Top Banner
Universität Siegen Fachbereich 3: Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften Seminar: Bilder der Gewalt- Diskurse über das Zeigen/ Nicht- Zeigens am Beispiel der Filme von Michael Haneke Leitung: Dr. Christina Natlacen Wintersemester 2010/2011 Diskurs über das Zeigen und Nicht- Zeigen am Beispiel des Nationalsozialismus Şeyma Gizem Yıldırım (3. Semester) B.A. Literatur, Kultur, Medien Sandstr. 121 1.Hauptfach: Englisch 57072 Siegen 2. Hauptfach: Spanisch Email: [email protected]
10

Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Mar 08, 2023

Download

Documents

Girma Kelboro
Welcome message from author
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Page 1: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Universität Siegen

Fachbereich 3: Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften

Seminar: Bilder der Gewalt- Diskurse über das Zeigen/ Nicht- Zeigens am Beispiel der Filme von

Michael Haneke

Leitung: Dr. Christina Natlacen

Wintersemester 2010/2011

Diskurs über das Zeigen und Nicht- Zeigen am Beispiel des

Nationalsozialismus

Şeyma Gizem Yıldırım (3. Semester) B.A. Literatur, Kultur, Medien

Sandstr. 121 1.Hauptfach: Englisch

57072 Siegen 2. Hauptfach: Spanisch

Email: [email protected]

Page 2: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Inhalt 1. Einleitung: Die Gewalt des Nationalsozialismus heute ....................................... 1

2. Diskurse über das Zeigen und Nicht- Zeigen ...................................................... 2

2.1 Bilder trotz allem ............................................................................................... 2

2.2 Die Shoah ........................................................................................................... 3

2.2.1: DVD 1- Die Todesfabriken ........................................................................ 4

2.2.2: DVD 2- Den Tätern auf der Spur............................................................... 5

3. Archivmaterial oder Zeitzeugen? ......................................................................... 6

4. Quellenverzeichnis ............................................................................................... 8

Page 3: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Şeyma Gizem Yıldırım Bilder der Gewalt

1

1. Einleitung: Die Gewalt des Nationalsozialismus heute

Antisemitismus, Schutzstaffel, Hitler, Goebbels, Deportation, Vergasung und etliche

weitere Begriffe und Namen, die uns unweigerlich an die Geschichte erinnern: Der

Nationalsozialismus ist bis heute ein kontroverses Thema, mit dem sich nicht nur

Geschichtswissenschaftler und andere Forscher befassen, sondern welches auch unter

dem Gewaltbegriff von Romanautoren und Filmregisseuren häufig aufgegriffen und

verwendet wird.

Es existiert sowohl in archivalischer, als auch in fiktiver Form eine breite Masse von

Informationen, von denen wir oftmals überhäuft werden und demzufolge nicht in der

Lage sind, dem dokumentarischen Gehalt gerecht zu werden. In Anbetracht dessen,

dass immer wieder versucht wird, über zwölf Jahre Geschichte in neunzig Minuten

Film oder auf einhundert Seiten Buch zusammenzufassen, entstehen Werke, die zwar

einen gewissen Teil des Ganzen widerspiegeln können, aber niemals einen

kompletten Überblick über die Geschehnisse von 1933 bis 1945 schaffen werden.

Bezogen auf das Medium Film gibt es viele erfolgreiche Beispiele, die bereits zu

Klassikern gezählt werden (z.B. Schindlers Liste) und über die diverse Kritiken

verfasst wurden. Die Literatur hingegen bietet ein noch viel breiteres Spektrum an

Dokumenten in Form von Tagebüchern (wie z.B. Das Tagebuch der Anne Frank),

Berichten und Fiktionen. Sie alle haben Eines gemeinsam: Die Gewalt, ausgehend

vom nationalsozialistischen Regime, und ihre Opfer, deren Zahl weit über sechs

Millionen reicht.

Es erklärt sich von selbst, dass bei einer so großen Diversität bezüglich des Mediums

und der Machart auch sehr gegensätzliche Produktionen entstehen. Unter dem Aspekt

der Gewaltdarstellung ist es interessant zu analysieren, wie sich die Entwicklung

vom Antisemitismus zur systematischen Vernichtung der Juden während des Nazi-

Regimes in diesen Werken widerspiegelt und Aufschluss über Unklarheiten gibt;

ebenso spielen die überlebenden Opfer eine signifikante Rolle.

Aus diesem Grund möchte ich mein Augenmerk auf zwei gewichtige Werke richten:

Zum einen auf den ersten Teil des bekannten Dokumentarfilms Shoah von Claude

Lanzmann, der durch elfjährige Arbeit entstand und sein wohl beeindruckendstes

Werk ist, da es trotz neun Stunden Länge in keinster Weise Archivmaterial beinhaltet.

Zum anderen auf Bilder trotz allem, ein Buch des französischen Philosophen

Georges Didi-Huberman, welches vier Fotografien aus dem Konzentrationslager

Auschwitz enthält. Ein direkter Vergleich von Hauptargumenten Didi-Hubermans mit

Page 4: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Şeyma Gizem Yıldırım Bilder der Gewalt

2

der Machart des Shoah wird zwei grundverschiedene Ansichten bezüglich dieses

Themas enthüllen und zeigen, ob und wie das jeweilige Werk mit seiner eigenen Art

überzeugt.

2. Diskurse über das Zeigen und Nicht- Zeigen

2.1 Bilder trotz allem

In Bilder trotz allem wird zum ersten Mal öffentlich über vier überaus wichtige

Fotografien1 aus dem Konzentrationslager in Auschwitz gesprochen, die im Jahre

1944 heimlich von einem jüdischen Gefangenen aufgenommen wurden. Die

Intention war es, sie an den Polnischen Widerstand2 zu senden, damit diese Hilfe

leisten konnte. Zu erkennen ist auf diesen Bildern gewiss nicht alles, was die Nazis

Millionen von Juden angetan haben, aber doch genug: Leichenberge, aus denen

Rauch aufsteigt, SS- Männer, die die Haufen begutachten und nackte Frauen, die

durch ein Waldstück getrieben werden. Auch wenn ihre Qualität zu wünschen übrig

lässt, steht das, was sie offenbaren, im Vordergrund: Es ist der Beweis eines

Widerstands, die Widerlegung der Tatsache, dass eine Verbildlichung des Holocaust

unmöglich sei. Sie konfrontieren uns mit dem, was wir laut Didi-Huberman nicht

sehen wollen und was der Grund dafür ist, dass wir von dieser schrecklichen Gewalt

in absoluten Begriffen wie „unvorstellbar“ oder „unsagbar“3 reden- sie zeigen uns,

zu welchen Gräueltaten der Mensch imstande ist. Daraus leitet sich auch das nächste

Argument ab, dass wir diesen Beweisstücken gegenüber sowohl moralisch als auch

geschichtlich verpflichtet sind. Denn das Wesen dieser Dokumente zu leugnen wäre

laut Didi- Huberman so, als würde man die Existenz des Widerstands in diesem

Lager leugnen und somit auch jegliche Hoffnung auf eine ersehnte Rettung.

Wer allerdings glaubt, dass sich Didi-Hubermans Forderungen nur darauf

beschränken, sich diesen Tatsachen bewusst zu werden, täuscht sich. Auch Historiker

werden von ihm ermahnt, behutsam in Bezug auf die Bildkritik vorzugehen. Hierbei

sollen zwei Aspekte beachtet werden: Die Perspektive des Bildes, d.h. was es

preisgibt und die Perspektive des Fotographen, die beschreibt, unter welchen

Bedingungen es aufgenommen wurde und was dies aussagt.

Ein weiterer wichtiger Aspekt im ersten Teil des Buches ist die Schaffung von Ikonen,

1s. Anhang

2War während des Zweiten Weltkriegs die größte militärische Widerstandsorganisation

3Vgl. Bilder trotz allem S. 44

Page 5: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Şeyma Gizem Yıldırım Bilder der Gewalt

3

gegen die sich der Autor explizit ausspricht. Diese entstünden durch Retuschen, die

an den Fotografien vorgenommen wurden, um mehr erkennen zu lassen und sie

somit zugänglicher zu machen. Doch gerade diese Vorgehensweise verfälsche sie und

mache aus ihnen etwas, das nicht länger ein Stück Wahrheit, sondern vielmehr eine

bequeme Lösung für den Betrachter sei4.

Georges Didi-Huberman macht aus diesen vier unscheinbaren Fotografien, die leider

bis heute nicht als offizielle Dokumente anerkannt wurden, eine Aufgabe für

Historiker, Archäologen und auch für uns, die alltäglichen Betrachter. Er verlangt

Mut und Anstrengung, damit diese Bilder nicht in der Masse der Archive untergehen

und uns nicht vergessen lassen, dass es selbst in einer Hölle immer noch Hoffnung

geben kann.

2.2 Die Shoah

Im Jahre 1985 brachte der französische Regisseur Claude Lanzmann den bekannten

Dokumentarfilm Shoah heraus. Abgesehen von der Länge und der Zeit, die er für die

Fertigstellung des Films aufbrachte, beeindruckt das Werk insbesondere mit seinem

speziellen Stil. Lanzmann verwendet auf keiner der DVDs- vier an der Zahl und mit

einer Gesamtlänge von fast neuneinhalb Stunden- Archivmaterial. Es werden

ausschließlich Interviews mit Opfern, Tätern und Zeitzeugen geführt und Orte

gezeigt, an denen sich früher Konzentrationslager befanden. Dem Zuschauer wird

somit bewusst eine aktive Rolle zugewiesen, da er sich nur auf die Aussagen der

Befragten stützen und sich somit allein durch seine Vorstellungskraft ein Bild von

damals machen kann.

Man muss jedoch zugeben, dass Lanzmann seine Zuschauer nicht einfach ins kalte

Wasser wirft, sondern ihnen durch seine eben sehr eigene Regie eine Stütze bietet. Es

fällt nämlich auf, dass Lanzmann einen sehr genauen, teilweise auch provokativen

Interviewstil benutzt. Erst dadurch gelingt es uns als Zuschauer, auch das kleinste

Detail zu erfahren, welches vielleicht durch das bloße Ansehen eines Bildes aus den

Archiven verloren gegangen wäre. Zudem gewinnen so die lebenden Objekte (in

diesem Fall die Befragten) an Überzeugungskraft, da sie präsent sind, wohingegen

Archivmaterial immer unweigerlich an die Vergangenheit gebunden ist. So fällt es

uns leichter, einen Bezug zu dem Thema und den Teilhabenden herzustellen.

Damit klar wird, wie genau Lanzmann versucht, mit seiner Art zu überzeugen, werde

4Vgl. Bilder trotz allem S. 58- 60

Page 6: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Şeyma Gizem Yıldırım Bilder der Gewalt

4

ich im Folgenden einige Beispiele erläutern, die auf den ersten beiden DVDs zu

finden sind. Dies soll außerdem als Kontrast zum vorher beschriebenen Kapitel

Bilder trotz allem dienen.

2.2.1: DVD 1- Die Todesfabriken

In der ersten Szene aus DVD 1 lernen wir den ehemaligen Gefangen Simon Srebnik

kennen, der als dreizehnjähriges Kind in das Konzentrationslager Chelmno5 kam. Er

ist einer von zwei Überlebenden aus diesem Lager. Es mag dem Zuschauer zunächst

einmal merkwürdig erscheinen, dass eine scheinbar idyllische Gegend mit dem

Gesang eines Mannes den Beginn einer langen Reise durch die Geschichte markiert;

doch gerade diese natürliche Umgebung- sei es nun Vogelgezwitscher oder Stille- ist

die unverfälschte Wahrheit. Wir hören keine dramatische Hintergrundmusik oder

inszenierte Handlungen. Simon wird nach vielen Jahren vom Kamerateam nach

Chelmno begleitet, wo er einer von vielen Juden war, die erst arbeiten mussten,

letzten Endes jedoch dem Tode geweiht waren.

Es existiert keine optische Parallele zwischen dem Vernichtungslager Chelmno heute

und damals, wichtig ist jedoch, dass Srebnik erwähnt, dass es dort „schon immer so

ruhig gewesen“6 sei. Er berichtet weiter, dass man ihn damals aufgrund seiner

klangvollen Stimme oft zum Singen gefordert hatte. So wurde er im ganzen Dorf

bekannt als der singende Junge mit den Fußketten.

Der zweite Überlebende aus Chelmno ist Michael Podschlebnik. Er repräsentiert den

Weg, den viele andere Opfer ebenfalls gingen: Die Verdrängung der Geschehnisse.

Im Interview sagt Podschlebnik aus, dass er bis jetzt nicht darüber geredet hat, weil

er alles vergessen wollte, was ihm damals widerfahren ist. Doch das Wiedererinnern

an das Trauma löst starke Emotionen bei dem Mann aus; durch diesen

Gefühlsausbruch kann auch der Zuschauer erkennen, dass der Schmerz real ist, mehr

als bloß ein Stück Papier oder ein Bild. Es wird offensichtlich, dass diese Gewalt, die

den Opfer angetan wurde und die sie offensichtlich auch immer noch beherrscht,

niemals in Worte zu fassen oder auf ein Foto zu bringen ist.

Anhand der oben beschriebenen Beispielszenen wird deutlich,dass Lanzmann sowohl

das Innenleben der Zeugen und dessen Bedeutung, sowie die Umstände, die zur

5Heute: Vernichtungslager Kulmhof

6Shoah 38:41- 38:51

Page 7: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Şeyma Gizem Yıldırım Bilder der Gewalt

5

damaligen Zeit herrschten, in den Vordergrund stellt. Er schafft somit ein lebendes

Archiv, nicht bestehend aus alten Schriftstücken oder Aufnahmen, sondern bestehend

aus realen Menschen.

2.2.2: DVD 2- Den Tätern auf der Spur

Die zweite DVD offenbart uns nun auch die Täterperspektive, die mit der Befragung

des damaligen Unterscharführers Franz Suchomel beginnt. Die Aufzeichnung des

Interviews läuft geheim in einem Wagen außerhalb des Hotels ab, in welchem sich

Lanzmann und Suchomel treffen. Lanzmann befragt ihn zu den

Vernichtungspraktiken im Lager Treblinka. Anhand einer Karte, auf der die

Positionen der Gaskammern verzeichnet sind, wird Suchomel dazu aufgefordert, auf

detaillierte Art zu beschreiben, wie das System in diesem Konzentrationslager

funktionierte. Auf die Frage Lanzmanns, wie es in Treblinka zuging, liefert er seine

eigene Definition: „Treblinka war ein zwar primitives, aber gut funktionierendes

Fließband des Todes.“7 Auschwitz hingegen, war seiner Meinung nach „eine

Fabrik“.8 Obwohl Suchomel die Ereignisse auf eine distanzierte Art schildert, wird

das Grauen allein durch die Begriffe, die er verwendet, deutlich.

In München wird ein weiterer Täter aufgesucht. Lanzmann und sein Kamerateam

finden ihn in einer Gaststätte, wo er arbeitet. Lanzmann fragt ihn zunächst nur, wie

viele Liter Bier der Mann täglich abzapft. Nach anfänglichem Zögern gibt dieser

Lanzmann schließlich eine Antwort. Daraufhin zeigt ihm Lanzmann ein Bild, auf

dem offensichtlich ein SS- Offizier zu erkennen ist und fragt ihn, ob er sich an diese

Person erinnern könnte. Der anonyme Mann schweigt jedoch nur und will nicht

reden. In diesem Ausschnitt wird erkennbar, dass Lanzmann nicht nur an der reinen

Information interessiert ist, die die Zeitzeugen ihm liefern können, sondern auch an

den Menschen selbst, an ihrem Wesen. So auch bei diesem Mann, dessen Namen wir

nicht erfahren und der allem Anschein nach seine Vergangenheit leugnet. Er sagt,

dass er seit ungefähr zwanzig Jahren in dieser Gaststätte arbeitet. Doch reichen

zwanzig Jahre aus, um den Tod von Millionen Menschen ungeschehen zu machen?

Raul Hilberg, ein bereits verstorbener Historiker, äußert sich in Shoah zu einem

etwas anderen Aspekt. Er ist der Meinung, dass die Nationalsozialisten erst durch das

Erfinden der Vernichtungsmaschinerien einen kreativen Schritt gemacht haben. Laut

7Shoah 03:00- 03:12

8Shoah 02:46- 02:48

Page 8: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Şeyma Gizem Yıldırım Bilder der Gewalt

6

Hilberg war nämlich alles, was die Nazis vor der „Endlösung“ betrieben haben, ein

Wiederaufgreifen der Ideale aus der Vergangenheit, vom Feindbild des Juden in der

Literatur bis zu den nationalistischen Zügen aus der deutschen Kaiserzeit. Doch als

sie sich gezwungen sahen, eine praktische Lösung für das komplette Auslöschen der

jüdischen Rasse zu finden, konzipierten sie Deportationsverfahren, Gaskammern und

Verbrennungsöfen. Mit diesen Innovationen wurden sie zu Pionieren, die die Juden

für immer loszuwerden vermochten.

Das Ende der zweiten DVD hinterlässt einen bleibenden Eindruck beim Zuschauer.

Obwohl es eigentlich nur ein Bericht ist, den Lanzmann vorließt, ist die Grausamkeit,

die von diesem Text ausgeht, gewaltig. Es handelt sich hierbei um die Erneuerung

der Gaswagen, in denen die Juden getötet wurden. Während wir Lanzmanns Stimme

im Off hören, sehen wir u.a. einen Lastwagen der Firma Sauerer, jener Firma, die

damals die Todeswagen herstellte. Der Bericht erschüttert den Zuschauer durch den

Syntax, der eine extrem distanzierte Haltung des Verfassers wiedergibt sowie durch

die Tatsache, dass in dem ganzen Bericht kein einziges Mal das Wort

„Jude“ auftaucht. Es wird immer nur von der „Ladung“ gesprochen, niemals aber

konkret von Menschen. Lanzmann führt uns hier vor Augen, dass es keiner brutalen

Bilder bedarf, um zu verstehen, dass die Gewalt vor und während des Zweiten

Weltkriegs in Deutschland ein unmenschliches Ausmaß erreichte.

3. Archivmaterial oder Zeitzeugen?

Wenn wir nun also ehrlich sein sollen, was schockiert uns letzten Endes mehr? Sind

es die Fotografien aus Auschwitz, die uns dazu bringen, einzusehen, dass der Mensch

ein Meister der Zerstörung seiner eigenen Rasse sein kann? Oder sind es doch diese

Menschen, die wie durch ein Wunder das Höllenfeuer der Vernichtungslager überlebt

haben und ihre Erinnerungen heute mit uns teilen? Sicherlich können wir mit sowohl

als auch antworten. Es ist jedoch aufschlussreich, wenn wir uns noch einmal vor

Augen führen, wie Didi-Huberman und Lanzmann jeweils ihre Position verteidigen:

Didi-Huberman fordert unmissverständlich etwas von uns, nämlich die

Verantwortung. Durch seine Fotografien, die uns- egal ob wir es wollen oder nicht-

bedrücken, erschüttern und sogar in gewisser Weise belehren, übt er eine

ungeheuerliche, aber offensichtliche Macht auf den Leser aus. Sein Standpunkt ist

gerechtfertigt: Das Archivmaterial sollte niemals missachtet oder geschweige denn

Page 9: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Şeyma Gizem Yıldırım Bilder der Gewalt

7

vernichtet werden. Diese vier Bilder, die das Zentrum in Bilder trotz allem darstellen,

sind unverfälschte Überreste aus unserer Vergangenheit. Sie sind die Details, die in

keinem Geschichtsbuch stehen, aber trotzdem von großer Wichtigkeit sind.

Lanzmann hingegen bevorzugt wie schon beschrieben eine unterschwellige Art der

Gewaltdarstellung, die uns aber gerade dadurch dazu verleitet, uns in diese

Geschichte einzubringen. Wir werden somit als Zuschauer Teil eines Verbrechens,

werden- zugespitzt gesagt- durch unsere Vorstellung zu Voyeuren. Diese Gewalt ist

keinesfalls zu unterschätzen.

In Anbetracht der bereits genannten Ergebnisse kann man davon ausgehen, dass sich

die beiden Werke in gewisser Weise ergänzen: Die Shoah ist eine zwar langatmige,

aber sehr informative Produktion, die hauptsächlich auf der Vorstellungskraft des

Zuschauers aufbaut. Bilder trotz allem hingegen ist eine brutalere, direktere Art, die

Wahrheit ans Licht zu rücken, da sie dem Leser keine Gelegenheit bietet, den Fakten

zu entkommen.

Schließlich hängt die persönliche Präferenz allem Anschein nach davon ab, wie

empfindlich man auf die zwei unterschiedlichen Methoden reagiert. Fest steht

jedenfalls, dass es nicht darum geht, eine bestimmte Machart zu befürworten oder

gegen sie zu sein, sondern herauszufinden, mit welchen Argumenten die

Hervorbringung jeweils überzeugt. Und unabhängig davon, was uns am meisten

berührt, erfüllt sich die Intention der Macher, indem wir uns unserer Geschichte

stellen und sie auf unsere eigene Art verarbeiten.

Page 10: Diskurse über das Zeigen oder Nicht-Zeigen von Gewalt - eine Einführung

Şeyma Gizem Yıldırım Bilder der Gewalt

8

4. Quellenverzeichnis

Didi-Huberman, George. Bilder trotz allem. München: Verlag Wilhelm Fink, 2007.

Print.

Piper, Ernst. Kurze Geschichte des Nationalsozialismus. Hamburg: Hoffman und

Campe Verlag, 2007.

Shoah. Dir. Claude Lanzmann. Les Films Aleph, 1985. DVD