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Christa Dürscheid Varianz, Konstanz und Kasus Abstract The paper begins with some general remarks about the concepts of variety and variation and the distinctions between diatopic, diastratic, diaphasic and diachronic variation. It then points out what the relation between lin- guistic variance and linguistic constancy is and how the term “constancy” can be defined more closely. Subsequently, a case study follows – in both senses of the word: Based on some examples, it is shown what information about case variation can be found in selected reference books about the German language and how the rules (= constants) and the variants in the field of case marking are represented in these books. At the end of the ar- ticle, it is argued that even more of grammar-related research in linguistic variation within the standard language should be included in reference books and in teaching materials for German as a foreign language as well. Varianz ist zwar allgegenwärtig und unermesslich, aber nicht unbegrenzt. Walter Haas (2011, 20) 1. Vorbemerkungen Dass Varianz allgegenwärtig ist, zeigt nicht nur die Sprachrealität; das zeigt sich auch dann, wenn man nur einen Blick auf die umfangreiche linguistische Literatur zu diesem Thema wirft, die in den vergangenen 20 Jahren erschienen ist. Eine führende Rolle in diesem Forschungsfeld spielen die Arbeiten von Eva Neuland, in denen sprachliche Variation nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern immer auch mit Bezug auf unterrichtsrelevante Fragen behandelt werden. Exemplarisch hierfür sei der von Eva Neuland herausgegebene Sammelband mit dem Titel Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht genannt, der 36 Beiträge aus linguistischer und didaktischer Perspek- tive umfasst. Das Buch gliedert sich in mehrere Großkapitel, die u.a. die folgenden thematischen Bereiche abdecken: ‚Nationale Varietäten‘,
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Dürscheid, Christa (2015). Varianz, Konstanz und Kasus. In: Peschel, Corinna/Runschke, Kerstin (Hrsg.): Sprachvariation und Sprachreflexion in interkulturellen Kontexten. Frankfurt:

Mar 18, 2023

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Christa Dürscheid

Varianz, Konstanz und Kasus

AbstractThe paper begins with some general remarks about the concepts of variety and variation and the distinctions between diatopic, diastratic, diaphasic and diachronic variation. It then points out what the relation between lin-guistic variance and linguistic constancy is and how the term “constancy” can be defined more closely. Subsequently, a case study follows – in both senses of the word: Based on some examples, it is shown what information about case variation can be found in selected reference books about the German language and how the rules (= constants) and the variants in the field of case marking are represented in these books. At the end of the ar-ticle, it is argued that even more of grammar-related research in linguistic variation within the standard language should be included in reference books and in teaching materials for German as a foreign language as well.

Varianz ist zwar allgegenwärtig und unermesslich,aber nicht unbegrenzt.

Walter Haas (2011, 20)

1. Vorbemerkungen

Dass Varianz allgegenwärtig ist, zeigt nicht nur die Sprachrealität; das zeigt sich auch dann, wenn man nur einen Blick auf die umfangreiche linguistische Literatur zu diesem Thema wirft, die in den vergangenen 20 Jahren erschienen ist. Eine führende Rolle in diesem Forschungsfeld spielen die Arbeiten von Eva Neuland, in denen sprachliche Variation nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern immer auch mit Bezug auf unterrichtsrelevante Fragen behandelt werden. Exemplarisch hierfür sei der von Eva Neuland herausgegebene Sammelband mit dem Titel Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht genannt, der 36 Beiträge aus linguistischer und didaktischer Perspek-tive umfasst. Das Buch gliedert sich in mehrere Großkapitel, die u.a. die folgenden thematischen Bereiche abdecken: ‚Nationale Varietäten‘,

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Peschel, Corinna/Runschke, Kerstin (Hrsg.): Sprachvariation und Sprachreflexion in interkulturellen Kontexten. Frankfurt: Lang (= Sprache – Kommunikation – Kultur: Soziolinguistische Beiträge 16), 117–140
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‚Dialektale Varietäten‘, ‚Soziolektale Varieäten‘ und ‚Situative Varietä-ten‘ (so die Formulierungen in den Kapitelüberschriften). Wie die He-rausgeberin in der Einleitung betont, dient ihr diese Unterteilung nur als „Orientierungsrahmen für die zunehmende Dynamik von Ausgleich und Veränderung im Varietätengefüge des heutigen Deutsch“, es werde damit „keine varietätenlinguistische Erfassung in einem engeren oder gar einheitlichen Sinne intendiert“ (Neuland 2006, 11). An diese Aussage möchte ich im Folgenden anknüpfen und in einem ersten Schritt den Va-rietätenbegriff selbst problematisieren. Im Anschluss daran folgt ein Fall-beispiel (im doppelten Sinne des Wortes). Hier lege ich den Schwerpunkt auf die diatopische Variation im Deutschen, genauer: auf das Verhältnis von Kasuskonstanz und (standardsprachlicher) Kasusvarianz.

In Abschnitt 2 folgen zunächst also allgemeine Bemerkungen zu den Konzepten Varietät und Varianz und zur Unterscheidung von sprachlicher Variation auf diatopischer, diastratischer diaphasischer und diachroner Ebene. In Abschnitt 3 wird ausführlich dargelegt, in welcher Relation Vari-anz und Konstanz stehen und wie der Begriff der Konstanz genauer gefasst werden kann. Das scheint insofern geboten, als zwar geradezu inflationär von Mikrovarianz, Makrovarianz, Variation, Varietäten und Varianten die Rede ist, sich zu Konstanz und Konstanten in der Variationsforschung aber nur wenig findet. Abschnitt 4 geht der Frage nach, welche Hinweise sich zur diatopischen Kasusvariation in ausgewählten Nachschlagewerken des Deutschen finden (z.B. in der Duden-Grammatik) und wie die Regeln (= Konstanten) und Varianten in diesem Bereich in diesen Werken dar-gestellt werden. Zum Schluss des Beitrages wird dafür plädiert, dass die grammatische Forschung zur standardsprachlichen Variation stärker noch als bisher Eingang in die Handbücher zum Deutschen und in die DaF-Lehrwerke finden sollte (Abschnitt 5).

2. Varietät und Variation

In natürlichen Sprachen liegt keine Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen signifiant und signifié vor. So kann ein signifié kann je nach Region, aus welcher der Sprecher stammt, als Sahne oder Rahm, als grillen oder gril-lieren bezeichnet werden, ein Phonem kann auf die eine oder andere Wei-se ausgesprochen werden (vgl. das Zungenspitzen- und Zäpfchen-R),

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eine Genitivendung kann als Langform mit -es oder als Kurzform mit -s realisiert werden (vgl. des Stuhles/Stuhls). Die meisten Leser werden daher der Aussage von Walter Haas zustimmen, dass Variation allgegenwärtig ist (s. das vorangestellte Zitat). Sie ist aber, und das betont Haas auch, dennoch nicht unbegrenzt: Dialektsprecher erkennen bestimmte Varianten fraglos als zu ihrem Dialekt gehörig an, andere nicht. Sie fassen also be-stimmte Variantenkonfigurationen, so Walter Haas, intuitiv als ortstypisch bzw. ortuntypisch auf. Mit anderen Worten: Es gibt Konstanten1, die dazu führen, dass die Sprecher eine Varietät als deutlich unterschieden von einer anderen wahrnehmen, d.h. Unterschiede zwischen Varietäten sehen, ohne im Einzelnen sagen zu können, worin diese Unterschiede bestehen.

Haas gibt hier allerdings nur die Wahrnehmung von Dialektsprechern wieder; in der Dialektforschung ist eine solche Grenzziehung keineswegs evident. Die Dialektologie ist denn auch, wie Haas weiter ausführt, schon früh zu der Erkenntnis gelangt, dass es über einzelne Ortsdialekte hinaus keine größeren Dialektgebiete gibt. Das ändere aber nichts daran, dass die Varianten sorgfältig und mit großem methodischen Aufwand dokumen-tiert wurden (vgl. Haas 2011, 11) – und genau darin bestehe das große Verdienst der frühen Dialektforschung. Doch stellt Haas in seinem Über-blick zur Geschichte der Dialektologie auch selbstkritisch fest: „Seither haben wir immer mehr Varianz entdeckt. Es scheint nur noch Varianten zu geben, die wir mit allen möglichen Parametern korrelieren, um wenigstens eine Illusion der Geordnetheit zu retten“ (Haas 2011, 19). An dieser Stelle setzt auch die Kritik von Wulf Oesterreicher an, der in seinem program-matischen Aufsatz zum Status und zur Konstruktion von Varietäten von der „Datenverliebtheit bestimmter linguistischer Richtungen“ (Oesterrei-cher 2010, 47) spricht. Darunter fasst Oesterreicher u.a. die „sogenannte Variationslinguistik“, die sich weigere, „den Schritt von den Daten des Sprachvorkommens in den Diskursen/Texten zu Regeln und zu den Varie-täten der historischen Ebene zu tun“ (Oesterreicher 2010, 47). Den zentra-len Unterschied zwischen einer solchen Variationslinguistik auf der einen Seite und der Varietätenlinguistik auf der anderen Seite sieht Oesterrei-cher darin, dass Erstere mit Kontinua arbeite (also beispielsweise zwischen

1 Haas (2011, 21) selbst spricht treffend von „Familienähnlichkeiten“.

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Standardsprache und Dialekt), nicht aber wie die Varietätenlinguistik mit eindeutig voneinander zu unterscheidenden Sprachformen.

Wenn Oesterreicher von Varietätenlinguistik spricht, bezieht er sich auf das Varietätenmodell von Gaetano Berruto (1987) und Eugenio Coese-riu (1988)2, in dem vier Haupttypen von Variation unterschieden werden: die Diachronik, die Diatopik, die Diastratik und die Diaphasik. Sprach-liche Varietäten werden diesem Ansatz zufolge als Einheiten der langue, als „Sprachgebrauchssysteme“ angesehen, deren „Eigenschaften in einem mehrdimensionalen Raum – beispielsweise als Schnittpunkte historischer, regionaler, sozialer und situativer Koordinaten – festgelegt sind“ (Dittmar 1997, 175). Aus synchroner Sicht sind v.a. die drei letztgenannten Dimen-sionen relevant: Die diatopische Variation bezieht sich auf die regionalen Unterschiede in einer Sprache, die diastratische Variation auf die Unter-schiede, die aus der Zugehörigkeit der Sprecher zu einer sozialen Gruppe oder Schicht resultieren, und die diaphasische Variation auf „Sprechsti-le, die mit Bewertungen in Sprechsituationen korrespondieren“ (vgl. die Formulierung in Koch/Oesterreicher 2011, 15). Diese drei Dimensionen bilden nach Koch/Oesterreicher (2011 u.ö.) eine Varietätenkette (d.h. Dia-topisches kann als Diastratisches, Diastratisches als Diaphasisches funkti-onieren, nicht aber umgekehrt), zu der ihrer Auffassung nach eine weitere Dimension gerechnet werden müsse, die das gesamte synchronische Vari-etätengefüge bestimmt: die Unterscheidung in Mündlichkeit und Schrift-lichkeit resp. Nähe und Distanz.

Als Beispiel führen Koch/Oesterreicher (2011, 167) die Kurzform ça (für cela) an, die im gesprochenen Französisch ‚praktisch ausschließlich‘ erscheine, also unabhängig von einer diaphasischen, diastratischen oder diatopischen Markierung auftrete (siehe zur Kritik an diesem Ansatz aber Dufter/Stark 2002, 93).3 Ein solch typisch gesprochensprachliches

2 Um die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung deutlich zu machen, werden hier die Erstauflagen beider Arbeiten genannt. Im Literaturverzeichnis erschei-nen sie unter Berruto (2004) und Coseriu (1992).

3 Zwar kann diese Variante auch in der Graphie vorkommen, dann aber in Texten, die Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen. Das ist z.B. in privaten Nachrichten via SMS der Fall. Hier ein Originalbeispiel aus dem Schweizer SMS-Korpus (siehe unter www.sms4science.ch): „Et mercredi, ca t irait? Faut k j véri-fie sur mon agenda dimanche soir“. Vgl. dazu auch Stähli et al. 2011.

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Phänomen liegt im Deutschen in den Apokoinu-Konstruktionen vor (vgl. das folgende konstruierte Beispiel: Ich habe keine Zeit habe ich keine), in denen ein Element als Bindeglied zwischen zwei Satzteilen auftritt. Dabei handelt es sich um eine Äußerung, die der Online-Syntax des Sprechens geschuldet ist (vgl. dazu ausführlich Schneider 2011). Dagegen sind andere Phänomene in der Regel nicht an die Phonie gebunden; selbst der adno-minale Dativ, der den Possessor in Nominalgruppen kennzeichnet (vgl. dem Vater sein Haus), kommt im Deutschen, anders als die Apokoinu-Konstruktion, auch im Geschriebenen vor – sofern es sich um einen Texte handelt, der in einem nähesprachlichen Duktus verfasst ist.

Abschließend sei an dieser Stelle angemerkt, dass in vielen Arbeiten schon dann von ‚Varietät‘ die Rede ist, wenn ein Sprachgebrauch charak-teristische sprachliche Merkmale aufweist (wie z.B. die Jugendsprache). Daraus folgt in der Regel aber nicht, dass damit eine strikte Grenzzie-hung zwischen den Varietäten postuliert werden würde. So verwendet auch Eva Neuland den Terminus Varietät, weist aber eigens darauf hin, dass in ihrer Arbeit der Variationsbegriff „weiter gefasst [wird] als üblich“ (Neuland 2006, 11).4 Für eine solch weite Begriffsfassung von Varietät spricht aus meiner Sicht zweierlei: Zum einen kommt es damit nicht zu Abgrenzungsproblemen, da nicht postuliert wird, bei Varietäten handle es sich um diskrete Einheiten; zum anderen ist der Sprachgebrauch nicht immer auf vorhersehbare Weise mit außersprachlichen Parametern korre-lierbar ist. Wenn überhaupt, so ist dies nur bei diatopischen Varietäten der Fall. Interessanterweise findet in den Nachschlagewerken von Bußmann (2008) und Glück (2010) ein Eintrag zu ‚Varietät‘, nicht aber zu ‚Varietä-tenlinguistik‘. Die Bezeichnung ‚Varietät‘ scheint also ein breit anerkann-ter linguistischer Terminus zu sein, ‚Varietätenlinguistik‘ nicht. Doch ist das einschlägige Kapitel von Norbert Dittmar (1997), das sich unmittelbar an das mehrdimensionale Varietätenmodell von Eugenio Coseriu anlehnt,

4 Eva Neuland spricht sich sogar explizit gegen das „strukturalistische Varie-tätenmodell“ aus, das mit „einer eher sprachsystembezogenen Sichtweise die sprecherbezogene Perspektive des Sprachgebrauchs“ nicht zureichend erfasse (Neuland 2006, 10). Vgl. dazu auch Auer (2012, 8), der feststellt, dass deut-sche Einführungen und Handbücher sich mit einem „engen, strukturalistischen Varietätenbegriff“ schwer tun.

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mit „Grundbegriffe der Varietätenlinguistik“ überschrieben (vgl. Dittmar 1997, 173–252). Es gilt also nicht für alle deutschen Einführungen, dass sie, wie Auer (2012, 8) schreibt, den Systemcharakter von Varietäten auf-geben und einen weiten Varietätenbegriff zugrunde legen.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie viel Variation gegeben sein muss, damit überhaupt – in einem engen oder weiteren Sinne – von einer Varietät die Rede sein kann (vgl. dazu Dufter/Stark 2002, 85). Auch fragt es sich, ob es berechtigt ist, in dem synchronischen Varietätengefüge nicht drei, sondern vier Varietätendimensionen anzusetzen und zu postulieren, dass eine am Nähe-Distanz-Kontinuum ausgerichtete Dimension den gesamten Varietätenraum überdacht. Andreas Dufter und Elisabeth Stark kommen in ihrer Kritik an diesem Modell denn auch zu folgendem Fazit: „En de-hors du diatopique, le postulat des dimensions risque de réduire la descrip-tion de la variation à une sorte de domptage par la théorie dans un théâtre de variétés“ (Dufter/Stark 2002, 102). Dieser Auffassung schließe ich mich im Folgenden an und werde nur dann von ‚Varietäten‘ sprechen, wenn ich auf die diatopische Dimension Bezug nehme. Darunter fasse ich die Dialekte, aber auch die Standardvarietäten des Deutschen (z.B. Schweizer Standarddeutsch, deutsches Standarddeutsch, österreichisches Standard-deutsch). Dass es sich dabei um je eigene Varietäten handelt, wird in den Arbeiten zur Pluriarealität des Deutschen zu Recht herausgestellt. So heißt es im theoretischen Vorspann zum Variantenwörterbuch mit Bezug auf die Länder, in denen Deutsch Amtssprache ist (d.h. Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Schweiz, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol/Norditalien): „Weil die Besonderheiten der einzelnen Zentren nicht den Charakter eige-ner Sprachen haben, werden sie von der Wissenschaft als ‚Varietäten‘ des Deutschen bezeichnet“ (Ammon et al. 2004, XXXI). Der Wörterbuchteil selbst umfasst, alphabetisch geordnet auf über 900 Seiten, über 12000 Ein-träge zu Wörtern (z.B. Marille) und Wendungen (z.B. das Heu auf der glei-chen Bühne haben), die in ihrer Verwendung entweder auf eine Varietät des Standarddeutschen beschränkt sind oder darüber hinaus vorkommen, aber dennoch nicht im gesamten deutschen Sprachraum im Gebrauch sind (vgl. Ammon et al. 2004, XI). Der thematische Schwerpunkt liegt im Variantenwörterbuch zwar auf der lexikalischen Variation, es werden aber auch grammatische Varianten erfasst, sofern sie aus Lexemeigen-schaften der jeweiligen Stichwörter resultieren. Das ist z.B. beim Lemma

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ändern der Fall, wo zu lesen ist, dass dieses Wort in der Schweiz auch ohne Reflexivum stehen kann (vgl. Das Wetter ändert).

3. Varianz und Konstanz

Vergleich man den Sprachgebrauch mehrerer Sprecher (inter-speaker variation), aber auch den Sprachgebrauch nur eines Sprechers (inner-speaker variation), dann stellt man rasch fest: Betonung und Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Wortwahl, Wortstellung – all das kann inter-individuell, von Sprecher zu Sprecher, aber auch intra-individuell, bei ein und demselben Sprecher, variieren. Besteht angesichts dieser Variationsfülle nicht die Gefahr, dass man – bildlich gesprochen – vor lauter Bäumen (= Varianz) den Wald (= Konstanz) nicht mehr sieht? Zumindest die Ter-mini selbst, ‚Konstante‘ und ‚Konstanz‘, scheinen hier keine Rolle zu spie-len. Zwar ist hier von „Varietät und Homogenität“ (Coseriu 2007, 262) die Rede, von der „Einheit des Sprachlichen“ (Oesterreicher 2010, 41) und von „Regelhaftigkeiten“ (Oesterreicher 2010, 40), doch beziehen sich diese Aussagen immer auf das Ganze, auf das Sprachsystem, nicht auf das, was auf der Mikroebene konstant bleibt. Wie aber werden Konstanten in der Linguistik definiert? Bei Bußmann (2008) findet man dazu keinen Eintrag, bei Glück (2010) ist zu lesen: „Konstante f. (engl. constant): In der Ling. Bez. für unveränderliche, feste Größen; Ggs. Variable […]“ (Glück 2010, 356). Als Antonym zu Konstante wird hier ‚Variable‘ genannt und ‚Variable‘ komplementär dazu als veränderliche, instabile Größe definiert (vgl. Glück 2010, 744). Das führt uns zu der Frage, wie ‚Variable‘ und ‚Variante‘ zu unterscheiden sind. Durrell (2004) erläutert den Unterschied in einem Aufsatz mit dem Titel „Linguistic Variable – Linguistic Variant“ auf anschauliche Weise. Er führt an, dass es im Deutschen auf phoneti-scher Ebene die Möglichkeit gebe, das Verb taugt mit einem frikativen [x] (analog zu taucht) oder aber mit einem plosiven [k] zu realisieren. Im Anschluss daran hält Durrell fest: „Such alternatives constitute a linguistic variable, and the alternatives themselves – the fricative or plosive pronun-ciation – make up the variants of this variable“ (Durrell 2004, 395).5

5 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass nur dann von Varianten die Rede sein kann, wenn keine funktionelle Opposition vorliegt. Dies ist im Deutschen

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Eine Variante ist also die jeweils realisierte Form einer Äußerung; eine Variable stellt das Merkmal dar, in dem sich diese Realisierung von einer anderen Realisierung unterscheidet, die zum selben Typus gehört. Hinter den Realisierungsalternativen steht die Konstante, d.h. die Einheit, deren Wert unverändert bleibt. Sie ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen eins-bis-n Varianten; sie ist das Muster, das die verschiedenen Realisie-rungsformen zusammenhält. Gibt es nur eine Realisierungsform, dann fällt diese mit der Konstanten zusammen. Das ist z.B. der Fall, wenn in den verschiedenen Varietäten des Standarddeutschen für ein signifié ein und dasselbe signifiant steht, wenn sich hier in diatopischer Hinsicht also gar keine Auswahl treffen lässt (vgl. Tisch (CH) – Tisch (D) – Tisch (A) vs. Maturand (CH) – Abiturient (D) – Maturant (A)).6

Wichtig ist auch zu betonen, dass es auf allen Ebenen des Sprachsystems Varianten und Konstanten gibt. So kann auf der phonetischen Ebene je nach regionaler Herkunft des Sprechers die Akzentsetzung eines Wortes variieren (vgl. Büro mit der Betonung auf der ersten oder zweiten Silbe), konstant bleibt, dass überhaupt ein Akzent gesetzt wird. Auf morpholo-gischer Ebene ist – unter bestimmten sprachinternen Bedingungen – die Realisierung des Genitivflexivs als -s oder -es variabel (s.o.); konstant bleibt, dass der Genitiv auf -s gebildet wird. Auf lexikalischer Ebene hat der Sprecher – in Abhängigkeit vom situativen Kontext – die Wahl zwischen unterschiedlich konnotierten Wörtern (vgl. Gesicht – Visage – Antlitz); konstant bleibt das signifié, das hinter diesen Bezeichnungen steht. Eine Wahl gibt es auch auf orthographischer Ebene; hier legt eine amtlich ver-bindliche Regelung fest, welche Varianten innerhalb des Schriftsystems gleichberechtigt nebeneinander stehen (z.B. Spagetti – Spaghetti, vonseiten – von Seiten, binnen kurzem – binnen Kurzem). Und auch auf syntaktischer

z.B. bei der Alternative gespannter/ungespannter Vokal der Fall. Hier handelt es sich um Differenz, nicht um Varianz (vgl. die Minimalpaare vom Typus kam vs. Kamm, den vs. denn).

6 Ammon (1995, 66) spricht in diesem Zusammenhang von „sprachlichen Konstanten“ und stellt fest, dass die Varietäten einer Sprache in der Regel mehr Konstanten als Varianten enthalten. Als Beispiel führt er den Satz Die Versteigerung der Aprikosen wird von Donnerstag auf Freitag verschoben an, in dem – von dem Wort Aprikose (österreichisch: Marille) abgesehen – alle Wörter Konstanten sind.

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Ebene liegt Variation vor. Hier kann z.B. die Satzgliedstellung variieren (vgl. Das Buch lese ich – Ich lese das Buch); konstant bleibt, dass diese Variation nur innerhalb eines bestimmten grammatischen Rahmens mög-lich ist. Die Konstanz ist in diesem Fall aber nicht an die sprachlichen Einheiten selbst gebunden, sondern zeigt sich an dem dahinter stehenden ‚Bauprinzip‘, an den Regeln zu ihrer Verknüpfung. Diese Regeln schaffen im System der Einzelsprache die Basis, auf der standardsprachliche Va-riation überhaupt möglich wird. Sie sind aber nicht nur Voraussetzung für standardsprachliche Variation, sie stellen auch ihre Grenzen dar: Eine Abfolge wie Buch der liest Mann ein als Variante zu Der Mann liest ein Buch ist im Deutschen unter keinen Umständen nicht möglich, weil es keine Regel gibt, mit der diese Stellungsvariante kompatibel wäre. Dabei handelt es sich um einen innersprachlichen, syntaktischen Faktor, der die Variation einschränkt; hinzu kommen sprachexterne Gründe, die der Vari-ation Grenzen auferlegen, sie innerhalb dieser Grenzen aber auch begüns-tigen. So steht das Verb parkieren zwar gleichwertig neben parken, beide Verben gehören zur deutschen Standardsprache (vgl. Ammon et al. 2004, 556); doch ist parkieren nur in der Schweiz gebräuchlich. Der Gebrauch dieses Verbs in einer norddeutschen Zeitung würde Verwunderung hervor-rufen. Ein Journalist im Flensburger Tageblatt könnte das Verb parkieren folglich nur dann verwenden, wenn er damit eine bestimmte stilistische Absicht verfolgt – und genau hier liegen die Grenzen der Variation.

Bei aller Variation sollte man also nicht aus dem Blick verlieren, dass a) Variation ihre Grenzen hat, dass b) diese Grenzen sowohl innersprachlich (vgl. parkieren/parken, nicht aber notieren/*noten) als auch außersprach-lich sein können und dass c) hinter allen Varianten immer Konstanten ste-hen (z.B. das gemeinsame signifié zu parken/parkieren). Die vollständige linguistische Beschreibung eines sprachlichen Ausdrucks muss alle drei As-pekte berücksichtigen. Allerdings wird in der praktischen Arbeit das Au-genmerk meist auf den einen oder den anderen Bereich gerichtet, d.h. man legt den Schwerpunkt entweder auf die sprachinterne Beschreibung (z.B. in der Grammatiktheorie) oder es steht die kommunikativ-funktionale Ana-lyse im Vordergrund (z.B. in der Variationslinguistik). Doch in jüngerer Zeit gibt es Annäherungen zwischen diesen beiden Forschungsperspekti-ven. Ein Beispiel hierfür ist der von Andreas Dufter et al. (2009) heraus-gegebene Sammelband mit dem Titel Describing and Modeling Variation

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in Grammar, der eine Brücke zwischen der Grammatikforschung und der Dialektologie schlägt und sprachliche Variation sowohl innersprachlich als auch mit Bezug auf außersprachliche Faktoren beschreibt.

4. Ein Fallbeispiel

Die Regeln (= Konstanten) im Bereich der Kasusmarkierung betreffen sowohl die Kasusflexion als auch die Zuweisung von Kasus. In den Gram-matiken des Deutschen werden diese Regeln häufig in Übersichtstabellen aufgelistet. Das soll im Folgenden an ausgewählten Beispielen illustriert werden. Die Ausführungen stehen unter der Leitfrage, wie die Regeln in diesen Handbüchern dargestellt und welche Hinweise auf diatopische Varianten gegeben werden (vgl. dazu auch Dürscheid/Sutter 2014). Dabei richte ich das Augenmerk ausschließlich auf solche Varianten, die, so die Formulierung in der Duden-Grammatik (2009, 223), „standardsprachlich gleichberechtigt“ sind.

4.1 Kasusflexion

In der Duden-Grammatik werden fünf Flexionsklassen unterschieden (vier Flexionsklassen im Singular, eine im Plural) und im Anschluss daran ein-zelne Aspekte, wie z.B. die Weglassung des Genitiv-s bei Eigennamen mit Artikel (vgl. das Tal der Mosel) oder der syntaktisch bedingte Wegfall der Kasusendung -en am Substantiv (vgl. DAAD-Preis für Student_ aus China), genauer thematisiert (vgl. Duden 2009, 193–220). In diesem Zusammen-hang wird auch erläutert, unter welchen Bedingungen ein Substantiv mit einer langen Genitivendung auftreten kann (vgl. des Busches) bzw. auftre-ten muss (vgl. des Busses) und wo es freie Variation gibt (vgl. des Gifts/des Giftes). Letzteres ist dann der Fall, wenn das Substantiv im Stamm auf einen betonten Vokal und auf einen oder mehreren Konsonanten endet (vgl. Duden 2009, 197). Auf kommunikativ-funktionale Aspekte, die für den Gebrauch der einen oder anderen Kasusform sprechen, wird dagegen nur vereinzelt hingewiesen. So heißt es z.B., dass „in geschriebener Stan-dardsprache“ Fremdwörter, die auf eine unbetonte Silbe enden, im Geni-tiv „eher [als] endungslose Formen“ erscheinen (Duden 2009, 196), oder dass sich die Verwendung des Dativ-e „wohl bewusst an die traditionelle Literatursprache“ (Duden 2009, 207) anlehne.

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An späterer Stelle, unter der Überschrift ‚Varianz und Differenz‘ (Duden 2009, 222–248), folgt eine Tabelle, in der mehr als 400 Substantive auf-gelistet sind, die in ihrer Flexion variabel sind. Neben dem jeweiligen Stichwort (z.B. Oberst) stehen hier Angaben zu Bedeutung und Gebrauch und zum Genus. Dann werden – sofern vorhanden – alternative Formen im Genitiv Singular (z.B. des Obersten/des Obersts) und im Nominativ Plural (z.B. die Nachlasse/die Nachlässe) aufgelistet, wobei der Schräg-strich jeweils anzeigen soll, dass die Varianten gleichberechtigt sind, auch wenn sie nicht gleich häufig auftreten. Zu den hier angeführten Varian-ten gehören z.B. Substantive, die den Genitiv Singular nach dem Muster der schwachen Kasusflexion bilden, aber auch in der starken Flexion vor-kommen (z.B. des Ahnen/Ahns; des Nachbarn/Nachbars). Weiter sind in der Tabelle solche Wörter erfasst, die verschiedene Bedeutungen tragen und unterschiedlich flektiert werden, im Nominativ aber homonym sind. So tritt das Substantiv Bär in zwei Flexionsklassen auf, in der schwachen und in der starken Deklination (vgl. des Bärs/des Bären), und es hat zwei Bedeutungen, von denen die eine, Bär in der Bedeutung von ‚Maschinen-hammer‘, fachsprachlich ist und wohl den wenigsten bekannt sein dürfte. Dabei handelt es sich also um einen Fall von Differenz, nicht von Varianz. Diese Differenz manifestiert sich nicht nur im Bedeutungsunterschied (wie es auch bei dem Homonym Ton der Fall wäre), sondern auch in der Zuge-hörigkeit zu verschiedenen Flexionsklassen (was für Ton nicht gilt).

Beispiele wie Bär1 und Bär2 stellen in der Tabelle aber eine Ausnah-me dar; in den meisten Fällen werden Substantive angeführt, zu denen auf morphologischer Ebene Kasusvarianten existieren, ohne dass es auf semantischer Ebene Unterschiede geben würde. In der linguistischen Literatur finden sich zahlreiche Arbeiten zu diesem Typus von Kasusvaria-tion, an dieser Stelle seien stellvertretend nur die Beiträge von Rolf Thieroff (2003) und Klaus Michael Köpcke (2005) genannt.7 Was den Gebrauch

7 Ich kann hier nur auf einen der beiden Beiträge, auf Köpcke (2005), eingehen: Klaus-Michael Köpcke hat die Bedingungen, unter denen maskuline Substanti-ve dazu tendieren, von einer in die andere Flexionsklasse zu wechseln, in einem Aufsatz mit Titel „Die Prinzessin küsst den Prinz“ anschaulich dargestellt (vgl. Köpcke 2005). Danach gibt es eine Prototypizitätsskala, auf der an der linken Peripherie die Maskulina stehen, für die gilt, dass sie die Flexionsklasse nicht wechseln können. Ein zentrales Merkmal dieser Substantive ist, dass sie auf

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des Substantivs betrifft (Spalte 2 in der Tabelle), stehen hier Angaben wie „umgangssprachlich“, „oberdeutsch“; „bayrisch“; „österreichisch“, „schweizerisch“, „katholisch“, „theologisch“, „süddeutsch“ und „regio-nal“. Diese lassen sich den drei oben vorgestellten varietätenlinguistischen Dimensionen von Eugenio Coseriu zuordnen. So verweist der Hinweis „schweiz.“ beim Substantiv Bord (mit der Bedeutung ‚Abhang‘) auf die diatopische, „umgangssprachlich“ auf die diaphasische und „theologisch“ auf die diastratische Dimension. Auch die diachrone Dimension kommt ins Spiel, und zwar dann, wenn angegeben wird, es handle sich um einen „veraltenden“ Gebrauch (vgl. der Same vs. der Samen). An späterer Stelle heißt es dazu erläuternd (vgl. Duden 2009, 217), dass bei einer kleinen Klasse von Substantiven die alte Nominativform auf -e als Variante erhal-ten geblieben sei (vgl. Friede, Funke, Gedanke vs. Frieden, Funken, Gedan-ken). Doch ob der Sprecher diese Variation überhaupt wahrnimmt und ob er weiß, dass es sich im einen Fall um eine ältere, im anderen Fall um eine neuere Form (also um eine diachrone Variation) handelt, ist fraglich.

Bei einem anderen Typus ist die diachrone Dimension dagegen noch sichtbar. Das betrifft die Verwendung des Dativ-e bei Substantiven, die stark flektiert werden (vgl. dem Kreise). Dieses Dativ-e tritt laut Duden (2009, 206f.) „außerhalb der traditionellen Literatursprache […] fast nur noch in festen Wortverbindungen auf“ (vgl. im Grunde genommen, im Zuge der Ermittlungen). Wird es, wie beispielsweise in der Werbung aus Reimgründen, doch noch verwendet (vgl. Der Kluge reist im Zuge), gilt die Ausdrucksweise als veraltet.8 Dass dies so wahrgenommen wird, ist ein Indiz dafür, dass der Sprecher um die diachrone Dimension in der Syn-chronie weiß. Meist ist es aber so, dass ein solcher Kasusgebrauch gar

Schwa auslauten (vgl. Matrose), hinzu kommen Mehrsilbigkeit, Penultima-Betonung und das Merkmal [+menschlich]. Am anderen Ende der Skala stehen solche, für die diese Merkmale nicht zutreffen (vgl. Bär). Je weniger Merkmale ein Substantiv mit diesem Prototyp teilt, desto eher tendiert es dazu, die Flexi-onsklasse zu wechseln.

8 Dieser Slogan wurde von den Schweizerischen Bundesbahnen erstmals 1958 verwendet und ist heute noch bekannt. Nun mag man sich auf den Standpunkt stellen, dass in dieser Zeit das Dativ-e möglicherweise noch gebräuchlicher war (was zunächst empirisch zu überprüfen wäre). Davon unbenommen aber ist, dass eine solche Formulierung im Jahr 2014 archaisierend wirkt.

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nicht mehr sichtbar ist. So hat die Schwächung der Kasusmarkierung am Substantiv dazu geführt, dass als einziger Kasusanzeiger im Plural noch das Suffix -n steht (vgl. Nübling 2010, 58), wohingegen im Althochdeut-schen die Kasusformen des Plurals noch eindeutig markiert waren (vgl. das Kasus-Numerus-Paradigma von Lamm im Plural: lemb-ir, lemb-ir-o, lembi-r-un, lemb-ir). Hier kann von diachroner Kasusvarianz also nur in einem Sinne, über die verschiedenen Sprachstufen hinweg die Rede sein, aber nicht in Bezug auf die Gegenwartssprache.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Die Regeln zur Kasusflexion stellen die Basis dar, auf der standardsprachliche Kasusvariation möglich ist. Wenn Varianten auftreten, dann muss der Sprecher wissen, in welchem Kon-text die eine oder andere Form üblich ist, von welchen Faktoren also der Gebrauch der einen oder anderen standardsprachlichen Variante abhängt. Solche Hinweise werden in dem Duden-Kapitel zur Kasusflexion aber nur ansatzweise gegeben. Grundsätzlich nicht erfasst sind in diesem Kapitel auch solche Varianten, die laut Duden als nicht-standardsprachlich gel-ten. Dazu gehört z.B. der Wegfall der Akkusativ- bzw. Dativendung bei schwachen Maskulina (vgl. den Student_ vs. den Studenten). Solche Nonstandard-Variationsmuster habe ich an anderer Stelle beschrieben (vgl. Dürscheid 2007), auf diese werde ich hier nicht eingehen. Allerdings ist zu bedenken, dass sich die Zahl der Varianten um ein Vielfaches erhö-hen würde, würde man auch den nicht-standardsprachlichen Bereich (z.B. die verschiedenen Dialekte) in Betracht ziehen.

4.2 Kasusrektion

In diesem Abschnitt lege ich den Schwerpunkt nur auf solche Kasusvari-anten, die die Rektion betreffen (z.B. etwas vergessen/auf etwas vergessen) und in den diatopischen Varietäten der deutschen Standardsprache belegt sind. Um eine Aussage zur Standardsprachlichkeit dieser Varianten ma-chen zu können, lege ich vier Referenztexte zugrunde: das Valenzwörter-buch deutscher Verben (Schumacher et al. 2004), der Zweifelsfälle-Duden (2011), das Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004) und die Duden-Grammatik (2009). An ausgewählten Beispielen werde ich zeigen, wie die Regeln in diesem Bereich dargestellt werden und wie der Variation Rechnung getragen wird.

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a) Wie viele Ergänzungen ein Verb zu sich nehmen kann und wie diese Ergänzungen kategorial gefüllt werden (z.B. als Dativ-, Akkusativ- oder Genitiv-NP; als Präposition über oder an, auf oder über + NP) – das ist insbesondere für Deutschlernende eine wichtige Information. Übersicht-lich gestaltete Angaben dazu findet man in Valenzwörterbüchern. Hier sei nur das VALBU, das Valenzwörterbuch deutscher Verben, genannt (Schumacher et al. 2004), das sowohl in einer Druckversion als auch als PDF verfügbar ist, aber auch in einer Hypertext-Version vorliegt (genannt: E-VALBU), auf die man kostenlos zugreifen kann (http://hypermedia.ids-mannheim.de/evalbu/index.html). Das VALBU besteht – in der Print- und PDF-Version – aus einem Rahmentext und einer Wortliste, die 638 Verben umfasst, zu denen ausführliche semantische und syntaktische Hinweise gegeben werden. So werden bei jedem Ein-trag die Ergänzungen genannt, „die von der behandelten Verbvarian-te gefordert werden, um einen grammatisch korrekten Satz zu bilden“ (Schumacher et al. 2004, 74). Betrachten wir dazu den Lexikonartikel zum Verb anfangen bzw. zu einer seiner Varianten: Unter der Artikelpo-sition ‚Satzbauplan (SBP)‘ steht hier die Angabe AkkE/PräpE. Das Verb kann also wahlweise mit einer Akkusativergänzung oder einer präposi-tionalen Ergänzung verwendet werden (vgl. etwas anfangen/mit etwas anfangen). Es werden aber nicht solche Realisierungsalternativen ange-geben, gelegentlich finden sich auch Hinweise zum jeweiligen Verwen-dungskontext des Verbs. Beispielsweise erfährt man beim Verb abgeben, dass dieses Verb in der Lesart: ‚jemand verliert etwas an jemanden‘ nur in der Sportsprache gebräuchlich sei (vgl. „Boris Becker musste zwei Sätze an seinen Gegner Agassi abgeben.“, Bsp. übernommen von Schu-macher et al. 2004, 126).

Sieht man das Abkürzungsverzeichnis im VALBU durch, trifft man auf weitere solche Hinweise: Neben „sportsprachlich“ stehen hier Kategorisierungen wie „jugendsprachlich“, „schweizerisch“, „Spra-che des Rechtswesens“, „Sprache der Technik“, „amtssprachlich“ oder „jägersprachlich“ gelistet. Wie diese Angaben zunächst vermu-ten lassen, sind im Wörterbuch Informationen zur diastratischen (z.B. „jägersprachlich“), diaphasischen (z.B. „umgangssprachlich“) und dia-topischen Markierung (z.B. „schweizerisch“) vorgesehen. Konsultiert man daraufhin aber den Wörterbuchteil, dann findet man nur wenige

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Einträge, in denen solche Angaben tatsächlich gemacht werden. So bie-tet die Volltextsuche in der Hypertext-Version (d.h. im E-VALBU) zum Stichwort „Schweiz“ nur 25 Treffer, zum Stichwort „schweizerisch“ gar keinen. Unter den 25 Treffern zu „Schweiz“ beziehen sich 19 auf die Perfektbildung beim Verb stehen; sind also für das Thema Kasusvaria-tion irrelevant. Ein Treffer zu „Schweiz“, der dagegen von Interesse zu sein scheint, ist das Verb basieren. Im E-VALBU steht dazu die folgende Anmerkung: „In der Schweiz wird gelegentlich statt der PräpP auf +Dat die PräpP in +Dat bzw. das Korrelat darin verwendet“.9 Als Beispiel-satz wird ein Beleg aus dem „Deutschen Referenzkorpus“ (DeReKo), einem großen Textkorpus, das am IDS beheimatet ist, angeführt. Der Satz stammt aus einer Schweizer Zeitung, in der zu lesen ist: „Seine Hoffnung basiert in der Leistung seiner Mannschaft vom Wochenende, die gezeigt hat, dass sie über Potenzial verfügt.“ (St. Galler Tagblatt, 31.03.2009, 25).

Drei weitere Treffer zu „Schweiz“, auf die man im E-VALBU stößt, sind abmachen, bezeichnen und stecken. Auch diese seien noch kurz kommentiert: Bei stecken ist es, wie bei stehen, der Perfektgebrauch, weshalb dieses Verb unter den Treffern ist. Der Treffer ist also in un-serem Kontext nicht relevant. Das gilt auch für bezeichnen, hier geht es um die Semantik, nicht um die Rektion dieses Verbs: „bezeichnen i.S.v. ‚markieren‘ wird vorwiegend in der Schweiz und in Österreich verwendet“ (Zitat aus dem E-VALBU, o.S.). Anders dagegen ist es beim Verb abmachen. Im Lexikonartikel zu diesem Stichwort heißt es im E-VALBU: „In der Schweiz wird abmachen mit auch ohne Kakk i.S.v. ‚sich mit jemandem verabreden‘ verwendet.“ Es wird also auf den Umstand hingewiesen, dass eine Ergänzung, die Akkusativergän-zung (= Kakk), fehlen kann, die im Gemeindeutschen obligatorisch ist (vgl. etwas mit jemandem abmachen). Als Beispiel wird wieder ein Be-leg aus dem DeReKo angeführt: „Die Zuschauer bekommen Einblick ins Teenie-Leben, das aus Babysitten, Basketball spielen, mit Freunden abmachen, Shoppen, am Wochenende ausschlafen und viel Hip-Hop-Tanz zu bestehen scheint.“ (St. Galler Tagblatt, 24.09.2007, 41).

9 In der Printversion ist kein Eintrag zu basieren vorhanden, die Verbliste ist also nicht mit dem E-VALBU identisch.

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Allerdings gibt es im E-VALBU nur wenige Einträge, in denen eine solch diatopische Kasusvariation Erwähnung findet.10 Das hängt mit der Zielsetzung dieses Wörterbuchs zusammen. Es will, so heißt es in der Einleitung zur Printausgabe, über den zentralen deutschen Verbbestand informieren – und dabei musste auf „die Darstellung der österreichi-schen und schweizerischen Standardvarianten […] verzichtet werden“ (Schumacher et al. 2004, 20). Eine Begründung hierfür wird allerdings nicht gegeben. Doch vermutlich ist die dahinter stehende Überlegung die, dass die Zahl der Einträge zu groß würde, wenn man auch noch solche Varianten erfassen würde. Das freilich führt dazu, dass das Buch eine stark monozentrische, auf die deutsche Standardvarietät bezogene Ausrichtung hat.

b) Das Variantenwörterbuch des Deutschen hat sich zum Ziel gesetzt, die Unterschiede zwischen den Varietäten des Standarddeutschen zu do-kumentieren (vgl. Ammon et al 2004, XI). Wörter und Wendungen, die in allen Varietäten dieselben sind, werden also nicht genannt. Der Schwerpunkt liegt zwar, wie oben erläutert, auf der Lexik, doch finden sich gelegentlich auch Angaben zur Grammatik. So werden einige Ver-ben deshalb angeführt, weil sie eine Kasusrektion aufweisen, die nicht der gemeindeutschen entspricht. Dazu gehört z.B. das Verb abpassen. Im Lexikonartikel zu diesem Verb liest man: „wird in CH in der Be-deutung ‚jmdm. auflauern‘ auch mit Dativ verbunden, gemeindt. mit Akkusativ: Doch der erboste Senn hatte ihnen abgepasst […]“ (Ammon et al. 2004, 11). Weitere solche Verben, die im Variantenwörterbuch nur aufgrund ihrer arealspezifischen Kasusrektion Erwähnung finden, sind kündigen (+ Akkusativ), vergessen (+ Präpositionalobjekt), klagen (+ Akkusativ) und anfragen (+ Dativ). So lesen wir, dass das Verb ver-gessen in der Bedeutung von ‚an etwas nicht rechtzeitig denken‘ und ‚sich um jdm./etwas nicht mehr kümmern‘ in Österreich mit der Präpo-sition auf verwendet werde (Ammon et al. 2004, 829). Dabei ist nicht – wie bei einigen anderen Einträgen – davon die Rede, dass es sich hier

10 Vgl. aber den Eintrag zum Verb erinnern: „erinnern wird regional, besonders im Nord- und Westmitteldeutschen mit einer NP im Akk. i.S.v. sich erinnern verwendet“. Als Beispiel wird hier ein Satz aus dem DeReKo angeführt: „Jetzt erinnere ich die Episode.“ (Rheinischer Merkur, 08.12.1989, 17).

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um einen „Grenzfall des Standards“ handeln würde. Die Rektionsvari-ante wird vielmehr als standardsprachlich klassifiziert.

c) Der Duden-Band Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch (2009) verspricht bereits auf der Titelseite „eine umfassende Darstel-lung des Aufbaus der deutschen Sprache“. Tatsächlich bietet die Gram-matik ausführliche Hinweise zu den Satzbauplänen des Deutschen (vgl. Duden 2009, 919–944) – und damit indirekt auch zur Kasusrektion. Die Satzbaupläne werden hier aber nicht, wie in einem Valenzwörter-buch der Fall, auf der Mikroebene, d.h. in Relation zu einzelnen Verben beschrieben, sondern auf der Makroebene, in Relation zur Satzstruk-tur. Insgesamt werden 34 satzstrukturelle Konstruktionstypen in einer Liste aufgeführt, ergänzt um Erläuterungen dazu, welche Kombina-tionen von Ergänzungen + Prädikat überhaupt möglich sind, welche Kombinationen bei sehr vielen Verben vorkommen (z.B. [Subjekt + Akkusativobjekt + Prädikat]) und welche eher selten sind (z.B. [Subjekt + Genitivobjekt + Prädikat]). In dieser Liste stehen die Satzbaupläne mit nur einer Ergänzung an erster Stelle (z.B. [Subjekt + Prädikat], vgl. Sie lacht; [Dativobjekt + Prädikat], vgl. Mich friert), dann folgen solche mit zwei, dann mit drei und vier Ergänzungen.11 Auch Realisierungs-alternativen werden genannt, sofern diese bei einer größeren Zahl von Verben auftreten. So wird beim Satzbauplan [Subjekt + Dativobjekt + Prädikat] darauf hingewiesen, dass „bei verschiedenen Verben, die ein körperliches Empfinden bezeichnen, […] der Akkusativ mit dem Dativ in Konkurrenz“ steht (Duden 2009, 927). Als Beispiele hierfür werden u.a. angeführt: Das Bein schmerzt mir/mich; Dem Hund juckte das Fell/Den Hund juckte das Fell. Einen weiteren Hinweis auf Variation findet man unter dem Eintrag zum Satzbauplan [Subjekt + Akkusativobjekt + Akkusativobjekt + Prädikat] (vgl. Er fragte ihn die Vokabeln ab). Hier wird erläutert, dass „eine Neigung“ dazu bestehe, Verben mit zwei Akkusativobjekten in einen Satzbauplan mit Dativ- und Akkusativob-jekt überzuführen (vgl. Duden 2009, 935). Doch wird keine Aussage

11 Zu Letzteren zählen in der Tabelle nur zwei Typen: [Subjekt + Dativobjekt + Akkusativobjekt + prädikative Adjektivphrase + Prädikat], vgl. Der Friseur färbt der Kundin die Haare blond; [Subjekt + Dativobjekt + Akkusativobjekt + Lokaladverbial + Prädikat], vgl. Er legt ihm die Hand auf die Schulter.

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dazu gemacht, in welchem Kontext der eine oder der andere Satzbau-plan der angemessenere ist. Nur in Bezug auf den Satzbauplan [Subjekt + Genitivobjekt + Prädikat] wird festgehalten, dass dieser immer selte-ner vorkomme, weil immer weniger Verben ein Genitivobjekt verlang-ten (Duden 2009, 928).12

d) Die Vermutung liegt nahe, dass im Duden-Band Richtiges und gutes Deutsch (2011) die Varianz einen hohen Stellenwert einnimmt, denn dieser Band verspricht laut Vorwort Auskünfte zu Zweifelsfällen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen. Es werden daher, so möchte man meinen, auch solche Phänomene behandelt, bei denen Zweifel über die Akzeptabilität im Kasusgebrauch bestehen. Tatsächlich gibt es z.B. zum Verb jucken einen Eintrag. Hier ist zu lesen, dass der Gebrauch beider Formen, Akkusativ oder Dativ, korrekt sei, wenn als Subjekt ein Körperteil genannt wird (vgl. Duden 2011, 507). Die Variation wird also nicht nur erwähnt, es wird auch erläutert, unter welchen syntaktisch-semantischen Bedingungen sie standardsprachlich ist. Und auch zu den diatopischen Unterschieden findet man einige Informatio-nen. Das gilt z.B. für das Verb rufen, wo gesagt wird, dass dieses Verb „regionalsprachlich“ mit dem Dativ auftreten kann (vgl. Duden 2011, 798). Allerdings sind die hier vorgetragenen Einschätzungen zur Stan-dardsprachlichkeit tendenziell von einer bundesdeutschen Sichtweise geprägt (vgl. dazu ausführlich Dürscheid/Sutter 2014). Diese Vermu-tung drängt sich z.B. auf, wenn man den Lexikonartikel zu vergessen konsultiert. Hier wird die Verwendung dieses Verbs mit der Präposition auf als „nicht standardsprachlich“ klassifiziert (vgl. Duden 2011, 953). Konsultiert man dagegen das „Variantenwörterbuch“, dann findet sich diese Annahme, wie wir weiter oben erwähnt, nicht bestätigt. Die Rek-tionsvariante wird hier als standardsprachlich klassifiziert.

12 Nota bene: Oft gibt es Realisierungsalternativen zum Genitiv, die mit einem Verbwechsel einhergehen (vgl. einer Sache bedürfen/eine Sache brauchen). Wenn vom Sprecher aber doch eine Rektionsvariante mit Genitiv gewählt wird, dann handelt es meist um eine feststehende Wendung (vgl. Eigener Herd ist Goldes wert; Bsp. übernommen von Nübling 2010, 104).

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5. Ausblick

Wie im vorangehenden Abschnitt an einigen Beispielen gezeigt, kommen in den Standardvarietäten des Deutschen sowohl im Bereich der Kasus-flexion als auch der Kasusrektion Varianten vor, die in den Nachschlage-werken des Deutschen aber nur sporadisch, uneinheitlich oder gar nicht erfasst sind. Dies hängt nicht nur mit der Schwerpunktsetzung des jewei-ligen Werkes zusammen, sondern auch mit dem jeweiligen methodischen Vorgehen (z.B. +/–korpusbasiert). Am ehesten kann man noch erwarten, Angaben zur Kasusvariation im „Variantenwörterbuch“ zu finden, doch legt dieses den Schwerpunkt auf die Lexik, nicht auf die Grammatik. Grundsätzlich ist zu vermuten, dass sich im Zweifelsfälle-Duden mehr Angaben zu standardsprachlichen Varianten finden als im Grammatik-Duden (da Zweifelsfälle oft Varianten sind) und dass im Variantenwör-terbuch mehr Varianten als im Zweifelsfälle-Duden erfasst sind (da das Variantenwörterbuch nur Varianten umfasst).

Würde man alle bereits vorhandenen Angaben zur grammatischen Variation aus den verschiedenen Nachschlagewerken des Deutschen zusammentragen, dann fände man sicher noch weitere interessante Kandi-daten für diatopische Varianten im Bereich der Grammatik. Wie frequent diese grammatische Varianten tatsächlich sind, wie sich ihre Distribution gestaltet und ob es sich dabei tatsächlich um diatopische Variation han-delt, muss systematisch, auf der Basis großer Korpora erfasst werden. Eine solche Untersuchung könnte einen wichtigen Beitrag zur Standard-varietätenforschung leisten – und damit zu einer linguistischen Disziplin, die im Vergleich zur Dialektforschung noch in ihren Anfängen steht. Die in diesem Bereich erzielten Forschungsergebnisse sollten aber nicht nur in Fachkreisen diskutiert werden. Sie sollten auch linguistischen Laien zugänglich sein, um das Bewusstsein dafür zu stärken, dass es – je nach Region – im Standarddeutschen gleichberechtigt nebeneinander stehen-de Ausdrucksmöglichkeiten gibt. Denn auch wenn die Zahl der Sprecher in der Schweiz und Österreich wesentlich geringer als in Deutschland ist: Dass die verschiedenen Standardvarietäten des Deutschen in sprachpoliti-scher Hinsicht gleichberechtigt sind und dass sie deshalb in sprachdidak-tischen Arbeiten und in DaF-Lehrwerken des Deutschen gleichermaßen berücksichtigt werden müssen, steht außer Frage. Dass dies dennoch oft

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nicht geschieht, hat v.a. praktische Gründe. Die Deutschlerner, so mag man zu bedenken geben, brauchen eine Leitvarietät, an der sie sich orien-tieren können. Und das sei im DaF-Bereich nun einmal das deutsche Stan-darddeutsch, da es dieses ist, mit dem sie am ehesten konfrontiert werden, wenn sie in ein deutschsprachiges Land reisen.

Doch selbst wenn dem so ist: In der Linguistik dürfen wir nicht nur die deutsche Standardvarietät im Blick haben und als Folge davon andere, standardsprachlich auch vorkommende Varianten übersehen. Inwieweit diese Varianten dann tatsächlich Eingang in den DaF-Unterricht finden, ist eine andere Frage; sind sie in der Forschung und in den Nachschlage-werken zum Deutschen nicht dokumentiert, dann werden sie auch nicht wahrgenommen.

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II. Sprachreflexion in Schule und Gesellschaft

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