I3, Z. 206). Denn manch-
mal wird Street Harassment dahingehend ausgenutzt, um ins Gespräch zu kommen, obwohl die
Betroffene dies nicht möchte (vgl. I3, 202-206).
Die Situation zu verlassen oder die Handlung zu unterbrechen sind weitere Strategien, um den
Kontakt zu einem (potenziellen) Täter zu vermeiden (vgl. I1, Z. 651-653; I5, Z. 263-287). Dies
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kann allerdings für die Betroffene sehr unbefriedigend sein, da sie nicht nur belästigt, sondern
auch von ihrem momentan selbst gewählten Aufenthaltsort vertrieben wird. Vor allem in Verkehrs-
mitteln wird es als mühsam empfunden auszusteigen, um einer Belästigung zu entgehen. Befragte
4 berichtet von einer Situation in der U-Bahn, in welcher sie verfolgt wurde:
„Ich habe mich weggesetzt und er ist mir nachgegangen […]. Und ja, im Prinzip hat es
nichts gebracht, dass ich mich da verscheuchen hab lassen oder immer weggegangen
bin, weil er ist sowieso nachgegangen. Aber irgendwie hat es mich persönlich nicht so
wütend gemacht, als wäre ich ausgestiegen“ (I1, Z. 643-653).
Anhand diesem Beispiel kann erkannt werden, dass die gewählte Gegenstrategie einen großen
Einfluss auf die ausgelösten Emotionen hat.
12.3 Einbezug Dritter in die Situation
Oftmals sind Frauen* nicht alleine, wenn es zu Street Harassment kommt. Aus diesem Grund ist
es eine Möglichkeit, das Umfeld miteinzubeziehen und sich Unterstützung zu holen. In dem die
Betroffenen andere Leute um Hilfe bitten oder sich zu ihnen dazustellen kann dies beispielsweise
erreicht werden. Dabei ist es wichtig, umstehende Personen direkt und gezielt anzusprechen,
damit sich diese wirklich verantwortlich fühlen einzuschreiten (vgl. I1, Z. 920-23; I3, Z. 252-261;
I4, Z. 174-177). Beide Expertinnen weisen darauf hin, wie wichtig es ist, andere Menschen mit-
einzubeziehen und sich Hilfe zu suchen sobald es die Situation erlaubt (vgl. I4, Z. 169-170; Z.
296-298; I5, Z. 266-274).
Eine andere Alternative wäre, sich in ein Gebäude in dem sich Menschen befinden zu begeben,
beispielsweise in ein Geschäft. So kann sichergestellt werden, dass Leute in der Umgebung sind.
B3 nennt die Möglichkeit, sich im Notfall vor einen Bankomaten zu stellen, um aus der darin ent-
haltenen Kamera Beweisvideos ziehen zu können (vgl. I1, Z. 934-940).
Sind Frauen* alleine unterwegs, so können andere Personen durch Telefonieren hinzugezogen
werden. „Dass ich zumindest weiß, eine andere Person bekommt es irgendwie mit, die ich gut
kenne und weiß, wo ich bin“ (I1, Z. 942-943). Es gibt auch Betroffene, welche ihren Freunden per
Nachricht Bescheid geben, wenn sie gut zuhause angekommen sind (vgl. I1, Z. 945-947).
Ebenso gibt es nach einer Belästigung die Möglichkeit, Dritte miteinzubeziehen, beispielsweise
indem eine Anzeige bei der Polizei erstattet wird. Laut Befragten hängt dies jedoch davon ab,
65
welche Form von Street Harassment die Frau* erlebt hat. Vor allem bei körperlichen Belästigun-
gen wird Anzeige erstattet (vgl. I1, Z. 443-448; I2, Z. 143-145). In den öffentlichen Verkehrsmitteln
besteht darüber hinaus die Möglichkeit, sich an den*die Fahrer*in zu wenden oder beim jeweiligen
Verkehrsunternehmen eine Beschwerde einzureichen (vgl. I4, Z. 125-128). Ebenso gibt es in den
U-Bahnen und Stationen Sicherheitsinseln, durch welche mit Angestellten der Verkehrsmittel Kon-
takt aufgenommen werden kann (vgl. I4, Z. 272-279). Für eine Meldung an Autoritätspersonen ist
es oftmals hilfreich, Beweise wie beispielsweise Fotos von der Tat zu sammeln (vgl. I5, Z. 282-
283).
Zusätzlich kann ein Gespräch mit anderen Menschen für die Betroffene entlastend wirken (vgl. I2,
Z. 84-85; Z. 143-145). Auch die Expertin merkt die positiven Effekte dessen an, sich mit dem
Umfeld auszutauschen und über die Geschehnisse zu sprechen (vgl. I4, Z. 144-145). Demnach
gibt es seitens der Betroffenen unterschiedliche Motive für den Einbezug Dritter, wie zum Beispiel
die Sanktionierung des Täters oder das Führen eines Gespräches.
Unabhängig davon für welche Gegenstrategie sich die Frau* entscheidet, ist es das Wichtigste
sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Darauf macht die Expertin wiederholt aufmerksam (vgl. I5,
Z. 259-263; Z. 286-287).
12.4 Wünsche der Betroffenen
Einige der Befragten geben an, gerne anders handeln zu wollen, wenn sie das nächste Mal be-
lästigt werden. Beispielsweise wäre eine der Frauen* gerne etwas schlagfertiger, gleichzeitig hat
sie aber auch Angst, dadurch den Täter auf sich aufmerksam zu machen und ihn somit zu provo-
zieren (vgl. I1, Z. 592-600). Dieser Zwiespalt löst in den Betroffenen große Spannungen aus, da
sie im Nachhinein bereuen, nicht reagiert zu haben. Jedoch ist es wichtig darauf hinzuweisen,
dass es ein legitimer Grund ist, auf die eigene Sicherheit zu achten und keine Handlung oder eine
vermeidende Strategie zu setzen.
Weitere Wünsche der Frauen* sind ein selbstbewussteres Auftreten, es zu schaffen die Täter
tatsächlich auf ihr inkorrektes Handeln anzusprechen und eine Welt ohne Street Harassment (vgl.
I1, Z. 556-563; I3, Z. 236-244). B5 zeigt auf, wie belastend es für sie ist, wenn es ihr nicht gelingt
wie gewünscht zu handeln: „Ich würde es mich einfach generell gerne trauen etwas zu sagen und
nicht irgendwie in diesem Zustand sein, in dem ich das Gefühl habe ‚Ich bin gar nicht da‘“ (I1, Z.
580-581).
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Anhand der genannten Wünsche ist sichtbar, wie machtlos sich viele der Frauen* fühlen, wenn
sie belästigt werden. Zudem zeigen diese auf, wie die Betroffenen die Fehler an sich suchen. Oft
glauben sie, nicht selbstbewusst genug zu sein und möchten das nächste Mal anders reagieren.
Wichtig ist hierbei den Frauen* klar zu machen, dass sie keine Verantwortung tragen und jegliche
Reaktion oder Nicht-Reaktion in Ordnung ist.
Bereits in diesem Kapitel wird ersichtlich, wie vielfältig die möglichen Handlungsschritte sind. Ei-
nerseits kann die Bandbreite an Möglichkeiten, um zu reagieren erkannt werden, andererseits
unterstreicht es die hohe Anzahl an verschiedenen Formen von Belästigungen, worauf unter-
schiedliche Handlungsschritte folgen. Viele der in den Interviews genannten Methoden finden sich
im Theoriekapitel der Gegenstrategien wieder. Zusätzlich sind die Reaktionen von Frau* zu Frau*
unterschiedlich und unter anderem von der Persönlichkeit sowie den bereits gemachten Erfah-
rungen mit Street Harassment abhängig.
67
13. Reaktionen des Umfelds vor und nach Street Harassment
Obwohl in den von uns gestalteten Leitfäden nicht nach dem Einbezug Dritter gefragt wurde, spielt
die Reaktion des Umfelds in den Interviews eine große Rolle. Die Ergebnisse zeigen, dass Per-
sonen, welche Street Harassment beobachten oder sich in der Umgebung befinden, einen erheb-
lichen Einfluss auf die Situation vor und nach der Handlung sowie auf die bei den Betroffenen
ausgelösten Emotionen haben.
Die befragten Frauen* schildern oft ihre Verzweiflung, sobald Zuschauer*innen sexuelle Belästi-
gung im öffentlichen Raum ignorieren anstatt einzuschreiten. E2 nennt das Nicht-Handeln des
Umfelds neben der eigentlichen Konfrontation mit Street Harassment die ‚zweite Verletzung‘ (vgl.
I4, Z. 170-174). Einige der Interviewpartnerinnen berichten davon, nur selten Unterstützung erlebt
zu haben. Für die Betroffenen wirkt es, als würde sich niemand dafür zuständig fühlen, zumal
ihnen im Großteil der dargelegten Fälle keine Hilfe durch Dritte widerfuhr (vgl. I1, Z. 220-221; Z.
291-292; I3, Z. 224-258). Betroffene 2 erzählt hierbei von einer Situation, in welcher sie in der U-
Bahn von einer Gruppe Männer* belästigt wurde, aber niemand einschritt um ihr zu helfen:
„Die haben einfach nichts gemacht. Sie haben zwar bemerkt, dass ich mich da unwohl
fühle. Dass ich da vielleicht verfolgt werden könnte. Dass diese Typen vielleicht was von
mir haben wollen. Aber die haben nichts gemacht. […] Und da hat man sich hald ziemlich
alleine gefühlt, obwohl man von vielen Menschen umgeben war” (I3, Z. 54-60).
Demgemäß wird in unserem Theorieteil darauf aufmerksam gemacht, dass Personen im Umfeld
darüber informiert werden sollen, wie sie auf sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum adäquat
reagieren können (vgl. Kearl 2010: 140f.). Bei unserer theoretischen Forschung sind wir jedoch
kaum auf konkrete Vorschläge gestoßen, inwieweit Beobachter*innen die Chance haben in die
Situation einzuschreiten. Dabei gibt es für Dritte verschiedene Möglichkeiten, Betroffene bei Street
Harassment zu unterstützen oder die Situation im besten Fall sogar zu beenden, wobei Expertin
2 diesbezüglich von vielfältigen Handlungsoptionen berichtet. Zum einen ist es möglich, die be-
lästigte Person direkt anzusprechen: „Ich kann zum Beispiel zu ihr hingehen und sie in ein Ge-
spräch verwickeln oder nach dem Weg fragen” (I5, Z. 221-222). Auf der anderen Seite sieht E2
auch paradoxe Interventionen als hilfreich, beispielsweise das Vortäuschen eines epileptischen
Anfalls oder lautes Singen mitten in der Straßenbahn. Dies soll dazu führen, den Täter abzulenken
und dadurch der belästigten Person die Chance zu geben, den Moment zu nutzen um aus der
Situation zu fliehen (vgl. I5, Z. 204-221). Dabei erläutert E2 das Einschreiten von Street Harass-
ment folgendermaßen:
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„Der erste Schritt ist einmal, zu schauen was passiert. […] Und dann ist der zweite Schritt,
eine Situation als eine Situation des Übergriffes überhaupt zu erkennen. […] Dazu muss
ich mir bewusst sein: ‚Was bedeutet Gewalt für mich?‘ […] Und dann ist der dritte Schritt
zu handeln und sich zu überlegen, welche Handlungsoptionen es gibt” (I5, Z.181-191).
Obgleich appelliert Expertin 2 sich bei Zivilcourage nicht selber in Gefahr zu bringen. Ihr zufolge
ist es als Beobachter*in ebenso eine Option Hilfe zu holen, indem konkret weitere Unbeteiligte für
eine gemeinsame Unterstützung angesprochen werden, wobei etwaige Zivilpersonen oder auch
Autoritäten wie der*die Straßenbahnfahrer*in in Frage kommen können. Zudem haben Dritte je-
derzeit die Möglichkeit, die Polizei zu kontaktieren (vgl. I5, Z. 195-229; Z. 339).
Um für eine mögliche Anzeige nach der sexuellen Belästigung Beweise zu sammeln, können Un-
beteiligte in der Umgebung auch Fotos von der Situation machen. Zwar dürfen diese nicht veröf-
fentlicht werden, jedoch obliegt es der Polizei sie zu verwenden, um den Vorfall aufzuklären (vgl.
I5, Z. 229-233). Darüber hinaus empfiehlt E2, nach dem beobachteten Geschehen zu der Be-
troffenen zu gehen, anzubieten die Kontaktdaten auszutauschen und sich im Falle einer Anzeige
als Zeug*in zur Verfügung zu stellen (vgl. I5, Z. 234-236). Dabei ist jedoch darauf zu achten,
keinen Druck auf das Gegenüber auszuüben. Betroffene werden oftmals dazu angehalten zur
Prävention und Entgegenwirkung für Street Harassment eine Anzeige aufzugeben. Jede von
Street Harassment betroffene Frau* darf dies selber entscheiden (vgl. I4, 304-318). Dabei sind
nicht die Frauen* für die Verhinderung von Street Harassment zuständig, denn „die Verantwortung
liegt ausschließlich beim Aggressor. Der ist dafür verantwortlich was er tut und der ist auch dafür
verantwortlich, dass er das nicht mehr tut” (I4, Z. 308-310).
Nichtsdestotrotz wird die Schuld häufig den von Street Harassment betroffenen Frauen* zuge-
schrieben. Dies bezieht sich nicht nur auf Personen, welche während des Vorfalls anwesend wa-
ren, sondern auch auf Dritte, die von der Situation erzählt bekommen. Die Erlebnisse werden vom
Umfeld verharmlost und teilweise als Normalität angesehen (vgl. I1, Z. 847-849). Betroffene 8
meint hierzu, dass Außenstehende den Grund für Street Harassment häufig in der Kleidung se-
hen:
„Ich finde das so schlimm, wenn man den Frauen die Schuld daran gibt, dass sie belästigt
werden, wenn sie zum Beispiel Kleider an haben oder kurze Röcke. Dass man behauptet,
sie würden das herausfordern, das finde ich auch total schlimm, weil das doch jeder Frau
selber überlassen ist. Und wenn man im Sommer ein Kleid an hat, dann sollte man nicht
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das Gefühl haben, dass man es provoziert angesprochen zu werden. Das macht man ein-
fach, weil es einem gefällt und man sich vielleicht gerne schön anzieht” (vgl. I1, Z. 774-
782).
Betroffene 2 berichtet von einem Vorfall, bei welchem ihr ein Mann* auf den Po gegriffen hat. Sie
erzählte ihren Eltern davon, wobei sich diese auf die getragene enge Jogginghose fokussierten.
Von der schuldzuweisenden und unerwarteten Reaktion war die Betroffene verletzt (vgl. I3, Z.
137-145). Zudem war die Befragte schon häufiger mit Street Harassment konfrontiert, wobei sie
in solchen Situationen nur selten Unterstützung erfuhr:
„Und dann versuchen dich die Leute rundherum zu beruhigen, anstatt zu verteidigen. Weil
‚du bist ja eh selber schuld, du hast ja einen Rock an.‘ Oder: ‚Dein Hintern ist schön und
groß und deswegen solltest du was anderes anziehen‘ - und das war’s. Und das ist sehr
anstrengend, weil es eher Victim-Blaming ist, anstatt zu sagen: ‚Das war falsch von dem‘”
(I3, Z. 130-134).
Den Forschungsergebnissen zufolge, hat jede*r Zuschauer*in die Wahl, die Betroffene zu unter-
stützen oder anzuklagen. Auch Holly Kearl betont die Wichtigkeit, Frauen* deren Schuldlosigkeit
vor Augen zu führen (vgl. Kearl 2010: 149). Zusammenfassend führt das Nicht-Reagieren vom
Umfeld zu Frust und Unverständnis der Betroffenen. Somit kann die Situation durch das Einmi-
schen Außenstehende*r auf der einen Seite beispielsweise durch Zeug*innenaussagen verbes-
sert, durch Victim Blaming allerdings auch verschlechtert werden. Wird die Schuld dem Opfer
zugeschrieben, so kommt es zu einer Verstärkung der Emotionen der belästigten Frauen*.
70
14. Gesellschaftliche Einflüsse in Bezug auf Street Harassment
Bei unserer Forschung wurde ein beträchtlicher Einfluss von Recht und Politik, Erziehung und
Bildung sowie von den Medien bemerkbar. Betroffene wie auch Expertinnen teilen ihre Meinung,
inwiefern Street Harassment durch gesellschaftliche Aspekte ausgelöst oder gefördert wird. Dabei
bieten unsere Interviewpartnerinnen auch konkrete Vorschläge, um diesbezüglich Veränderungen
zu ermöglichen.
14.1 Rechtliche und politische Einflüsse
Rechtliche sowie politische Maßnahmen und Ansichten haben einen erheblichen Einfluss auf das
Denken und Handeln einer Gesellschaft. Dementsprechend haben diese Aspekte auch die Macht,
in Bezug auf sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum einiges zu bewirken und zu ändern.
Ebenso liegt es in den Händen der Politik, Ängste zu schüren oder aber diese zu nehmen (vgl. I5,
Z. 324-328). Hierbei machen einige unserer Interviewpartnerinnen auf die Überzahl männlicher
Mitglieder im Parlament aufmerksam sowie auf deren Einstellung zu Street Harassment, laut wel-
cher die Thematik verharmlost, toleriert oder sogar befürwortet wird. Die Befragten sind der Mei-
nung, dass solches Verhalten in der Politik nicht akzeptiert werden dürfe und dementsprechend
Konsequenzen gezogen werden müssten (vgl. I1, Z. 839-845).
Um sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum als Straftat zu deklarieren, wünscht sich eine der
Befragten Frauen* diese im Gesetz näher zu definieren: „Es müsste sich auch einfach gesetzlich
noch mehr ändern. Dass noch einmal klargestellt wird: ‚Ohne Zustimmung geht gar nix‘” (I1, Z.
756-758). Hinsichtlich dessen spricht Expertin 2 von Vorfällen, in welchen auf rechtlicher Ebene
kaum dagegen angekämpft werden kann (vgl. I5, Z. 126-129). Bezüglich ihrer Erfahrung, ist im
Falle eines nicht identifizierten Täters eine Anzeige auf Unbekannt oftmals aussichtslos. Demge-
mäß vertritt sie die Meinung, es sei nicht „immer der richtigere oder sinnvollere Weg, strengere
Gesetze zu machen, um mehr verurteilen zu können” (I5, Z. 313-314). Sofern es keine Zeug*innen
oder andere handfesten Anzeichen gibt, sind Delikte in Hinblick auf Street Harassment zudem oft
nicht nachweisbar (vgl. I1, Z. 819-823). Im Kapitel ‚Allgemeine Regelungen‘ machen wir darauf
aufmerksam, dass theoretisch verbale, non-verbale sowie tätliche Angriffe strafrechtlich verfolgt
werden können. In unserer Forschung wird jedoch erkenntlich, dass die Macht der Anzeigenauf-
nahme zu einem großen Teil bei den Beamt*innen und Polizist*innen liegt. Häufig fühlen sich
diese jedoch nicht dafür zuständig, oder aber sie weisen das dafür notwendige Wissen nicht vor
(vgl. I5, Z. 304-313).
71
Demzufolge können die vom Gesetz vorgegebenen Richtlinien nur etwas bewirken, wenn Poli-
zist*innen eine adäquate Ausbildung erlangen, an die Thematik betreffenden Schulungen teilneh-
men, Street Harassment ernst nehmen und daraus resultierende Anzeigen richtig handhaben (vgl.
I1, Z. 823-838). Darüber hinaus decken sich die Forschungsergebnisse mit unserer Conclusio im
Kapitel ‚Mängel der rechtlichen Regelungen‘: Das Rechtssystem in Österreich benötigt eine Wei-
terentwicklung und detailliertere Definitionen, um sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum ver-
hindern und strafrechtlich verfolgen zu können. Holly Kearl unterbreitet diesbezüglich den Vor-
schlag, alle Handlungen die unter den Begriff Street Harassment fallen, gesetzlich zu verbieten
(vgl. Kearl 2010: 190).
14.2 Bildung und Erziehung
Um zur Prävention von Street Harassment beizutragen, ist es ein wesentlicher Punkt, bei der
Erziehung wie auch bei der Bildung anzusetzen. Einige der Interviewpartnerinnen wünschen sich
vor allem eine Veränderung in Hinblick auf Geschlechterzuschreibungen, welche schon früh in
der Kindheit beginnen. Laut B5 fangen diese zwar klein und harmlos zum Beispiel durch Spielzeug
an, haben jedoch einen großen Einfluss auf zukünftige Verhaltensweisen. Bekommt ein Junge
zwar zuerst nur einen Truck geschenkt, so wird ihm der Betroffenen 5 zufolge oft schon als nächs-
tes gesagt, keinen Schmerz spüren zu dürfen (vgl. I1, Z. 687-692). Ebenfalls heben die Ergeb-
nisse der Theorierecherche den Einfluss der Erziehung hervor, da Männer* schon in der Kindheit
lernen, stark und rau sein zu müssen (vgl. Prykhodko 2008: 45). „Wenn man aufhört das anzuer-
ziehen, dann hört auch ‚Boys will be boys‘ auf. Dann gibt es vielleicht mehr Verständnis dafür,
dass viele Verhaltensweisen die als klassisch maskulin angesehen werden, auch verletzend und
unfair sind” (I1, Z. 692-696).
In Zusammenhang dazu hat B7 das Gefühl, vor allem junge Männer* hätten ein Problem mit ihrer
männlichen Identität. Darum ist es ihr wichtig, sich auf deren Gefühle zu konzentrieren und zum
Beispiel durch Komplimente das respektvolle Miteinander zu stärken, anstatt klischeehafte mas-
kuline Eigenschaften zu fördern (vgl. I1, Z. 702-711). Um dies zu wandeln wird in der Theorie
empfohlen, Männern* einen anderen Zugang zu ihrer Männlichkeit zu bieten, um sich nicht vor
sich selbst wie auch vor anderen in ihrer Heterosexualität beweisen zu müssen (vgl. Kearl 2010:
133f.). Dabei ist die Änderung der Ansichten jedoch nicht nur an Männer*, sondern auch an
Frauen* gerichtet (vgl. I1, Z. 716-728).
72
Darüber hinaus wird es bei Jungen eher toleriert, beweglicher und aktiver zu sein, wohingegen
Mädchen tendenziell dazu erzogen werden, sich ruhiger und unscheinbarer zu verhalten. Dem-
nach kann es Frauen* schwerer fallen, sich bei Street Harassment lautstark zu verteidigen (vgl.
I1, Z. 899-906). Die Antworten der Interviewpartnerinnen decken sich hierbei mit den Ansichten
von Prykhodko, welche erwähnt, dass dem Weiblichen das Brave und das Feinfühlige von früher
Kindheit an zugesprochen wird (vgl. Prykhodko 2008: 45).
Auch die Sexualisierung des weiblichen Körpers trägt zu einem ungleichen Rollenbild bei. B9
nennt hierbei beispielsweise das Zeigen des nackten Oberkörpers in der Öffentlichkeit, welches
bei Männern* toleriert, bei Frauen* hingegen tabuisiert ist. Dabei wird von einer weiteren Betroffe-
nen hervorgehoben, dass sexistische und stereotypische Darstellungen in nahezu allen Bereichen
des Lebens präsent sind, sogar in der Sprache (vgl. I1, Z. 804-818).
Das Aufheben von Geschlechterzuschreibungen wäre demnach ein Teil eines Schrittes, die pat-
riarchale Gesellschaftsordnung aufzulösen. Um eine Gleichberechtigung zu schaffen, muss mehr
Aufklärung stattfinden, denn je früher die Problematik behandelt wird, desto mehr erlangt sie an
Wichtigkeit. Da Street Harassment bisher wenig thematisiert wurde, herrscht in diesem Bereich
viel Unwissenheit. Aus diesem Grund ist es laut den befragten Frauen* ebenso eine Aufgabe von
Bildungseinrichtungen, über sexuelle Belästigung aufzuklären und eine gleichberechtigte Erzie-
hung zu fördern (vgl. I1, Z. 699-729).
Expertin 1 vertritt hierbei folgende Meinung:
„Ich glaube es ist wichtig, dass Frauen und Mädchen bereit sind, diesen öffentlichen Raum
auch einzunehmen und ein Stück zu verteidigen. Aber letztlich muss es bei den Männern
und Burschen passieren. Dass die Lernen, sich ordentlich zu benehmen und Frauen keine
Angst zu machen” (I4, Z. 353-357).
14.3 Medien und deren Auswirkungen
Medien sind eine Möglichkeit, zur Prävention und dem Entgegenwirken von Street Harassment
beizutragen, da diese einen erheblichen Einfluss auf die Persönlichkeits- und Bewusstseinsbil-
dung haben.
In unserem Theorieteil wird dargelegt, dass Frauen* von jeglichen Medien auf unterschiedliche
Arten sexualisiert werden (vgl. APA 2007: 4f.). Bei unserer empirischen Forschung meint Be-
troffene 4 hierzu: „Gerade bei sexueller Belästigung sind die Medien irrsinnig sexualisiert. Dass
73
vor allem Frauen einfach bei vielen Sachen nur noch als Sexobjekt gelten. Und dass dort verherr-
licht wird, dass sie ein Sexsymbol oder Sexobjekt sind!” (I1, Z. 741-744). Dabei sprechen die
Befragten mehrfach von der Musikszene, wobei die Belästigung an Frauen* oftmals in beispiels-
weise Songtexten erscheint und in der westlichen Gesellschaft sogar im positiven Sinne themati-
siert wird. Auch in Musikvideos wird die Sexualisierung des weiblichen Körpers sowie Street Ha-
rassment, darunter genannt Nachpfeifen oder auf den Po greifen, oft verharmlost oder idealisiert
(vgl. I1, Z. 729-751). Die Pornographie wird ebenfalls zu einem Thema der Gruppendiskussion,
zumal diese den Betroffenen zufolge medial ein frauenverachtendes Bild vertritt. Betroffene 3 ver-
anschaulicht hierbei, dass Pornos ein unnatürliches Sexualleben präsentieren (vgl. I1, Z. 767-
772).
Zusammenfassend lässt sich daraus schließen, dass Medien sexualisierte Werte und Geschlech-
terrollen reproduzieren und damit eine frauenverachtende Haltung gefördert wird. Frauen* werden
nicht nur auf ihr Äußeres reduziert, sondern es wird auch ein realitätsfernes Bild von ihnen ge-
schaffen. Dies wird ebenfalls in dem Kapitel “Öffentliche Medien” thematisiert. Koch zufolge ist es
wichtig, die Rolle der Frau* in den Medien zu reformieren und folglich deren Bild zu stärken (vgl.
2. Grundlagen der Struktur- und Methodengeschichte der Bewährungshilfe in Österreich von 1911 bis heute ............................................................................................ 2
2.1 Vorgeschichte der Bewährungshilfe und Anfänge der Schutzaufsicht .......................... 2
2.2 Fürsorgearbeit im Rahmen der Schutzaufsicht in Österreich im Zeitraum von 1911 bis 1936 .................................................................................................................................. 4
2.3 Der Zeitraum von 1936 bis 1947 .................................................................................. 7
2.4 Von der Schutzaufsicht zur heutigen Bewährungshilfe ................................................. 8
3. Grundlagen der Bewährungshilfe in Österreich ...........................................................13
3.1 Gesetzliche Grundlage der Bewährungshilfe ..............................................................13
3.2 Ziele & Rationalitäten der Bewährungshilfe .................................................................14
3.3 Durchführung der Bewährungshilfe – Der Verein NEUSTART ....................................15
4.2 Vorteile ehrenamtlicher Bewährungshilfe aus Sicht der Klient*innen bzw. der professionellen Sozialarbeit ..............................................................................................23
4.3 Zivilgesellschaftliche und ökonomie- bzw. demokratie-politische Vorteile ehrenamtlichen Engagements ..........................................................................................25
4.4 Persönliche Vorteile eins Ehrenamtes .........................................................................26
4.5 Diskurs über die bestehende Einbindung und die Perspektiven ehrenamtlicher Bewährungshilfearbeit ......................................................................................................27
phische und werkbezogene Einblicke. Werkausgabe Ilse Arlt. Band
3. Wien: LIT Verlag.
Simon, Maria Dorothea (2004): Von der Fürsorge zur Sozialarbeit. Vor-
trag in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 2. Oktober
2004.
Wotawa, Elisabeth (1929): Brief vom 1. März 1929 an den Deutschen
Verband der Sozialbeamtinnen in Berlin, gezeichnet Elisabeth Wo-
tawa, Schriftführerin der Fürsorgerinnen Niederösterreichs, Krems
an der Donau. Archiv des IFSW in Rheinfelden bei Basel, Schweiz.
Empowerment und Soziale Arbeit im österreichischen Assistenzhundewesen
Betroffene durch Kooperation stärken
Bachelorarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Bachelor of Arts in Social Sciences
der
Fachhochschule Campus Wien
Bachelorstudiengang Soziale Arbeit
Vorgelegt von:
Lisa Maxime Schmitzberger
Personenkennzeichen: 1610533087
Begutachter/in:
FH-Prof.in Gabriele Kronberger, MA
Abgabetermin: 12.02.2019
1
Erklärung:
Ich erkläre, dass die vorliegende Bachelorarbeit von mir selbst verfasst wurde und ich keine
anderen als die angeführten Behelfe verwendet beziehungsweise ich mich auch sonst keiner
unerlaubten Hilfe bedient habe.
Ich versichere, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit bisher weder im In- noch im Ausland
(einer Beurteilerin/einem Beurteiler zur Begutachtung) in irgendeiner Form als Prüfungsarbeit
vorgelegt habe.
Datum: 12.02.2019 Unterschrift:
2
Abstract
Deutsch
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit Empowerment durch Soziale Arbeit sowohl in den Strukturen des Assistenzhundewesens als auch in der direkten Zusammenarbeit mit Betroffenen. Sie beschreibt dazu die gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie die positiven und negativen Aspekte der Assistenzhundehaltung und deren potentielle Auswirkungen auf Interventionen der Sozialen Arbeit. Es werden Möglichkeiten aufgezeigt, die Hunde der Klient*innen in die Soziale Arbeit miteinzubeziehen, wobei der Fokus auf dem Konzept des Empowerments zur Stärkung von Autonomie, Selbstständigkeit und Befähigung liegt. Daraus wird die These herausgearbeitet, dass die Soziale Arbeit durch die Ermöglichung der Assistenzhundehaltung für Menschen mit Behinderung auch deren Zugang zu den im Empowerment geforderten Möglichkeitsräumen für mehr Autonomie und Teilhabe im Alltag erleichtern kann und damit die Chancen ihrer Adressat*innen erhöht, ihr subjektives Wohlergehen selbstbestimmt zu verbessern und ein eigenverantwortliches Lebensmanagement umzusetzen.
English
Empowerment and Social Work in the Austrian Assistance Dog System. Strengthening Concerned Parties through Cooperation. The following bachelor thesis is focused on empowerment through social work in the structure of the Austrian assistance dog system and in interactions with concerned individuals. The thesis first describes legal frameworks, negative and positive aspects of assistance dog ownership and their potential impact on interventions, as well as possibilities to include client’s dogs into social work practice. In doing so, the emphasis of this work lies on the concept of empowerment to improve autonomy, self-determination and capability, concluding that social work, by enabling people with disabilities to have easier access to assistance dogs, will also increase their access to spaces of opportunity for autonomy and participation, as desired by the concept of empowerment and in turn will help to improve the chances of assistance dog handlers to enhance their subjective wellbeing and achieve more independent life management.
Die Sparte der Signalhunde beinhaltet mehrere unterschiedliche Ausbildungsbereiche, die
aufgrund ihrer Komplexität in den vorliegenden Gesetzestexten und Richtlinien bisher nicht
eindeutig abgegrenzt sind. Ursprünglich erfasste der Begriff des Signalhundes solche Tiere,
die „dazu beitragen, die Wahrnehmungsprobleme gehörloser Personen und von Menschen
mit schwerer Hörbehinderung auszugleichen“, und betraf somit nur Hunde, die speziell dazu
ausgebildet waren, ihren Halter*innen akustische Reize wie Türklingeln, Läuten des Telefons,
heranfahrende Autos oder weinende Säuglinge durch physische Berührung anzuzeigen.
Abgesehen von diesen Signalhunden für Menschen mit Hörbehinderung sind heute außerdem
Signalhunde für Menschen mit chronischen Erkrankungen (Diabetes) und für Menschen mit
Epilepsie und anderen neurologischen Erkrankungen in den Beurteilungsbögen der
Koordinierungsstelle explizit angeführt (vgl. §39a (6) BBG). In der Praxis werden darüber
hinaus auch Assistenzhunde für Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung,
Autismus oder anderen psychischen Erkrankungen in die Kategorie der Signalhunde
eingeordnet, obwohl sie in den vorgefertigten Richtlinien, Gesetzestexten und
Beurteilungsbögen nicht namentlich genannt sind. Unter §39a (6) BBG heißt es dazu:
„Als Signalhunde werden auch Hunde bezeichnet, die Menschen mit chronischen Erkrankungen bei damit verbundenen gefährdenden Zuständen unterstützen und Veränderungen des Stoffwechsels sowie der Körperhaltung, die auf eine bevorstehende gesundheitsgefährdende Situation hindeuten, frühzeitig wahrnehmen und anzeigen. Es handelt sich dabei insbesondere um Hunde, die speziell für Menschen mit Diabetes, Epilepsie oder einer anderen neurologischen Beeinträchtigung eingesetzt werden.“ (vgl. §39a (6) BBG)
Für Personen mit psychischen Beeinträchtigungen ist also hervorzuheben, dass es sich
gesetzlich eben insbesondere, aber keinesfalls ausschließlich um Signalhunde für die explizit
erwähnten Krankheitsbilder handelt, und daher Assistenzhunde für sonstige Erkrankungen,
sofern die betroffene Person die Grundvoraussetzungen zur Eintragung eines
Assistenzhundes erfüllt (siehe dazu Kapitel 2.3), scheinbar im Einzelfall mit der Prüf- und
Koordinierungsstelle abzusprechen sind. „Scheinbar“ deshalb, da zwar die Anforderungen für
Signalhunde bei Diabetes, Epilepsie und Hörbehinderung in den Beurteilungsbögen erläutert
und auf den Internetseiten der Koordinierungsstelle für Assistenzhunde am Messerli-Institut
abrufbar sind, sich zum gegebenen Zeitpunkt aber keine klaren Informationen zu den
Prüfungsmodalitäten und geforderten Aufgaben für Assistenzhunde von Menschen mit PTBS,
Autismus, Depressionen oder anderen chronischen beziehungsweise psychischen
9
Erkrankungen finden lassen. Auf persönliche Nachfrage weist Karl Weissenbacher, Leiter der
staatlichen Prüf- und Koordinierungsstelle für Assistenz- und Therapiebegleithunde, jedoch
darauf hin, dass sich diese Richtlinien derzeit in Überarbeitung befinden und in den genannten
Punkten mit Ergänzungen zu rechnen ist1.
2.1.4. Kombinationshunde
Für Menschen mit mehrfacher Behinderung können Assistenzhunde für Aufgaben aus
unterschiedlichen Bereichen ausgebildet werden, ihre Bezeichnung richtet sich nach jenem
Bereich, in dem ihre Hauptfunktion liegt (vgl. §39a (7) BBG). Auch in den Beurteilungsbögen
der Signalhunde sind Hunde für Menschen mit Mehrfachbehinderung genannt, deren
Hilfsleistungen vorab der Prüfstelle bekanntzugeben sind. Diese ist dazu berechtigt, weitere
als notwendig erachtete Kommandos zu definieren und in der Prüfungssituation einzufordern
(vgl. Prüfstelle Assistenzhunde 2015b). Details zu dieser Thematik sind aus den öffentlichen
Unterlagen nicht ersichtlich, weshalb für betroffene Personen wichtige Parameter wie etwa der
Zeitraum für das Erlernen nachträglich geforderter Kommandos oder mögliche Konsequenzen
bei Uneinigkeit bezüglich „notwendiger“ Handlungen des Assistenzhundes unklar bleiben.
2.2. Ausbildung und Zertifizierung des Hundes
Mit der Beurteilung von Assistenzhunden ist „eine Institution zu beauftragen, die eigene
wissenschaftliche Tätigkeit im Bereich Veterinärmedizin, Ethik in der Mensch-Tier-Beziehung
und Kognitionsforschung betreibt“ (vgl. §39a (10) BBG). Diesen Auftrag erfüllt seit Inkrafttreten
ebenjener Regelung die staatliche Prüf- und Koordinierungsstelle für Assistenzhunde am
Messerli-Institut der Veterinärmedizinischen Universität Wien.
Der Ablauf der Assistenzhundeprüfungen gliedert sich für den Hund in zwei
Beurteilungsverfahren. Zunächst absolviert der ausgebildete Assistenzhund mit dem*der
ausbildenden Trainer*in oder einer (behinderten) Vertrauensperson der Ausbildungsstätte
eine Qualitätsbeurteilung, in der allgemeine Anforderungen wie etwa das Sozial- und
Umweltverhalten, Grundgehorsam und die spezifisch geforderten Hilfeleistungen begutachtet
werden. Danach erfolgt die Übergabe an und Zusammenschulung mit dem*der zukünftigen
Halter*in.
Erst nach erfolgter Zusammenschulung und nach der positiv abgelegten theoretischen
Prüfung des*der Assistenzhundehalter*in, bzw. mit dem Nachweis des absolvierten
Mobilitätstrainings für Blindenführhundehalter*innen (vgl. BSVÖ 2018: 9ff.), treten die
Assistenzhundeführer*innen mit ihrem Assistenzhund zur Teambeurteilung an. Nach deren
1 Quelle: persönliches Gespräch mit Mag.med.vet. Karl Weissenbacher, Leiter der staatlichen Prüf- und Koordinierungsstelle Assistenzhunde, am 15.01.2019 in den Räumlichkeiten des Messerli-Instituts. www.vetmeduni.ac.at/de/assistenzhunde/
10
erfolgreichem Bestehen erfolgt die Eintragung in den Behindertenpass und damit die
Anerkennung als staatlich geprüfter Assistenzhund, mit sämtlichen damit verbundenen
rechtlichen und finanziellen Vergünstigungen (vgl. Prüfstelle Assistenzhunde 2019b).
Die Ausbildung von Assistenzhunden kann je nach persönlichen Ressourcen und Wünschen
in Fremd- oder Selbstausbildung stattfinden. Letzteres kommt allerdings nur für jene
Menschen in Frage, die trotz ihrer Behinderung auch mit einem noch nicht ausgebildeten Hund
gefahrlos den Alltag sowie das nötige Training bewältigen können, oder denen eine zweite
Person als Unterstützung zur Seite steht. Für Signalhunde von Diabetiker*innen und
Epileptiker*innen sowie für Personen mit PTBS werden von diversen Ausbildungsstätten
begleitete Ausbildungen angeboten, während für Blindenführhunde heutzutage grundsätzlich
die Fremdausbildung vorgesehen ist (vgl. Assistenzhunde Reithner 2019a).
Offizielle Informationen über Unterschiede in den Prüfungsmodalitäten, Kosten und Risiken
für Betroffene zur Thematik der bzw. Entscheidung zwischen Selbst- oder Fremdausbildung
gibt es nicht, bzw. nicht in leicht zugänglicher Form. Interessierte Personen sind auf
selbstständige Recherche bei den Anbieter*innen von Assistenzhunden und
Assistenzhundeausbildungen angewiesen. Klare Informationen diesbezüglich sind für
Betroffene insbesondere deshalb wünschenswert, da unterschiedliche Prüfungsmodalitäten,
damit verbundene Kosten und Finanzierungsmöglichkeiten, der Zeitaufwand sowie weitere
Faktoren für die individuelle Entscheidung zwischen Selbst- und Fremdausbildung bereits vor
der Anschaffung des Hundes zu berücksichtigen sind. Zudem gelingt es nicht allen
Anbieter*innen, in für Laien verständlicher Weise auf die geltende Rechtslage und die
entsprechenden Prüfungsmodalitäten hinzuweisen, was in extremen Fällen dazu führen kann,
dass als „fertige Assistenzhunde“ gekaufte Tiere keine Qualitätsprüfung vorweisen und somit
auch nachträglich nicht mehr zertifiziert werden können.
2.3. Anforderungen an die Assistenzhundehalter*innen
Nicht nur der zu prüfende Hund, sondern auch zukünftige Assistenzhundehalter*innen müssen
für den Antritt zur Teamprüfung gewisse Voraussetzungen erfüllen. Dies ist vorrangig der
Besitz eines österreichischen Behindertenpasses, in welchen der zertifizierte Assistenzhund
eingetragen wird, damit die nachfolgend beschriebenen rechtlichen und finanziellen
Begünstigungen genutzt werden können. Für im Ausland wohnhafte Personen, die keinen
österreichischen Behindertenpass besitzen, jedoch den Grad der Behinderung vergleichbar
nachweisen können, besteht die Möglichkeit, die Prüfung in Eigenfinanzierung abzulegen.
Eine offizielle Information durch das Messerli-Institut über diese Zulassungsvoraussetzungen
erfolgt zwar ausführlich, jedoch bis dato nur auf persönliche Nachfrage1.
11
Der österreichische Behindertenpass ist ein amtlicher Lichtbildausweis, der u.a. steuerliche
Begünstigungen mit sich bringt; Voraussetzungen zur Ausstellung sind der Wohnsitz bzw. der
gewöhnliche oder regelmäßige Aufenthalt in Österreich sowie eine Einstufung von mindestens
50% Grad der Behinderung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit. Außerdem wird der Bezug
von Pflegegeld, erhöhter Familienbeihilfe und einer Geldleistung aufgrund von Invalidität,
Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit gefordert. Der Antrag kann auch für Kinder mit
einer Behinderung gestellt werden und ist beim Sozialministeriumsservice einzubringen (vgl.
Gesundheit.gv.at 2019).
Zu beachten ist bei der Beantragung eines Assistenzhundes für Minderjährige, dass sich deren
Einstufung mit dem Erreichen der Volljährigkeit verändern kann. Wird dabei die 50% Grenze
unterschritten, so verliert die Person zwar das Recht auf den Behindertenpass, darf den
geprüften Assistenzhund jedoch bis an dessen Lebensende mit allen verbundenen Rechten
weiter führen. Dies betrifft insbesondere Jugendliche ab 16 Jahren, unterhalb dieser
Altersgrenze werden Kinder und Jugendliche aus rechtlichen Gründen ausschließlich als
Triade geprüft1.
Als Triade wird ein Assistenzhundeteam dann bezeichnet, wenn ein*e Prüfungskandidat*in
zwar den nötigen Prozentsatz für einen Behindertenpass erreicht, jedoch aufgrund des Alters
oder der Erkrankung nicht ausreichend geschäftsfähig oder nicht in der Lage ist, einen
Assistenzhund eigenständig zu führen und zu versorgen. In diesem Fall besteht die Option der
Ausbildung eines zusätzlichen menschlichen Teammitglieds (vgl. Rehadog 2019).
Abgesehen vom Besitz eines Behindertenpasses als Antrittsvoraussetzung für die
Assistenzhunde-Teamprüfung sollten interessierte Personen auch auf persönlicher Ebene für
die Haltung eines Hundes geeignet sein bzw. eine gewisse Affinität zu Hunden besitzen, um
mögliche Nachteile und Einschränkungen infolge des Zusammenlebens mit einem Haushund
(siehe dazu auch Kapitel 4.4) bewältigen zu können. Theoretisches Wissen zur Hundehaltung
wird vor der Teamprüfung in Rahmen einer theoretischen Prüfung am Messerli-Institut
beurteilt. Dazu erhalten Interessierte ein „Handbuch zur Vorbereitung auf die Prüfung für
Assistenzhundeführer [sic!]“, welches Informationen zu Pflege und Ausstattung, Sozial- und
Lernverhalten, Körpersprache, Stress und medizinischen Grundlagen enthält (vgl. Prüfstelle
Assistenzhunde 2019c). Diese persönliche Verantwortung gegenüber den tierischen
Assistent*innen wird auch in der Gesetzgebung explizit hervorgehoben (vgl. §39a (9) BBG).
Vor der Teamprüfung mit einem Blindenführhund ist zudem von blinden und sehbehinderten
Personen der Nachweis einer Mobilitätsschulung zu erbringen, welche beim
Sozialministeriumsservice rechtzeitig beantragt werden muss (vgl. BSVÖ 2018: 11).
12
2.4. Finanzierung und Sonderrechte von Assistenzhunden
Im folgenden Kapitel werden die mit der Zertifizierung und Eintragung verbundenen
Finanzierungsmöglichkeiten und Vergünstigungen in Bezug auf die Hundehaltung und
Zutrittsrechte von Assistenzhunden näher beschrieben, wobei diese ausdrücklich nur für
staatlich zertifizierte Hunde gelten.
2.4.1. Finanzierung
Ein ausgebildeter Assistenzhund kostet bis zu 38.000 Euro, informiert der Verein „Freunde der
Assistenzhunde Europas“ und merkt an, dass die Finanzierung im Einzelfall zu
unterschiedlichen Teilen von öffentlichen Stellen, Sponsor*innen, privaten Spender*innen und
den betroffenen Personen mit Behinderung übernommen wird (vgl. Reha-Dogs 2019b). Auch
der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich nennt als Kosten für einen qualitäts- und
teambeurteilten Blindenführhund etwa 30.000 Euro und beschreibt die Finanzierung als
problematisch (vgl. BSVÖ 2019).
Während sich für berufstätige Blinde und Sehbehinderte bis 2018 etwa 60 Prozent der
Anschaffungskosten aus dem Ausgleichstaxfonds des Sozialministeriumservice und die
übrigen Kosten durch Pensions- und Sozialversicherungsträger*innen finanzierten, besteht für
diese Leistungen kein Rechtsanspruch und sie stehen für nicht Erwerbstätige gar nicht erst
zur Verfügung (vgl. ebenda).
Für die Anschaffung von Service- und Signalhunden hat trotz der gesetzlichen Gleichstellung
gegenüber den Blindenführhunden seit 2015 in Bezug auf die Finanzierungsmöglichkeiten
keine adäquate Anpassung der Regelungen stattgefunden, sie können jedoch ab 01.01.2018
mit Geldern aus dem Ausgleichstaxfonds zumindest in einer Höhe von bis zu 10.000 Euro
subventioniert werden, jedoch ebenfalls nur, sofern sie zu Zwecken der Berufsausübung
benötigt werden (vgl. OÖZIV 2017). Dabei ist je nach Sparte und Ausbildungsform mit einem
Anschaffungspreis von 16.000 bis 26.000 Euro zu rechnen (vgl. z.B. Assistenzhunde Reithner
2019c, Partner-Hunde 2018), sodass betroffenen Halter*innen von Service- und Signalhunden
ein höherer Betrag zur Eigenfinanzierung offen bleibt, als für Besitzer*innen eines
Blindenführhundes. In Hinblick auf die Ungleichbehandlung Erwerbstätiger gegenüber Nicht-
Erwerbstätigen bezüglich der Finanzierung von Assistenzhunden verweist Karl
Weissenbacher auf die Notwendigkeit einer Verfassungsklage, um einen Präzedenzfall für die
gesetzliche Anpassung der bestehenden Regelungen schaffen zu können1.
Für den Kauf eines Hundes aus allen Sparten der Assistenzhunde kann daher zum aktuellen
Zeitpunkt bei einem Einkommen unter der angegebenen Einkommensgrenze oder von nicht
Erwerbstätigen lediglich eine Förderung aus dem Unterstützungsfonds für Menschen mit
Behinderung beantragt werden, was in jedem Fall vor der Anschaffung des Hundes zu erfolgen
13
hat und nicht rückwirkend geltend gemacht werden kann. Diese Zuwendung ist bundesweit
beim Sozialministeriumservice oder einem Träger der Rehabilitation zu beantragen und mit
6.000 Euro limitiert (vgl. Sozialministerium 2018c). Vom Sozialministeriumservice wird
außerdem auf unterschiedliche landesgesetzliche Förderungen sowie auf Zuschüsse von
Das österreichische Bundesbehindertengleichstellungsgesetz §7 sieht vor, dass positive
Maßnahmen „zur Herbeiführung der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen am Leben in der Gesellschaft […] nicht als Diskriminierung im Sinne dieses
Bundesgesetzes [gelten].“ In diesem Passus ist auch die Freistellung von Menschen mit
Assistenzhunden von vielerorts geltenden Regelungen betreffend der Hundehaltung
begründet, wie sie etwa ein generelles Hundeverbot oder auch die Maulkorb- und Leinenpflicht
wären, die den Assistenzhund in der Ausübung seiner Hilfstätigkeiten behindern würden (vgl.
Reha-Dogs 2019c).
Die Informationsbroschüre des Sozialministeriums und der Wirtschaftskammer Österreich „Die
Einstellung macht’s“ unterscheidet in diesem Zusammenhang mittelbare und unmittelbare
Diskriminierung. So wird von mittelbarer Diskriminierung gesprochen, wenn eine scheinbar
neutrale Vorschrift in der Praxis eine Diskriminierung darstellt, etwa in Allgemeinen
Geschäftsbedingungen, Beförderungsbedingungen oder Hausordnungen (vgl.
Sozialministerium 2015a).
Diese Definition mittelbarer Diskriminierung findet sich auch im Code of Conduct der FH-
Campus Wien, wo als Beispiel dafür sogar die Verweigerung der Mitnahme eines
Blindenführhundes genannt wird (vgl. FHCW Code of Conduct 2014: 19). Dennoch findet sich
in der ebenfalls aus dem Jahr 2014 stammenden Hausordnung selbiger Fachhochschule der
Wortlaut: „Die Mitnahme von Tieren (ausgenommen Blindenführhunde) ist nicht gestattet“ (vgl.
FHCW Hausordnung 2014: 2, Hervorhebung durch die Autorin). Mit dieser alleinigen
Ausnahme von Blindenführhunden anstelle von allen Arten der Assistenzhunde entspricht die
noch im September 2018 an Studierende der FH-Campus Wien elektronisch übermittelte
Hausordnung weder den Grundprinzipien des hauseigenen Code of Conduct, noch der
aktuellen gesetzlichen Gleichstellung von all jenen Personen, die auf einen Service- oder
Signalhund angewiesen sind2.
2 Während der Erstellung vorliegender Arbeit entstand im Januar 2019 eine aktualisierte, jedoch noch nicht veröffentlichte, Fassung der Hausordnung, in der das bestehende Hundeverbot gesetzeskonform angepasst wurde.
14
Klara Zösmayr, Sachverständige für Assistenzhunde und selbst Assistenzhundeführerin,
zitiert zu diesem Thema auf ihrer Internetpräsenz juristische Expert*innen des Klagsverbands:
„Assistenzhunde sind Hilfsmittel und sofern ein entsprechender Eintrag im Behindertenpass vorhanden ist, darf einer Person mit Assistenzhund der Einkauf inn [sic!] einem Lebensmittelgeschäft nicht wegen des Hundes untersagt werden. Wird der Zutritt dennoch mit dem Hinweis auf den Assistenzhund untersagt, so ist dies meines erachtens [sic!] eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund einer Behinderung.“ (vgl. Zösmayr 2019a).
So kann im Alltag aus der mittelbaren Diskriminierung einer Hausordnung schnell durch
Unwissenheit oder mangelnde Aktualisierung eine unmittelbare Diskriminierung von
Menschen mit Assistenzhunden entstehen, wenn sich beispielsweise Sicherheitspersonal
oder Portier*innen auf die in der Hausordnung genannten Regelungen berufen und Personen
mit Behinderung aufgrund des begleitenden Assistenzhundes den Zutritt verweigern (wollen).
Um Missverständnissen dieser Art entgegenzuwirken entwickelte die Wirtschaftskammer
Österreich den Aufkleber „Assistenzhund Willkommen“, welcher das offizielle Logo der
zertifizierten Assistenzhunde als visuelles Erkennungsmerkmal beinhaltet (siehe Abb. 1) und
kostenfrei per E-Mail bei der Wirtschaftskammer bestellt werden kann.
Abb. 1: „Assistenzhund Willkommen“
15
Besonders kontrovers ist der Zutritt von Assistenzhunden im medizinischen Bereich, da dieser
aus Hygienegründen meist verweigert wird bzw. verweigert wurde. Dazu verfasste jedoch der
Fachbereich Humanmedizin des Universitätsklinikums Benjamin Franklin in Berlin (Direktor:
Prof. Dr. med. H. Rüden) eine Studie über die tatsächlichen hygienischen Bedenken bei der
Mitnahme von Blindenführhunden in Krankenanstalten und kam aus wissenschaftlicher Sicht
zu dem Schluss, dass für all jene Bereiche zu denen allgemeines Publikum (z.B.
Besucher*innen) Zugang haben „in der Regel keine Einwände gegen die Mitnahme von
Blindenhunden in Praxis- und Krankenhausräume“ bestünden, solange die speziell
ausgebildeten Tiere gesund und gepflegt sind und dafür gesorgt wird, dass Fütterung und
Defäkation außerhalb des Krankenhausgeländes stattfinden (vgl. Zösmayr 2019b). In der
aktuellen Fassung des österreichischen Bundesgesetzes für Krankenanstalten und
Kuranstalten sind daher gemäß §6 (1) i) seit 24.2.2016 explizit jene Bereiche zu definieren, in
denen Assistenzhunde keinen Zutritt haben, wohingegen der Rest des Anstaltsgeländes den
Personen mit Assistenzhunden frei zugänglich sein muss.
16
3. Empowerment
Das nachfolgende Kapitel betrachtet zunächst die Definition und die darin implizierten
Aufgaben Sozialer Arbeit nach dem professionellen Verständnis in Österreich. Es wird daraus
die Verbindung zu Empowerment in der Sozialen Arbeit hergestellt und dieses in seinen
Grundzügen auf verschiedenen Ebenen der Anwendung und Interpretation theoretisch
erörtert. Praktische Anwendungsmöglichkeiten insbesondere in Verbindung mit dem
Assistenzhundewesen werden im fünften Kapitel behandelt.
3.1. Definition und Aufgabe der Sozialen Arbeit
Die International Federation of Social Workers (IFSW) bietet eine mögliche Definition Sozialer
Arbeit als Antwort auf die Frage nach dem grundlegenden Professionsverständnis (vgl. IFSW
2018). Trotz einer gewissen Uneinigkeit bezüglich der Übersetzungen und verwendeten
Fachbegriffe (vgl. OBDS 2017) stützt sich die vorliegende Arbeit daher auf folgenden, durch
den Deutschen Berufsverband der Sozialen Arbeit und den Deutschen Fachbereichstag
Soziale Arbeit (2016) erstellten und seitens des Österreichischen Berufsverbandes der
Sozialen Arbeit (OBDS) übernommenen Wortlaut:
„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein. Diese Definition kann auf nationaler und/oder regionaler Ebene weiter ausgeführt werden.“ (OBDS 2018, Hervorhebung durch die Autorin)
Hervorgehoben sind in dieser Definition die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung
sowie die Befähigung und Ermutigung von Menschen zur Bewältigung von Herausforderungen
und Verbesserung des Wohlergehens, da auf diese Aspekte in der Verbindung zum
Assistenzhundewesen als Ressource für Nutzer*innen Sozialer Arbeit im Verlauf des
folgenden Abschnittes näher eingegangen werden soll.
Die genannten Begriffe Autonomie, Selbstbestimmung und Befähigung lassen sich im Kontext
Sozialer Arbeit unter dem Schlagwort „Empowerment“ zusammenfassen, welches auch die
Steigerung des Wohlergehens impliziert. Als Empowerment wird also die „Stärkung von
Autonomie und Selbstbestimmung“ durch prozesshafte Entwicklungen verstanden, die
Menschen dazu befähigt, ein nach ihren eigenen Vorstellungen definiertes „besseres Leben“
17
zu führen (vgl. Herringer 2014: 13), und kann darüber hinaus auch als „Selbstbefähigung“
übersetzt werden (vgl. Theunissen 2013: 27).
Norbert Herringer beschreibt Empowerment als einen bedeutungsoffenen Begriff mit
unterschiedlichen, teils kontroversen Interpretationsmöglichkeiten und definiert mehrere
Zugänge, die für die Betrachtung im Kontext des Assistenzhundewesens für die Soziale Arbeit
von Bedeutung sind (vgl. Herringer 2014: 13f). Besonders die große Bandbreite an möglichen
Interpretationen und deren Verwendung in den Zielen der Sozialen Arbeit entgegengesetzten
Philosophien ist einer der Kritikpunkte, die in der Nutzung des Empowerment-Konzeptes
beachtet werden müssen (vgl. Glaser 2015: 31). Für die vorliegende Arbeit sollen daher drei
mögliche Zugänge genauer beschrieben und im fünften Kapitel in direkten Bezug zum
Assistenzhundewesen gesetzt werden. Dies ist:
1. Empowerment als Bestandteil des sozialarbeiterischen Professionsverständnisses,
2. (darauf aufbauend) Empowerment in einem lebensweltlichen Kontext der Zusammenarbeit
mit einzelnen Personen und
3. die politische Interpretation und Umsetzung von Empowerment auf der Makroebene
Sozialer Arbeit durch die Unterstützung von Gruppenbildung und politischem Engagement.
3.2.1. Empowerment als Professionsverständnis
In seinem Vorwort zur 5. Auflage beschreibt Herringer Empowerment als ein Konzept
sozialarbeiterischer Professionalität, bei dem der Fokus der Zusammenarbeit weg von rein
wissenschaftlich geleitetem Expertokratismus hin zu einer psychosozialen Praxis verlagert
wird. Die von den Nutzer*innen Sozialer Arbeit im Laufe ihres Lebens erworbenen Fertigkeiten
und Ressourcen sollen respektiert und gefördert, ihre Möglichkeiten zur Selbstbestimmung,
Eigenverantwortung und Partizipation zur Gestaltung des Selbst und zur Mitgestaltung der
Umwelt verstärkt möglich gemacht werden (vgl. Herringer 2014: 11).
Empowerment kann Betroffenen nicht von Außenstehenden aufgezwungen werden, sondern
ist ein Konzept, das von Professionist*innen ermöglicht und sich dann von den Adressat*innen
Sozialer Arbeit selbst angeeignet wird. Es geht dabei um die Ermutigung zur Suche nach
eigenen Stärken und Ressourcen, auf die in unterschiedlichen Lebenssituationen nach Bedarf
zurückgegriffen werden kann (vgl. Herringer 2014: 17). Dieser fachliche Zugang setzt voraus,
dass den Menschen zugestanden und vermittelt wird, dass sie ihr eigenes Leben
selbstbestimmt gestalten können, normative Vorstellungen des Helfer*innensystems also in
den Hintergrund rücken müssen. Es bedeutet in weiterer Folge auch, dass der in Kapitel 3.1
angeführte Wortlaut „das Wohlergehen verbessern“ aus der Definition Sozialer Arbeit sich auf
eine individuelle Interpretation von Verbesserung bezieht. Was als „gut“ oder „schlecht“
18
angesehen wird, entscheiden nicht Sozialarbeiter*innen für die Betroffenen, sondern die
Betroffenen selbst definieren ihre eigenen Lebensziele (bei deren Erreichen die Soziale Arbeit
dann unterstützend wirkt). Das Ziel der Zusammenarbeit soll also sein, an verborgene und
ungenutzte Kompetenzen und Stärken zu erinnern, eigene Ressourcen zu erschließen, um in
scheinbar ausgeschöpften und kraftlosen Situationen eine autonome Selbstorganisation
wieder anzuregen und zu ermöglichen (vgl. Herringer 2014: 18f).
„Auf eine kurze Formel gebracht: Handlungsziel einer sozialberuflichen Empowerment-Praxis ist es, Menschen das Rüstzeug für ein eigenverantwortliches Lebensmanagement zur Verfügung zu stellen und ihnen Möglichkeitsräume aufzuschließen, in denen sie sich die Erfahrung der eigenen Stärke aneignen und Muster einer solidarischen Vernetzung erproben können.“ (Herringer 2014: 19f)
Auf jene eigenen Stärken und solidarischen Vernetzungen wird nachfolgend in der
Beschreibung von lebensweltlichem und politischem Empowerment näher eingegangen.
3.2.2. Empowerment auf der Mikroebene: lebensweltlich
Als direkte Übersetzungsmöglichkeiten für den mit „Empowerment“ verbundenen Begriff
„power“ nennt Herringer Stärke, Kompetenz, Durchsetzungskraft, Alltagsvermögen und
bezieht sich damit auf die individuellen lebensweltlichen Ressourcen einzelner Menschen. In
diesem Kontext bezeichnet also Empowerment die Fähigkeit eines Menschen,
Schwierigkeiten und Belastungen im Alltag aus eigener Kraft zu bewältigen und dabei
individuelle Lebensvorstellungen und -ziele umzusetzen. Autonom und selbstorganisiert leben
zu können und den Alltag eigenverantwortlich zu gestalten, soll Mittelpunkt des
Empowerments auf lebensweltlicher, quasi mikropolitischer Ebene werden (vgl. Herringer
2014: 15).
Empowerment in Bezug auf einzelne Subjekte setzt also voraus, dass die Einzelperson die
feste Überzeugung erlangt, aus eigenem Antrieb heraus mehr Autonomie, Lebenssouveränität
und Selbstverwirklichung zu erkämpfen – auch und ganz besonders dann, wenn für
Klient*innen sozialarbeiterischer Angebote aufgrund unterschiedlichster Lebensumstände
(hier zum Beispiel durch körperliche oder psychische Behinderungen) eine gewisse
Abhängigkeit von professionellen und privaten Helfer*innenystemen unausweichlich ist, oder
Dies spiegelt sich auch in der Thematik des Assistenzhundewesens wieder, in welcher die
mithilfe eines Assistenzhundes gewonnene Autonomie und Teilhabe durch nennenswerte
staatliche Förderungen insbesondere und fast ausschließlich jenen Menschen zur Verfügung
gestellt wird, die sich in aktiver Erwerbstätigkeit befinden (siehe Kapitel 2.4.1). Dadurch wird
impliziert, dass kein grundsätzlicher Anspruch auf Teilhabe und Empowerment besteht,
sondern dieser erst durch Erwerbsarbeit „verdient“ werden muss.
21
4. Hunde in der Sozialen Arbeit
Bereits im neunzehnten Jahrhundert erkannte die frühe Soziale Arbeit die Verbindung
zwischen dem Wohlergehen von Menschen und dem Wohlergehen von Tieren, sodass den
Bedürfnissen beider Gruppen sowie deren Beziehung zueinander besondere Aufmerksamkeit
zuteil wurde. Im zunehmenden Streben nach wissenschaftlicher Anerkennung und
möglicherweise auch durch die Einflüsse von Psychiatrie und Soziologie entfernte sich die
Soziale Arbeit ab Ende des Ersten Weltkrieges von diesem dualen Bewusstsein und
konzentrierte sich fortwährend einzig auf den Klienten Mensch (vgl. Ryan 2011: 18f.). So kam
es nicht nur dazu, dass der Mensch aus Sicht der Sozialen Arbeit bedingungslos als wert- und
würdevoll betrachtet wird, sondern dass er zudem als einziges Lebewesen dieses Sonderrecht
der Wertschätzung genießt – ein Umstand, der es praktizierenden Sozialarbeiter*innen
unabhängig von eigenen Erfahrungen und Gefühlen erschwert, den inhärenten Wert der Tiere
als Beziehungspartner zu erkennen, geschweige denn anzuerkennen. In weiterer Folge kann
es dazu kommen, dass durch die bewusste oder unbewusste Herabwürdigung des Tieres bzw.
der Beziehung zum Tier indirekt auch der dazugehörige Mensch und dessen soziale
Bedürfnisse missachtet wird (vgl. Ryan 2011: 4f.).
Auch Maureen MacNamara und Jeannine Moga beklagen, dass trotz der seit den 1990er
Jahren zunehmend stattfindenden Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung und zahlreicher
Studien zu den gesundheitsfördernden Effekten von Tieren und Natur, diese in die
psychosozialen Modelle sozialer Arbeit kaum Einzug gehalten haben – und das, obwohl
gerade dieser lebensweltliche Ansatz eine ideale Ausgangsposition für die Miteinbeziehung
und gezielte Nutzung von Tieren im menschlichen Lebensumfeld darstellen würde (vgl.
MacNamara, Moga 2014: 151). Die Autorinnen gehen weiter darauf ein, dass Tiere zwar häufig
nur als Mittel zum Zweck für den menschlichen Gebrauch gesehen werden, diese jedoch von
Tierhalter*innen aufgrund ihrer grundeigenen Qualitäten und ihrem Wert als Gefährt*innen
geschätzt werden. So muss in jedem Fall zugestanden werden, dass zwischen Mensch und
Tier eine emotionale Verbindung besteht, auf die auch die aktuelle Wissenschaft hinweist und
die zu ignorieren für die Soziale Arbeit eine verschenkte Ressource bedeuten würde (vgl. ebd.:
152f.).
Die bisher am meisten akzeptierte und angewendete Form der aktiven Nutzung von Mensch-
Tier-Beziehungen ist die „Tiergestützte Therapie“, bzw. korrekt ausgedrückt die tiergestützte
Intervention (vgl. MacNamara, Moga 2014: 155). Auf diese soll zum besseren Verständnis der
Unterschiede in der Nutzung eigener oder fremder Tiere im Folgenden kurz eingegangen
werden.
22
4.1. Tiergestützte Interventionen
Bereits in den 1970er Jahren wurden in deutschsprachigen Raum erstmals organisierte
tiergestützte Interventionen (TGI) im Bereich der Förderung von Menschen mit Behinderung
durch therapeutisches Reiten sowie auf Kinder- und Jugendfarmen angeboten (vgl. Otterstedt
2017:1). Heute bezieht sich die TGI auf vier Hauptbereiche, entsprechend der professionellen
Einbettung und der angestrebten Ziele. Die oft fälschlich als Überbegriff verwendete
Tiergestützte Therapie ist nur einer dieser Bereiche und wird ausschließlich durch
ausgebildete Therapeut*innen mit einem klaren therapeutischen Ziel angewendet (vgl. ebd.:7).
Die Tiergestützte Therapie ist also für die Soziale Arbeit nur indirekt von Bedeutung, als
Adressat*innen ggf. an Angebote Tiergestützter Therapie weitervermittelt werden können.
Im Gegensatz dazu können die restlichen Formen, die Tiergestützte Pädagogik (TGP),
Förderung (TGF) und Aktivität (TGA) von Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen direkt
bzw. selbst angewendet werden. Während die von Pädagog*innen durchgeführte TGP ein
pädagogisches Ziel verfolgt, kann die TGF zwar durchaus bewusst, dabei aber ohne
spezifische Zielsetzung für die physische und psychische Aktivierung, Motivation und verstärkt
im sozio-emotionalen und kommunikativen Kontext eingesetzt werden (vgl. ebd.: 11). Die TGA
bezeichnet im Gegensatz dazu Aktivitäten mit oder im Beisein von Tieren, ohne dass dabei
konkrete therapeutische, pädagogische oder Förderziele erreicht werden sollen. Dies ist
jedoch immer noch abgegrenzt zum Begriff des von ehrenamtlichen Helfer*innen ohne
spezifische Qualifizierung angebotenen „Tierbesuchsdienstes“ zur Steigerung der
Lebensqualität durch Ermöglichung von sozialen Kontakten zu Mensch und Tier (vgl. ebd.:
13).
Auch in den Tiergestützten Interventionen sollte nicht defizitorientiert gearbeitet werden.
Vorhandene individuelle Ressourcen sollen genutzt werden, um „die Resilienz des Menschen
positiv zu fördern“ (vgl. Otterstedt: 22), wobei Mensch und Tier gleichermaßen Würde und
Respekt entgegengebracht werden sollen (vgl. ebd.: 31). Otterstedt nennt sowohl physische,
psychische und mentale sowie auch sozio-kommunikative Fähigkeiten, welche durch
Angebote der TGI gefördert werden können. Dazu gehören unter anderem ein positiver
Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System, geförderte Motorik und Koordination sowie durch die
Anregung der Spiegelneurone beeinflusste körpereigene Hormone, welche sich positiv auf das
Wohlbefinden auswirken (Oxytocin, Dopamin), das Immunsystem stärken und schmerz- sowie
stresslindernde Effekte haben. Im Bereich der Psyche können die Gefühle Vertrauen,
Zuneigung und Geborgenheit erlebt und in Form von Fürsorge auch zurückgegeben werden.
Positiver Körperkontakt und Bindungsaufbau fördern die seelische Ausgeglichenheit und in
Bezug auf das Konzept des Empowerments verbessern Tiergestützte Interventionen darüber
hinaus auch die Entscheidungsfähigkeit, die Fähigkeit strukturiert, klar und deutlich zu
23
handeln, sie erweitern den Erlebnisraum und fördern neben Empathie und Selbstwertgefühl
die Kontaktaufnahme mit dem sozialen Umfeld (ebd.: 26ff.).
4.2. Hunde der Klient*innen gezielt nutzen
Während die tiergestützte Intervention also darauf aufbaut, dass zwischen Adressat*in und
Tier eine neue Beziehung entstehen kann, haben Studien nachgewiesen, dass diese
temporäre Beziehung, und somit der erwartete Nutzen solcher Interventionen, noch stärker
und widerstandsfähiger ist, wenn es sich um ein Tier aus der bereits bestehenden Lebenswelt
des*der Klient*in handelt, zu dem eine dauerhafte, solide Bindung besteht (vgl. MacNamara,
Moga 2014: 156). Es bedarf keiner persönlichen Affinität zu Tieren oder gar der Haltung eines
eigenen Therapiebegleithundes, um sich als Professionist*in die vorhandenen Haustiere von
Klient*innen in der Gesprächsführung und anderen Interventionen zunutze zu machen und
deren inhärenten Wert als lebensweltliche Ressource zu erkennen (vgl. Thomas 2014: 211).
MacNamara und Moga weisen darauf hin, dass zur gezielten Miteinbeziehung und Nutzung
von Haustieren der Klient*innen zunächst ermittelt werden muss, wo deren Platz im
Familiensystem ist. Sobald das Tier im System lokalisiert wurde, kann die Frage gestellt
werden, welche Funktion es innehat und mit welchen Zielen dies in Verbindung steht. Erst
wenn diese Parameter geklärt sind, kann darüber nachgedacht werden, wie die Lokalisation
und Funktion des Tieres zu sozialarbeiterischen Zwecken eingesetzt werden kann (vgl.
MacNamara, Moga 2014: 153).
Um den ersten notwendigen Schritt umzusetzen, können Tiere zum Beispiel in
Lebensweltdiagramme miteinbezogen werden - eine Methode, bei der die Nähe bzw. Distanz
zwischen einzelnen Individuen dargestellt wird und in der ersichtlich wird, in welchem
emotionalen und strukturellen Verhältnis die Systemmitglieder zueinander stehen. Dabei
zeigte sich, dass diese Abbildung sozialer Beziehungen nicht nur für Menschen, sondern auch
für Tiere zutrifft und Letztere oft als emotional „näher“ empfunden werden als menschliche
Familienmitglieder. Darüber hinaus kann auch der tatsächliche physische Aufenthaltsort des
Tieres bzw. Gestaltung und Zustand von dessen Schlafplatz, Futternapf, Spielzeug usw. als
Indizien für die Stärke und Art der Beziehung herangezogen werden (vgl. MacNamara, Moga
2014: 153).
Individuelle Beziehungen zu Tieren können auch Aufschluss über das Selbstbild der
Besitzer*innen und deren soziale und emotionale Ressourcen geben sowie für die Menschen
eine wichtige Verbindung zu früheren Lebensabschnitten, Orten und Personen darstellen,
ihnen einen „sicheren Hafen“ und eine Quelle an Sicherheit, Wertschätzung und Zugehörigkeit
sein (vgl. MacNamara, Moga 2014: 155).
24
Um in der Sozialen Arbeit beständig auf Herausforderungen in den Lebenssystemen jener
Adressat*innen eingehen zu können, bei denen Tiere nicht nur eine periphere sondern eine
zentrale Rolle spielen, muss sich der professionelle Diskurs über die Tiergestützten
Interventionen hinaus auch mit jenen Menschen befassen, für die ihr Heimtier ein
professioneller Partner und integraler Bestandteil von Lebensbewältigung, gesellschaftlicher
Teilhabe und materieller Sicherheit ist (vgl. ebd.: 160.). Diese Beschreibung trifft insbesondere
auch auf Menschen mit Behinderung und ihre Assistenzhunde zu.
4.3. (Assistenz-)Hunde als Ressource
Vorangehend wurden die positiven Auswirkungen von Tieren durch ihre grundsätzliche
Anwesenheit und in Verbindung mit Tiergestützten Interventionen genannt und ein kurzer
Einblick in die mögliche Nutzung von Hunden in der sozialarbeiterischen Praxis gewährt.
Nachfolgend soll in den Kapiteln 4.3 und 4.4 auf die positiven und negativen Aspekte von
Assistenzhunden sowohl als Ressource wie auch als Belastungs- und Risikofaktor
eingegangen werden.
Diverse Studien beschäftigten sich bereits mit den Vorteilen, die Assistenzhunde für ihre
Halter*innen mitbringen können (vgl. z.B.: Allen, Blascovich 1996; Sobo et al 2006, Rabschutz
2006), wobei die generellen Ergebnisse mit den in Kapitel 4.1 genannten physischen,
psychischen, mentalen und sozio-kommunikativen Vorzügen weitestgehend übereinstimmen.
Eine weitere Studie aus dem Feld der Ergotherapie beschreibt unter anderem bei
Assistenzhundehalter*innen nach Übernahme des Hundes eine erhöhte Teilnahme am
Schulunterricht und bessere Chancen auf (Teilzeit-)Arbeit, vermehrte Nutzung öffentlicher
Verkehrsmittel und von Angeboten der sozialen Gemeinschaft sowie 68% weniger bezahlte
oder unbezahlte persönliche Assistenz; Camp fasst zusammen, dass Assistenzhunde (Anm.:
in dieser Studie Servicehunde) ihren Halter*innen zu mehr Unabhängigkeit und verbesserter
psychosozialer Funktion verhelfen, was unter anderem auch zur Überwindung
gesellschaftlicher Barrieren beitragen kann (vgl. Camp 2001). Die Autorin verweist in ihrer
Arbeit außerdem auf zahlreiche weitere Studien, in denen die psychosozialen Auswirkungen
von Assistenzhunden auf Selbstwert, subjektive Kontrollüberzeugung und
Durchsetzungsvermögen dargestellt werden und darüber hinaus beschrieben wird, dass das
subjektive Sicherheitsgefühl steigt und die empfundene Einsamkeit sowie das Risiko, an einer
Depression zu erkranken, sinken (vgl. ebd.)
Weitere Hinweise auf das Sicherheitsgefühl von Menschen mit Behinderung durch die
Anwesenheit ihres Assistenzhundes finden sich nicht nur in Interviews betroffener Personen
in Boulevardmedien (vgl. Bild 2016; Volksstimme 2016), sondern auch im medizinischen
Fachjournal „Military Medicine“, in dem der Wert eines Assistenzhundes für seinen Besitzer
25
beschrieben wird: “Major General Harlin states that Goldie is his key to safety, mobility, and
independence.” (Ostermeier 2010: 592)
Die klinische Studie von Hall et al. über den Einfluss von Service- und Signalhunden auf die
subjektive Lebensqualität ihrer Halter*innen belegt, dass Assistenzhunde nicht nur die
Unabhängigkeit steigern, sondern auch zur Erfüllung und Befriedigung von persönlichen
Lebensvorstellungen ihrer Besitzer*innen beitragen und damit einen noch größeren Nutzen
für deren Lebensqualität haben können, als bisher angenommen wurde (Hall et al. 2017: 8).
4.4. (Assistenz-)Hunde als Belastungsfaktor
Einen Assistenzhund zu besitzen bringt jedoch nicht nur eine Vielzahl an Vorteilen, sondern
auch eine große Verantwortung und oft hohe finanzielle Verpflichtungen mit sich, weshalb ein
Assistenzhund nicht immer die beste Lösung darstellen muss:
“Owning a guide dog involves taking on considerable responsibility and adapting one's life style and routine to incorporate the needs of the dog. In some cases, a guide dog may not be the most appropriate or convenient mobility aid for a visually impaired person.” (vgl. Whitmarsh 2009: 19).
Mit Assistenzhunden verbundene Belastungs- und Risikofaktoren können unter anderem die
Erkrankung des Tieres (bzw. damit einhergehende emotionale und finanzielle Belastungen
sowie benötigte Pflegetätigkeiten), Verhaltensprobleme des Tieres, zusätzliche
Trainingseinheiten, andere Heimtiere im Haushalt, zwischenmenschliche Konflikte, erhöhte
Sturzgefahr und das notwendige Erstellen eines verlässlichen Notfallversorgungsplans für den
Fall akuter Erkrankung oder Aufenthalten im Krankenhaus sowie Trauerbegleitung beim
Verlust des Assistenzhundes darstellen (vgl. Thomas 2014: 177). Die Mitnahme in
Krankenanstalten und andere medizinische Einrichtungen sollte in Österreich zwar generell
gestattet sein, ist jedoch oftmals in der Praxis nicht durchführbar (Verwahrung des Hundes in
Mehrbettzimmern, Versorgung/Pflege und Ausführen des Hundes bei eigener Bettlägerigkeit,
Widersprüche zwischen Recht auf Mitnahme und Hygienevorschriften), weshalb auch hier ein
Versorgungsplan anzuraten ist.
Auf die finanziellen Aspekte der Ausbildung, Anschaffung und Prüfung wurde in Kapitel 2.4.1
bereits eingegangen, zu den dort beschriebenen Kosten kommen jedoch laufende Ausgaben
für die Ernährung und medizinische Versorgung des Hundes hinzu, welche in jedem Fall
bedacht sein wollen. Die genannte Versorgung muss nicht nur finanziell, sondern auch
körperlich zu bewältigen sein. Zudem können die Ausbildung und nötigenfalls
Nachschulungen des Hundes und die in Österreich geforderten Fortbildungen der Halter*innen
(siehe Kapitel 2.3) zusätzlich Zeit und Geld fordern, wobei besonders im Rahmen der
mehrwöchigen Einschulung vor der Teamprüfung damit zu rechnen ist, gegebenenfalls
Urlaubsansprüche geltend machen zu müssen (vgl. Ostermeier 2010: 592).
26
Für Personen, die sich für die Selbstausbildung ihres Assistenzhundes entscheiden, ist
insbesondere darauf zu achten, was bei einem eventuellen Nichtbestehen aufgrund von
gesundheitlicher oder wesensmäßiger Nichteignung mit dem Tier geschehen soll. Laut
Angaben der staatlichen Prüf- und Koordinierungsstelle verbleiben diese Tiere meist aufgrund
der persönlichen Beziehung zwischen Hund und Besitzer*in weiterhin als Haustier bei der
betroffenen Person und führen teilweise sogar bereits erlernte Hilfsleistungen aus, für die sie
jedoch schlimmstenfalls gesundheitlich nicht geeignet sind und die in jedem Fall nur im
privaten Kontext erfolgen können, da für diese Hunde keinerlei Zutritts- oder sonstige
Sonderrechte in Anspruch genommen werden können1.
Kommt es dennoch zur Trennung oder Abgabe von einem bereits intensiv eingeschulten oder
gar einem über Monate bzw. Jahre selbst aufgezogenen und ausgebildeten Assistenzhund,
so kann dies ebenso zur Belastung werden wie der Verlust des Hundes zu einem späteren
Zeitpunkt, etwa durch Arbeitsunfähigkeit und/oder Weitervermittlung infolge von Krankheit
oder Alter, sowie natürlich durch den Tod des Hundes. Adrienne Elizabeth Thomas schreibt
dazu, dass es nicht ungewöhnlich ist, um ein Tier ebenso stark (oder stärker) zu trauern, als
um einen verstorbenen Menschen. Diese Trauer kann noch zusätzlich verstärkt werden, wenn
das Tier für die Bezugsperson einen besonderen Stellenwert hatte, etwa durch die Begleitung
in schwierigen Lebenssituationen oder das tatsächliche oder empfundene „Retten“ des*der
Besitzer*in (vgl. Thomas 2014: 202f.). Besonders bei geplantem oder vorhersehbarem Verlust,
etwa während langer oder schwerer Erkrankung oder durch die bevorstehende Pensionierung
des Assistenzhundes, kann es zu sogenanntem „anticipatory grief“, also einem Vorab-
Trauern, kommen, welches ebenso belastend ist wie akute Trauer und zu Angststörungen,
Besorgnis, Schuldgefühlen, Verwirrung und Entscheidungsunfähigkeit führen kann (vgl. ebd.:
206, 208).
Ein weiterer negativer Aspekt der Assistenzhundehaltung kann die erhöhte Sichtbarkeit in der
Öffentlichkeit darstellen, wenn es dadurch zu Stigmatisierungen kommt, wie Nathalie Geese
beschreibt:
„Auch wenn ein Führhund die Mobilität seines blinden Menschen erweitern und ihn so zur Teilhabe befähigen soll, vertrete ich hier die These, dass es im Rahmen von Interaktionen in triadischen Konstellationen (blinder Mensch, Führhund und sehender Mensch) auch immer wieder Situationen geben wird, die für die Interaktionsteilnehmenden problematisch sind. Dies dürfte vor allem dann der Fall sein, wenn es zur Stigmatisierung der Beteiligten kommt.” (Geese in Burzan, Hitzler 2017: 140)
Auf die komplexe Thematik der Stigmatisierungen hier in all ihren Facetten einzugehen, würde
den Rahmen dieser Bachelorarbeit sprengen, es ist jedoch für Professionist*innen zu
beachten, dass es grundsätzlich zu solchen Stigmatisierungen kommen kann und die
betroffenen Personen diese Thematik gegebenenfalls zu bewältigen haben, möglicherweise
27
verstärkt dann, wenn die Behinderung für Außenstehende nicht sichtbar ist und die
Anwesenheit des Hundes erklärt oder gar gerechtfertigt werden muss.
Um die Vor- und Nachteile der Assistenzhundehaltung individuell zu beurteilen, ist eine
umfassende Beratung der interessierten Personen notwendig, welche aktuell nicht oder nur
teilweise von einzelnen Stellen angeboten wird, in deren Tätigkeiten die Soziale Arbeit derzeit
nicht involviert ist. Insbesondere in der Beratung vor der Anschaffung zu Themen wie
Finanzierung, rechtliche Aspekte und Alltagsgestaltung wäre eine ergänzende
sozialarbeiterische Begleitung sinnvoll. Auf die Bedeutung und mögliche Umsetzung dieses
Vorschlags wird nun im nachfolgenden Abschnitt näher eingegangen.
28
5. Förderung von Empowerment im Assistenzhundewesen
Um konkrete Förderungsmöglichkeiten des Empowerment-Konzeptes für Menschen mit
Assistenzhunden zu erarbeiten, sollen im folgenden Abschnitt der Bachelorarbeit die bisher
dargelegten Fakten zum Assistenzhundewesen in Österreich mit den Zielen des
Empowerments und der Nutzung von Hunden der Adressat*innen Sozialer Arbeit verbunden
werden. Dies geschieht zum besseren Verständnis auf Basis der in Kapitel 3.2.1 bis 3.2.3
bereits theoretisch beschriebenen Ebenen von Empowerment in professionellem,
lebensweltlichem und politischem Kontext. Obwohl zahlreiche der genannten Effekte und
Interventionsmöglichkeiten nicht ausschließlich mit Assistenzhunden, sondern zumindest in
ihren Grundzügen auch mit anderen Haustieren oder Hunden ohne spezifische Ausbildung
sowie in vielfältigen sozialarbeiterischen Kontexten erzielt werden könnten, konzentriert sich
die vorliegende Arbeit aus Gründen der Thematik und Zielsetzung einzig auf den Aspekt der
Assistenzhunde für Menschen mit Behinderung.
Eine Ende 2015 durch die Statistik Austria durchgeführte Mikrozensuserhebung ergab, dass
18,4% der österreichischen Bevölkerung, die in Privathaushalten lebt, nach eigenen Angaben
unter einer dauerhaften Beeinträchtigung leiden – dies sind hochgerechnet 1,3 Mio. Personen
(Menschen in stationären Einrichtungen wurden dabei nicht berücksichtigt, sodass die Quote
der Schwerbehinderten Personen in der Gesamtbevölkerung als noch höher anzusetzen ist,
als in der Befragung berechnet) (vgl. Sozialministerium 2017: 240). Im vergleichbaren
Zeitraum besaßen in Österreich rund 350.000 Personen einen Behindertenpass (vgl.
Parlament 2015: 1).
In der praktischen Umsetzung wird daher auch von einer Fokussierung auf spezifische
Handlungsfelder Sozialer Arbeit abgesehen, es ist in sämtlichen Arbeitsbereichen damit zu
rechnen, auf Assistenzhundehalter*innen zu treffen – sei es als Adressat*innen, als
Kolleg*innen oder in anderer Weise. Ebenso ist die Erläuterung spezifischer Methoden für die
Praxis in diesem Rahmen nicht möglich.
Zum besseren Verständnis sei dennoch ein kurzes Beispiel genannt, in dem die nachfolgend
beschriebenen Prinzipien Anwendung finden könnten: Die Volkshilfe Wien hat im Rahmen der
Wohnungslosenhilfe mit ihrem Projekt „A G’Spia für’s Tier“ ein Kooperationsmodell aus
Sozialer Arbeit und Hundetraining geschaffen, bei dem potentiell durch die Tierhaltung
verursachte Benachteiligungen beseitigt und die Hunde als Ressource zur Verbesserung von
Gesundheit und Wohlbefinden ihrer Besitzer*innen genutzt werden (vgl. Volkshilfe 2016).
Durch eine ähnliche Kooperation zwischen Professionist*innen Sozialer Arbeit und
Akteur*innen der zuständigen Stellen im Assistenzhundewesen könnten einerseits einzelne
Adressat*innen ganzheitlich betreut und optimal beraten werden, andererseits kann durch den
multiprofessionellen Austausch das System in sich gestärkt werden, wodurch Empowerment
29
durch fachliche Zusammenarbeit auf struktureller und individueller Ebene ermöglicht werden
kann.
5.1. Empowerment auf der Professionsebene anwenden
Grundlage der Förderung von Empowerment im Assistenzhundewesen durch die Soziale
Arbeit soll zunächst die Entwicklung eines professionellen Bewusstseins der Zuständigkeit
bilden. Sind die Förderung von Autonomie und Selbstständigkeit sowie die Ermutigung zur
selbstständigen Bewältigung schwieriger Lebenssituationen Ziele der Sozialen Arbeit, so
decken sich diese Forderungen nicht nur mit den Grundprinzipien des Empowerments,
sondern auch mit den in Kapitel 4.3 beschriebenen positiven Aspekten der
Assistenzhundehaltung. Anders formuliert: setzt sich die Soziale Arbeit dafür ein, dass
Menschen mit Behinderung die Haltung eines solchen Assistenzhundes leichter zugänglich
gemacht wird, so ermöglicht sie damit zugleich auch den Zugang zu den im Empowerment
geforderten Möglichkeitsräumen für mehr Autonomie und Teilhabe im Alltag und erhöht die
Chancen ihrer Adressat*innen, das subjektive Wohlergehen selbstbestimmt zu verbessern
und eigenverantwortliches Lebensmanagement umzusetzen.
Die in der Einleitung zum fünften Kapitel genannte Mikrozensuserhebung ergab außerdem,
dass Ende 2015 rund 40.000 in Österreich lebende Personen auf die Benützung eines
Rollstuhls angewiesen waren – dem gegenüber stehen nur 4 im Jahr 2015 geprüfte und 23 in
der Übergangsfrist zertifizierte Servicehunde. 53.000 Personen mit schwerwiegenden
Problemen beim Sehen standen im selben Jahr 12 neu geprüfte und 21 in der Übergangsfrist
anerkannte, also insgesamt 33 gesetzlich zertifizierte Blindenführhunde zur Verfügung (vgl.
Sozialministerium 2017: 153, 240). Für Signalhunde ist aufgrund der telefonischen Befragung
und der fehlenden statistischen Differenzierung der Art von Signalhunden kein derartiger
Vergleich möglich, die Zahlen weisen jedoch insgesamt darauf hin, dass bei potentiellen
Adressat*innen Sozialer Arbeit mit Behinderung nur ein verschwindend geringer Anteil einen
staatlich zertifizierten Assistenzhund führt und somit den übrigen Personen diese besondere
Ressource bisher nicht zur Verfügung steht. Wenngleich ein Assistenzhund nicht für jeden
Menschen mit Behinderung in Frage kommt, so ist doch anzunehmen, dass durch eine
bessere sozialarbeiterische Unterstützung der Betroffenen deutlich mehr Menschen mit einem
Blindenführ-, Service- oder Signalhund eine Verbesserung ihrer Autonomie,
Selbstbestimmung und Befähigung erreichen und ihre subjektive Lebensqualität verbessern
könnten.
Konkrete Ansätze, das Assistenzhundewesen in das Professionsverständnis der Sozialen
Arbeit miteinzubeziehen, könnten etwa eine Verbesserung der allgemeinen Informationslage,
klar formulierte und leicht zugängliche Anspruchsvoraussetzungen für Erhalt und finanzielle
Förderung von Assistenzhunden sowie Aufklärung bezüglich des korrekten Umgangs mit den
30
Tieren beinhalten. Auch Information bezüglich der Sonderrechte von staatlich geprüften
Assistenzhunden sowie die professionell geleitete Abwägung, ob und in welcher Form der
Einsatz eines Assistenzhundes angezeigt ist, können Aufgaben von (speziell geschulten oder
mutliprofessionell vernetzten) Sozialarbeiter*innen sein.
Ein weiterer wichtiger Ansatz diesbezüglich ist die Anerkennung des Assistenzhundes als
Ressource für die Halter*innen und die Wertschätzung desselben als wichtiger sozialer
Beziehungspartner. Dies beinhaltet auch, sich aktiv für die Wahrung der gesetzlichen
Zutrittsrechte einzusetzen und gegebenenfalls Arbeitsorte auch in Hinblick auf die Mitnahme
von Assistenzhunden barrierefrei zu gestalten, um mittelbare wie unmittelbare
Diskriminierungen im Alltag zu vermeiden. Dabei ist neben den in Kapitel 2.4.2 genannten
Beispielen auch die Mitnahme in Räumlichkeiten der Bundesverwaltung und
Selbstverwaltungskörper (z.B. Arbeitsmarktservice, Sozialversicherungsträger) und in
sämtliche Institutionen, welche Waren und Dienstleistungen für die Öffentlichkeit anbieten,
sowie in Kranken- und Kuranstalten, gemeint (vgl. Zösmayr 2019a, 2019b).
Teil des professionellen Handelns sollte auch sein, sich in Anwesenheit von
Assistenzhundeteams nicht nur dem Menschen gegenüber respektvoll zu verhalten, sondern
auch das Tier ungestört arbeiten zu lassen und wichtige Umgangsregeln zu beachten, um
nicht durch die Ablenkung des Tieres die Gesundheit der Halter*innen zu gefährden3.
5.2. Empowerment auf der Mikroebene anwenden
Ist das Assistenzhundewesen in das Professionsverständnis Sozialer Arbeit integriert, so
erschließen sich auch für die direkte Zusammenarbeit mit Assistenzhundehalter*innen neue
Zugänge und Handlungsansätze. In Kapitel 3.2.2 wurde Empowerment auf der Makroebene
beschrieben und kann nun mit den in Kapitel 4.2 genannten Möglichkeiten zur Nutzung
klient*inneneigener Heimtiere in direkte Verbindung gesetzt werden.
Ausschlaggebend ist hierbei, den Hund als Ressource und Sozialpartner in Anamnese und
Interventionen einzubeziehen. Professionist*innen Sozialer Arbeit müssen im Rahmen des
Empowerment-Konzeptes, ungeachtet ihrer persönlichen Einstellung zu Hunden, das Tier als
sozialen Katalysator anerkennen und sich darüber im Klaren sein, dass die Anwesenheit des
Assistenzhundes im Alltag zu verbesserter Mobilität und Teilhabe, zu mehr Selbstwert,
Kontrollempfinden, Sicherheitsgefühl und subjektiver Lebensqualität der Halter*innen beiträgt.
Zudem ist, wie in der bereits genannten Studie von Camp dargelegt, die Stundenanzahl der in
Anspruch genommenen persönlichen Assistenz nach Erhalt eines eigenen Assistenzhundes
stark rückläufig (siehe dazu Kapitel 4.3).
3 siehe dazu z.B.: „Bitten aller Assistenzhundeteams“: http://www.reha-dogs.eu/wp/?page_id=518
31
Darüber hinaus sind die Halter*innen von Assistenzhunden in Krisensituationen empathisch
zu unterstützen und ihre spezifischen Bedürfnisse auch in Bezug auf den Hund
wahrzunehmen. Dies kann neben der bereits erwähnten professionellen Beratung auch
bedeuten, Klient*innen in der Selbstausbildung des Hundes zu unterstützen, da die dabei
entwickelten Fähigkeiten ein integraler Bestandteil der selbstständigen Lebensbewältigung mit
dem Assistenzhund sein können und die gesetzten Ziele erfolgreich umgesetzt werden sollen.
So können, wie in Kapitel 3.2.2 gefordert, Herausforderungen des Alltags gemeistert und aus
eigenem Antrieb heraus Souveränität und Selbstverwirklichung erkämpft werden.
Die Unterstützung und Begleitung in Krisensituationen ist darüber hinaus insbesondere bei
Verlust des Hundes durch Tod oder Abgabe notwendig, um die in Kapitel 4.4 genannten
Belastungsfaktoren gering zu halten. Diese Prävention von Stress- und Belastungssituationen
beinhaltet aber auch, Menschen mit Behinderung bei Amtswegen und ärztlichen
Einstufungsuntersuchungen zu unterstützen – gerade Personen mit psychischer
Beeinträchtigung berichten in persönlichen Gesprächen von benötigten Anfechtungen des
erstmaligen Einstufungsverfahrens, um eine Zuerkennung des Grades der Behinderung von
mindestens 50% zu erreichen. Unterstützung kann auch bei der Einleitung von
Schlichtungsverfahren infolge verweigerter Zutrittsrechte sowie bei der Information über- und
rechtzeitigen Beantragung von finanziellen Hilfen notwendig werden.
Für die Aufklärung über- und die Umsetzung von Rechten der Assistenzhundeteams sind auch
Interessensvertretungen und -gruppen entstanden, worauf im Kontext des politischen
Empowerments nachfolgend eingegangen wird.
5.3. Empowerment auf der Makroebene anwenden
Herringer betrachtet die Formierung von mehreren gleichgesinnten Personen zu
Bürger*innen-Initiativen oder Interessensvertretungen als integralen Bestandteil des
politischen Empowerments, welches bei zuvor benachteiligten Personengruppen zu einer
Aneignung von demokratischer Macht führen soll (siehe Kapitel 3.2.2). Neben professionellen
und lebensweltlichen Zugängen im Assistenzhundewesen sind also auch politische
Bestrebungen zu unterstützen und zu ermöglichen. Als Beispiel dafür existiert in Österreich
seit etwa 20 Jahren der gemeinnützige Verein „Freunde der Assistenzhunde Europas“,
welcher sich als Interessensvertretung für die Rechte von Assistenzhundeteams einsetzt und
seinen Mitgliedern Informationen, Beratung und Fortbildungsmöglichkeiten sowie juristische
Unterstützung anbietet. Konzepte wie dieses erfüllen also die Forderung von Empowerment
durch Ermöglichung von autonomer Problembewältigung und verstärkter Sichtbarmachung
der Bedürfnisse von marginalisierten Personengruppen. Letztere werden zudem auch durch
die Behindertenanwaltschaft und den Klagsverband durch Hilfe bei etwaigen
32
Schlichtungsverfahren (z.B.: infolge der Zutritts- oder Beförderungsverweigerung) unterstützt
(vgl. Reha-Dogs 2019a).
Abgesehen von Beratungen zu einzelnen Aspekten des Assistenzhundewesens durch
zuständige Stellen – etwa Informationen über finanzielle Rahmenbedingungen durch das
Sozialministeriumsservice und die zuständigen Versicherungsträger oder umfassende
Beratung zu Prüfungsanforderungen für zukünftige Assistenzhundeteams seitens des
Messerli-Institutes – basieren jedoch die meisten verfügbaren Angebote auf persönlicher
Kontaktaufnahme und sind daher in ihrer Qualität im Rahmen dieser Bachelorarbeit nicht zu
beurteilen. Die Soziale Arbeit scheint – soweit ersichtlich – in diese Beratungskonzepte bisher
nicht integriert zu sein, dies bestätigt Karl Weissenbacher im persönlichen Gespräch1. Auch
eine ganzheitliche Beratung zu den wesentlichen Aspekten der Assistenzhundehaltung ist
derzeit in Österreich nicht etabliert. Einige dieser wesentlichen Aspekte sind etwa die
persönliche Eignung unter Berücksichtigung möglicher Belastungsfaktoren oder
psychosozialer Unterstützungssysteme, die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen auf
menschlicher Seite sowie Aufklärung über umfassende finanzielle Fördermöglichkeiten vor der
Anschaffung des Hundes.
Im Sinne des Empowerments von Assistenzhundehalter*innen durch Soziale Arbeit wäre die
Kooperation mit- und Ergänzung von bestehenden Beratungsstellen und
Interessensvertretungen wünschenswert, um den Adressat*innen bestmögliche
Voraussetzungen selbstständiger Handlungsmöglichkeiten und die Vernetzung mit
Gleichgesinnten zu erschließen, wodurch auch Forderungen auf der Makroebene verstärkt
eingebracht werden können.
33
6. Fazit
Die vorgelegte Bachelorarbeit widmet sich der Forschungsfrage, wie durch Miteinbeziehung
von Sozialer Arbeit im österreichischen Assistenzhundewesen die Situation von potentiellen
und tatsächlichen Assistenzhundehalter*innen auf Basis des Empowerment-Konzeptes
verbessert werden kann.
Dazu werden zunächst die rechtlichen Grundzüge des Assistenzhundewesens und die damit
verbundenen Rahmenbedingungen für betroffene Personen dargelegt. Es werden die
unterschiedlichen Arten von Assistenzhunden beschrieben und Sonderrechte,
Finanzierungsmöglichkeiten und deren Limitierungen herausgearbeitet, sowie auf
Voraussetzungen und mögliche Schwierigkeiten bei der Anschaffung eines Assistenzhundes
hingewiesen. Im dritten Kapitel wird das Konzept des Empowerments beschrieben und auf
dessen Potential in der Arbeit mit Assistenzhundehalter*innen eingegangen, aber auch
dessen Kritik im professionellen Diskurs berücksichtigt. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit
der Nutzung von Hunden im Rahmen der Sozialen Arbeit, wobei sowohl die positiven Aspekte
Tiergestützter Interventionen als auch die Möglichkeiten zur Nutzung klient*inneneigener
Haustiere herausgearbeitet werden. Darauf aufbauend werden Assistenzhunde als mögliche
Ressource beschrieben, aber auch deren Potential als Belastungsfaktor im Leben von
Menschen mit Behinderung aufgezeigt. Abschließend werden im fünften Kapitel die zuvor
geschilderten Themenbereiche dahingehend verbunden, dass konkrete
Anwendungsmöglichkeiten von Sozialer Arbeit und Empowerment im österreichischen
Assistenzhundewesen sichtbar werden.
Die Erkenntnisse der vorliegenden Bachelorarbeit lassen sich daher auf professioneller,
lebensweltlicher und politischer Ebene wie folgt zusammenfassen:
Adressat*innen Sozialer Arbeit könnten durch die aktive Miteinbeziehung von Tieren
profitieren. Dies trifft aufgrund der besonders ausgeprägten Mensch-Tier-Beziehung neben
der Nutzung von Tiergestützten Interventionen und eigenen Heimtieren verstärkt auf
Menschen mit Behinderung zu, die von einem Assistenzhund unterstützt werden. Teilweise
wird diesen Personen aber durch individuelle Hindernisse oder strukturelle Einschränkungen
das Recht verwehrt, diese Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Dies erschwert ihre Teilhabe
am öffentlichen Leben und widerspricht damit dem Konzept des Empowerments. Es wäre in
diesem Kontext Aufgabe der Sozialen Arbeit, vermehrt Informationen bereit zu stellen und
Prozesse zur sinnvollen Integration eines Assistenzhundes in die Lebenssysteme der
Betroffenen zu begleiten.
Sozialarbeiter*innen können auf unterschiedliche Weise und in sämtlichen Handlungsfeldern
damit konfrontiert werden, dass durch das Zusammenleben der Adressat*innen mit
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Assistenzhunden besonderen Bedürfnisse entstehen. Eine professionelle Haltung setzt daher
auch voraus, dass auf Aspekte der Nutzen und Risiken, der gesellschaftlichen, gesetzlichen,
institutionellen und individuellen Möglichkeiten, der Chancen und möglichen Schwierigkeiten
in diesem Kontext eingegangen wird.
Sowohl zur Unterstützung von Adressat*innen als auch von Professionist*innen könnten zu
diesem Zweck spezialisierte Anlaufstellen geschaffen werden, die im Fall auftretender Fragen
oder Probleme (z.B. welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein*e Klient*in
Anspruch auf einen Assistenzhund hat) kontaktiert werden können.
Darüber hinaus gilt es, politische Prozesse zu unterstützen (etwa durch Förderung bzw.
Gründung von Interessensgruppen, Zusammenarbeit mit einschlägigen Stellen und
Evaluationsprozesse zur Verbesserung der Situation von (Assistenz-)Hundehalter*innen im
sozialarbeiterischen Kontext), die es Menschen mit besonderen Bedürfnissen ermöglichen,
die spezielle Ressource der Beziehung zwischen Mensch und Tier zu nutzen und die darüber
hinaus sicherstellt, dass Teilhabe und Empowerment auch in Begleitung eines
Assistenzhundes ermöglicht wird.
Viele mögliche Barrieren und Diskriminierungen von Assistenzhundeteams, wie etwa die
Anzahl von Zutrittsverweigerungen oder negative Folgen durch mangelhaft ausgebildete oder
unpassend vermittelte Assistenzhunde, konnten in dieser Arbeit nicht erfasst werden, da
hierzu keine Daten vorliegen. Ebenfalls nicht erfasst sind außerdem all jene Menschen, die
einen Grad der Behinderung von weniger als 50% aufweisen (z.B. bei psychischen
Beeinträchtigungen), aber dennoch von den positiven Folgen durch die Haltung eines
Assistenzhundes profitieren würden.
Offen bleibt auch die Frage nach der Dunkelziffer nicht staatlich geprüfter Hunde, die als
vermeintliche Assistenzhunde geführt werden, ohne die nötigen gesundheitlichen und
wesensmäßigen Anforderungen nachgewiesen zu haben. Es ist damit zu rechnen, dass
aufgrund von fehlender oder falscher Beratung durch Ausbildungsstätten und zuständige
Stellen oder aus finanziellen Gründen zahlreiche Menschen mit Behinderung einen
ungeprüften „Assistenzhund“ erwerben und führen, welchem keine der genannten
Sonderrechte zustehen und wodurch die „Ressource Assistenzhund“ nicht oder nur
eingeschränkt genutzt werden kann.
Auch in Bezug auf die Vor- und Nachteile von Fremd- und Selbstausbildung sind aus
sozialarbeiterischer Sicht nur unzureichende Informationen verfügbar.
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Dennoch konnte in der vorliegenden Arbeit eine klare Verbindung zwischen den Zielen
Sozialer Arbeit im Allgemeinen bzw. dem Konzept des Empowerments im Besonderen und
den Aufgaben und Möglichkeiten von Assistenzhunden geschaffen werden. Dies lässt darauf
schließen, dass die Miteinbeziehung des Assistenzhundewesens in das professionelle
Bewusstsein Sozialer Arbeit neue Möglichkeiten für die Halter*innen von Blindenführ-,
Service- und Signalhunden schaffen und sich deren Autonomie, Selbstbestimmung und
Befähigung dadurch verbessern kann.
„Animals serve as a vehicle for clients to create meaning and value out of difficult life experiences, especially if those animals provide a source of hope, possibility or purpose.” (MacNamara & Moga in Ryan 2014: 158)
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