Griechenland als Dystopie und Avantgarde Christian Dries, Freiburg i „Mit der Stimme der Kraniche hallte in mir die traurige Botschaft wider, daß dieses Leben für jeden Menschen nur einmalig ist, es kein weiteres gibt, und daß man alles, was man genießen kann, nur auf Erden genießt. Es vergeht schnell, und es bietet sich uns bis in alle Ewigkeit keine andere Gelegenheit.“ ii Der vorliegende Text ist das Resultat einer Spurensuche, einer Suche nach alternativen Denkwegen und davon abgeleiteten Handlungsformen angesichts globaler Krisen, die längst keine Entscheidungssituationen mehr darstellen, sondern in der Verstetigung des Notfalls bestehen und damit voraussichtlich den Beginn einer neuen Epoche einleiten, „in which a kind of economic state of emergency is becoming permanent: turning into a constant, a way of life.“ iii Die Krise erschüttert Gewissheiten – den kurzlebigen Mythos immerwährender Prosperität und sozialer Sekurität –, politische Grenzziehungen – den Primat des Nordens, die Überlegenheit des kapitalistischen Wirtschaftsmodells – und gesellschaftliche Verhältnisse: die Schere zwischen Arm und reich reißt auf. Der vorliegende Text ist der Beginn einer Spurensuche nach Alternativen im Schatten zentraleuropäischer politischer Konfliktlinien, jenseits von Patria, Socialismo o Muerte. 1
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Dries (2012): Griechenland als Dystopie und Avantgarde
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Griechenland als Dystopie und Avantgarde Christian Dries, Freiburgi
„Mit der Stimme der Kraniche hallte
in mir die traurige Botschaft wider,
daß dieses Leben für jeden Menschen
nur einmalig ist, es kein weiteres
gibt, und daß man alles, was man
genießen kann, nur auf Erden genießt.
Es vergeht schnell, und es bietet
sich uns bis in alle Ewigkeit keine
andere Gelegenheit.“ii
Der vorliegende Text ist das Resultat einer Spurensuche,
einer Suche nach alternativen Denkwegen und davon
abgeleiteten Handlungsformen angesichts globaler Krisen, die
längst keine Entscheidungssituationen mehr darstellen,
sondern in der Verstetigung des Notfalls bestehen und damit
voraussichtlich den Beginn einer neuen Epoche einleiten, „in
which a kind of economic state of emergency is becoming
permanent: turning into a constant, a way of life.“iii Die
Krise erschüttert Gewissheiten – den kurzlebigen Mythos
immerwährender Prosperität und sozialer Sekurität –,
politische Grenzziehungen – den Primat des Nordens, die
Überlegenheit des kapitalistischen Wirtschaftsmodells – und
gesellschaftliche Verhältnisse: die Schere zwischen Arm und
reich reißt auf. Der vorliegende Text ist der Beginn einer
Spurensuche nach Alternativen im Schatten zentraleuropäischer
politischer Konfliktlinien, jenseits von Patria, Socialismo o
Muerte.
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Wie konnte es kommen, dass sich die bürgerlich-neoliberale
Politik nicht nur als falsch erwiesen hat, sondern schlimmer
noch: „dass die Annahmen ihrer größten Gegner richtig sind“,
fragte sich unlängst ein konsternierter Frank Schirrmacher in
der FAZ.iv Vor ihm hatte bereits der „erzkonservative“
(Schirrmacher) britische Kolumnist Charles Moore das Büßer-
Gewand angezogen: „It has taken me more than 30 years as a
journalist to ask myself this question, but this week I find
that I must: is the Left right after all?“v Man kann auf
diese späte Selbsteinsicht eloquenter Exponenten des
bürgerlichen Lagers mit neuen Paradigmen kontern: von der
Öko-Diktatur über nachhaltiges Wirtschaften bis hin zur De-
Globalisierung. Und die vielstimmige Phalanx der
systemkritischen Gegner des in seinen Grundüberzeugungen
erschütterten Neubürgertums tut dies zurzeit mit ungebremster
Energie, wenn auch mäßigem Erfolg. Während die
selbstkritische Rechte sich noch verwundert die Augen reibt,
hat die Linke längst ihr nie ganz abgesatteltes Theoriepferd
neu gezäumt. Resonanz statt Entfremdung,vi Ökokratie und
Bürgergesellschaft 2.0vii – so und ähnlich lauten die jüngsten
Rezepte und Schlagworte ihrer Vordenkerinnen und Vordenker am
Beginn der großen neoliberalen Götterdämmerung.
Auf unübersichtliche Entwicklungen mit Theoriebildung zu
reagieren, kann, auch auf die Gefahr hin, die nicht mehr ganz
so „neue Unübersichtlichkeit“, die Jürgen Habermas Mitte der
1980er Jahre diagnostizierte,viii lediglich zu vermehren,
i Für Frank Berzbach.ii Nikos Kazantzakis: Alexis Sorbas, 6. Aufl. München: Piper 2009, S. 191.iii Slavoj Žižek: A Permanent Economic Emergency. In: New Left Review 64,July-August 2010, p. 85-95; hier S. 86.
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zunächst einmal nicht schaden. Zumal die Linke bis zurück zu
Marx auf ein nach wie vor höchst reichhaltiges und
produktives Reservoir an Denkfiguren zurückgreifen kann;
theoretische Schnittmuster, die in der gegenwärtigen Epoche
nicht mehr neu erfunden, sondern – in Umkehrung der elften
Feuerbachthese ihres Ahnherrenix – lediglich neu ausgelegt
und angereichert werden müssten.x Tatsächlich verblüfft, wie
luzide Marx und Engels einst in ihrem Manifest von 1848 ein
Gespenst an die Wand malten, das erst heute, über 160 Jahre
später, unser alle Zeitgenosse geworden ist. Zwar hat sich
die Hoffnung der beiden Gründerväter linker Theorie und
Praxis nicht erfüllt, der Kommunismus möge Europa und der
Welt einen nachhaltigen Schrecken einjagen („Ein Gespenst
geht um in Europa“). Als wahre Schreckgestalt, die den
Planeten im Würgegriff hält, hat sich der Kapitalismus
erwiesen.xi Er, und nicht etwa die „permanente Revolution“
(Leo Trotzki) eines ideologisch einbetonierten und ökonomisch
rasch erschöpften Ostblocks, hat die Welt revolutioniert:
durch „fortwährende Umwälzung der Produktion, die
iv Frank Schirrmacher: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke Recht hat“.In: FAZ.NET, 15. August 2011. URL:http://www.faz.net/artikel/C30351/buergerliche-werte-ich-beginne-zu-glauben-dass-die-linke-recht-hat-30484461.html; Zugriff: 22.10.2011.v Charles Moore: I’m starting to think that the Left might be actuallyright. In: The Telegraph, 22 July 2011. URL:http://www.telegraph.co.uk/news/politics/8655106/Im-starting-to-think-that-the-Left-might-actually-be-right.html; Zugriff: 22.10.2011.vi Vgl. Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung.Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp (i.V.)und Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischenProblems. Frankfurt/M.: Campus 2005.vii Vgl. Bernhard Pötter: Ausweg Öko-Diktatur? Wie unsere Demokratie ander Umweltkrise scheitert. München: oekom 2010 und Claus Leggewie/HaraldWelzer: Das Ende der Welt wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und dieChancen der Demokratie, 3. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer 2009.
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ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen
Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung“; indem er „an
die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen
verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte,
dürre Ausbeutung“ gesetzt hat. Kein anderes Band habe die
kapitalistische Klasse zwischen den Menschen übriggelassen,
so Marx und Engels, „als das nackte Interesse, als die
gefühllose ‚bare Zahlung‘.“xii An kaum einem anderen Land der
alten Welt lässt sich das heute besser ablesen als am
taumelnden Griechenland.
Noch nie zählte es zu den produktivsten, den
ressourcenhungrigsten Nationen, nie zur Speerspitze des
Kapitalismus. Doch es hat von Letzterem, genauer: seiner
nachkriegseuropäisch eingehegten Variante, fast
ausschließlich profitiert und dabei gehörig über seine
Verhältnisse gelebt. Von alters her agrarisch geprägt, hatten
sich die Hellenen seit ihrem Beitritt zur Europäischen
Gemeinschaft am 1. Januar 1981 einer ununterbrochenen
Erschütterung gesellschaftlicher Zustände ausgesetzt, die den
meisten Griechen neben einer zunächst bereitwillig
verschmerzten Enttraditionalisierung nie für möglich
gehaltenen Wohlstand bescherte. Doch nach dreißig Jahren
europäischer Integration ist das Land, ohne es selbst recht
zu begreifen, vom einstigen Arkadien der Romantiker und
Graecophilen zur real existierenden Dystopie des Kontinents
mutiert. Mit bangem Blick gen Südosten sieht die Union, ja
viii Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. In: Ders.: Die neueUnübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V. Frankfurt/M.:Suhrkamp 1985, S. 139-163:
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die ganze westliche Welt (die längst ebenso fest am prall
gefüllten Schuldentropf hängt wie Griechenland), was es
heißt, wenn der Rückstoß ununterbrochener Erschütterung die
Fundamente menschlichen Lebens erreicht, wenn das Band der
nackten Zahlung krachend reißt: ökonomischer und kultureller
Zerfall, zerstörte Familien, nackte Armut, Lethargie und
Depression.
Man kann sich unter der Voraussetzung eines idealistischen
Menschenbilds und mit einer gehörigen Portion
Scheinheiligkeit über das Ausmaß der Misere, über die Chuzpe
der griechischen Eliten und ein Volk aus lauter heimlichen
Komplizen, das den Lügen und Betrügereien seiner Regenten
allzu bereitwillig gefolgt ist, so lange es nur gut genug
dafür bezahlt wurde, wahrlich echauffieren. Selbst
griechische Intellektuelle tun dies nicht erst seit
gestern.xiii Dass die europäischen Staatenlenker dennoch so
ausdauernd vor drakonischen Maßnahmen – finalen
Schuldenschnitten, Währungsreformen, gar einem Ausschluss
Griechenlands aus der europäischen Staatenfamilie –
zurückschrecken, ist nicht nur wirtschaftlichen und
juristischen Erwägungen, ökonomischem Eigennutz oder der mit
schwankender Überzeugungskraft beschworenen Verpflichtung zu
ix So heißt es bei Marx (Thesen über Feuerbach. In: MEW, Bd. 3.Herausgegeben vom Institut der Geschichte der Arbeiterbewegung, 9. Aufl.Berlin: Dietz 1990, S. 5-7) bekanntlich: „Die Philosophen haben die Weltnur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“x Vgl. Fritz Reheis: Wo Marx Recht hat. Darmstadt: WissenschaftlicheBuchgesellschaft 2011.xi Vgl. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich. Diaphanes 2010/11.xii Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In:Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 4. Herausgegeben vom Institut der Geschichteder Arbeiterbewegung. Berlin, 11. Aufl. Berlin: Dietz 1990, S. 459-493;hier S. 464f.
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europäischer Solidarität geschuldet. Griechenland zeigt dem
Rest der Welt das Bild seiner eigenen Zukunft.xiv Alle haben
wir über unsere Verhältnisse gelebt. Die goldene Ära stetig
steigender Wachstumsraten ist in ganz Europa passé, das
Wohlstandsversprechen der Nachkriegszeit für kommende
Generationen annulliert. Nun zeigt ein erbostes Europa mit
dem Finger gen Südosten: Die Griechen haben sich die Hälse
vollgestopft, und wir bezahlen mit saurer Miene die Zeche.
Aber sind wir in unserer Maßlosigkeit nicht alle Griechen?
„Griechenland gehört zu uns“, mahnte unlängst Helmut
Schmidt.xv Er weiß nicht, wie sehr er damit Recht hat. Und so
hat Europa all die Jahre „zugesehen, wie Athen seine Zahlen
frisierte – und nichts unternommen.“xvi Auf welche Tugenden
sollte es nun pochen? Welchen Kurs anmahnen? Spielen nicht
auch Spanien und Italien mit sich selbst Vabanque; haben
nicht auch Deutschland und Frankreich das konsumgetriebene
Schuldenrad längst zulasten aller und zuallererst der
Schwächsten, der noch Ungeborenen weit überdreht? Die
Durchhalteparolen europäischer Spitzenpolitiker haben
fauligen Atem. Es sind die Solidaritätsadressen von Kumpanen.
Die Internationale der Gierigen, der Marktapostel,
Steuerhinterzieher und Demokratieverhöhner tagt nicht nur auf
dem Olymp. Sie ist in den Vorstandsetagen Frankfurts,
Mailands und Londons ebenso zuhause wie in Moskau und New
York. Und beileibe nicht nur auf den oberen Rängen der
Gesellschaft.
Gewiss, die griechische Misere ist kein Wallstreet-
Artefakt. Sie ist bekanntlich hausgemacht. Aber das ist nur
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die halbe Wahrheit, die menschlich bittere. Ihr Antlitz:
Staatshaushalte, korrupte Beamte und millionenschwere
Wahlgeschenke. Die Folge: Überschiessende Lebensmittelpreise,
40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, grassierende Altersarmut,
wachsende Obdachlosigkeit, steigende Gewalt. Wer in
Griechenland seinen Job verliert, kann ein halbes Gnadenjahr
von Arbeitslosenunterstützung leben, die ihren Namen nicht
wert ist, kaum 500 Euro im Monat,xvii kurzum: „Nie zuvor in
der Geschichte der Europäischen Union ist er Lebensstandard
einer Bevölkerung so rasant gefallen wie der der Griechen in
den vergangenen zwei Jahren.“xviii Der Niedergang des Landes
hat auch eine ästhetische Dimension. Man kann sie in Athen,
der wohl hässlichsten Hauptstadt Europas, ebenso besichtigen
wie auf Kreta: „Heraklion zwingt uns die deprimierende
Wahrheit auf, dass wir Welten von der Antike entfernt und
immun gegen ihre Inspiration geworden sind“, klagt Dieter
Baretzko.xix Ob auf der Geburtsinsel des Göttervaters Zeus
oder rund um die Akropolis im smogverseuchten Millionenmoloch
Athen: überall zerfallen die hastig und mit viel auswärtigem
Geld hochgezogenen Betonbauten, wird der „Zauber der
griechischen Landschaft“ (Nikos Kazantzakis) unter Bauruinen
und wilden Müllkippen begraben.xx Das Erbe der Antike, es
fristet ein kümmerliches Dasein auf Badetüchern, in
Politikerphrasen und weinseligen Stammtischreden. Vom
sprichwörtlichen Stolz der Griechen ist nur noch nackter Zorn
geblieben. Er hat sich auf dem Syntagma-Platz eine
xiii Vgl. Nikos Dimou: Über das Unglück, ein Grieche zu sein. Deutsch von Maro Marioela. München: Kunstmann 2012; griechische Originalausgabe 1975.
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interessierte Öffentlichkeit eingerichtet, er probt
verzweifelt, aber wirkungslos den Aufstand, derweil die
Preise weiter steigen und immer mehr Existenzen vor die Hunde
gehen. Überall im Land steigt die Suizidrate, und Ärzte
verschreiben Antidepressiva wie früher Hustensaft.
Die andere Seite der Wahrheit ist abstrakter, sie hat ein
Janusgesicht. Denn wohin fließt das Geld, das Europa nach
Athen pumpt, wirklich? Nur ein kleiner Teil davon landet in
den Taschen griechischer Bürger wie zum Beispiel Beamte,
deren Gehälter mit den ausländischen Steuermitteln bezahlt
werden. Das Gros fließt zurück zu einem einzigen Gläubiger:
der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Sie gehört den
Euro-Ländern. Das Geld, das vermeintlich in die Rachen
dauerferienverwöhnter südländischer Faulpelze geworfen wird,
es zieht in Europa munter seine Kreise, so lange alle
Beteiligten mitspielen und das heißt mitverdienen am
Zinskarussell der Mittelrückflüsse.xxi In den Aristotelisch
inspirierten Worten von Karl Marx wird in der Tat „der Wert
hier das Subjekt eines Prozesses, worin er [...] sich als
Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt,
sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert
xiv So formuliert es ein junger Grieche im Gespräch mit Moritz von Uslar(Athen, Du Ärmste. In: ZEIT Online, 19. Mai 2010. URL:http://www.zeit.de/2010/20/Griechenland; Zugriff: 22.10.11): „Wenn wirheute um die Probleme Griechenlands ringen, dann ringen wir um dieProbleme, die ihr in Zukunft haben werdet. Wir leben die Zukunft Europas,mein Freund.“xv Helmut Schmidt: Griechenland gehört zu uns. In: DIE ZEIT, Nr. 26, 22Juni 2001, S. 23. (Online unter: http://www.zeit.de/2011/26/Griechenland-Rettung; Zugriff: 22.10.11).xvi Alexanders Hagelüken: Griechischer Schein. Wie das Euro-Land jahrelangseine Schulden verschleierte. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 136, 15. Juni2011, S. 26.
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zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also
Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert
zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder
legt wenigstens goldne Eier.“xxii Während in Griechenland
Menschen in Mülltonnen nach Essbarem wühlen, produziert die
europäische Staatengemeinschaft goldne Eier, weil sie
verhindern will, dass ihren maroden Bankhäusern Ausfälle
drohen. Indem sie goldne Eier produziert, verlängert sie das
Elend der in den Mülltonnen wühlenden Obdachlosen vom
Syntagma-Platz, der Arbeitslosen von Thessaloniki, Heraklion
und Kalamata. Und sie verlängert das Elend einer Politik, die
sich den entfesselten Finanzmärkten längst widerstandslos
ergeben hat. In den Worten des ehemaligen deutschen
Bundesfinanzministers Peer Steinbrück: „Wir wissen, dass
durch immer neue Rettungspakete nur der Schuldendienst
Griechenlands finanziert wird. Alte Schulden werden ersetzt,
neue werden aufgenommen, steigende Zinsen finanziert. Bis uns
das eines Tages um die Ohren fliegt.“xxiii Die zweite Seite der
Wahrheit ist abstrakter, nicht weniger brutal als die erste.
In ihrem Licht ist Griechenland nicht das Problem, nur eine
Durchgangsstation, ein Legeplatz für goldne Eier.
So oder so: Vorbei sind die seligen Zeiten
Winckelmannscher Graecophilie, vorbei die Zeit, in denen
philhellenische Gesinnung die griechische
Unabhängigkeitsbewegung zu einer Angelegenheit der ganzen
westlichen Welt stilisierte und sowohl finanziell als auch
militärisch kräftig unterstützte. Kein romantischer Heros vom
Schlage eines Lord Byron landet mehr im Hafen von
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Missolunghi. Die Parallelen zum aktuellen Geschehen verlaufen
anderswo: Eine in der Zeit der so genannten „Korinthenkrise“,
die Griechenland 1893 erstmals in den Staatsbankrott trieb.
Die Gläubiger, darunter vor allem die deutsche
Reichsregierung, reagierten unerbittlich und installierten
eine paritätisch besetzte Commission Financière Internationale de la
Grèce, die die Verteilung von Zoll- und Monopolausgaben
kontrollierte und bis 1941 über Zinsen und Tilgungsraten
wachte.xxiv Die andere Parallele ist die heißlaufende
Notenpresse, die nur wenig später das eben noch
finanzpolitisch so rigide Deutsche Reich, seinerzeit auf
Tausend Jahre projektiert, zur Finanzierung seiner
Rüstungsausgaben anwarf. Drei Jahre nach dem totalen
Zusammenbruch erfolgte schließlich – der deutsche
Schuldenschnitt.
Auch Griechenland ist bankrott. Und mit ihm ein ganzer
Staatenverbund, ja ein ganzes Lebensmodell. Auch wenn sich
die politischen Akteure noch um diese Einsicht drücken: Die
westliche Fortschritts- und Wohlstandsideologie und ihr
xvii Vgl. Manfred Ertel: Griechenland droht die Massenarmut. In: SPIEGELOnline, 16. Juli 2011. URL:http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,772787,00.html; Zugriff:22.10.11.xviii Wolfgang Bauer: „Es ist ein Wahnsinn“. In: DIE ZEIT, Nr. 27, 30. Juni2011, S. 18. (Online unter: http://www.zeit.de/2011/27/DOS-Griechenland-Drama; Zugriff: 22.10.11).xix Dieter Baretzko: Unsere Antike ist unverkäuflich. In: FrankfurterAllgemeine Zeitung, Nr. 151, 2. Juli 2011, S. 35. (Online unter:http://www.faz.net/artikel/C30351/eine-epoche-als-spiegel-und-richter-unsere-antike-ist-unverkaeuflich-30453025.html; Zugriff: 22.10.11).xx „Mit Methode und System, die unsrem Alltagsleben und unserer Arbeit fehlen, konzentrieren wir uns auf unsere geheime Mission: das wunderbare Land, das uns das Schicksal zugeteilt hat, so effektiv wie möglich zu zerstören“, schreibt Nikos Dimou (Über das Unglück, ein Grieche zu sein, S. 55).
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kapitalistisches Bewegungsprinzip leisten gerade den
Offenbarungseid. Aus diesem Grund hat linke Theorie nun
wieder Konjunktur. Will man sie nicht abwürgen, darf man
nicht in Anspruch nehmen, was Rechte Vordenker proklamieren.
Man sollte nicht Recht behalten wollen. Nicht dass sie immer
schon richtig lag, macht den Glühkern linker Theorie aus.
(Rechthaben ist eine politische Form von Impotenz und
theoretisch langweilig.) Sondern ihr religiöses Erbe: der
unauslöschliche Glaube an ein Jenseits auf Erden, an die
Möglichkeit des Paradieses hic et nunc. Dieser Glaube brachte
ihr den Vorwurf der Träumerei, ja mangelnder geistiger
Gesundheit ein und von einem ehemaligen deutschen
Bundeskanzler den abfälligen Rat, mit Visionen besser zum
Arzt zu gehen. Doch wenn die Linke tatsächlich mit einem
schon immer Recht hatte, dann damit: Wehe dem, der
Alternativen zum Bestehenden nicht einmal mehr denken kann.
Das Denken in Alternativen – von der Reform bis zur
Revolution – ist das Kerngeschäft der Linken. Es wird von
jener religiösen Tiefenströmung getragen, die der
Religionskritiker Marx in seine Kritik der politischen
Ökonomie eingespeist hat, läuft aber stets Gefahr zu
erlahmen, sobald es nicht mehr mit frischen Begriffen und
Ideen versorgt wird. Mehr noch: So reichhaltig und
inspirierend ihr theoretischer Fundus ist, so sehr hat sich
die Linke seit Marxens Kapital vom Gegenstand ihrer Kritik
fesseln lassen, so sehr ist sie noch immer mit den
überkommenen Paradigmen der (Lohn-)Arbeit und der
Wertschöpfung, des Fortschritts und der Wohlstandsmehrung
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und, in ihrer reformistischen Variante, der Idee
gesellschaftlicher Modernisierung nach westlichem Vorbild
verbundenxxv – allen ökologischen Interventionen, allen
Spekulationen über eine Postarbeitsgesellschaft und einer
humanistisch gezähmten Neuauflage des Kommunismus zum Trotz.
Griechenland benötigt Hilfe, die Linke neue Ideen. Das
stiftet keinen zwingenden Zusammenhang, dennoch sei die Frage
gestattet: Was könnte die Linke von Griechenland lernen –
abseits ausgetretener Theoriepfade und abgesehen vom antiken
Erbe, auf das auch die Rechte sich gerne beruft? Prima vista
nichts. Eine eigenständige, auf der Höhe der Zeit
befindliche, alternative linke Theorie hat Athen, bisher
jedenfalls, nicht hervorgebracht. Aber das Land ist beileibe
kein stummes Opfer der entfesselten Verhältnisse, über dessen
Schicksal von nordeuropäischen Theorieplateaus herab in
xxi Vgl. Mark Schieritz/Wolfgang Uchatius: Wer kassiert unser Geld?, In:DIE ZEIT, Nr. 27, 30. Juni 2011, S. 17-20 (Online unter:http://www.zeit.de/2011/27/DOS-Griechenland-Geld; Zugriff: 22.10.11);hier S. 20. Es sind im Übrigen nicht selten Deutsche, die auf diesemKarussell Trittbrett fahren. Sie zeigen den Griechen als Touristen ihrhässliches Wirtschaftswundermachergesicht, reißen fade Urlaubswitze, woandere um ihre Existenz bangen, und gerieren sich als Privatinvestoren(vgl. Friederike Haupt: Katastrophentourismus. Trotz Euro-Krise fahrenjetzt viele Deutsche in den Urlaub nach Griechenland. In: FrankfurterAllgemeine Zeitung, Nr. 169, 23. Juli 2011, S. 38. (Online unter:http://www.faz.net/artikel/C31435/urlaub-in-griechenland-katastrophentourismus-30470753.html; Zugriff: 22.10.11)).xxii Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band.Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Nach der vierten, vonFriedrich Engels durchgesehenen und herausgegebenen Auflage, Hamburg1890, 19. Aufl. Berlin: Dietz 1998 (= MEW, Bd. 23), S. 169. Vgl.Aristoteles: Politik. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehenvon Eugen Rolfes. Mit einer Einleitung von Günther Bien. Hamburg: Meiner,S. 23.xxiii Peer Steinbrück: Wir tun nicht, was wir wissen. In: Die ZEIT, Nr. 26,22. Juni 2011, S. 25. (Online unter:http://www.zeit.de/2011/26/Steinbrueck-Euro-Griechenland; Zugriff:22.10.11).
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besserwisserischer Diktion zu dozieren wäre. Was also hätte
das ökonomisch geschundene, bürokratisch deformierte,
theoretisch trostlose Griechenland, dessen verblassender
antiker Glanz selbst in seiner Heimat kaum noch diskursive
Strahlkraft entfaltet, einer verständigungsbereiten Linken
mitzuteilen?
Für den aufmerksamen, alteuropäisch formuliert: den
kontemplativen Betrachter ist die griechische Landschaft noch
immer „vom Geist durchdrungen, der jeweils durch einen
Tempel, einen Mythos, einen Helden ihr den ihr zugehörigen
Ausdruck verliehen hat.“xxvi Das moderne Gesicht Griechenlands
aber, so sehr man darin immer noch die Spuren jenes alten
Geistes finden mag, ist von anderem Schrot und Korn. Patrick
Leigh Fermor ist ihm auf seinen Reisen nach Nordgriechenland
und in die wilde Mani begegnet, der Kreter Nikos Kazantzakis
verlieh ihm in seinem Weltbeststeller Alexis Sorbas, der das
Bild Griechenlands nach 1945 geprägt hat wie kein
hellenischer Kulturimport sonst, ikonischen Rang. Der
Vagabund, der am Ende eines langen Lebens als Minenbesitzer
in Serbien, als Kapitalist also, stirbt, ist bis heute
Griechenlands „Marke“, so der PR-Berater Peter Economides.
Woran das Land jedoch heute leide, sei „die dunkle Seite von
Alexis Sorbas“.xxvii Wie dieser habe sich der Sonnenstaat als
kleiner fauler Betrüger entpuppt, der die anderen Länder mit
mediterranem savoir vivre und charmantem Lächeln übervorteilt
bis zum Bankrott.
xxiv Vgl. Florian Rinke: Athen am Abgrund – anno 1893. In: Welt amSonntag, Nr. 27, 3. Juli 2011, S. 35.
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Bedauerlicherweise hat der Marketing-Experte seinen Sorbas
nicht gelesen und die zweifellos im Lauf der Jahre ein wenig
abgegriffene Ikone ahnungslos beschädigt. Dabei leuchtet sie
noch immer. Alexis Sorbas hat viele Gesichter. Ein
Taugenichts, ein Betrüger, ein korrupter Bürokrat, ein
bräsiger Beamter, ein machtgieriger Politiker – die
tragikomischen Akteure des modernen griechischen
Passionsspiels – ist er nicht. Mit flammendem Eifer dient er
seinem Land im Krieg. Ein narbenübersäter Körper zeugt davon.
Keine einzige Wunde findet sich an seinem Rücken, denn ein
Sorbas flieht nicht vor dem Feind. Und er ist lernfähig. Das
kriegerische Gemetzel treibt ihm bald die Zornesröte ins
Gesicht. Er schämt sich für jeden erschlagenen Türken, für
jede geschändete Frau, für den patriotischen Furor, der ihn
im Namen vermeintlich höherer Ziele zur Bestie werden ließ.
Von Ideologien hat er allemal genug. Er gründet eine Familie
(die er eines Tages wieder verlässt), zeugt Kinder und
verliert einen Sohn. Er arbeitet, nein, er versenkt sich in
jede erdenkliche Tätigkeit mit vollem Elan. Und er leidet an
ihr, denn Arbeit ist Mühsal. Doch er scheut sie nicht. Er
ergreift sie noch vor Sonnenaufgang und er verlässt seinen
Acker, seine Mine, seine Werkstatt als Letzter. Hohe Bildung,
Zertifikate hat er nicht vorzuweisen, dafür aber umso mehr
phronesis. So weiß er beispielsweise, wie man sich von
hartnäckigen Leidenschaften befreit und wieder Herr seiner
selbst wird, das heißt: im Wortsinn autonom. Freiheit ist ihm
die Krone des Menschen, der höchste Wert. Freiheit von
inneren Zwängen so sehr wie vom Diktat der Arbeit, vom Zwang
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zu akkumulieren, von der Gier nach goldnen Eiern (was ihn
freilich nicht hindert, trotzdem nach ihnen zu graben).
Unerträglich sind ihm alle Verhältnisse, „in denen der Mensch
ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein
verächtliches Wesen ist“.xxviii Mit Aristoteles ist sich Sorbas
einig, dass beherrscht zu werden ebenso unerträglich ist wie
herrschen. Freiheit ist ein unbedingter Wert, aber keine
Einbahnstraße.
Und, ja, Sorbas ist ein Schlitzohr. Ein Schlitzohr ist
kein Betrüger. Sein Chef, der Ich-Erzähler des Buches (ein
verkopftes Alter Ego des Autors), weiß das. Eines Tages
erhält er einen langen Brief aus der Stadt, in die er Sorbas
geschickt hat, um Baumaterial zu beschaffen. Der Brief, den
der Angestellte an seinen „Herrn Kapitalist“ richtet, sind
die Confessiones eines Mannes, der die „Nichtigkeit der
Dinge“ überwunden hat. Was einzig zähle, so Sorbas, sei das
Leben: „Wichtig ist nur, ob ich lebe oder ob ich tot bin.“xxix
Äußerlich fast ein Greis – runzlig, in den Ohrmuscheln die
„weißen Eselshaare des Alters“ – haust in seinem Inneren ein
unersättlicher, immer junger Lebensteufel, der ihm befiehlt,
das Dasein mit vollen Händen zu greifen. Moral reimt sich auf
diesen Lebenshunger nicht: „Wir wollen uns in den Bergen
herumtreiben, Kohle fördern, Erz, Eisen und Zink, und einenxxv Vgl. Christian Dries: Dahinten zieht die neue Zeit – wir schreitenweiter Seit’ an Seit’. In: Der Freitag, Nr. 38, 23. September 2010, S. 1.xxvi Nikos Kazantzakis: Im Zauber der griechischen Landschaft. Texteausgewählt, übertragen und herausgegeben von Isidora Rosenthal-Kamarinea,6. Aufl. München: Herbig 2001, S. 11.xxvii Peter Economides: „Griechenland ist mehr als Sonne und Souvlaki“. In:sueddeutsche.de, 06. Oktober 2011. URL:http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/werber-economides-zur-marke-des-landes-griechenland-ist-mehr-als-sonne-und-souvlaki-1.1155338; Zugriff:22.10.11.
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Haufen Geld verdienen [...]. Gelingt uns das nicht, ist es
besser, von den Wölfen, Bären oder irgendeinem anderen
Raubtier zerrissen zu werden. Denn Gott hat die Raubtiere
geschaffen, um Leute wie uns zu verschlingen, damit wir nicht
zum Gespött werden.“xxx
Es gelingt nicht. Das Unternehmen, zu dem der Erzähler mit
seinem Gefährten aufgebrochen ist, scheitert letztlich
grandios. Was ist Sorbas’ Antwort?: „,Neue Wege, neue Pläne‘,
rief er aus. ‚Bei mir ist Schluß. Ich denke nicht mehr an
das, was hier gestern geschah. Ich frage mich nicht mehr
danach, was morgen geschieht. Mich kümmert nur noch, was
heute, in dieser Minute, passiert! Ich sage: ›Was machst du
was machst du jetzt, Sorbas?‹ – ›Ich arbeite!‹ – ›Dann
arbeite gut!‹ – ›Und was machst du jetzt, Sorbas?‹ – ›Ich
umarme eine Frau!‹ – ›Dann umarme sie gut und vergiß den
Rest! Es gibt nichts anderes als sie und dich auf der Welt!
Also ran!‹‘.“xxxi
Alexis Sorbas ist ein Getriebener. Aber einer, der sich
jeden Moment in den Augenblick fallen lassen kann. „Das Leben
lieben und den Tod nicht fürchten“, lautet sein Schlachtruf.
Seine „Bremse“ habe er lange schon fortgeworfen, schreibt er
dem verdutzten Arbeitgeber. Und so kommt es auch, wie es
kommen muss: Statt die befohlenen Einkäufe zu tätigen und
stante pede zurückzukehren, lässt sich der alternde Casanova
auf die Avancen einer jungen Bardame ein, die er auf Kosten
seines Chefs tagelang aushält. (Sich selbst genehmigt er in
diesem Zug eine kleine Renovierung und lässt sich das Haar
16
schwarz färben.) Kindlich mutet den Chef die Epistel an und
zugleich philosophisch, getaucht in die Wahrnehmung eines
Wesens, dem jeder Sonnenaufgang aufs Neue wie ein Wunder
erscheint. Der Chef lässt seinen treulosen Angestellten
gewähren – zu Recht, wie sich bald herausstellt. Zwar trifft
die bestellte Warenladung samt Sorbas erst mit Verspätung
ein. Das zur Feier des Lebens veruntreute Geld beschafft der
kindliche Arbeiter wenig später, auf unkonventionellem Weg,
jedoch auf Heller und Pfennig wieder. Als sich sein Chef für
die Eskapade bedankt, indem er der abgetakelten Madame
Hortense erzählt, Sorbas wolle sie heiraten, fackelt dieser
nicht lange. Obwohl wenig begeistert, spielt er das falsche
Spiel mit, weil er der welken Diva das Herz nicht brechen
kann. Schließlich geleitet er sie zärtlich in den unerwartet
plötzlichen Tod.
„Ich glaube an nichts, an niemand. Ich glaube nur an
Sorbas“,xxxii so bricht es einmal aus Kazantzakis’ Heros
heraus. Ist er ein eingefleischter Egoist, ein gnadenloser
Unternehmer in eigener Sache, ein hellenischer Marktliberaler
avant la lettre? Leidet Griechenland am „Sorbas-Syndrom“ (Peter
Economides)? Ja, gewiss. Aber nicht, weil dieser Sorbas ein
zweifelhafter, ichsüchtiger, skrupelloser Geselle mit ein
paar aufgeschminkten Lachfältchen wäre, sondern wohl eher
xxviii Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung.In: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1. Herausgegeben vom Institut fürMarxismus-Leninismus beim ZK der SED, 15. Aufl. Berlin: Dietz 1988, S.378-391; hier S. 385.xxix Nikos Kazantzakis: Alexis Sorbas, S. 165.xxx Ebd., S. 167.xxxi Ebd., S. 302.
17
deshalb, weil das Land, wenn überhaupt, nur noch
Halbwahrheiten über seinen vermeintlichen Markenkern kennt.
Mehr als sechzig Jahre liegen zwischen Kazantzakis’
modernem Mythos und unserer Gegenwart; zwischen Patrick Leigh
Fermors Reiseberichten aus der fremden Welt griechischer
Bergdörfer und dem touristischen Ausverkauf der schönsten
Plätze des Landes. Seit dieser Zeit „haben sich die Dinge
tatsächlich geändert. Technischer Fortschritt mit seinen
zweischneidigen Segnungen, ist konstruktiv und destruktiv
durchs Land marschiert.“ Die „Pilzkrankheit des Komforts“ hat
sich auch in den entlegenen Dörfern der Mani tief in die
Gemüter gefressen.xxxiii Was erwartet den Griechenlandreisenden
heute dort? An jenen Orten, wo sich die Reste griechischer
Ursprünglichkeit auch dreißig Jahre nach dem Beitritt des
Landes zur Europäischen Gemeinschaft wohl noch am ehesten
erhalten haben. Gibt es ihn noch, Alexis Sorbas?
Das kleine Dorf, in das wir uns begeben, zählt nicht mehr
als 500 Seelen. „It was unlike any village I had seen in
Greece“, beschreibt Patrick Leigh Fermor seinen ersten
Eindruck. „These houses, resembling small castles built of
golden stone with medieval-loking pepper-pot turrets, were
toppled by a fine church. The mountains rushed down almost to
the water’s edge with, here and there among the whitewashed
fishermen’s houses near the sea, great rustling groves of
calamus reed ten feet high and all swaying together in the
slightest whisper of wind. There was sand underfoot and nets
xxxii Ebd., S. 65.xxxiii Patrick Leigh Fermor: Mani. Reise ins unentdeckte Griechenland.Deutsche Übersetzung: Hermann Stiehl, 3. Aufl. Salzburg: Otto Müller1974, S. 11f.
18
were looped from tree to tree. Whitewashed ribbed amphorae
for oil or wine, almost the size of those dug up in the
palace of Minos, stood by many a doorway.“xxxiv Heute hängen
keine Fischernetze mehr zwischen den Bäumen, die Kirche ist
zwar frisch renoviert, thront aber längst nicht mehr im
Zentrum. Immer noch reflektieren viele Häuser goldenes Licht.
Doch von mancher alten Holztür blättert seit Jahren die blaue
Farbe ab. Neubauten haben den steilen Hang auf der anderen
Seite der Durchgangsstraße erobert, bewohnt von der zweiten
und dritten Generation, von Aussteigern und Touristen. Die
Tavernen sind von März bis Oktober auf internationales
Publikum geeicht. Am Hafenbecken dümpeln nur noch wenige
Boote, auf Arbeit wartet kaum eines von ihnen. Vereinzelt
sitzen die weißhaarigen Fischersfrauen wie lebensgroße
Puppenfiguren aus längst vergangenen Tagen in ihrem schwarzem
Witwen-Ornat auf Plastikstühlen im Hof, rufen die Kinder zur
Ordnung und verscheuchen mit einem Stock die streunenden
Katzen. In ihren urigen Küchen sitzen sie des Nachts allein.
Gäste werden hier nicht mehr bewirtet. Das machen jetzt die
Jungen, in ihren Apartmentanlagen, Lounges und Restaurants.
Und die ganz Jungen lümmeln bei Cocktails in der Strandbar,
studieren auf ihren matt schimmernden Laptops globale Codes
und lassen nach Mitternacht die frisierten Motoren ihrer
Mopeds aufheulen. Für sie ist das Dorf kein Zuhause mehr, nur
ein Sprungbrett in die weite Welt. Zukunft sieht anders aus.
Und über allem schwebt die Krise. Sie hat sich in die Herzen
gefressen, in die der Verlierer und die der bis dato
xxxiv Patrick Leigh Fermor. Mani. Travels in the Southern Peloponnese.London: John Murray 2004, S. 24.
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Verschonten. Alle sprechen sie darüber: beim Bäcker, am
Kiosk, im Café und im Supermarkt. Die Zeit hat ihre Zeichen
auch in dieses Dorf getragen. Noch prangen sie nicht von
jeder Wand. Denn der kleine Flecken Land ist, was Reiseführer
in paradoxer Geschwätzigkeit einen „Geheimtipp“ nennen. Die
Geschäfte könnten besser laufen, aber sie gehen immer noch
gut. Wer allerdings nach den Wundmalen des Niedergangs
Ausschau hält, der findet sie auch: im missmutigen Gesicht
des Zeitungsverkäufers, der seine internationale Presse nicht
mehr loswird, in den rastlosen Augen der Pensionswirtin, die
sich mit den anderen Familien um Gäste zankt, hier und da in
den Gassen, an deren Saum die alten, goldglänzenden Häuser
verfallen.
Auf zahlungskräftige Kundschaft von außerhalb sind im Dorf
fast alle angewiesen. So auch der junge Mann Anfang 30,
nennen wir ihn Dimitrios, der in seinem Haus drei
Appartements vermietet. Die Preise sind fair. Im nächsten
Sommer will Dimitrios das Haus seines Großvaters an der
malerischen Gasse zum Meer renovieren. Dann hat er noch mehr
Zimmer anzubieten. Dimitrios schmiedet Pläne, immer wieder,
immer neue. Er ist ein Getriebener. Wie Alexis Sorbas. Das
erste Mal für Geld gearbeitet hat er im Alter von 12 Jahren,
am Tresen einer Kneipe. Im letzten Frühjahr hat er seine
eigene Bar eröffnet. Dimitrios arbeitet von früh bis spät.
Was die anderen über ihn denken, kümmert ihn nicht. Er hat
für so was keine Zeit. „Ich glaube an nichts, an niemand. Ich
glaube nur an Sorbas.“ Doch dass Dimitrios sich nicht um der
Leute Gerede schert, bedeutet nicht, dass ihm die Anderen
20
gleichgültig wären. In seiner Bar strömt der gesamte
Dorfklatsch wie in einem Siphon zusammen, wird umgewälzt,
gereinigt und abgeführt. Dimitrios ist ein guter Barkeeper,
er hört zu, er führt Gespräche. Man kann sagen, dass er von
seinem Siphon durchaus profitiert. „Small village, big
problems.“ Er weiß, wo die Probleme liegen. Aber er sorgt
dafür, dass seine Kundschaft bei Laune bleibt.
Dimitrios ist das pragmatische, neugriechische Gesicht
Alexis Sorbas’. Er glaubt an das, was er geschaffen hat. Er
glaubt an sich, an die Familie, die ihn unterstützt. Und,
trotz allem, auch an sein Dorf, an die Großzügigkeit, die
Freundschaft, die gegenseitige Hilfe, das öffentliche Wort.
Er schuftet, weil er seine Freiheit liebt. Und je mehr er
sich ins Zeug legt, je größer die Früchte seiner Arbeiten
werden, desto mehr gibt er. Seine Zimmerpreise steigen nicht,
sie sinken mit jedem neuen Zimmer, das er offerieren kann.
Denn je mehr er hat, desto weniger Geld muss er verlangen, um
das zu bekommen, was er zum Leben braucht. Dimitrios ist
meistens ausgebucht. Seinen Gästen sagt er, er sei stets für
sie da. Das stimmt. Und doch bleibt er immer bei sich, so wie
der Santur-Spieler Sorbas, der sein Instrument nie auf Geheiß
des Chefs spielt, nur dann, wenn ihm (und dem Instrument)
danach zumute ist. Einige Gäste verstehen das nicht. Sie
meinen, Dimitrios wäre ihr Dienstbote. Wenn sie wieder
anrufen, um ein Zimmer zu buchen, wimmelt er sie freundlich
ab. Den Hartnäckigen sagt er es unverblümt. Dimitrios ist
immer verfügbar, er schaut nie auf die Uhr. Aber er vertraut
darauf, dass seine Gäste Menschenverstand haben; dass sie das
21
Gesetz begreifen, nach dem er lebt und das vom Modus vivendi
des Marxschen Schatzbildners so weit entfernt ist wie vom
unersättlichen Akkumulationshunger der Börsen. Auf die Krise
seines Landes hat er einen klaren Blick. Er sucht die
Sündenböcke nicht, wie die Frau des Zeitungsverkäufers, vor
allem in Deutschland oder Frankreich. Er schaut erst einmal
auf die eigene Herde: auf die Politikerdynastien, die sich
seit Jahrzehnten die Regierungsgeschäfte teilen und
Wählerstimmen mit gepumptem Geld und Versorgungsposten
kaufen, auf den eigenen Konsumismus, auf die
Demokratiemüdigkeit seiner Landsleute.
Am Abend bekommt Dimitrios in seiner Bar Besuch von seiner
alten Schulfreundin, nennen wir sie Maria, und ihrem Freund,
sein Name sei Ioannis. Beide sind aus Athen zurückgekehrt an
die Küste unter die Camus’sche Sonne, in Marias Heimatdorf,
wo sie einen kleinen Laden mit Glaskunst, Klamotten und
Büchern über die Piraten der Mani aufgemacht haben. Als
leitender Angestellter hat Ioannis in der Hauptstadt gut
verdient. Gesehen hat sich das Paar dort kaum vor lauter
Arbeit. Irgendwann haben Maria und Ioannis den Takt der
Großstadt nicht mehr ertragen, die miese Luft, das
erbärmliche Essen, den Lärm und die schlechte Laune der
Leute. Das Angebot, in Athen die Filiale einer großen Kette
zu managen, hat Ioannis abgelehnt. Keiner fragt warum. Die
Antwort liegt vor unseren Augen und das Meer murmelt sie uns
in gleichmäßigem Takt ins Ohr. Wir vernehmen die mots
essentiels: die Mutter, die Sonne, das Licht... Maria und
Ioannis sind junge, kluge, urbane Menschen. Vor ihrem Laden
22
steht in einer schattigen Ecke ein kleiner Tisch mit Laptop.
Aus dem hochgeklappten Bildschirm grüßen via Skype die
Freunde. Nachts fährt Ioannis mit Marias Vater fischen. Einen
Teil ihres Fangs verschenken sie. Weil es nicht ums Geld
geht, weil tätig sein mehr heißt als bloß: arbeiten, Mehrwert
generieren.
„Small village, big problems.“ Ja, gewiss. Der Kellner ist
ein Casanova, der Postbeamte ein Menschenfeind, der
Gauloises-Typ mit der schwarzen Mähne „too nervous“, zu viele
Drogen und die große Liebe in Scherben. Das Postkartenmotiv
ist keine Idylle. In der mediterranen Sonne wird bisweilen
scharf geschossen (und nicht nur mit Schrotgewehren auf
Verkehrsschilder). Neid, Verzweiflung, Selbstmitleid und Hass
sind keine entfernten Bekannten, und die Hitze der Nacht
wärmt nicht jedes Bett. So wie die alten, in zerklüfteten
Schluchten, auf einsamen Inseln und in steinernen Trutzburgen
hausenden Griechen der Archaik ist das kleine Dorf, sind die
Griechen noch heute ein „vielköpfige[r], gehässige[r], von
Leidenschaften besessene[r] Organismus.“xxxv Die alte Zeit,
die Maria bei einem Glas eisgekühltem Mythos aus ihrer
Damals, als man die Reisenden, die keine Touristen waren,
noch im Wohnzimmer unterbrachte und an den eigenen
Küchentisch setzte. Doch die alte, traditionsreiche
griechische Kultur der Armut, genauer: der Mäßigkeit und
Selbstbescheidung ist untergegangen.xxxvi Jeder Versuch
zurückzukehren, wird auf die Bedingungen seiner Unmöglichkeit
23
zurückgeworfen. Hinter der architektonischen Reverenz der
archaisch-trutzburgenhaft anmutenden Neubauten von Pigi,
wenige Kilometer vom Dorf entfernt, verbergen sich bloß die
neuen gated communities reicher Ausländer, griechischer
Workaholics und Krisengewinnler.
Aus den flirrenden Kippbildern, die die weiße Mittagssonne
Griechenlands uns vor die Sinne zaubert, lacht er zu uns
herüber: Alexis Sorbas. Die Kultur der Armut, in deren
Geborgenheit Lebenskünstler wie er (und Kunstschaffende wie
Albert Camus) heranwuchsen, mag vergangen sein. Aber Sorbas
lebt noch immer. Er weiß, „daß das Leben voller Blutvergießen
und Treulosigkeit ist“xxxvii und er lässt sich davon nicht
bange machen: „Das Leben lieben und den Tod nicht fürchten.“
Er arbeitet, wo etwas zu tun ist. Er ist da, wo andere ihn
brauchen. Er feiert, wo es einen Anlass gibt. Er spielt sein
Instrument, er fährt hinaus aufs Meer, um das Rauschen der
Welt zu vergessen. Sorbas ist eine Anarcho-Figur, ein Rebell,
ein Stolperstein. Sorbas ist nicht integrierbar. Und deshalb
ist Alexis Sorbas ein Buch für unsere Zeit. Weil es durch die
Vordertür des Individualismus hereinplatzt und seine Leser
durch die Hintertür der Resistance entführt. Der Kapitalismus
des Nordens, vor allem in Europa, hat sich die sozialistische
Bewegung im sozialversicherten Wohlfahrtsstaat zunutzexxxv Nikos Kazantzakis: Im Zauber der griechischen Landschaft, S. 61. Soauch Nikos Dimou: Über das Unglück, ein Grieche zu sein, S. 16f., 20, 25.xxxvi Vgl. Braudel: Das Land. In: Ders./Georges Duby/Maurice Aymard: DieWelt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kulturellerLebensformen. Herausgegeben von Fernand Braudel. Aus dem Französischenvon Markus Jakob. Frankfurt/M.: Fischer, S. 11-34; hier S. 30-34 undMoritz von Uslar: „Athen, Du Ärmste“, Teil 2. In: ZEIT Online, 01. Juli2011. URL: http://www.zeit.de/2011/27/Griechenlandreise; Zugriff:22.10.11.xxxvii Nikos Kazantzakis: Im Zauber der griechischen Landschaft, S. 37.
24
gemacht und auf diese Weise den revolutionären, den
Sorbas’schen Schrei nach unbedingter Freiheit im Konsumismus
ertränkt. In den wohlstandssatten, aber abstiegsängstlichen
Mittelschichten ist davon lediglich ein kärgliches, im Kern
veränderungsunwilliges Nörgeln übrig geblieben. Man will vom
Gewohnten nicht lassen und hat sich in der eigenen
Scheinheiligkeit – Bio-Eier aus dem Öko-Markt hier, von
modernen Arbeitssklaven in Übersee gefertigte Luxuselektronik
dort – eingerichtet. Während es auf der einen Seite schon
viel zu bequem geworden ist, ist es auf der anderen schon
viel zu abschüssig, um tatsächlich aufs Ganze zu gehen.
Sorbas geht immer aufs Ganze.
Nach zwei, drei Stunden in Dimitrios Bar keimt leise eine
Frage auf: ob Griechenland, trotz seines Selbstverständnisses
und seiner Inanspruchnahme als Wiege Europas, vielleicht gar
kein okzidentales Territorium im Sinne Max Webers ist.xxxviii
Denn unter der Camus’schen Mittelmeersonne tendieren die
schönsten Hoffnungen nicht wie im stahlharten Gehäuse
moderner Rationalität dazu, in klirrende Vernunft auszuarten.
Wer vom Meer – „das ewige Element Griechenlands“xxxix – umgeben
ist, in die Sonne getaucht, verspürt wenig Regung, sich dem
modernen Maschinentakt, der flüchtigen Hektik des Business
und der Medien, dem Regime lebenslangen Lernens und
Selbstoptimierens zu unterwerfen. Was er fühlt, je länger er
vor Ort ist, desto stärker, ist „die Pflicht, dem ewigen
Rhythmus der Natur mit Vertrauen zu folgen.“xl Albert Camus
25
wusste um diesen Rhythmus wie um das pulsierende Leben der
Stadt. Sein Wissen mündete in eine Parteinahme: „Ich bin
nicht modern“.xli Auf der Suche nach einem Zufluchtsort –
„Mühsames Erwachen. Leben heißt weh tun, den anderen und
durch die anderen sich selbst. Grausame Erde! Was tun, um an
nichts zu rühren? Welches endgültige Exil finden?“xlii –
reiste der französische Wüstensohn um die halbe Welt, um
schließlich immer wieder dort zu landen, wo er längst
beheimatet war: in den Essenzen des Südens, am Meer, im
mediterranen Denken.
Was zeichnet dieses Denken aus? Franco Cassano, sein
intellektueller Wegbereiter,xliii sieht es in der
Überschneidung zweier Dimensionen verwurzelt: der Teilung und
der Vermittlung. Es bewegt sich innerhalb einer theoretischen
Matrix, die von vier Grundbegriffen gebildet wird: Autonomie,
Langsamkeit, Mediterraneo, Maß. Alle vier beleuchten aus
verschiedenen Blickwinkeln die Anatomie einer Hybris. Es ist
der Größenwahn des so genannten Westens respektive Nordens,
der den Süden als „Synonym für eine zurückgebliebene
xxxviii Vgl. Max Weber: Vorbemerkung. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zurReligionssoziologie I, 1.-9. Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr 1988, S. 1-16;hier S. 1-4.xxxix Nikos Kazantzakis: Im Zauber der griechischen Landschaft, S. 49.xl Nikos Kazantzakis: Alexis Sorbas, S. 140. Auf S. 138 sinniert derErzähler über seine bisherige Lebensweise: „Alle Fragen, die ich mir imLeben gestellt hatte, blieben nicht nur unbeantwortet, sondern wurdennoch verwickelter und bedrückender. Und meine größten und schönstenHoffnungen zerfielen, indem sie in Vernunft ausarteten...“xli Zitiert nach Heiner Feldhoff: Paris, Algier. Die Lebensgeschichte desAlbert Camus. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 1997, S. 72.xlii Albert Camus: Reisetagebücher. Herausgegeben und mit einer Einführungvon Roger Quilliot. Deutsch von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg:Rowohlt 1980, S. 93.
26
Gesellschaft“ betrachtet.xliv In den Augen des Nordens ist der
globale Süden, dem Griechenland näher steht als seinen
nordeuropäischen Bundesgenossen, nicht nur eine der
archetypischen Expressionsformen des Anderen, die das
imperiale Jahrhundert Joseph Conrads noch so angewidert
fasziniert hatte und allerlei Winckelmänner in romantische
Ekstasen versetzte. Er ist längst kein wildgefährlicher
Sehnsuchtsort mehr, er taugt nicht mehr zur kollektiven
Psychose. Für den Norden, zu dessen programmatischem
Selbstverständnis es gehört, sich von allem ,Überkommenen‘,
vom Anderen der Traditionen, der gewachsenen (und nicht
gemachten) Bindungen mit großer Geste zu distanzieren und
darob zu sich selbst zu finden, ist der Süden einfach nur
arm, unterdrückt, abergläubisch (noch heute sprechen die
Alten der Mani von Vampiren), kurz: ‚rückständig‘ – und daher
behandlungsbedürftig. In psychoanalytischer Terminologie: Wo
Süden war, soll Norden werden.
Ein zweites Konstituens modernen Denkens ist die
unbedingte Selbstverpflichtung auf perpetuierten Fortschritt,
ökonomisch formuliert: auf kontinuierliches Wachstum. Dass
der Süden dem wirtschaftspolitischen Zuruf des Nordens, sich
schleunigst in die geschlossene Formation globalisierter
Mehrwertakkumulanten einzureihen, nicht recht folgen mag, ist
gewiss nur zum Teil den unterschiedlichen klimatischen
xliii Siehe http://www.ici-berlin.org/de/docu/cassano/; Zugriff:22.10.2011.xliv Franco Cassano: Das mediterrane Denken. Die Welt vom Süden ausverstehen – andere Perspektiven für die Zukunft. In: LettreInternational, No. 93, Sommer 2011, S. 62-67. (Auszug unter:http://www.lettre.de/aktuell/93-cassano.html; Zugriff: 22.10.11); hier S.62.
27
Milieus geschuldet (in gleißender Mittagshitze lässt sich
eben nicht gut Geschäfte machen). Der Süden verkörpert eine
andere Arbeitskultur. Sie ist von der des Nordens
verschieden, nicht seine Kümmerform. Das zu begreifen,
theoretisch fruchtbar zu machen, stünde auch der Linken gut,
die, so gerne sie sich darin auch gefällt, beileibe nicht die
Rolle eines solidarischen Fürsprechers ausfüllt. Ihr Blick
auf die Welt ist oft nicht weniger vom Fortschrittspathos der
Moderne verstellt als der ihrer erklärten Gegner. Der um
nichts so sehr wie seine eigene Sekurität besorgte Spießer,
das Menschenmaterial, aus dem Hannah Arendt zufolge
totalitäre Gesellschaften geformt werden,xlv hat einen
Zwillingsbruder auf der Linken: den sozialdemokratisch
gezähmten Modernisten, der sein mehrfach gehäutetes
marxistisches Glaubensbekenntnis an die „volle Entfaltung der
Produktivkräfte“ (Marx und Engels) über zwei Weltkriege und
bis weit über die Zeit der Planungseuphorie der 1960er Jahre
(die unterdessen als politische Sachzwangbewirtschaftung
tragikomisch wiederauferstandenen ist) hinübergerettet hat.
Heimlich träumt er noch immer von jenem post-kapitalistischen
Arkadien, in dem vergesellschaftete Menschen ihren
„Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre
gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von
einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem
geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen
Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn.“xlvi
Der Schlüssel zu dieser säkularisierten Heilsvision, die auf
dem Boden effizienten Wirtschaftens gedeiht, heißt
28
Produktivität – ein zutiefst problematisches, vom nordischen
Wachstums- und Wohlstandsdenken durch und durch
kontaminiertes Konstrukt. Die Linke trifft sich mit dem
mittelmeerischen Denken in der alten Marxschen Forderung nach
Verkürzung des Arbeitstages. Aber sie wird sich überlegen
müssen, wie sie sich aus der theoretischen Falle der
revolutionslogisch notwendigen, aber ökologisch fatalen
„vollen Entfaltung der Produktivkräfte“ manövriert, in die
ihre Gründerväter sie gelotst haben. Welche Produktivkräfte
gälte es heute zu entfalten? In welchem Takt? Bis zu welcher
Grenze? Und um welchen Preis?
Als drittes Kennzeichen moderner Gesinnung neben Anti-
Traditionalismus und Wachstumsfetisch identifiziert Franco
Cassano die zunehmende Beschleunigung aller
Lebensverhältnisse.xlvii Im okzidentalen Hamsterrad, dessen
eiserne Streben aus der verhängnisvollen Legierung von
technologischer Dauerinnovation und Surpluszwang geschmiedet
sind, wird jeder einzelne Lebensmoment durch die ökonomische
Mobilmachung des gesamten Daseins als Komplettressource für
Arbeits- und Wertschöpfungsprozesse aller Art so sehr
verdichtet, dass er kaum mehr als solcher erfahrbar bleibt.
Es kommt zur „Gegenwartsschrumpfung“ (Hermann Lübbe), das
Dauerlauf-Leben rauscht an denen vorbei, die es kaum nochxlv Vgl. Hannah Arendt: Organisierte Schuld. In: Dies.: Sechs Essays.Heidelberg: L. Schneider 1948, S. 33-47.xlvi Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. DritterBand. Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion. Nachder ersten, von Friedrich Engels durchgesehenen und herausgegebenenAuflage, 14. Aufl., Berlin: Dietz 1988 (= MEW, Bd. 25), S. 828.xlvii Vgl. dazu ausführlich Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. EineKulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt/M.: Campus 2004 undHartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in derModerne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.
29
führen: „Modernität ist ontologisch reines Sein-zur-
Bewegung.“xlviii Prophetisch muten die Worte von Günther Anders
an, der schon in den 1960er Jahren vermutete, dass seine
Nachfahren nur noch „unterwegs sein [werden]. Und nicht nur
sie, sondern auch ihre Einrichtungen. Diese mit ihnen, oder
sie mit diesen. [...] Der Seinsbeweis unserer Urenkel wird
lauten: ‚Ich bin in Bewegung, also bin ich.‘“xlix Mit sehnsuchtsvollem
Blick zurück auf die vermeintlich gute alte Zeit heimatlicher
Verwurzelung und fester Freundeskreise werfen sie ihre
hyperaktiven, niemals ruhenden Kräfte der Zukunft entgegen.
„[B]leib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine
Opfer“,l lautet ihr heimliches Mantra, umhüllt von einer
Wolke schlechten Gewissens. Hoch ist der Preis, den Mensch
und Welt dafür bezahlen. Während die Individuen sich so lange
von den unerbittlichen Gesetzen des Marktes und ihren
verinnerlichten Ansprüchen schinden lassen, bis sie in
Burnout-Kliniken wieder aufwachen – Richard Sennett spricht
von einer „Erosion des Charakters“ –, wird der Erdball zur
austauschbaren Überflugkulisse und quasi en passant in eine
„Wegwerf-Welt“li verwandelt, die nur mehr als Ressource für
geldwerte Beschleunigungsprozesse Existenzberechtigung hat.
Das mediterrane Denken hält dem den inhärenten Wert der
Langsamkeit entgegen. Während der „Homo currens“ (Cassano)xlviii Peter Sloterdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik.Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 37.xlix Günther Anders: Philosophische Stenogramme, 3. Aufl. München: Beck2002, S. 84.l Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuenKapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter. Berlin: BerlinVerlag 1998, S. 29.li Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II: Über dieZerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution,2., unveränderte Aufl. München: Beck 1981, S. 42.
30
des Nordens Liebe, Erziehung, Reflexion und Geselligkeit
wahlweise als Arbeit oder Produktivkraft oder beides zugleich
zurichtet, in Zeit-Geld-Gleichungen überführt und dadurch
will das mediterrane Denken „die Verabsolutierung der
Geschwindigkeit dekonstruieren. Es will sichtbar machen, daß
wirklicher Fortschritt nicht der unumschränkten
Beschleunigung aller Erfahrung entspringt, sondern der
Möglichkeit, über eine Vielfalt von Zeiten verfügen zu
können, sowie dem Vermögen, in einer Polychronie leben zu
können.“lii Der Süden huldigt nicht dem Schlendrian. Er weiß
um die Notwendigkeit des Zupackens und um den Eigenwert der
Eile. Aber seine Zeitlandkarte ist von der des Nordens
verschieden.liii Deshalb ist er sich der Gefahren bewusst, in
der monochronische Regime geraten: „Der Turbokapitalismus
wirft allen Ballast ab, um immer schneller laufen zu können.
Aber die Gewichte, von denen er sich befreit, sind die
elementaren Strukturen von sozialen Beziehungen, die
vorbeugenden Gegenmittel gegen das Abdriften in gesetzlose
Zustände.“liv Man darf Cassano hier ergänzen: nicht nur der
sozialen Beziehungen. Wenn es stimmt, „dass die Grundlage des
Überlebens immer die Beziehung von Mensch und Umwelt ist“,lv
dann ist die von Hetze und Erschöpfung, von rasender
Ausbeutung geprägte Beziehung der Menschen zur Natur ebenso
lii Franco Cassano: Das mediterrane Denken, S. 63.liii Robert Levine: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeitumgehen, 16. Aufl. München: Piper 1999.liv Franco Cassano: Das mediterrane Denken, S. 64.lv Harald Welzer: Nach Fukushima. In: Frankfurter AllgemeineSonntagszeitung, Nr. 11, 20. März 2011, S. 21.
31
wenig tragfähig wie die der flexiblen, dauermobilisierten
Menschen untereinander.
Arbeitskult, Leistungsfetisch, Wachstumshysterie und
Reformeifer – wozu? Damit Alexis Sorbas am Ende genau so
ausgelaugt, so einsam und so verschuldet ist wie Lieschen
Müller und John Doe? Zeitverlust, nicht Zeitoptimierung ist
„die wichtigste Ressource, um unsere Gesellschaft wieder ins
Gleichgewicht zu bringen“,lvi meint Franco Cassano. Die
theoretische Herausforderung an die Linke lautet: Wozu
überhaupt und zu welchem Zweck, zu welchem Ende
technologischer Fortschritt, wenn er uns dem „Reich der
Freiheit“ nicht näher bringt, sondern nur umso fester mit dem
Hamsterrad verkettet; wenn er uns statt wachsendem
Zeitwohlstand bloß zunehmende Hetze beschert?
Ein weiterer Grundbegriff des mediterranen Denkens, man
müsste streng genommen von seiner Grundidee sprechen, ist
nach Franco Cassano das Mittelmeer: „‚Mittelmeer‘ bedeutet,
die Grenzen ins Zentrum zu rücken, die Linie der Trennung und
des Kontakts zwischen Menschen und Zivilisationen.“lvii Wie
die Weite und Tiefe des Meeres, sein unbeirrbares Wogen und
Schäumen dem Einzelnen die ephemere Kontingenz des Daseins
widerspiegelt, so reflektiert die Geschichte des
Mittelmeerraums die Kontingenz der Völker und Nationen.
Gleich der Welt der Dinge bei Hannah Arendt, so schiebt sich
das Mittelmeer wie ein Tisch zwischen die Menschen, trennend
und verbindend zugleich.lviii Eben so wie unter seiner dunklen
lvi Franco Cassano: Das mediterrane Denken, S. 64.lvii Ebd., S. 65.lviii Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München:Piper 2002, S. 66 und 224.
32
Oberfläche versammelt das Mittelmeer an seinen Rändern ein
vielfach verzweigter und in sich verschlungener Genealogien.
„Was ist das, die mediterrane Welt?“ fragt Fernand Braudel.
Seine Antwort: „Tausend Dinge auf einmal. Nicht eine
Landschaft, sondern unzählige Landschaften. Nicht eine
Zivilisation, sondern viele Zivilisationen, eine auf die
andere geschichtet. Im Mittelmeerraum reisen heißt […], Altes
und Uraltes, das noch lebendig ist, Seite an Seite mit höchst
Neuzeitlichem finden: den ungeheuren Industriekomplex von
Mestre neben dem scheinbar unverrückbaren Venedig, die
Fischerbarke, die sich in nichts von dem Boot des Odysseus
unterschiedet, neben einem Supertanker oder einem jener
Hochseefangschiffe, welche die Meere plündern.“lix Das
Mittelmeer ist ein Prisma der Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen, eine Zone polyphoner Syn- und Diachronien.
Es ist der archetypische Ort des Anderen und der Mischung,
ein Stück Welt gewordenes Antidot gegen alle Fundamentalismen
der Rasse, der Nation, der Weltaneignung.
Wer hingegen den Blick vor der Wahrheit des Mediterraneo
verschließt, wer die Polyphonien und Polychronien der Natur,
der Menschen, des Lebens, der Geschichte leugnet oder gar zu
homogenisieren, zu vernichten trachtet, begibt sich auf den
Weg zum „Kältetod“, zur klirrenden Standardisierung von Natur
und Kultur: „Ein genetischer oder kultureller ,Einheitsbrei‘
erlaubt keine Entwicklung, sondern führt zum Stillstand“, so
lix Braudel: Mediterrane Welt. In: Ders./Georges Duby/Maurice Aymard: DieWelt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kulturellerLebensformen. Herausgegeben von Fernand Braudel. Aus dem Französischenvon Markus Jakob. Frankfurt/M.: Fischer, S. 7-10; hier S. 7f.
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Franz Wuketits, der die okzidentale Rationalisierung und
Standardisierung auf einer Stufe angelangt sieht, „die uns
eine Entwicklung in vielleicht schon naher Zukunft nicht mehr
erlauben wird.“lx Ein „schöpferisches Geschehen“, heißt es
analog bei Konrad Lorenz, ist nur dann möglich, „wenn
am ,Spiel von allem mit allem‘ viele Mitspieler beteiligt
sind.“ Doch die „qualitativen Verschiedenheiten, die im
Zusammenspiel schöpferisch wirksam werden könnten,
verschwinden mehr und mehr.“lxi Soll Alexis’ Sorbas
Lebensmotto auch künftig noch Nachahmer finden „in einer
Welt, in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den
Tod“,lxii gilt es mit Nietzsche schleunigst neue Ohren hinter
den Ohren zu entwickeln, um die polyphone Botschaft des
Mediterraneo zu vernehmen, und eine europäische „Grammatik
der Relationen“ zu entwickeln, „die sich dem Zusammenstoß der
Kulturen strukturell entgegensetzt.“lxiii Theoretisch wie
politisch besteht die Aufgabe in einer „komplexe[n] und
mutige[n] Konstruktion, deren Ziel die Rettung der Vielfalt
von Lebensweisen ist“, so Franco Cassano.lxiv Dazu gehört, die
unterschiedlichen Lebensformen nicht vor jenen bestochenen
Richter zu zerren, der seine Urteile am schiefen Maßstab von
Rückschritt und Fortschritt, Tradition und Moderne
ausrichtet. Wie viel von seinen Lebensvorstellungen der
Norden für das gemeinsame Ziel wird zurücknehmen, anpassenlx Franz Wuketits: ausgerottet – ausgestorben. Über den Untergang vonArten, Völkern und Sprachen. Stuttgart: Hirzel 2003, S. 18f. und 194f.lxi Konrad Lorenz: Der Abbau des Menschlichen. München: Piper 1983, S. 79und 209.lxii Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigtenLeben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 41.lxiii Franco Cassano: Das mediterrane Denken, S. 66.lxiv Ebd., S. 67.
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oder gar aufgeben müssen, wie sehr er sich am Süden, an
mittelmeerischem Denken und mittelmeerischer Lebenspraxis
auszurichten hätte, gehört ebenfalls zu den offenen Fragen,
auf die die Linke überzeugende Antworten suchen muss.
Letztere werden, so darf man vermuten, im
Zuständigkeitsbereich des vierten Grundbegriffs mediterranen
Denkens angesiedelt sein: dem des Maßes und des Maßhaltens.
Für Cassano, der das Mittelmeer wörtlich nimmt, steht das
Maß für eine Beziehung zwischen Gegensätzen, für die
konstruktive Spannung zwischen Fortschritt und Tradition. In
diesem Sinne wäre künftig Maß zu halten zwischen radikalem
Privatismus und falsch verstandenem Individualismus auf der
einen und freiheitsfeindlichem Fundamentalismus auf der
anderen Seite,lxv zwischen Herkunft und Zukunft, Bindung und
Freiheit, zwischen entfesselten Marktkräften und lokalen
Wirtschaftskreisläufen, zwischen Norden und Süden, Westen und
Osten, zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den
Ansprüchen der Natur. Wie die „Mitte für uns“ in der
Tugendlehre des Aristoteleslxvi kann Cassanos Maß jedoch nicht
einfach auf Durchschnitt geeicht sein. Es ist wesentlich
komplexer, spezifischer, relativer, eben: polyformer zu
denken und umzusetzen. Es wäre an der vertikalen Achse der
Verteilungsgerechtigkeit ebenso zu orientieren wie an der
horizontalen Achse der Generationengerechtigkeit. Auf beiden
Achsen gälte es, linke Theorie mit mediterranem Denken ins
Gespräch zu bringen.
lxv Ebd., S. 66f.lxvi Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage derÜbersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien, 4.,durchgesehene Aufl. Hamburg: Meiner 1985, Buch II.5, S. 35.
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Nikos Kazantzakis, der Schöpfer von Alexis Sorbas, pflegte
eine ähnliche Vorstellung wie Franco Cassano. Freilich eine,
in der, im Widerspruch zum mediterranen Denken Cassanos, der
Mittelmeeranrainer Griechenland die Rolle des exklusiven
Tischherren einnimmt: „Der Westen stürmt, die Welt zu
erobern, indem er der Tradition der Logik und der Forschung
folgt; und der Osten, von schrecklichen Kräften des
Unterbewusstseins gedrängt, stürmt auch, die Welt zu erobern;
und Griechenland zwischen ihnen, als geographischer und
seelischer Brennpunkt der Welt, hat die Pflicht, diese
Riesenströmungen wieder zu versöhnen und die Komposition zu
finden. Ob es ihm gelingt?“lxvii Dass ausgerechnet Griechenland
diese „geschichtliche Mission“ hat, wie Nikos Kazantzakis
fragend hoffte, darf bezweifelt werden. In erster Linie steht
es heute vor dem Abgrund. Das Land, fürchtete Patrick Leigh
Fermor schon vor Jahrzehnten, ist wegen seiner
„unvergleichlichen Schönheit und seiner einzigartigen
Stellung in der Weltgeschichte“ von den Verwüstungen eines
entfesselten Spätkapitalismus in besonderer Weise bedroht.
„Spätere und vielleicht weniger barbarische Generationen
werden uns dem Abscheu preisgeben; sie werden sagen – und mit
Recht –, daß wir systematisch und wissentlich für eine
Handvoll Pfund, Mark, Francs, Lire und Drachmen ihr Erbe
zerstört haben; denn es gibt eben eine Chance, daß sie,
anders als wir, dieses Erbes wert sind; aber es wird
verschwunden sein.“lxviii In großer Gefahr schweben
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landschaftliche Anmut und historischer Geist, Millionen
menschliche Schicksale. Zu befürchten steht aber auch, dass
im politischen Getöse der Sachzwangverwalter der Krise, für
die Griechenland vor allem ein Problemfall ist, unser Wille
erlahmt, die geistige Mitgift des Südens an den taumelnden,
weltvergessenen, bornierten Norden zu vernehmen.
„Hier in Griechenland ist das Wunder die sichere Blüte der
Notwendigkeit“,lxix sagt der Ich-Erzähler in Nikos
Kazantzakis’ Weltbeststeller. Was, wenn Kazantzakis doch
Recht hätte? Was, wenn der Norden zum Kapitalismus schon
alles gesagt hätte; was, wenn die Welt vom Norden aus nicht
zu verändern, sondern zuerst einmal neu zu begreifen wäre –
im Dialog mit dem beschädigten, aber immer noch lebendigen
mediterranen Geist Griechenlands, jenes Landes im Brennpunkt
der Krise Europas?
Es mag im Angesicht dieser Krise, die längst keinen
singulären Wendepunkt mehr markiert, sondern zum Dauerzustand
geworden ist, tatsächlich utopisch anmuten, und doch steht
die Tür offen für ein anderes Europa, wie Slavoj Žižek
glaubt: „a re-politicized Europe, founded on a shared
emancipatory project; the Europe that gave birth to ancient
Greek democracy, to French and October Revolutions.“lxx Ohne
neue Revolutionen wird die Utopie dieses anderen Europa
womöglich leerer Glaube sein. Am Ende entscheidet zwischen
gleichen Rechten die Gewalt, heißt es im ersten Band des
Kapital,lxxi und das ist gewiss keine schöne, aber
lxvii Nikos Kazantzakis: Im Zauber der griechischen Landschaft, S. 73.lxviii Patrick Leigh Fermor: Mani. Reise ins unentdeckte Griechenland, S.13.lxix Nikos Kazantzakis: Alexis Sorbas, S. 20.
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wahrscheinlich eine realistische Zukunftsperspektive für die
notwendigen Kämpfe gegen den Primat der Ökonomie. Ohne ein
anderes, nicht-modernistisches – ein mediterranes? – Leitbild
wäre dabei für die Zukunft jedoch kaum etwas gewonnen.
„Sollte es den Menschen jemals gelingen“, heißt es bei Nikos
Dimou, „sich ganz und gar mit der Realität abzufinden, wäre
der – tragische und kämpferische – griechische Geist
verloren.“lxxii Noch ist Griechenland Europas Dystopie. Es
könnte wieder seine Avantgarde sein.
lxx Slavoj Žižek: A Permanent Economic Emergency, p. 86.lxxi Karl Marx: Das Kapital, 1. Band, S. 249.lxxii Nikos Dimou: Über das Unglück, ein Grieche zu sein, S. 62.