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Aufklärung und Kritik 2/2013 115 Prof. Dr. Thomas Rießinger (Bensheim) Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde Zum zweihundertsten Promotionsjubiläum Arthur Schopenhauers „Wenn wir von unserem Großvater nichts als Schopenhauer erben können wir uns in jedem Fall glücklich schätzen“ Thomas Bernhard Die frühen Jahre An seinem Vater lag es, dass er kein Eng- länder wurde. Heinrich Floris Schopen- hauer, ein ebenso erfolgreicher wie frei- heitsliebender Danziger Kaufmann, war 1787 mit seiner Frau Johanna zu einer Reise nach England aufgebrochen, da er der zerbrechlichen, von Preußen bedroh- ten Freiheit Danzigs nicht mehr viel zu- traute und nach liberalen Alternativen such- te. Dass Johanna schwanger war, stellte man erst unterwegs fest, und Heinrich Floris wollte die Gelegenheit nutzen, seinem Nachkommen durch eine Geburt in Eng- land die englische Staatsbürgerschaft zu sichern: ein guter Anfang für den erwünsch- ten angehenden Kaufmann, der ihm Vor- teile in der Geschäftswelt gesichert hätte. Johanna war weniger begeistert, sie woll- te zurück nach Danzig, „um das Kind im Umkreis ihrer Familie auf die Welt zu brin- gen.“ 1 Es half nichts, man blieb in Lon- don, und Johanna arrangierte sich mit der Situation, zumal sie begann, Gefallen am dortigen geselligen Leben zu finden. Sie blieben nicht lange. Heinrich Floris’ de- pressive Veranlagung und seine Neigung zu starken Angstanfällen dürften ihn dazu getrieben haben, im Dezember 1787 die überstürzte Rückkehr nach Danzig anzu- treten, wo am 22. Februar 1788 Arthur Schopenhauer geboren wurde. „Ein auf- gewecktes Kind“ 2 soll er gewesen sein, aber vermutlich kein glückliches. Mit sei- nem Vater hatte er während der Kindheit wenig zu tun, die Mutter empfand das Kind als einengende Belastung. „Wie alle jungen Mütter,“ schrieb sie später, „spiel- te auch ich mit meiner neuen Puppe“ 3 , aber der Reiz der neuen Puppe nahm bald ab, während die Bedürfnisse des Kindes blie- ben und nicht zu Johannas Bedürfnissen nach geistiger Anregung und gesellschaft- lichem Umgang passten. Viel besser passte zu ihr der Umzug der Familie nach Hamburg. Die zweite polni- sche Teilung machte die ehemals Freie Stadt Danzig 1793 zu einem Teil Preußens, und Heinrich Floris, der schon viele Jahre zuvor ein persönliches Angebot Friedrichs II. zur Niederlassung in Preußen abgelehnt hatte, zog es vor, Danzig gegen Hamburg einzutauschen. Die gesellschaftlichen Mög- lichkeiten, der Austausch mit geistig in- teressierten Menschen ließen Johanna auf- blühen, die freiheitlich geprägte Atmo- sphäre kam Heinrich Floris entgegen. Ar- thur hatte wenig davon. Als „nachdenkli- ches und zurückgenommenes Kind“ 4 wird er beschrieben, dazu von der Angst be- herrscht, verlassen zu werden. „Schon als sechsjähriges Kind“, wird er später in sei- nen privaten Aufzeichnungen festhalten, „fanden mich die vom Spaziergang heim- kehrenden Aeltern eines Abends in der vollsten Verzweiflung, weil ich mich plötz- lich von ihnen für immer verlassen wähn- te.“ 5
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Aug 29, 2019

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Aufklärung und Kritik 2/2013 115

Prof. Dr. Thomas Rießinger (Bensheim)

Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden GrundeZum zweihundertsten Promotionsjubiläum Arthur Schopenhauers

„Wenn wir von unserem Großvater nichts als Schopenhauer erbenkönnen wir uns in jedem Fallglücklich schätzen“

Thomas Bernhard

Die frühen JahreAn seinem Vater lag es, dass er kein Eng-länder wurde. Heinrich Floris Schopen-hauer, ein ebenso erfolgreicher wie frei-heitsliebender Danziger Kaufmann, war1787 mit seiner Frau Johanna zu einerReise nach England aufgebrochen, da erder zerbrechlichen, von Preußen bedroh-ten Freiheit Danzigs nicht mehr viel zu-traute und nach liberalen Alternativen such-te. Dass Johanna schwanger war, stellte manerst unterwegs fest, und Heinrich Floriswollte die Gelegenheit nutzen, seinemNachkommen durch eine Geburt in Eng-land die englische Staatsbürgerschaft zusichern: ein guter Anfang für den erwünsch-ten angehenden Kaufmann, der ihm Vor-teile in der Geschäftswelt gesichert hätte.Johanna war weniger begeistert, sie woll-te zurück nach Danzig, „um das Kind imUmkreis ihrer Familie auf die Welt zu brin-gen.“1 Es half nichts, man blieb in Lon-don, und Johanna arrangierte sich mit derSituation, zumal sie begann, Gefallen amdortigen geselligen Leben zu finden. Sieblieben nicht lange. Heinrich Floris’ de-pressive Veranlagung und seine Neigungzu starken Angstanfällen dürften ihn dazugetrieben haben, im Dezember 1787 dieüberstürzte Rückkehr nach Danzig anzu-treten, wo am 22. Februar 1788 ArthurSchopenhauer geboren wurde. „Ein auf-gewecktes Kind“2 soll er gewesen sein,aber vermutlich kein glückliches. Mit sei-

nem Vater hatte er während der Kindheitwenig zu tun, die Mutter empfand dasKind als einengende Belastung. „Wie allejungen Mütter,“ schrieb sie später, „spiel-te auch ich mit meiner neuen Puppe“3, aberder Reiz der neuen Puppe nahm bald ab,während die Bedürfnisse des Kindes blie-ben und nicht zu Johannas Bedürfnissennach geistiger Anregung und gesellschaft-lichem Umgang passten.Viel besser passte zu ihr der Umzug derFamilie nach Hamburg. Die zweite polni-sche Teilung machte die ehemals FreieStadt Danzig 1793 zu einem Teil Preußens,und Heinrich Floris, der schon viele Jahrezuvor ein persönliches Angebot FriedrichsII. zur Niederlassung in Preußen abgelehnthatte, zog es vor, Danzig gegen Hamburgeinzutauschen. Die gesellschaftlichen Mög-lichkeiten, der Austausch mit geistig in-teressierten Menschen ließen Johanna auf-blühen, die freiheitlich geprägte Atmo-sphäre kam Heinrich Floris entgegen. Ar-thur hatte wenig davon. Als „nachdenkli-ches und zurückgenommenes Kind“4 wirder beschrieben, dazu von der Angst be-herrscht, verlassen zu werden. „Schon alssechsjähriges Kind“, wird er später in sei-nen privaten Aufzeichnungen festhalten,„fanden mich die vom Spaziergang heim-kehrenden Aeltern eines Abends in dervollsten Verzweiflung, weil ich mich plötz-lich von ihnen für immer verlassen wähn-te.“5

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Was aus ihm werden sollte, stand schonlange fest: ein solider, erfolgreicher Kauf-mann, der in der Lage war, das Erbe sei-nes Vaters anzutreten. Das Geschäftsle-ben aber war international geprägt, wes-halb Arthur „ein tüchtiger Kaufmann undzugleich ein Mann von Welt und feinenSitten werden sollte.“6 Dazu bedurfte esneben kaufmännischen Wissens vor allemder Sprachen – nicht der alten, die Arthurschon in jungen Jahren gerne gelernt hät-te, sondern der modernen, also insbeson-dere der englischen und französischen.Zwei Jahre verbrachte Arthur deshalb ab1797 bei einem Geschäftsfreund des Va-ters in Le Havre, eine Zeit, die er späterals den „weitaus frohesten Teil meinerKindheit“ bezeichnet hat, weil der franzö-sische Geschäftsfreund ihn „ganz wie sei-nen zweiten Sohn“7 gehalten habe. Nachseiner Rückkehr wurden die Zeiten erns-ter. Zwölf Jahre alt war er nun und musstesich in einer kaufmännisch orientiertenPrivatschule mit den Grundlagen des Ge-schäftslebens auseinandersetzen: Mathe-matik, soweit man sie brauchte, Geogra-phie, die man als Geschäftsmann kennenmusste, moderne Fremdsprachen und im-mer wieder Religionslehre, die – wennauch eher in Form einer religiös begrün-deten Morallehre – einen ausgesprochengroßen Anteil der Unterrichtszeit bean-spruchte.Für Arthur war das nicht genug, aberglücklicherweise stand ihm mit der Biblio-thek des Elternhauses noch eine andereBildungsquelle offen, die er gerne nutzte.Voltaire und Rousseau, Dichter in deut-scher, englischer und französischer Spra-che, all das beschäftigte seinen Geist, undso ist es nicht erstaunlich, dass er immerwieder die Bitte äußerte, nicht die vorge-sehene kaufmännische Lehre antreten zu

müssen, sondern ein Gymnasium besu-chen zu dürfen.Bei seinem Vater stieß er auf taube Oh-ren, er ließ sich, „da er nach seinem Da-fürhalten einzig meinen Vorteil im Augehatte, nicht erweichen.“8 Da Heinrich Flo-ris seine Vorstellungen jedoch nicht ge-waltsam durchsetzen wollte, ließ er Arthurauf eine etwas perfide Weise die Wahl. Erdurfte sich entweder seinen Eltern bei ih-rer schon länger geplanten mehrjährigenEuropareise anschließen und nach Abschlussder Reise seine kaufmännische Lehre be-ginnen – oder auf die Reise verzichten undstatt dessen sofort die gymnasiale Lauf-bahn einschlagen. Dass Arthur den Ver-lockungen der Reise nicht widerstand, istnachvollziehbar. Zu weit weg war der Ein-tritt in die Lehre, zu gut konnte man diefernen Konsequenzen der heutigen Ent-scheidung verdrängen. Fast zwei Jahredauerte die Reise durch Holland, England,Frankreich, die Schweiz und Österreich,und natürlich blieb sie nicht ohne Folgenfür Arthurs Entwicklung. „Denn gerade inden Jahren der erwachenden Mannbarkeit... wurde mein Geist nicht, wie gewöhn-lich geschieht, mit leeren Worten und Be-richten von Dingen, von denen er nochkeine ... Kenntnis haben konnte, angefülltund auf diese Weise die ursprünglicheSchärfe des Verstandes abgestumpft undermüdet; sondern statt dessen durch dieAnschauung der Dinge genährt und wahr-haft unterrichtet“, schrieb Schopenhauereinige Jahre später, und er gab seiner Freu-de darüber Ausdruck, dass er sich damalsdaran gewöhnt habe, „die Betrachtungund Untersuchung der Dinge selbst undihre aus der Anschauung erwachsendeErkenntnis dem Wortschwalle entschiedenvorzuziehen.“9 Lebendige Anschauungund Verachtung leeren Geredes – zwei

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Grundprinzipien seiner späteren Philoso-phie, die mit der Europareise seiner Ju-gend zusammenhängen mögen.Nicht immer waren es schöne oder ange-nehme Erfahrungen, die Arthur in seinenReisetagebüchern notierte, „auf allen Etap-pen der Reise begegneten ihm Tod, Lei-den und menschliches Elend“10, und erwandte seinen Blick nicht ab, sondernbetrachtete die dunklen Seiten der Weltsehr genau – nicht mit distanziert-überle-genem Blick, immer wieder bemerkt manin seinen Notizen Entsetzen und Mitleid.So schrieb er über die Galeerensklavenvon Toulon: „Das Loos dieser Unglückli-chen halte ich für bei weitem schreckli-cher, wie Todes-Strafen. ... Denn währendihrer Sklaverei werden sie ganz wie Last-thiere behandelt: ... läßt sich eine schreck-lichere Empfindung denken, wie die einessolchen Unglücklichen, während er an dieBank in der finsteren Galeere geschmie-det wird, von der ihn nichts wie der Todmehr trennen kann!“11 Im Gegensatz zuseiner Mutter Johanna, die sich nur überdie Folgen eines möglichen Sklavenaus-bruchs sorgte, packte ihn das „Entsetzenüber die jammervolle Welt“12, das manspäter in seiner Philosophie wiederfindensollte.Solche Erfahrungen mussten nachwirken.Im hohen Alter schrieb er, er sei in seinem„17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbil-dung, vom Jammer des Lebens so ergrif-fen“ worden, „wie Buddha in seiner Ju-gend, als er Alter, Krankheit, Schmerz undTod erblickte“, und er sei zu dem Schlussgekommen, dass „diese Welt kein Werkeines allgütigen Wesens seyn könnte, wohlaber das eines Teufels, der Geschöpfe insDaseyn gerufen, um am Anblick ihrer Qualsich zu weiden.“13 Was ihn selbst nachAbschluss der Reise erwartete, war dazu

angetan, sein Gefühl vom „Jammer desLebens“ zu verstärken. Getreu der Ab-machung trat er seine kaufmännische Leh-re an, zunächst für wenige Monate in Dan-zig, dann, ab 1805, in Hamburg. Es warnichts für ihn, denn nie, so schreibt er,habe es „einen schlechteren Handlungs-beflissenen gegeben als mich“14, und inseinen freien oder unbeobachteten Stun-den widmete er sich seinem eigentlichenBemühen um die Bildung, an der er teil-haben wollte. Bei den beruflichen Sorgenblieb es nicht. Der Zustand des Vaterswurde immer besorgniserregender, er ver-fiel zunehmend seiner Depression undverbrachte seine Tage ermattet im Lehn-stuhl. Am 20. April 1805 fand man ihn totin einem Kanal, in den er aus dem Spei-cher seines Geschäftshauses gestürzt war.Von Selbstmord sprach damals niemand,auch wenn ihn keiner bezweifelte. Arthurselbst schrieb, sein Vater sei ihm „durcheinen jähen, von Ungefähr eingetretenengrausamen Tod plötzlich entrissen“ wor-den.15 Wer daran die Schuld trug, war fürihn klar. „Da mein eigener Vater siech undelend an seinen Krankenstuhl gebannt war,wäre er verlassen gewesen, hätte nicht einalter Diener sogenannte Liebespflicht anihm erfüllt“, äußerte er später gesprächs-weise. „Meine Frau Mutter gab Gesell-schaften, während er in Einsamkeit ver-ging.“16 Und noch fünfzig Jahre spätervermerkte ein junger Bewunderer Scho-penhauers in seinen Gesprächsaufzeich-nungen: „Seiner Mutter gab er die Schuldan dem Selbstmorde seines Vaters.“17 DerBruch mit der Mutter zeichnete sich seitdem Tod des Vaters ab und war nichtmehr aufzuhalten.Bei aller Trauer wäre nun der Weg frei ge-wesen, sich der ungeliebten Kaufmanns-lehre zu entledigen. Arthur Schopenhauer

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dachte nicht daran. Während Johanna balddie Konsequenzen aus der neuen Situati-on zog, das Geschäft auflöste und nachWeimar zog, ließ Arthur alles beim Altenund setzte seine Lehre fort. Noch fühlteer sich gebunden an das Versprechen, daser seinem Vater gegeben hatte, noch fander nicht die Kraft, „die Beschlüsse desVaters alsbald nach seinem Tode wiederaufzuheben.“18 Zwei weitere Jahre hielt erdiesen Zustand durch, nicht ohne sich in-tensiv um die Bildung, die ihm so am Her-zen lag, zu bemühen, und nicht ohne im-mer wieder in Briefen nach Weimar überseine Lage zu klagen. Nur zu gut wussteer, dass er am falschen Platz war und sei-ne Lebenszeit vergeudete, doch alleinefand er den Weg aus seiner Situation nichtheraus. Am Ende war es Johanna, die ent-scheidend zu seiner Befreiung beitrug. DerAltertumsforscher Fernow hatte in einemGutachten dargelegt, dass es auch in Ar-thurs Alter keineswegs zu spät sei, dienötigen Voraussetzungen für den Univer-sitätsbesuch zu erwerben, und so stellteihn Johanna vor die Wahl: Er könne einKaufmann werden, in der Hoffnung aufmaterielle Sicherheit und Wohlstand, oderein Gelehrter, wobei der Weg zur Wissen-schaft lang und anstrengend, der Lohndagegen ungewiss sei. Die Entscheidungliege ganz auf seiner Seite.Und sie erfolgte prompt. Arthur kündigtedie längst verhasste Lehrstelle, um sichendlich dem zuzuwenden, was er immerschon gewollt hatte: der Beschäftigung mitWissenschaft und Gelehrsamkeit. Dass diezwei Jahre seiner kaufmännischen Ausbil-dung nicht völlig ohne Sinn gewesen wa-ren, dürfte ihm erst später klar gewordensein. Als 1819 das Bankhaus, bei dem erein Drittel des väterlichen Erbes angelegthatte, zusammenbrach, bewahrten ihn sei-

ne Kenntnisse des Geschäftslebens davor,sich auf einen unvorteilhaften Vergleicheinzulassen, weshalb er sein Vermögenvollständig retten konnte. „Sie sehn,“schrieb er an den Bankier, „daß man wohlein Philosoph sein kann, ohne deshalb einNarr zu seyn.“19 Ein Narr ist er allerdingszeit seines Lebens nie gewesen, weder inphilosophischer noch in ökonomischerHinsicht, und sein Vermögen, von dem erJahrzehnte lang lebte, hat er dabei nichtetwa verbraucht, sondern durch geschick-te Anlagen verdoppelt.20

Die für den Besuch der Universität not-wendigen Kenntnisse sollte er sich in Go-tha aneignen, denn erstens verfügte mandort über ein ausgezeichnetes Gymnasi-um mit gutem Ruf, und zweitens war esweit genug entfernt von Weimar, um dienötige Distanz zwischen Arthur und Jo-hanna zu schaffen. Seine schulischen Leis-tungen ließen nichts zu wünschen übrig,sein Verhalten schon eher, da er zu einem„Gefühl der intellektuellen und gesell-schaftlichen Überlegenheit“21 neigte, ausdem er keinen Hehl machte. Ein Spottge-dicht auf einen Gothaer Lehrer führteschließlich nach wenigen Monaten zumBruch mit dem Gymnasium: „Noch hatteich nicht gelernt“, schrieb er in seinem Le-benslauf, „mich gefährlicher Scherze zuenthalten, was mich zu Fall brachte.“22

Seine Neigung zu Spott und „gefährlichenScherzen“ hat er allerdings nie abgelegt.Bis 1809 lebte er nun in Weimar, wennschon nicht im Haus seiner Mutter Johanna,so doch in der gleichen Stadt, und widmetesich den Vorbereitungen auf das Universi-tätsstudium. 1809 war es so weit. Nichtnur, dass er im Alter von 21 Jahren volljäh-rig wurde und man ihm das väterliche Erb-teil auszahlte, er verließ auch Weimar wie-der, um sich an der Göttinger Universität

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zu immatrikulieren. Trotz seiner philoso-phischen Neigungen entschied er sich zu-nächst für ein Studium der Medizin – ei-nerseits, um sich die Möglichkeit eines Be-rufs zur Finanzierung des Lebensunterhal-tes offen zu lassen, andererseits aber auch,um sich eine solide naturwissenschaftli-che Grundlage für seine philosophischenInteressen zu verschaffen. Denn ein Medi-zinstudium, und insbesondere ein Medizin-studium in Göttingen, „war viel mehr alseine Vorbereitung auf den Arztberuf“23,sondern vermittelte den Studenten umfang-reiche naturwissenschaftliche Kenntnisse.So hörte Arthur Vorlesungen über „Natur-geschichte und Mineralogie, Physik, Che-mie, Botanik und vergleichende Anatomie,daneben auch Mathematik, Staatengeschich-te, alte Geschichte“; auch die antiken Au-toren fanden weiterhin sein Interesse.24

Doch wurde es ihm während des erstenStudienjahres immer deutlicher, dass esihn zur Philosophie zog. „Nachdem ichaber mich selbst und zugleich die Philo-sophie, wenn auch nur oberflächlich ...kennen gelernt hatte, änderte ich meinenVorsatz, gab die Medizin auf und widme-te mich ausschließlich der Philosophie.“25

Geprägt hat ihn während seiner GöttingerZeit vor allem der Philosoph Gottlob ErnstSchulze, der ihn an seine beiden großenphilosophischen Lehrer heranführte: Pla-ton und Kant. Platons Welt der Ideen fas-zinierte Arthur, in seinem Studienbuchnotierte er, „Plato der göttliche strebt durch-weg nach Einheit und ergründender Tiefe,und alle Dinge sind ihm nur Buchstaben, indenen er die göttlichen Ideen liest.“26 Aberauch Kant hat ihn nie wieder losgelassen,der im Rahmen seines transzendentalenIdealismus die Lehre vertrat, die uns um-gebende Welt sei eine Welt der Erschei-nungen, über die unsere Erkenntnis nicht

hinausgehen könne, weshalb es auch un-möglich sei, das Ding an sich zu erken-nen. Er war es, „der die Philosophie ausder Spekulation, in die sie verflogen ge-wesen, in den menschlichen Geist selbstzurückrief, diesen zu ihrem Gegenstandmachte und der Vernunft ihre Grenzensetzte,“27 indem er die grundlegenden An-schauungsformen und die Grundkatego-rien des Verstandes aufzeigte, auf denenjede Erkenntnis beruhen musste. Schulzewar aber kein kritikloser Kantianer, son-dern hatte bereits 1792 Einwände gegenKant formuliert, die darauf hinausliefen,dass man, ausgehend von der uns gege-benen Welt der Erscheinungen nicht aufein Ding an sich als Ursache dieser Er-scheinungen schließen dürfe, da das Prinzipvon Ursache und Wirkung auf eben dieseWelt der Erscheinungen beschränkt seiund daher nicht als Verknüpfung zwischendem Ding an sich und der Erscheinungs-welt herhalten dürfe.28 Sowohl Kants tran-szendentalen Idealismus als auch SchulzesKritik würde Arthur Schopenhauer späterfür seine eigene Philosophie verwenden.Seine Entscheidung, sich fortan nur nochder Philosophie zu widmen, vertrat Arthurauch in Weimar. Anfang 1811 traf er sichdort mit dem Dichter Christoph MartinWieland, der ihn auf Bitten Johannas be-raten sollte. Wieland, philosophisch durch-aus gebildet, äußerte sich skeptisch undmeinte, Philosophie sei wohl nicht unbe-dingt ein solides Fach, musste aber fest-stellen, dass es dem jungen Studenten ernstwar. „Das Leben,“ antwortete Arthur, „isteine missliche Sache. Ich habe mir vorge-setzt, es damit hinzubringen, über dassel-be nachzudenken.“ Dem war nichts hinzuzu fügen, und Wieland riet ihm, bei derPhilosophie zu bleiben.29

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Bei der Philosophie blieb er dann auch, inGöttingen aber blieb er nicht. Er wollteins Zentrum der großen deutschen Philo-sophie, das er in Berlin zu finden hoffte,an der 1809 gegründeten Universität. Vorallem auf einen kam es ihm an: „1811 sie-delte ich nach Berlin über,“ so schrieb er,„in der Erwartung, einen echten Philoso-phen und großen Geist in Fichten kennen-zulernen.“30 Kants vernichtendes Urteilvon 1799 über Fichtes Wissenschaftslehrekannte er da offenbar noch nicht, aber essollte ihm nicht für immer verborgen blei-ben. Fichte war zu dieser Zeit der wohlbekannteste Philosoph Deutschlands undgalt in weiten Kreisen als legitimer Nach-folger Kants. Kants selbst hatte das an-ders gesehen. 1799 hatte man ihn aufge-fordert, sich über Fichtes „Grundlage dergesamten Wissenschaftslehre“ zu äußern,und dieser Aufforderung kam er in allerDeutlichkeit nach. Er erklärte, „dass ichFichtes Wissenschaftslehre für ein gänz-lich unhaltbares System halte“, meinte, erwolle an einer „Metaphysik nach FichtesPrinzipien“ nicht teilhaben und gab Fich-te öffentlich den Rat, er solle „statt derfruchtlosen Spitzfindigkeiten seine guteDarstellungsgabe“ kultivieren. Es war abernicht nur Fichtes Philosophie, die er ab-lehnte. Das Sprichwort „Gott bewahre unsvor unseren Freunden, vor unseren Fein-den wollen wir uns wohl selbst in Achtnehmen“ münzte er auf seinen vermeintli-chen philosophischen Nachfolger, indemer erläuterte, es gebe nämlich „bisweilenbetrügerische, hinterlistige, auf unser Ver-derben sinnende ... sogenannte Freunde,vor denen und ihren ausgelegten Schlin-gen man nicht genug auf seiner Hut seinkann.“31

Schopenhauer bemühte sich, Fichtes Aus-führungen zu folgen, aber es gelang ihm

nicht. Eine Zeit lang dachte er, es liege anseinem eigenen mangelnden Verständnisoder an Fichtes Ausdrucksvermögen,doch kam er bald zu einem anderenSchluss. Fichtes absolutes Ich, in demzunächst Subjekt und Objekt identischsind, bis dieses Ich dann ein erkennendesIch sowie ein Nicht-Ich setzt, war demnaturwissenschaftlich vorgebildeten Stu-denten zu sehr aus der Luft gegriffen undinhaltsleer. Formulierungen wie „Es ist,weil es so ist, wie es ist“32 oder „Das Ichist, weil es sich setzt, und setzt sich, weiles ist,“ konnten bei Schopenhauer nur zubeißendem Spott führen, weshalb er bei-spielsweise in seiner Mitschrift die Skizzeeines Stuhls aufzeichnete, auf den sichFichtes „Ich“ setzen sollte33 , und zuFichtes Wissenschaftslehre meinte er:„Vielleicht ist die richtige LesartWissenschaftsleere.“34 Nach einer Weilekonnte er den berühmten Philosophen,den zu hören sein Ziel gewesen war, nichtmehr ernst nehmen, Fichtes „rasenderUnsinn“ und sein „wahnsinniges Ge-schwätz“35 verdienten nichts anderes alsironische Randbemerkungen. AuchSchleiermachers Vorlesungen erwiesensich nicht als so erhellend, wie Schopen-hauer gehofft hatte. Dessen Grundhaltung,Philosophie und Religion könnten nichtohne einander bestehen, kommentiertesein Hörer mit der Bemerkung, keiner, derwirklich philosophiere, sei religiös; „ergeht ohne Gängelband, gefährlich, aberfrei!“36 Und was die Redlichkeit vonSchleiermachers Denken betraf, so hatteSchopenhauer allen Grund zu einem ge-wissen Misstrauen, nachdem er gemerkthatte, dass der Gelehrte es fertig brachte,sich über die mittelalterlichen Scholasti-ker zu verbreiten, ohne auch nur einen vonihnen im Original gelesen zu haben37 .

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So konzentrierte sich der Student der Phi-losophie auf Veranstaltungen ganz ande-rer Art: die antike Literatur, Magnetismusund Elektrizität, Zoologie, Chemie, Phy-sik und Astronomie, sowie Physiologieund Anatomie – naturwissenschaftlicheKenntnisse, die ihm später bei der Ausar-beitung seiner Dissertation und auch beider Entwicklung seiner Metaphysik guteDienste leisten konnten.Eigentlich wollte er für zwei Jahre in Ber-lin bleiben, um dann sein Studium mit derVerleihung des Doktorgrades abzuschlie-ßen. Die Zeiten waren nicht danach. 1812waren Napoleons Truppen – damals nochhegemoniale Verbündete Preußens – aufdem Weg zum russischen Schlachtfelddurch Berlin gezogen. Geschlagen kamenwenige von ihnen 1813 aus Russland zu-rück, und in Deutschland breitete sichpatriotische Stimmung aus; die drücken-de französische Oberherrschaft, die Jah-re zuvor mit der preußischen Niederlagebei Jena und Auerstedt begonnen hatte,wollte man endlich abschütteln. In Preu-ßen organisierte sich der Landsturm, inBerlin waren zwei Drittel der Studentenund nicht wenige Professoren eingerücktund man musste damit rechnen, dass dernoch immer bedrohliche Napoleon nachBerlin marschierte.Schopenhauer ließ sich von den Wellenpatriotischer Begeisterung ebenso wenigbeeindrucken wie vorher von den napo-leonischen Erfolgen. Später würde er Na-poleon als einen „gewaltigen Spiegel desWillens zum Leben“ bezeichnen, der „dieganze Bosheit des menschlichen Willens“offenbart habe.38 Und einer Nation gehör-te man zwar an, aber welche das sei, be-ruhe auf reinem Zufall, und nur, wer sonstkeinen Grund zum persönlichen Stolz ha-be, verfalle auf den Nationalstolz.39 Von

Bedeutung war für ihn nur die Ausarbei-tung seiner philosophischen Ideen, an diein der kriegerisch aufgeladenen UnruheBerlins nicht zu denken war. Er hatte, wieer kurz darauf schrieb, nur zu den Fahnender Philosophie und zu keinen anderengeschworen.40 Dem Zeitgeist gab er, wasman verlangte, indem er die Ausrüstungeines Soldaten finanzierte, und im Mai1813 verließ er Berlin. Wohin es gehensollte, war zu Beginn der Reise noch nichtklar. In Dresden, das er bevorzugt hätte,saßen bereits französische Truppen; dortwar die Lage der Philosophie noch weni-ger günstig als in Berlin. Auch Weimar,das er kurz besuchte, kam für einen län-geren Aufenthalt nicht in Frage, weil er undseine Mutter Johanna nicht ohne schwereKonflikte in der gleichen Stadt leben konn-ten. Und so zog er sich in den ThüringerWald zurück, nach Rudolstadt, „wo ichim Gasthause, als dem in jenen unruhe-vollen Zeiten für einen heimatlosen Men-schen passendsten und eigens angemes-senen Aufenthaltsort, den übrigen Teil desJahres verbrachte.“41 Hier konnte er sichweitgehend ungestört dem widmen, wasihm nun am wichtigsten war: der Untersu-chung der vierfachen Wurzel des Satzesvom zureichenden Grunde, die im Folgen-den vorgestellt werden soll.42

Die DissertationNoch ist Schopenhauer nicht der „ratio-nalste Philosoph des Irrationalen.“43 Nichtetwa, weil er dem rationalen Denken denAbschied geben will; das tat er nie. Son-dern weil er in seiner Dissertation den Wegzur Metaphysik des Willens, der sich derRationalität entzieht, noch nicht oder dochnur ansatzweise beschreitet und sich zu-nächst darauf beschränkt, den Gesetzmä-ßigkeiten der Welt, so wie sie sich uns dar-

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stellt, nachzugehen. Denn wie diese Welttatsächlich ist, können wir – in Anlehnungan Kant – nicht wissen, uns stehen nurDaten darüber zur Verfügung, wie sie unserscheint: Die Welt ist eine Welt der Er-scheinungen, der Vorstellungen, die dasSubjekt selbst hervorbringt. Kein Objektohne wahrnehmendes Subjekt; damit et-was ist, muss es von einem Subjekt vor-gestellt werden. Wie nun die Erkenntnisin dieser Welt der Vorstellungen vor sichgeht, welche Werkzeuge der Verstand be-reitstellt, damit Erkenntnis überhaupt er-folgen kann, das will Schopenhauer in sei-ner Dissertation ausloten. Dabei geht erzwar von Kants philosophischem Idealis-mus aus, vereinfacht ihn aber gründlich.Zwölf Kategorien hatte Kant gebraucht,um im Rahmen von Raum und Zeit, dengrundlegenden Formen der Anschauung,die Sinnesdaten zu Objekten der Erkennt-nis zu machen. Schopenhauer begnügtsich mit Raum, Zeit und Kausalität, mehrwird nicht benötigt. Und diese Kausalitätdrückt sich aus in dem Satz vom zurei-chenden Grunde, den er in seiner Disserta-tion analysiert.In der Vorrede zur zweiten Auflage derDissertation von 184744 beschreibt Scho-penhauer sein Ziel: „eine kompendiose Theo-rie des gesammten Erkenntnisvermögens“will er geben, die „immer nur dem Satz vomGrunde nachgeht“ und deshalb „die Sa-che von einer neuen und eigenthümlichenSeite vorführt.“(11)45 Seine Methode führter auf Plato und Kant zurück, die zweiGesetze wärmstens zur Anwendung emp-fohlen hatten: die Gesetze der „Homogenei-tät“ und der „Specification“, nach deneneinerseits durch Beachtung von Überein-stimmungen übergeordnete Begriffe gebil-det werden sollen, andererseits aber auchdarauf geachtet werden muss, vorkom-

mende Verschiedenartigkeiten nicht durchüberzogene Vereinheitlichung zu verwi-schen.(13) In Bezug auf den Satz vomGrunde hat man aber das Prinzip der Spe-cification zu selten angewendet und seine„höchst verschiedenen Anwendungen“unterschätzt.(14) An der Wichtigkeit die-ses Satzes ist nicht zu zweifeln, denn Wis-senschaft „bedeutet ein System von Er-kenntnissen, d.h. ein Ganzes von ver-knüpften Erkenntnissen, im Gegensatz desbloßen Aggregats derselben.“(16) Jede Er-kenntnis folgt aus einer anderen, und daman berechtigt ist, „überall Warum zu fra-gen; so darf man das Warum die Mutteraller Wissenschaften nennen.“(16) Immergilt dabei der Satz vom Grunde, den Scho-penhauer kurz und klar formuliert: „Nichtsist ohne Grund warum es sei.“(17)Um den Stand der Dinge darzustellen, gehtSchopenhauer nun auf die bisher in derPhilosophie aufzufindenden Varianten desSatzes vom Grunde ein und findet ihn ineiner frühen Fassung schon bei Platon undAristoteles. Insbesondere Aristoteles hatbereits vier Arten von Gründen dargestellt,die den „Ursprung der von den Scholasti-kern durchgängig angenommenen Einthei-lung“ der Ursachen bilden.(19) Dennochhat Aristoteles die „wichtige Unterschei-dung zwischen Erkenntnißgrund und Ur-sache“ nicht klar gesehen (20), und manmuss feststellen, dass „die Alten es nochnicht zur deutlichen Unterscheidung zwi-schen der Forderung eines Erkenntniß-grundes zur Begründung eines Urtheilsund der einer Ursache zum Eintritt einesrealen Vorganges gebracht haben.“(21)Dieses Problem zieht sich durch die ge-samte Philosophiegeschichte. Auch Carte-sius – René Descartes – hat auf verhäng-nisvolle Weise den Unterschied zwischenUrsache und Erkenntnisgrund ignoriert, um

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damit die Existenz Gottes zu beweisen,indem er die Unendlichkeit von Gottes Na-tur als die Ursache oder den Grund be-zeichnet hat, „wegen dessen er keiner Ur-sache bedarf, um zu existieren.“(22) Dasist aber ein Taschenspielertrick; „er hättesagen müssen: die Unermesslichkeit Got-tes ist ein Erkenntnißgrund, aus welchemfolgt, daß Gott keiner Ursache bedarf. ...Wo das Kausalitätsgesetz eine Ursachefordert,“ schiebt Cartesius einen Erkennt-nisgrund ein und tut so, als habe er damiteine Ursache gefunden.(22) Der ontologi-sche Gottesbeweis beruht nur auf einerVerwechslung, da man aus einem beliebigerdachten Begriff nicht die Existenz einesdem Begriff entsprechenden Gegenstan-des folgern kann.(23) Im Übrigen wollte– dies eine Ergänzung in der zweiten Auf-lage der Dissertation – „ein so durchwegerbärmlicher Patron wie Hegel“ den onto-logischen Beweis gegen Kants Kritik ver-teidigen, weswegen sogar „der ontologi-sche Beweis sich selbst schämen würde,so wenig sonst das Schämen seine Sacheist.“(24)Auch Baruch Spinoza blieb von einer „Ver-wechslung und Vermischung des Verhält-nisses zwischen Erkenntnißgrund und Fol-ge mit dem zwischen Ursache und Wir-kung“ nicht verschont, tatsächlich ist die-se Verwechslung „die Grundlage seinesgesamten Pantheismus geworden.“(25)Schopenhauer zeigt, dass „durch dassel-be Argument, womit Cartesius das DaseynGottes bewiesen hatte,“ nun Spinoza „dasabsolut notwendige Dasein der Welt“ nach-weist (28), aber mit der Einführung der„causa sui“ nur ein willkürliches Macht-wort zum Abbruch der Kausalkette spricht.„Das rechte Emblem der causa sui istBaron Münchhausen, sein im Wasser sin-kendes Pferd mit den Beinen umklammernd

und an seinem über den Kopf nach vorngeschlagenen Zopf sich mit sammt demPferde in die Höhe ziehend; und daruntergesetzt: Causa sui.“(29)Leibniz kannte zwar den Satz vom Grun-de, hat aber die Unterscheidung in Ursa-che und Erkenntnisgrund nicht weiter be-achtet. Erst Wolf hat „die beiden Hauptbe-deutungen ... ausdrücklich gesondert undihren Unterschied auseinandergesetzt“(32),dabei aber eine Unterscheidung zwischeneinem Grund des Werdens und einemGrund des Seins eingeführt, die Schopen-hauer anhand eines naturwissenschaftli-chen Beispiels als unhaltbar nachweist. Inseiner Behandlung der Geschichte desSatzes vom Grunde geht er nun zu DavidHume über, der als erster auf die Idee kam,am Gesetz der Kausalität zu zweifeln und„zu fragen, woher denn dieses Gesetz derKausalität seine Auktorität habe ... SeinErgebniß, daß die Kausalität nichts wei-ter, als die empirisch wahrgenommene unduns gewöhnlich gewordene Zeitfolge derDinge und Zustände sei, ist bekannt.“(35)Schopenhauer weist Humes Auffassung,Kausalität sei nur eine Folge der Gewohn-heit, als leicht widerlegbar zurück, wür-digt aber das Stellen der Frage selbst, dennsie wurde „der Anknüpfungspunkt zu Kantstiefsinnigen Untersuchungen.“(35) Kantseinerseits hat nun klar das formale Prin-zip, dass jeder Satz seinen Grund habenmüsse, unterschieden von dem materia-len Prinzip, dass ein jedes Ding seinenGrund haben müsse, und auch etliche sei-ner Nachfolger sind hinter diesen Standder Dinge nicht mehr zurückgefallen.(36)Zu den Ausnahmen zählt allerdings Schel-ling, der sein Publikum darüber belehrt,„daß die Schwere der Grund und das Lichtdie Ursache der Dinge sei“, wobei „einsolches leichtfertiges In-den-Tag-hinein-

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Schwätzen keine Stelle unter den Meinun-gen ernster und redlicher Forscher ver-dient.“(37)So wichtig der Satz vom Grunde auch ist– beweisen kann man ihn nicht. Schließ-lich ist jeder Beweis „die Darlegung desGrundes zu einem ausgesprochenen Ur-teil,“ und der Satz vom Grunde ist derAusdruck der „Erforderniß eines Grun-des für jedes Urteil.“ „Wer nun einen Be-weis, d.i. die Darlegung eines Grundes,für ihn fordert, setzt ihn eben hiedurchschon als wahr voraus. ... Er geräth alsoin diesen Cirkel, daß er einen Beweis derBerechtigung, einen Beweis zu fordern,fordert.“(38)Der Streifzug durch die Geschichte zeigt,dass man den Satz vom Grunde in zweiAusprägungen betrachtet hat: Einerseitsbraucht jedes Urteil einen Grund, ande-rerseits beruht jede Veränderung von Ob-jekten auf Ursachen. Schopenhauer weistnun anhand von Beispielen darauf hin,dass diese Einteilung nicht ausreicht, dass„also nicht alle Fälle, in denen der Satzvom zureichenden Grunde Anwendungfindet, sich zurückführen lassen auf logi-schen Grund und Folge und Ursache undWirkung.“(40) Nun ist aber unsere Welteine Welt von Vorstellungen, die unterein-ander in einer gesetzmäßigen Verbindungstehen, „vermöge welcher nichts für sichBestehendes und Unabhängiges, auch nichtsEinzelnes und Abgerissenes, Objekt füruns werden kann. Diese Verbindung istes, welche der Satz vom zureichenden Grund... ausdrückt.“(41) Je nach Art der Ob-jekte kann aber auch die Art der Verbin-dung unter ihnen sehr verschieden sein,und diese spezifischen „näher nachzuwei-senden Objekte sind es daher, welche ichdie Wurzel des Satzes vom zureichendenGrunde genannt habe.“(41) Vier Klassen

von Objekten gibt es, und daher ist dieseWurzel eine vierfache. Im Folgenden gehtSchopenhauer daran, die vier Objektklas-sen und mit ihnen die vierfache Wurzelgenauer zu untersuchen.Bei weitem am ausführlichsten und gründ-lichsten behandelt er die „erste Klasse derObjekte für das Subjekt“, nämlich dieKlasse der „anschaulichen, vollständigen,empirischen Vorstellungen“(43), die zwarunsere empirische Realität ausmachen,aber dennoch immer nur Vorstellungenbleiben. Damit aber für uns eine empiri-sche Realität überhaupt entstehen kann,bedarf es bestimmter Formen der Vorstel-lungen, und das „sind die des innern undäußern Sinnes, Zeit und Raum.“(44) DieZeit alleine reicht nicht aus, denn sonstgäbe es „nichts Beharrliches und keineDauer.“ Umgekehrt gäbe es keinen Wech-sel, sofern man es mit einem zeitlosen Raumzu tun hätte. Daher ist eine „innige Ver-bindung beider die Bedingung der Reali-tät.“(44) In der Klasse dieser Objekteherrscht nun das Gesetz der Kausalitätoder auch der „Satz vom zureichendenGrunde des Werdens“, der besagt: „Wennein neuer Zustand eines oder mehrerer rea-ler Objekte eintritt; so muß ihm ein ande-rer vorhergegangen seyn, auf welchen derneue regelmäßig ... folgt. Ein solches Fol-gen heißt ein Erfolgen und der erstere Zu-stand die Ursache, der zweite die Wir-kung.“(49) Kausalität bezieht sich daherstets auf Veränderung, und da jede Ursa-che einer Wirkung stets wieder Wirkungeiner vorhergehenden Ursache sein muss,ist die Kette der Veränderungen, die „Ketteder Kausalität“ anfangslos.(49) Bei derBestimmung von Ursachen ist allerdingsVorsicht geboten. Es wird stets ein Zustandin einen folgenden Zustand überführt, so-dass nur der gesamte Zustand als Ursa-

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che betrachtet werden darf, nicht aber bei-spielsweise das letzte hinzukommende De-tail; „für die allgemeine Betrachtung darfnur der ganze, den Eintritt des folgendenherbeiführende Zustand als Ursache gel-ten.“(50) Objekte für sich genommen sindalso niemals Ursachen, denn das Gesetzder Kausalität bezieht sich „ausschließlichauf Veränderungen, d.h. auf den Ein- undAustritt der Zustände in der Zeit.“(51)Eine erste Ursache, eine causa prima, aufdie der kosmologische Gottesbeweis ger-ne rekurriert, kann es nach Schopenhau-ers Analyse der Kausalität nicht geben.„Denn jede Ursache ist eine Veränderung,bei der man nach der ihr vorhergegan-genen Veränderung, durch die sie herbei-geführt worden, nothwendig fragen muß,und so in infinitum, in infinitum!“(53)Es ist nicht einmal möglich, einen erstenZustand der Materie anzunehmen, aus demdie folgenden Zustände hervorgegangensind, weil auch diese Annahme, wie Scho-penhauer zeigt, mit Widersprüchen behaf-tet ist. Damit hat sich der kosmologischewie schon vorher der ontologische Got-tesbeweis als ungültig erwiesen.Schopenhauer untersucht nun die Folgendes Kausalitätsgesetzes. Zunächst stellt erfest, dass „der Begriff der Wechselwirkung,strenge genommen, nichtig ist“, da er vor-aussetzt, dass „die Wirkung wieder die Ur-sache ihrer Ursache sei“, was zeitlich nichtmöglich ist.(57) Wichtiger sind aber „dasGesetz der Trägheit und das der Beharr-lichkeit der Substanz.“ Da jede Zustands-veränderung nur als Wirkung einer Ursa-che auftreten kann, folgt nämlich sofort,dass jeder Zustand unverändert andauernmuss, „wenn nicht eine Ursache hinzutritt“,die ihn verändert (58) – das ist das Träg-heitsgesetz. Nun bezieht sich aber das Kau-salitätsgesetz, „welches die alleinige Form

ist, unter der wir überhaupt Veränderun-gen denken können,“ immer nur auf Ver-änderungen der Zustände von Körpernund nicht auf die Existenz der zugrunde-liegenden Materie, die deshalb in ihrer Ge-samtheit konstant bleibt. Die Form derMaterie, ihr jeweiliger Zustand in der Zeitkann sich ändern, die Substanz selbstbleibt „beharrlich“(58) – ebenso wie dasKausalgesetz eine Erkenntnis a priori,„welche das in aller Erfahrung irgend Mög-liche vor aller Erfahrung bestimmt undfeststellt.“(59)Von den Ursachen deutlich unterscheidenmuss man nicht nur die Materie – der Trä-ger der Veränderungen, aber nicht die Ver-änderung selbst –, sondern auch die Na-turkräfte, „die Veränderungen, oder Wir-kungen, überhaupt möglich“ machen.(60)„Die Naturkräfte hingegen, vermöge wel-cher alle Ursachen wirken, sind von allemWechsel ausgenommen, daher in diesemSinne außer aller Zeit, eben deshalb aberstets und überall vorhanden, ... immer be-reit sich zu äußern, sobald nur, am Leitfa-den der Kausalität, die Gelegenheit dazueintritt.“ Die jeweilige Ursache ist nur einflüchtiges Phänomen, die zugrundeliegendeNaturkraft dagegen unveränderlich, eine„ewige Thätigkeitsform“.(60)Nun sind aber nicht alle Körper gleich,und je nachdem, mit welcher Art von Ma-terie man es zu tun hat, tritt die Kausalität„in der Natur unter drei verschiedenenFormen auf: als Ursache im engsten Sinn,als Reiz, und als Motiv.“(61) Die Ursa-che im engsten Sinne ist zuständig fürVeränderungen im unorganischen Bereich,die man mit physikalischen und chemi-schen Mitteln beschreibt. Der Reiz „be-herrscht das organische Leben als sol-ches“, wobei hier, im Gegensatz zur Ur-sache im engsten Sinn, die Intensität der

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Wirkung nicht immer der Intensität der Ur-sache entsprechen muss. Und das Motivleitet „das eigentlich animalische Leben“,was aber ein gewisses Maß an Empfäng-lichkeit für Erkenntnisse voraussetzt. „DasThier bewegt sich ... allemal nach einemZiel und Zweck: diesen muß es demnacherkannt haben. ... Demzufolge ist dasThier zu definiren ,was erkennt‘.“(62) Beiallen Unterschieden zwischen den Kausa-litätsformen, die sich im Wesentlichen aufden „Grad der Empfänglichkeit der We-sen“ beziehen, haben sie doch eine ent-scheidende Gemeinsamkeit: Es handeltsich immer um zureichende Ursachen, diemit Notwendigkeit zu Veränderungen füh-ren. Auch wenn ein Mensch verschiedeneMotive gegeneinander abwägen kann, wirdes doch so weit kommen, dass „das stär-kere ihn bestimmt und sein Thun mit ebender Nothwendigkeit erfolgt, wie das Rol-len der gestoßenen Kugel.“(63) Freiheitdes Willens ist daher unmöglich.Hatte Schopenhauer bisher eher die Fol-gen des Kausalitätsgesetzes im Blick, wen-det er sich nun dem Status des Gesetzesselbst zu. Er stellt zunächst im Sinne desIdealismus fest, dass die äußere Welt kei-neswegs „da draußen ganz objektiv-realund ohne unser Zuthun vorhanden wäre,dann aber, durch die bloße Sinnesempfin-dung, in unseren Kopf hineingelangte, wo-selbst sie nun ... noch einmal dastän-de.“(67) Denn jede Sinnesempfindung iststets „ein Vorgang im Organismus selbst“und kann daher „nie etwas enthalten, das... außer uns läge.“ Erst der Verstand, eineFunktion des gesamten Gehirns, macht„aus der subjektiven Empfindung die ob-jektive Anschauung“ unter Verwendungdes Kausalitätsgesetzes – aber nicht nur.(67)Raum, der äußere Sinn, Zeit, der innereSinn, und Kausalität sind es, mit deren

Hilfe der Verstand den rohen Stoff derSinnesdaten „in die objektive Auffassungeiner gesetzmäßig geregelten Körperweltumarbeitet.“(68) Und da jede Erfahrungerst mithilfe von Raum, Zeit und Kausali-tät erfolgen kann, sind sie a priori vorhan-den und können ihrerseits kein Produktder Erfahrung sein.Grundlegend sind bei dieser Konstruktionder Anschauung durch den Verstand zweiSinne: „das Getast und das Gesicht“(69),da sie zur Bestimmung der räumlichenVerhältnisse unerlässlich sind. Sie liefernaber noch keine Anschauung, sondern nurdas Rohmaterial, aus dem der Verstanddann die Anschauung konstruiert, weshalbdie „empirische Anschauung eine intellek-tuale“ ist.(68) Erst der Verstand geht „vonder Empfindung zur Ursache derselben“über und konstruiert sich „einen Körper,der die Eigenschaft der Solidität, Undurch-dringlichkeit und Härte hat.“(70) Scho-penhauer lässt keinen Zweifel daran, wasvor aller Erfahrung liegt: Der Intellekt muss„vor aller Erfahrung die Anschauungen desRaumes, der Zeit, und damit der Mög-lichkeit der Bewegung, in sich tragen, undnicht weniger die Vorstellung der Kausali-tät“(71), sonst wäre die empirische Erfah-rung nicht möglich. Diese drei Formen derAnschauung sind a priori, vor jeder Er-fahrung, im Intellekt verankert.Schopenhauer geht nun daran, die Arbeitdes Verstandes beim Sehvorgang aufzu-fächern, indem er zeigt, wie der Verstandin mehreren Schritten aus den Sinnesempfin-dungen ein Objekt konstruiert. „Denn wasbeim Sehn die Empfindung liefert ist nichtsweiter, als eine mannigfaltige Affektion derRetina, ganz ähnlich dem Anblick einer Pa-lette mit vielerlei bunten Farbenklexen.“(73)Zunächst muss der Eindruck des Objekts,„welcher verkehrt, das Unterste oben, auf

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der Retina eintrifft“(73), korrigiert werden,eine Arbeit, die der Verstand unter Ver-wendung des Kausalgesetzes zu erledigenhat. Nun hat der Mensch aber zwei Au-gen, und „das Zweite, was der Verstandbei seiner Umarbeitung der Empfindungin Anschauung leistet, ist, daß er das zweiMal Empfundene zu einem einfach Ange-schauten macht“(74); auch das eine Lei-stung des Verstandes, die darauf beruht,dass er „zu Allem immer nur die Ursachesucht“, denn „Alles, was wir anschauen,schauen wir als Ursache an, als Ursacheempfundener Wirkung, mithin im Verstan-de.“(75) Dabei bleibt es nicht. Bisher hatder Verstand nur zweidimensionale Bildergewonnen, weshalb „das Dritte ... ist, daßer aus den bis hieher gewonnenen bloßenFlächen Körper konstruirt, also die dritteDimension hinzufügt, indem er die Aus-dehnung der Körper in derselben, in demihm a priori bewußten Raume ... kausalbeurtheilt.“(78f) Auch hier ist es erst derVerstand, der die nötige Leistung erbringt,der Eindruck von Räumlichkeit kann nichtaus den Sinnesdaten alleine entstehen. Dasswir davon nichts merken, liegt nur an derGeschwindigkeit, mit der der Verstand sei-ne Aufgaben erledigt: „Auch diese Ver-standesoperation wird ... so unmittelbarund schnell vollzogen, daß von ihr nichts,als bloß das Resultat, ins Bewußtseinkommt.“(79) Die vierte und letzte Ver-standesoperation im Verlauf des Sehvor-gangs besteht dann „im Erkennen der Ent-fernung der Objekte von uns“, die „erstdurch den Verstand herausgebracht wer-den“ muss.(80) Wie auch schon bei derBesprechung der ersten drei Arbeiten desVerstandes beschränkt sich Schopenhau-er auch hier nicht darauf, einfach die sei-ner Theorie genehmen Operationen zupostulieren, sondern gibt immer wieder

konkrete Beispiele mit dem Ziel, seine Auf-fassungen auf eine naturwissenschaftlicheBasis zu stellen. Die genaue Darstellungdes Sehvorgangs dient ihm zur Verdeutli-chung des Umstandes, dass dabei „vor-waltend der Verstand thätig ist, welcherdadurch, daß er jede Veränderung als Wir-kung auffaßt und sie auf ihre Ursache be-zieht, auf der Unterlage der apriorischenGrundanschauungen des Raumes und derZeit, das Gehirnphänomen der gegenständ-lichen Welt zu Stande bringt, wozu ihmdie Sinnesempfindung bloß einige Data lie-fert.“(85) Gebraucht wird dazu neben denAnschauungen von Raum und Zeit nur dasebenfalls apriorische Kausalitätsgesetz,weshalb die Vernunft, die sich auf die ab-strakte Erkenntnis „mittelst Begriffen undWorten“ bezieht, hier nicht zum Einsatzkommt.(85)Tatsächlich ist die Verstandeserkenntnisvon der Vernunft völlig unabhängig, dennschließlich kommt es vor, dass die Ver-nunft eine vom Verstand konstruierte, aberdennoch unrichtige Wahrnehmung als falscherkennt, aber dennoch „der falsche Scheinunverrückt stehn bleibt.“(85) Dabei giltimmer: „Das vom Verstande richtig Er-kannte ist die Realität; das von der Ver-nunft richtig Erkannte die Wahrheit, d.i.ein Urtheil, welches Grund hat: jener istder Schein (das fälschlich Angeschaute),dieser der Irrthum (das fälschlich Gedach-te) entgegengesetzt.“(86)Da nun aber der Verstand mit der Ver-nunft nichts zu tun hat und Wahrnehmungohne Verstand nicht denkbar ist, müssenauch Tiere mit einem gewissen Maß anVerstand ausgestattet sein, „denn Empfin-dung ohne Verstand wäre nicht nur ein un-nützes, sondern ein grausames Geschenkder Natur.“(92) In Beispielen aus der Tier-welt findet Schopenhauer Unterstützung

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für seine These, dass auch die tierische„Erkenntniß der Kausalität wirklich apriori und nicht bloß aus der Gewohn-heit, Dies auf Jenes folgen zu sehen, ent-sprungen ist.“(93) Ob es sich um Men-schen oder um Tiere handelt: „Immer undimmer besteht die Leistung des Verstan-des in unmittelbarem Auffassen der kau-salen Verhältnisse,“ immer sucht der Ver-stand nach einer Ursache, nach einer Ver-änderung, die einer Wirkung zugrunde lie-gen muss.(93) Das „komplicirte Räder-werk der zwölf Kantischen Kategorien“ist durchaus überflüssig(94), es geht immernur um das Kausalitätsverhältnis, das –wie schon erwähnt – in den drei verschie-denen Formen Ursache, Reiz oder Motivauftreten kann. Auf dieser Basis kann manauch die verschiedenen Wissenschafteneinteilen. Handelt es sich um die Ursachen„im engsten Sinne“, dann gelangt man zu„Mechanik, Astronomie, Physik, Chemieund erfindet Maschinen, zum Heil und zumVerderben.“(93) Betrachtet man dagegendie Reize als „Leitfaden des Verstandes;so wird er Physiologie der Pflanzen undThiere, Therapie und Toxikologie zu Stan-de bringen.“(94) Und konzentriert mansich auf die Motivation, so wird man bei-spielsweise „Moral, Rechtslehre, Geschich-te ... zu Tage fördern“ oder praktischenNutzen ziehen, indem man etwa Tiere ab-richtet oder sogar „das Menschengeschlechtnach seiner Pfeife tanzen“ lässt. (94)Kant hatte eine andere Auffassung vonWahrnehmung und Kausalität als Scho-penhauer. Er brauchte für die Wahrneh-mung keine Kausalität und auch keinenVerstand, denn in Kants Theorie ist „dieWahrnehmung etwas ganz Unmittelbares,welches ohne alle Beihülfe des Kausalne-xus, und mithin des Verstandes, zu Stan-de kommt: er identificirt sie geradezu mit

der Empfindung“(97) – eine Theorie, dieSchopenhauer ablehnen muss, ebenso wieKants Positionierung des Kausalgesetzesim Rahmen der Erkenntnis. „Kant nimmtferner das Kausalgesetz als allein in derReflexion, also in abstrakter, deutlicher Be-griffserkenntniß vorhanden und möglichan, hat daher keine Ahndung davon, daßdie Anwendung desselben aller Reflexionvorhergeht.“(97) Dennoch ändert auchSchopenhauers „Berichtigung der Sache“nichts daran, dass man alle „Elemente derempirischen Anschauung in uns liegend“findet(98), worin er mit der idealistischenGrundansicht Kants übereinstimmt. Be-trachtet man nun die reine Materie, unab-hängig von ihrer Form und ihren sonsti-gen spezifischen Qualitäten, so kommtman zu dem Schluss, dass das „dann nochÜbrigbleibende die bloße Wirksamkeit über-haupt ist,“ da die „besondere und speciellbestimmte Wirkungsart der Körper“ ge-nau das ist, was ihre Verschiedenheit aus-macht, und man beim Absehen von die-ser Verschiedenartigkeit auf die Materie als„durch und durch lautere Kausalität“ zu-rückgeworfen wird: „ihr Wesen ist dasWirken überhaupt.“(99) Genau deshalblässt sich reine Materie auch nicht an-schauen, sondern nur denken, sie ist „nurdas objektive Korrelat des reinen Verstan-des, ist nämlich Kausalität überhaupt undsonst nichts; so wie dieser das unmittel-bare Erkennen von Ursache und Wirkungüberhaupt und sonst nichts ist.“(99)In der zweiten Auflage der Dissertationkontrastiert Schopenhauer „die hier gege-bene, ehrliche und tief gründliche Auflö-sung der empirischen Anschauung in ihreElemente“(99) mit Fichtes Wissenschafts-lehre, mit seinen „sophistischen Scheinde-monstrationen, die der Hülle der Unver-ständlichkeit, ja des Unsinns bedurften,

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um den Leser zu täuschen,“ weist auf diebereits erwähnte Erklärung Kants über Fich-tes Wissenschaftslehre hin und schließt:„Es giebt eine Kantische Philosophie undeine Fichte’sche Windbeutelei.“(100)Bei aller Bewunderung für Kant stehtSchopenhauer aber Teilen der KantischenPhilosophie kritisch gegenüber. So weister Kants Nachweis der Apriorität des Kau-salgesetzes zurück. Kant hatte behauptet,dass „die Ordnung der Succession der Ver-änderungen realer Objekte allererst vermit-telst der Kausalität derselben für eine ob-jektive erkannt“ werde, weshalb also dasKausalgesetz als Bedingung der Möglich-keit der Erfahrung dem Menschen a priorigegeben sei.(102) Schopenhauer analysiertKants Beispiele, mit deren Hilfe er seineThese verdeutlichen wollte, und zeigt, dasswir nach Kants Theorie „gar keine Folgein der Zeit als objektiv wahrnehmen, aus-genommen die von Ursache und Wirkung,und daß jede andere von uns wahrgenom-mene Folge von Erscheinungen bloß durchunsere Willkür so und nicht anders be-stimmt sei. Ich muß gegen alles dieses an-führen, daß Erscheinungen sehr wohl auf-einander folgen können, ohne aus einan-der zu erfolgen.“(104) Ohne Zweifel wirdbeispielsweise die Abfolge „von Tag undNacht ... objektiv von uns erkannt, abergewiss werden sie nicht als Ursache undWirkung von einander aufgefaßt, und überihre gemeinschaftliche Ursache war dieWelt bis auf Kopernikus im Irrthum, ohnedaß die richtige Erkenntniß ihrer Succes-sion darunter zu leiden gehabt hätte.“(104)Folgt man Kant, so muss jede zeitlicheAbfolge ein Erfolgen nach dem Prinzip vonUrsache und Wirkung sein, was Schopen-hauer durch seine Gegenbeispiele wider-legen will. Dabei liegt es ihm fern, dieApriorität des Kausalgesetzes zu leugnen,

ganz im Gegenteil: Wie schon gezeigt, führter selbst Argumente für diese Aprioritätan. Was er bestreitet, ist Kants Argument,nicht aber der Sachverhalt selbst, und auchdieses Bestreiten fällt ihm schwer: „Nichtohne große Scheu,“ schreibt er in der zwei-ten Auflage von 1847, „habe ich es ge-wagt, Einwendung vorzubringen gegeneine ... Lehre jenes Mannes, dessen Tief-sinn ich bewundernd verehre und dem ichso Vieles und Großes verdanke.“(109)Schopenhauers Untersuchung der Klasseder „anschaulichen, vollständigen, empi-rischen Vorstellungen“(43) und der ihr ge-mäßen Ausprägung des Satzes vom Grun-de ist damit zu ihrem Ende gekommen,und er wendet sich einer weiteren Klassevon Vorstellungen zu. Im Gegensatz zumTier verfügt der Mensch über Vernunft,und hat deshalb „eine Klasse von Vorstel-lungen ..., deren kein Thier theilhaft ist: essind die Begriffe, also die abstrakten Vor-stellungen; im Gegensatz der anschauli-chen, aus welchen jedoch jene abgezo-gen.“(113) Solche Begriffe werden da-durch gebildet, dass „von dem anschau-lich Gegebenen Vieles fallen gelassen wird,um dann das Uebrige für sich allein den-ken zu können.“(114) Abstrahierte Begriffesind nicht mehr anschaulich, man kann sienur noch denken; sie sind keine Vorstellun-gen im bisherigen Sinne, sondern „Vorstel-lungen aus Vorstellungen“.(114) Da nunaber abstrakte Vorstellungen ihre Anschau-lichkeit verloren haben, bedarf es für sieder aus Worten bestehenden Sprache, an-sonsten „würden sie dem Bewußtseynganz entschlüpfen und ihm zu den damitbeabsichtigten Denkoperationen gar nichtStand halten.“(115) Nur durch das Erler-nen der Sprache „wird der ganze Mecha-nismus der Vernunft, also das Wesentlicheder Logik, zum Bewußtseyn gebracht.“(116)

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Aber welchen Nutzen haben Begriffe? Siesind leichter zu handhaben als die anschau-lichen Vorstellungen, weil sie „von den vie-len Vorstellungen, aus denen sie abgezo-gen sind, gerade nur den Theil, den maneben braucht,“ enthalten (117) und damitdas Denken, also „die Beschäftigung desIntellekts mit Begriffen“, erst ermöglichen.Insbesondere sind Begriffe aber das Mate-rial der Wissenschaften, „deren Zwecke sichzuletzt zurückführen lassen auf Erkenntnißdes Besonderen durch das Allgemeine“, wasohne Begriffe unmöglich ist.(117) Zu be-achten ist aber die Gefahr, sich in leeremGerede zu verlieren. „Nur so viel läßt sichbehaupten, daß jede wahre und ursprüngli-che Erkenntniß ... zu ihrem innersten Kern... irgend eine anschauliche Auffassung ha-ben muß.“(120) Das Hantieren mit Begrif-fen, die dieser Voraussetzung nicht genü-gen, „fördert daher eigentlich nichts Neu-es zu Tage.“(121)Auch im Bereich der Begriffe, der Vor-stellungen aus Vorstellungen, macht sichder Satz vom Grunde geltend, wenn auchin einer anderen Art als der bisher bespro-chenen, „nämlich als Satz vom Grunde desErkennens ... Als solcher besagt er, daßwenn ein Urtheil eine Erkenntniß ausdrü-cken soll, es einen zureichenden Grundhaben muß: wegen dieser Eigenschaft er-hält es sodann das Prädikat wahr.“(121)Erkenntnisgründe sind aber nicht immergleich, sondern „lassen sich in vier Artenabtheilen“(122), die Schopenhauer nunnäher betrachtet. Zunächst kann ein be-stimmtes Urteil sich auf ein anderes Urteilals seinen Grund berufen; in diesem Fallspricht man von einer logischen oder for-malen Wahrheit. Solche Begründungeneines Urteils durch ein anderes beruhenstets auf einem oder mehreren der übli-chen logischen Schlüsse, und daher ist die

Syllogistik „nichts weiter, als der Inbegriffder Regeln zur Anwendung des Satzes vomGrunde auf Urtheile unter einander.“(122)Verlässt man nun die Sphäre der rein logi-schen Beziehungen zwischen verschiede-nen Urteilen, so kann auch eine Erfahrungder Grund eines Urteils sein. In diesemFall „hat das Urtheil materiale Wahrheit,und zwar ist diese, sofern das Urtheil sichunmittelbar auf die Erfahrung gründet,empirische Wahrheit.“(123) Davon zu un-terscheiden sind Sätze wie „Nichts geschiehtohne Ursache“ oder „Materie kann we-der entstehn noch vergehn“(124), die nichtnur auf der Erfahrung beruhen, sondern„durch die a priori von uns angeschautenFormen des Raumes und der Zeit, oderdurch das ... Gesetz der Kausalität“ be-stimmt werden; Schopenhauer spricht des-halb von transzendentaler Wahrheit. Undschließlich können auch noch „die in derVernunft gelegenen Bedingungen allen Den-kens der Grund eines Urtheils seyn,“ des-sen Wahrheit Schopenhauer als „meta-logische Wahrheit“ bezeichnet(124), wiezum Beispiel: „Von jeden zwei kontradik-torisch entgegengesetzten Prädikaten mußjedem Subjekt eines zukommen.“(125) Eshandelt sich dabei um Bedingungen allenDenkens, ohne die ein Denken überhauptnicht möglich wäre.Um welche Form der Wahrheit es aberauch immer gehen mag: Zum Umgang mitabstrakten Begriffen braucht man das, wasden Menschen vom Tier unterscheidet, näm-lich die spezifisch menschliche Vernunft,bei der man es mit der „abstrakten, dis-kursiven, reflektiven, an Worte gebunde-nen und mittelbaren Erkenntniß, nicht aberder bloß intuitiven, unmittelbaren, sinnli-chen“ zu tun hat, die Sache des Verstan-des ist.(126) In der neueren Philosophieerkennt Schopenhauer allerdings die Un-

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sitte, das Vermögen der Vernunft als Ver-stand zu bezeichnen und unter Vernunft„ein Vermögen unmittelbarer metaphysi-scher, d.h. über alle Möglichkeit der Er-fahrung hinausgehender ... Erkenntnisse,welches demnach vor allem ein ,Gottesbe-wußtseyn‘ ist, d.h. Gott den Herrn unmit-telbar erkennt,“(128) zu verstehen. Die-sen übersteigerten und überdehnten Ver-nunftbegriff lehnt Schopenhauer aufgrundseiner Analysen ab. Den Gedanken, „wirbesäßen ein Vermögen unmittelbarer ...,materieller ... übersinnlicher Erkenntnisse,ein ausdrücklich auf metaphysische Ein-sichten angelegtes ... uns einwohnendesVermögen, und hierin bestände unsereVernunft“(131), bezeichnet er als bare Lü-ge und setzt ihm seinen wesentlich beschei-deneren Vernunftbegriff entgegen. Aus-gangspunkt jeder Vernunft ist die von derSinnesempfindung ausgehende Anschau-ung der Körperwelt, zu deren Konstrukti-on der Verstand benötigt wird. Diese an-schauliche Erkenntnis ist es dann, die „so-dann die Vernunft ... zu Begriffen verar-beitet, die sie durch Worte sinnlich fixiertund dann an ihnen den Stoff hat zu ihrenendlosen Kombinationen, mittelst Urthei-len und Schlüssen, welche das Gewebeunserer Gedankenwelt ausmachen.“(132)Aus eigenen Mitteln kann sie keine mate-riellen Erkenntnisse liefern, sondern nurlogische Folgerungen ziehen. Daher ist „,ver-nünftig‘ oder ,vernunftgemäß‘ gleichbedeu-tend mit ,folgerecht‘ oder ,logisch‘.“(132)Abgesehen von seinen bisherigen Analysenhat Schopenhauer noch ein weiteres Ar-gument gegen eine metaphysisch orientier-te Überdehnung des Vernunftbegriffs zubieten. Gäbe es nämlich wirklich ein aufMetaphysik angelegtes Erkenntnisvermö-gen im Menschen, das die Möglichkeitender Erfahrung durch reines Denken über-

schreitet, „so müßte ja nothwendig überdie Gegenstände der Metaphysik ... eineebenso große Uebereinstimmung unter demMenschengeschlechte herrschen, wie überdie Gegenstände der Mathematik. ... Abergerade das Umgekehrte findet Statt: überkein Thema ist das Menschengeschlechtso durchaus uneinig, wie über das besag-te.“(135)Das Dasein Gottes ist also, wie man spä-testens seit Kants Kritik der reinen Ver-nunft weiß, „Sache der Offenbarung“ undnicht etwa der menschlichen und auf Er-fahrung basierenden Vernunft.(145) Daaber die Philosophie nur den Versuch dar-stellt, einmal „die Vernunft ... ganz alleinihren eigenen Kräften zu überlassen, – etwanwie man einem Kinde, auf einem Rasen-platz, ein Mal das Gängelband abnimmt,damit es seine Kräfte versuche, – um zusehn, was dabei herauskommt,“(145) musssie zwangsläufig ihren eigenen Weg gehenund darf sich von keiner Autorität beein-drucken lassen. Findet man dann auf die-se Weise das Resultat Kants, so hat mankeine Schleichwege zu gehen, um dochnoch die gewünschten religiösen Folge-rungen ziehen zu können; vielmehr hatman die Verpflichtung, nie „irgendeinemanderen Lichte, als dem der Vernunft, zufolgen,“(146) wohin auch immer sie denPhilosophen führen möge. Mit dieser Cha-rakterisierung der Philosophie als Vernunftohne Gängelband, an die sich Schopen-hauer sein Leben lang gehalten hat, endetdie Analyse der zweiten Klasse von Vor-stellungen und der ihnen gemäßen Formdes Satzes vom Grunde.Ging es in der zweiten Klasse noch um ab-strakte Vorstellungen, die aus empirischenVorstellungen der Anschauung durch Ab-straktion gewonnen werden, bildet die drit-te Klasse „der formale Theil der vollstän-

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digen Vorstellungen, nämlich die a priorigegebenen Anschauungen der Formen desäußern und innern Sinnes, des Raums undder Zeit.“(147) Schopenhauer behandeltsie in aller Kürze. Die Begriffe und logischenSchlüsse, die er bisher untersucht hat, be-fassten sich mit Dingen in Raum und Zeit,aber nicht mit den aller Anschauung zu-grunde liegenden reinen Anschauungen vonRaum und Zeit, die dem Verstand vor je-der Erfahrung gegeben sind. Der Satz vomGrund der Erkenntnis kann hier deshalbebenso wenig zum Tragen kommen wieder Satz vom Grund des Werdens, weildie zu ihnen gehörenden Objekte nicht zurDiskussion stehen. Raum und Zeit selbsthaben nun „die Beschaffenheit, daß alleihre Theile in einem Verhältniß zueinanderstehn, in Hinsicht auf welches jeder der-selben durch einen andern bestimmt undbedingt ist. Im Raum heißt dies VerhältnißLage, in der Zeit Folge.“(148) Sie sindnicht „mittelst bloßer Begriffe“, wie sie inder zweiten Klasse untersucht wurden, zufassen, „sondern einzig und allein vermö-ge der reinen Anschauung a priori sindsie für uns verständlich: denn was obenund unten, ... was vor und nach sei, istaus bloßen Begriffen nicht deutlich zu ma-chen.“ Hier greift nun der Satz vom zu-reichenden Grunde des Seins als das Ge-setz, „nach welchem die Theile des Raumsund der Zeit, in Absicht auf jene Verhält-nisse, einander bestimmen.“(148) Als Bei-spiel nennt Schopenhauer die Aussage,dass in einem Dreieck mit drei gleichenWinkeln auch die drei Seiten gleich sind.Es kann sich dabei um keine Ursache han-deln, denn schließlich hat keine Verände-rung stattgefunden. Die Gleichheit der Win-kel kann aber auch nicht als Erkenntnis-grund für die Gleichheit der Seiten gelten,„denn im Begriff von Gleichheit der Win-

kel liegt nicht der von Gleichheit der Sei-ten“, weshalb ein rein logisches Hantie-ren mit Begriffen und Urteilen hier nichtgenügen kann. Daher liegt eine andere Va-riante des Satzes vom Grunde vor, „wes-halb hier die Bedingung Grund des Seyns... genannt werden mag.“(148) Natürlichkann die Einsicht in einen solchen Seins-grund zum Erkenntnisgrund werden, daman die gewonnene Erkenntnis als Aus-gangspunkt weiterer logischer Folgerungenverwenden kann. Das ändert aber nichtsdaran, dass auf diese Weise „keineswegs diegänzliche Verschiedenheit zwischen Grunddes Seyns, Grund des Werdens und desErkennens aufgehoben wird.“(148)Der Seinsgrund in der Zeit ist leicht zusehen. „In der Zeit ist jeder Augenblickbedingt durch den vorigen. So einfach isthier der Grund des Seyns, als Gesetz derFolge; weil die Zeit nur eine Dimensionhat, daher keine Mannigfaltigkeit der Be-ziehungen in ihr seyn kann.“(150) Daraufberuht auch das Prinzip des Zählens, denn„jede Zahl setzt die vorhergehenden alsGründe ihres Seyns voraus.“(150) Etwaskomplizierter sind die Verhältnisse bei derBetrachtung des Seinsgrundes im Raum.Dort gibt es kein Vorher und kein Nach-her, ein Punkt oder eine Linie wird in sei-ner oder ihrer Beziehung zu anderen Punk-ten oder Linien durch verschiedene Mög-lichkeiten bestimmt: Der Punkt kann rechtsoder links von einem anderen Punkt lie-gen, darüber oder darunter, und man kannnicht die Lage eines oder auch mehrererPunkte als nur bestimmend für einen an-deren Punkt ansehen. Denn jeder Punktist zwar im Hinblick auf seine Lage imRaum bestimmt durch alle anderen Punk-te; insofern liegt hier der Grund des Seinsfür seine Lage vor. Andererseits ist aberjeder andere Punkt unter anderem durch

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die Lage des ursprünglichen Punktes be-stimmt, jeder Punkt oder jede Linie trägtdazu bei, die Lage jedes anderen Punktesund jeder anderen Linie festzulegen. So-mit liegt im Raum eine Art Wechselwir-kung der Seinsgründe vor.(149)Schopenhauer untersucht nun die Geome-trie und stellt fest, dass sie „auf dem Ne-xus,“ also auf dem Gefüge, der Verbin-dung „der Lage der Theile im Raum be-ruht,“ in den man aber nur durch Anschau-ung Einsicht gewinnen kann.(150) DieEuklidische Geometrie wird jedoch ganzanders betrieben: „Auf die Anschauung be-ruft man ... in der Geometrie sich eigent-lich nur bei den Axiomen,“(152) und auchdas nicht einmal bei allen. Üblicherweisegibt man dagegen einen „Erkenntnißgrunddes Lehrsatzes an, welcher Jeden zwingtdenselben als wahr anzunehmen: also weistman die logische, nicht die transcendentaleWahrheit des Lehrsatzes nach.“(152) Daes in der Geometrie aber um den Raum,die reine Form der Anschauung, geht,käme es gerade hier auf den Nachweis dertranszendentalen Wahrheit an. Nach einemBeweis der üblichen Art weiß man dannzwar, dass der zur Diskussion stehendeSatz wahr ist, aber man sieht nicht ein,„warum was er behauptet so ist, wie esist.“ Man verfügt nur über einen Erkennt-nisgrund, nicht aber über einen Seins-grund.(152) Als Beispiel führt Schopen-hauer Euklids Beweis des Satzes vor, dassin einem Dreieck mit zwei gleichen Win-keln auch die den Winkeln gegenüber lie-genden Seiten gleich sind, der aber nureinen Erkenntnißgrund für die Wahrheitdes Satzes liefert. Tatsächlich muss manaber einen „durch Anschauung erkanntenSeynsgrund“ vorweisen, der mit einer „Noth-wendigkeit, die sich weiter nicht demon-striren, sondern nur anschauen läßt,“(153)

die Gültigkeit des Lehrsatzes zeigt. SeinArgument kann hier allerdings nicht über-zeugen. Den beispielhaft angeführten geo-metrischen Lehrsatz will er etwa durch denSeinsgrund nachweisen, „vermöge wel-ches ..., wenn von beiden Eckpunkten ei-ner Linie sich zwei andere gleich tief ge-gen einander neigen, sie nur in einem Punkt,der von beiden jenen Eckpunkten gleichweit entfernt ist, zusammentreffen können,indem die entstehenden zwei Winkel ei-gentlich nur Einer sind, der bloß durchdie entgegengesetzte Lage als zwei er-scheint.“(153f) Damit hat er aber nur denLehrsatz noch einmal und etwas ausführ-licher formuliert, ihn jedoch durch nichtsbewiesen. Er gibt selbst zu, dass nur beiderart einfachen Sätzen wie dem betrach-teten „der Seynsgrund so leicht ins Auge“fällt, „doch bin ich überzeugt, daß bei je-dem, auch dem verwickeltesten Lehrsatze,derselbe aufzuweisen und die Gewißheitdes Satzes auf eine solche einfache An-schauung zurückzuführen seyn muß.“(154)Eine Begründung für diese Überzeugungliefert er nicht.In der letzten Klasse von Objekten, dieSchopenhauer untersucht, befindet sichnur ein einziges Objekt: „nämlich das un-mittelbare Objekt des innern Sinnes, dasSubjekt des Wollens“(157), – hier deutetsich der Übergang an zu seinem Haupt-werk, in dem er sich ganz der Willens-metaphysik widmen wird. Zwar kann sichdas Subjekt selbst erkennen, aber immer„nur als ein Wollendes, nicht aber als einErkennendes“(157), denn „es giebt keinErkennen des Erkennens; weil dazu erfor-dert würde, daß das Subjekt sich vom Er-kennen trennte und nun doch das Erken-nen erkennte, was unmöglich ist.“(158)Das vorstellende, das erkennende Subjektist ja bereits Bedingung jedes Erkennens

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und kann daher „nie selbst Vorstellungoder Objekt werden.“(157) Somit ist dasErkannte in uns „nicht das Erkennende,sondern das Wollende, das Subjekt desWollens, der Wille.“(160) Zu jeder Klas-se von Vorstellungen gibt eine Entspre-chung im Subjekt: „Wie nun das subjekti-ve Korrelat der ersten Klasse der Vorstel-lungen der Verstand ist, das der zweitendie Vernunft, das der dritten die reineSinnlichkeit; so finden wir als das dieservierten den innern Sinn, oder überhauptdas Selbstbewußtseyn.“(160) Das Subjektdes Wollens ist aber dem Selbstbewusst-sein unmittelbar gegeben, man kann esnicht weiter definieren, „vielmehr ist es dieunmittelbarste unserer Erkenntnisse.“(161)Was nun die Art des Satzes vom Grundebetrifft, die auf das Subjekt des Wollensanzuwenden ist, so kommt Schopenhau-er auf die bereits früher angeführte dritteForm der Kausalität zurück: das Motiv.Handlungen werden immer durch Motive,die ihrerseits wieder Vorstellungen sind,hervorgerufen, aber „die Einwirkung desMotivs ... wird von uns nicht bloß, wiedie aller andern Ursachen, von außen unddaher nur mittelbar, sondern zugleich voninnen, ganz unmittelbar und daher ihrerganzen Wirkungsart nach, erkannt. ... Hier-aus ergibt sich der wichtige Satz: die Mo-tivation ist die Kausalität von innen gese-hen“(162), da wir in diesem Fall gewis-sermaßen hinter den Kulissen stehen undzusehen können, wie die Ursache zur Wir-kung führt. Der Satz vom zureichendenGrunde des Handelns ist daher nichts ande-res als das „Gesetz der Motivation“(162),nach dem jede Handlung ein zu ihr füh-rendes Motiv hat. Sowohl dieses Motivals auch der Willensakt, den es auslöst,geraten allerdings oft nicht ins Bewusst-sein, weil das Motiv dafür zu geringfügig

und die Erfüllung des Willensaktes zu ein-fach ist.Schopenhauers Analyse der vierfachenWurzel des Satzes vom zureichenden Grun-de ist damit im Wesentlichen beendet, undihm bleibt nur noch, in einem letzten Ka-pitel einige „allgemeine Bemerkungen undResultate“ zu formulieren.(167) Zunächstmerkt er an, dass die Reihenfolge, in derer die verschiedenen Gestaltungen des Sat-zes vom Grunde dargestellt hat, nur ausGründen der Klarheit und Deutlichkeitgewählt wurde. Die systematische Ord-nung ist die folgende: „Zuerst müßte derSatz vom Seynsgrund angeführt werdenund zwar von diesem wieder zuerst dieAnwendung auf die Zeit, als welche daseinfache, nur das Wesentliche enthalten-de Schema aller übrigen Gestaltungen desSatzes vom zureichenden Grunde ... ist.Dann müßte, nach Aufstellung des Seyns-grundes auch im Raum, das Gesetz derKausalität, diesem das der Motivation fol-gen und der Satz vom zureichenden Grun-de des Erkennens zuletzt aufgestellt wer-den; da die andern auf unmittelbare Vor-stellungen, dieser aber auf Vorstellungenaus Vorstellungen geht.“(167) Auch aufdie Ausprägungen des Zeitverhältnisses zwi-schen Grund und Folge geht er ein. InBezug auf Kausalität und Motivation mussnämlich „der Grund der Folge, der Zeit nach,vorangehen“(168), während der Satz vomzureichenden Grunde des Erkennens of-fenbar kein Zeitverhältnis mit sich bringt,„sondern allein ein Verhältniß für die Ver-nunft.“(169) Beim Satz vom Grund desSeins ist die Lage dagegen zweigeteilt: Be-zieht er sich auf den Raum, die Geome-trie, so gibt es kein Zeitverhältnis, beziehter sich aber auf die Arithmetik und damitauf die Zeit, so ist er nichts anderes „alseben das Zeitverhältniß selbst.“(169)

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In Bezug auf das Zeitverhältnis gibt es so-mit Unterschiede zwischen dem Grund desWerdens und dem auf die Geometrie be-zogenen Grund des Seins, aber das sindnicht die einzigen. Während es nämlichunmöglich ist, dass die Wirkung einer Ur-sache gleichzeitig Ursache ihrer Ursacheist und deshalb „das Gesetz der Kausali-tät keine Reciprokation“ zulässt(170), kanndie Lage bei geometrischen Seinsgründeneine andere sein: Eine geometrische Situa-tion kann Grund eines Lehrsatzes sein, denman wiederum als Seinsgrund für die zu-erst betrachtete geometrische Situation auf-fassen darf. Ein Beispiel dafür ist derschon vorher angeführte Lehrsatz, dassein Dreieck mit zwei gleichen Winkelnauch zwei gleiche Seiten haben muss, derauch in umgekehrter Richtung gilt.Doch welche Variante des Satzes vomGrunde auch zur Diskussion stehen mag:Er ist „in allen seinen Gestalten ... das al-leinige Prinzip und der alleinige Träger al-ler und jeder Nothwendigkeit. ... DennNothwendig-seyn kann nie etwas Ande-res besagen, als aus einem gegebenen Grun-de folgen.“(170) Es kann daher kein ab-solut notwendiges Wesen geben, denn ab-solut zu sein bedeutet, von nichts ande-rem abzuhängen, und alles Notwendigehängt von dem Grund ab, aus dem esfolgt.(171) Der „Satz vom Grunde ist dasPrincip aller Erklärungen“ und daher selbstnicht weiter erklärbar, „weil es kein Principgiebt, das Princip aller Erklärungen zu er-klären.“(173) Er ist ein synthetischer Satza priori, da er sich nicht auf Erfahrungstützen kann, aber dennoch – im Gegen-satz zu einem analytischen Satz – weit da-von entfernt ist, nur das zu entfalten, wasin einem gegebenen Begriff bereits vor-handen ist. Absolutheiten schließt er aus,denn „der allgemeine Sinn des Satzes vom

Grunde überhaupt läuft darauf zurück, daßimmer und überall Jegliches nur vermögeeines Andern ist.“(175) Und das auf eineder vier von Schopenhauer analysiertenArten, da „jeder Grund zu einer der ange-gebenen vier möglichen Arten der Grün-de gehören und demnach innerhalb einerder vier angegebenen möglichen Klassenvon Objekten unseres Vorstellungsvermö-gens ... gelten“ muss, „nicht aber außer-halb derselben, oder gar außerhalb derObjekte.“(177) Wann immer jemand alsovon einem Grund spricht, ist „die Forde-rung zu machen, daß er bestimme, wel-che Art von Grund er meine.“(176)Damit beendet Schopenhauer seine Dis-kussion der vierfachen Wurzel des Sat-zes vom zureichenden Grunde.

Die WirkungVon Mitte Juni bis Mitte September hattesich Schopenhauer in Rudolstadt der Ab-fassung seiner Dissertation gewidmet. Ur-sprünglich wollte er mit ihr an der Berli-ner Universität promovieren, aber die Zei-ten waren unruhig und die Postwege nachBerlin nicht sicher. So entschied er sichfür die Universität Jena, an deren philoso-phischer Fakultät er am 24. September1813 die Arbeit in Abwesenheit einreich-te. Schon am 2. Oktober stimmte die Fa-kultät einer Promotion mit der Bewertung„magna cum laude“ zu, am 5. Oktobererhielt Arthur Schopenhauer seine Urkun-de.Einige der fünfhundert auf eigene Kostengedruckten Exemplare verschickte er anUniversitätsphilosophen, und selbstverständ-lich ging eines der Bücher an Goethe, dersich beeindruckt zeigte und Schopenhau-er zum ersten Mal als eigenständigen Den-ker zur Kenntnis nahm. Weitere Erfolgeblieben aus. Nicht nur, dass seine Mutter

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Johanna meinte, die Dissertation sei wohletwas für Apotheker – SchopenhauersArbeit erregte nirgendwo Aufsehen undwurde weder vom breiten noch vom phi-losophischen Fachpublikum zur Kenntnisgenommen. „Es erschienen drei Rezen-sionen mit gönnerhaftem Lob. Kaum mehrals hundert Exemplare wurden verkauft,der Rest wurde makuliert und einige Jah-re später eingestampft.“46 Auch sein 1818erschienenes Hauptwerk „Die Welt alsWille und Vorstellung“ fand kein nennens-wertes Publikum. Erst nach jahrzehntelan-ger Wartezeit begann man, sich für Scho-penhauers Philosophie zu interessieren, dasHauptwerk konnte 1844 in zweiter Aufla-ge erscheinen, die Dissertation 1847, undes fanden sich immer mehr Bewunderervon Schopenhauers Gedankenwelt ein.Der endgültige Durchbruch gelang dann1851 mit den „Parerga und Paralipome-na“, den Nebenarbeiten und dem Nach-gebliebenen. Man nahm nun endlich No-tiz nicht nur von seinem Spätwerk, son-dern auch von der „Welt als Wille undVorstellung“ und von der Dissertation, dieAufmerksamkeit – und auch die Aufmerk-samkeit der Fachwelt –, die mehr als drei-ßig Jahre lang ausgeblieben war, erreichteihn nun in seinen letzten Jahren in Formdes späten Ruhms. In seiner Dissertationhatte er ausgelotet, was man über die Weltder Erscheinungen wissen kann und nachwelchen Prinzipien die Erkenntnis in derdem Menschen zugänglichen Welt derVorstellungen vor sich geht. Sie war be-reits die Vorstufe zu seiner Willensmeta-physik, die er dann in der „Welt als Willeund Vorstellung“ ausgebreitet hat und die„von einem Sein handelt, von dem wirnicht allein durch Denken Kenntnis haben,sondern primär durch die Gegenwart un-seres Leibes.“47

Was ihn in all seinen Arbeiten ausgezeich-net hat, war ein unbedingter Wille zu intel-lektueller Redlichkeit und seine außeror-dentliche sprachliche Darstellungskraft,„wie dergleichen nie vorher in deutscherPhilosophie gewahrt worden war.“48 Kla-res Denken und ein souveräner Umgangmit der Sprache, der das Lesen zum litera-rischen Erlebnis macht, haben seine Wer-ke charakterisiert; „er war zur Abwechs-lung einmal ein Philosoph, der sich mitGenuss lesen ließ.“49 Dass man in der deut-schen Philosophie vor und nach Scho-penhauer oft genug diese beiden Prinzipi-en des Denkens und des Schreibens ver-gessen hat, war für die Philosophie nichtunbedingt von Vorteil.

Literatur:Abendroth (1967): Walter Abendroth; Schopenhau-er, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Ham-burg, 1967.

Appel (2007): Sabine Appel; Arthur Schopenhau-er, Leben und Philosophie, Artemis & Winkler, Düs-seldorf, 2007.

Birnbacher (2009): Dieter Birnbacher; Schopenhau-er, Reclam, Stuttgart, 2009.

Funke (1900): Heinrich Funke; Das Problem desSatzes vom zureichenden Grunde bei Schopenhau-er, Lightning Source UK Ltd, 2011 (Erstdruck derDissertation 1900); auch zu finden unter http://booksnow2.scholarsportal.info/ebooks/oca4/44/dasproblemdessat00funk/dasproblemdessat00funk.pdf.

Grün (2000): Klaus-Jürgen Grün; Arthur Schopen-hauer, Verlag C.H. Beck, München, 2000.

Kant (1799): Immanuel Kant; Erklärung in Bezie-hung auf Fichtes Wissenschaftslehre, zu finden un-ter http://www.korpora.org/kant/briefe/6_oe.html.

Mann (1958): Golo Mann; Deutsche Geschichte desXIX. Jahrhunderts, Büchergilde Gutenberg, Frank-furt a.M., 1958.

Mann (1938): Thomas Mann; Schopenhauer, in:ders., Essays, Band 3, Fischer Taschenbuch Verlag,Frankfurt a.M., 1978, S. 193 – 234 (Erstdruck 1938).

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Safranski (1990): Rüdiger Safranski; Schopenhau-er und die wilden Jahre der Philosophie, RowohltTaschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1990.

Safranski (1995): Rüdiger Safranski; Über Scho-penhauer, in: Schopenhauer, Ausgewählt und vor-gestellt von Rüdiger Safranski, Eugen DiederichsVerlag, München, 1995, S. 11-48.

Schopenhauer (1804): Arthur Schopenhauer; ImArsenal von Toulon, in: Schopenhauer, Ausgewähltund vorgestellt von Rüdiger Safranski, EugenDiederichs Verlag, München, 1995, S. 58-63.

Schopenhauer (1813/1847): Arthur Schopenhau-er, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zu-reichenden Grunde, in: ders.: Kleinere Schriften I,Diogenes, Zürich, 1977 (Erste Auflage 1813, zwei-te Auflage 1847).

Schopenhauer (1819): Arthur Schopenhauer; Le-benslauf des Doctors der Philosophie Arthur Scho-penhauer, in: Schopenhauer, Ausgewählt und vor-gestellt von Rüdiger Safranski, Eugen DiederichsVerlag, München, 1995, S. 88-103.

Zimmer (2010): Robert Zimmer; Arthur Schopen-hauer, Ein philosophischer Weltbürger, DeutscherTaschenbuch Verlag, München, 2010.

Anmerkungen:1 Zimmer (2010), S. 21.2 Grün (2000), S. 15.3 zitiert nach Appel (2007), S. 20.4 Appel (2007), S. 21.5 zitiert nach Grün (2000), S. 16.6 Schopenhauer (1819), S. 89.7 ebd., S. 90.8 ebd., S. 91.9 ebd., S. 92f.10 Zimmer (2010), S. 36.11 Schopenhauer (1804), S. 62.12 Safranski (1990), S. 79.13 zitiert nach Safranski (1995), S. 32ff.14 Schopenhauer (1819) S. 93.15 ebd., S. 94.16 zitiert nach Zimmer (2010), S. 46.17 zitiert nach Safranski (1995), S. 89.18 Schopenhauer (1819) S. 94.19 zitiert nach Appel (2007), S. 143.20 Mann (1938), S. 224.21 Safranski (1990), S. 140.22 Schopenhauer (1819), S. 95.

23 Zimmer (2010), S. 67.24 Appel, (2007), S. 54.25 Schopenhauer (1819), S. 97.26 zitiert nach Zimmer (2010), S. 69.27 Mann (1938), S. 199.28 vgl. Appel (2007), S. 59.29 zitiert nach Appel (2007), S. 10.30 zitiert nach Zimmer (2010), S. 77.31 Kant (1799); die Rechtschreibung wurde hierheutigen Gewohnheiten angeglichen.32 zitiert nach Abendroth (1967), S. 29.33 Zimmer (2010), S. 78.34 zitiert nach Grün (2000), S. 20.35 zitiert nach Safranski (1990), S. 214.36 zitiert nach Abendroth (1967), S. 28.37 Safranski (1990), S. 220.38 zitiert nach Appel (2007), S. 75.39 ebd., S. 76.40 Safranski (1990), S. 224.41 Schopenhauer (1819), S. 99.42 Hauptzweck der folgenden Ausführungen ist es,Schopenhauers Arbeit vorzustellen, nicht aber, siekritisch zu untersuchen. Eine frühe Kritik von Scho-penhauers Dissertation findet man z.B. in Funke(1900), eine aktuelle kritische Würdigung z.B. inBirnbacher (2009), S. 60 – 71.43 So Thomas Mann über Schopenhauer, zitiert nachSafranski (1995), S. 24.44 Schopenhauer (1813/1847); hier wird der Textder ausführlicheren zweiten Auflage von 1847 ver-wendet.45 Die in Klammern angegebenen Zahlen beziehensich jeweils auf die Seite aus Schopenhauer (1813/1847), in der die zitierte Stelle zu finden ist. DieRechtschreibung wurde unverändert übernommen.46 Safranski (1990), S. 237.47 Grün (2000), S. 22.48 Mann (1938), S. 194.49 Mann (1958), S. 285.