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Bamberger Kolloquien zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 2 Hauke Kenzler Hans Losert (Hrsg.) Ein Kolloquium zum 60. Geburtstag von Ingolf Ericsson Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten The Reconstruction of Medieval Lifeworlds
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Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten / The Reconstruction of Medieval Lifeworlds

Apr 08, 2023

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Bamberger Kolloquien zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 2

Hauke KenzlerHans Losert(Hrsg.)

Ein Kolloquium zum 60. Geburtstag von Ingolf Ericsson

Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten

The Reconstruction of Medieval Lifeworlds

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www.bodner.ebuch.de

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Die Rekonstruktion Mittelalterlicher Lebenswelten The Reconstruction of Medieval Lifeworlds

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Bamberger Kolloquien zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit

herausgegeben von

Ingolf Ericsson

Band 2

2015 Verlag der Buchhandlung Eckhard Bodner, Pressath

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Der Druck wurde ermöglicht durch:

Gesellschaft für Archäologie in Bayern e.V.

Universitätsbund Bamberg e.V.

Zentrum für Mittelalterstudien, Otto-Friedrich Universität Bamberg

Lehrstuhl für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, Otto-Friedrich Universität Bamberg

Hauke Kenzler und Hans Losert (Hrsg.): Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten.

Ein Kolloquium zum 60. Geburtstag von Ingolf Ericsson. Bamberger Kolloquien zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 2

Verlag der Buchhandlung Eckhard Bodner, Pressath 2015 ISBN 978-3-939247-64-7

Redaktion: Hauke Kenzler und Hans Losert

Layout: Hauke Kenzler

© Autoren den bei Rechte alle 2015,

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Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten The Reconstruction of Medieval Lifeworlds

Ein Kolloquium zum 60. Geburtstag von Ingolf Ericsson

herausgegeben von

Hauke Kenzler und Hans Losert

Band 2

2015 Verlag der Buchhandlung Eckhard Bodner, Pressath

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INHALTSVERZEICHNIS Vorwort…………………………………………………………………………….…………..9 HAUKE KENZLER: Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten – Einige Bemerkungen zum Thema der Tagung (The Reconstruction of Medieval Lifeworlds – Some Comments on the Topic of the Conference)……………………..……….11 STEFAN WOLTERS: Der Geschichtspark Bärnau-Tachov. Ein grenzübergreifendes Museumsprojekt in der Oberpfalz (The History Park Bärnau-Tachov. A Cross-border Museum Project in the Upper Palatinate)…………………………………………………....17 HENDRIK ROHLAND: Die Rekonstruktion slawischer Grubenhäuser – theoretische Überlegungen und praktische Erfahrungen (The Reconstruction of Slavic Pit-Houses – Theoretical Considerations and Practical Experiences)……………………………………..25 SILVIA CODREANU-WINDAUER und LUTZ M ICHAEL DALLMEIER : Das Bajuwarenhaus in Burgweinting – 7. Jahrhundert …im 21. Jahrhundert! (The “Bajuwarenhaus” of Burgweinting: 7th century …in the 21st century!)…………………………….………………45 HANS-PETER VOLPERT: Der Bajuwarenhof Kirchheim. Projekt für experimentelle Archäologie des frühen Mittelalters (The Baiovarii Farmstead Kirchheim. An Experimental Early Medieval Archaeology Project)…………………………………………57 GUNNAR GRANSCHE: Lebenswelt Handwerk – Der Schmied im Frühmittelalter (Artisan Realities – The Blacksmith in Early Medieval Times)………………………...…….65 KATRIN KANIA : Alltagskleid und Alltagstrott – Textilien als Schlüssel zur Rekonstruktion von Lebenswelten (Daily Dress and Daily Routine – Textiles as a Key to the Reconstruction of Living Environments)……………………….…………………83 THOMAS LIEBERT: Die Schwarzach. Wasserstraße und Energielieferant (The Schwarzach. Waterway and Energy Source)…………………………………………..101 ANDREJ PLETERSKI: Brot ist Lebensquelle. Nichts darf übrig bleiben (Bread is a Source of Life. Nothing Must be Left)………………………….……………….123 IBRAHIM KARABED: Ein kleines Ein mal Eins der Darstellung historischer Lebenswelten im musealen Kontext (The Basics of the Presentation of Historical Lifeworlds in a Museum Context)…………………………………………...………………143

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Vorwort

Bevor sich der Geburtstag von Prof. Ingolf Ericsson zum sechzigsten Mal jährte, wurde von seinen Mitarbeitern intensiv darüber nachgedacht, wie das Ereignis angemessen begangen werden könnte. Da der Bamberger Lehrstuhl für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit einen gewissen Ruf in der Durchführung von Fachkonferenzen besitzt, die letzte aber schon einige Jahre zurücklag, war bald der Entschluss zur Ausrichtung einer Tagung gefasst. In Anbetracht der Vielzahl von Kollegen und Weggefährten aus unterschiedlichen Disziplinen und der beeindruckend großen Anzahl von Absolventen, die Prof. Ericsson im Laufe seiner universitären Laufbahn betreut hat, hätte eine solche Tagung leicht mehrere Sektionen umfas-sen und mehrere Tage andauern können. Von einem solchen „Mammutprogramm“ musste allerdings aufgrund von anderen Verpflichtungen der Ausrichter und beschränkter finanzieller Mittel Abstand genommen werden. So wurde schließlich der Entschluss gefasst, eine kleinere, gezielt auf ein einzelnes Thema ausgerichtete Fachtagung abzuhalten. Sie sollte nicht nur eine enge Verbindung zum Jubilar herstellen, sondern auch aktuelle Forschungen präsentieren, denen augenblicklich noch kein geeignetes Fachforum zur Verfügung steht. Die Wahl fiel schnell auf „Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten“ und eine enge Zusammenarbeit mit dem neu geschaffenen Geschichtspark Bärnau-Tachov, dessen wissen-schaftlichem Leiter Stefan Wolters M.A. und damaligem Projektleiter Benjamin Zeitler M.A. an dieser Stelle herzlich für die gute Zusammenarbeit gedankt sei. Bereits in der Planungs-phase des Parks bestand ein enger Kontakt zum Bamberger Lehrstuhl, da Prof. Ericsson und die beiden Herausgeber dieses Bandes in den wissenschaftlichen Beirat aufgenommen wurden. Neben der thematischen Ausrichtung auf die frühmittelalterlich-slawische und hoch-mittelalterlich-deutsche Periode fand insbesondere das Konzept des Parks großen Beifall, das sich rigide am archäologischen Nachweis sowie zeitgenössischen schriftlichen und bildlichen Quellen orientiert. Dieses Bestreben wird nicht nur in Bezug auf die Rekonstruktion der Bauten, sondern auch deren Belebung verfolgt. Seit dem ersten Spatenstich im März 2010 kam es zu einer rasanten Entwicklung des Parks, der weiterhin gleichermaßen Mitarbeiter, freiwillige Helfer, Besucher oder Fachkollegen begeistert. Der Geschichtspark bot Bamberger Studierenden von Beginn an im Rahmen von Übungen und Abschlussarbeiten die Gelegen-heit, Erfahrungen im archäologischen Experiment und der Rekonstruktion zu sammeln und dabei eigene Ideen in der Praxis zu testen und umzusetzen. Die Resonanz auf unsere Einladung zur Tagung war sehr groß und bestätigte den ersten Eindruck, ein drängendes Thema angeschnitten zu haben. Bislang fehlte der Mittelalter-archäologie ein entsprechendes Fachforum für Fragen der experimentellen Archäologie. Zudem bezog die Tagung weitere Themenfelder mit ein, wie etwa die verschiedenen Formen der Vermittlung an die Öffentlichkeit. Der hohe Diskussionsbedarf soll durch eine nachfol-gende Tagung, wohl im Geschichtspark Bärnau, gedeckt werden. Möglicherweise kann die Bamberger Tagung den Auftakt zu weiteren Treffen in loser Folge bilden. Leider hat sich die Drucklegung durch verschiedene Umstände sehr verzögert, doch können in diesem Band nun erfreulicherweise fast alle der auf der Tagung vorgestellten Beiträge vor-gelegt werden. Sie geben einen ausgezeichneten Querschnitt durch die Breite der augen-blicklich bearbeiteten Fragen.

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Abschließend bleibt uns noch der Dank an die Gesellschaft für Archäologie in Bayern e.V., den Universitätsbund Bamberg e.V. und das Zentrum für Mittelalterstudien der Universität Bamberg, ohne deren finanzielle Unterstützung die Drucklegung dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. Für die gute Zusammenarbeit und den Druck des vorliegenden Bandes danken wir der Verlagsbuchhandlung Eckhard Bodner in Pressath. Margret Sloan sei für die Unter-stützung bei der Anfertigung der englischen Zusammenfassungen gedankt. Hauke Kenzler Hans Losert

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Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten – Einige Bemerkungen zum Thema der Tagung

The Reconstruction of Medieval Lifeworlds – Some Comments on the Topic of the Conference

Hauke Kenzler

Abstract

This paper illuminates the origin of the term “lifeworld” as a sociological concept and its use in German archaeology. With regard to the theme of the conference and the papers collected in this volume, reconstruction, experiment, living history and re-enactment are being distinguished from one another. The importance of experimental archaeology for the study of the Middle Ages is explained.

Im Folgenden sollen den in diesem Band gesammelten Beiträgen einige Bemerkungen zum Terminus „Lebenswelt“ und den damit verbundenen Intensionen und Themenfeldern der zu Grunde liegenden Tagung vorangestellt werden. Sie sind u.a. durch die verschiedenen Kon-notationen notwendig geworden, die dem Begriff heute innewohnen, je nachdem von welchem Autor er in welchem Zusammenhang benutzt wird. Zudem soll der Bezug zur Rekonstruktion, die ebenfalls im Tagungstitel geführt wurde, zum Experiment und zur muse-alen Präsentation hergestellt werden. Der Begriff „Lebenswelt“ entstammt ursprünglich der Soziologie und wurde insbesondere in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch Edmund Husserl definiert und zu einem zentralen Gegenstand der Philosophie (Husserl 1954). Bereits bei Husserl besteht eine Dop-peldeutigkeit. Er versteht unter der Lebenswelt zum einen das Universum des Selbstver-ständlichen oder Vorgegebenen. Dieses bildet das anthropologische Fundament für jede Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Welt. Zum anderen meint Husserl die prak-tische, anschauliche und konkrete Lebenswelt. Der Lebenswelt als der unveränderlichen Wahrnehmungswelt des gegenständlich Seienden steht somit die durch den Menschen geprägte soziohistorisch-kulturelle Umwelt gegenüber. In der weiteren soziologischen For-schung wird insbesondere die zumindest in Teilen subjektive Konstruktion der individuellen Lebenswelt und ihre Abhängigkeit von den scheinbar objektiven Rahmenbedingungen der Umwelt diskutiert (z.B. Kraus 2007, 85). Dem soziologischen Konzept entlehnt, wird der Begriff heute im Allgemeinen dafür verwen-det, wie die Welt individuell, von einer Gruppe oder auch von der gesamten Menschheit erfahren bzw. „erlebt“ wird. In diesem Sinn kann Lebenswelt am Besten mit dem neu-engli-schen „lifeworld“ übersetzt werden, was auch im Titel dieses Tagungsbandes so gehandhabt wurde. In anderen Kontexten erschien uns „living environment“ oder „reality“ treffender. In der schrifthistorischen und der archäologischen Forschung wird in den letzten Jahren sehr häufig von Lebenswelten geschrieben oder gesprochen; insbesondere dann, wenn Ergebnisse einem größeren Publikum verständlich vorgestellt werden sollen. Das dies v.a. eine Mode-erscheinung ist, die auf der Suche nach einem anschaulichen und zugleich umfassenden Begriff gründet, liegt auf der Hand. Wollte man die Lebensumstände – im Rahmen von Aus-stellungen die Alltagskultur – einer kleineren oder größeren Gruppe von Menschen darstellen, so war vor Jahren beispielsweise noch von der „Lebensweise in der Stadt um 1200“ (Steuer 1986) oder dem „Leben im Mittelalter“ (Grewenig 1992) die Rede. Heute sind es etwa

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„Lebenswelten des Mittelalters“ (Dinzelbacher 2010) oder „Luthers Lebenswelten“ (Meller/Rhein/Stephan 2008), die das Publikum ansprechen. Dabei wird die Benutzung des Begriffes in der Regel nicht weiter reflektiert. Ganz pragmatisch stehen die Lebensumstände vergangener Zeiten im Mittelpunkt, die durch die zu Verfügung stehenden Quellen erschlos-sen werden müssen. Für die Archäologie sind dies materielle Überreste – die ergrabenen Befunde und Funde – die dann auch zu einer recht materiellen bzw. materialorientierten Dar-stellung der Lebenswelten führen. Das in der Soziologie noch betonte subjektive Erleben kann in der Regel nicht reflektiert werden. So ist es gerade ihre Materialität und „Erlebbarkeit“, d.h. der „lebendige“ Transport in die heutige Zeit, die die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten im musealen Kontext so attraktiv macht. Zugleich hat sie aber auch in der wissenschaftlichen Forschung ihren Platz, wie wir durch die Tagung verdeutlichen wollten. Dazu sollen im Vorfeld die in vielen neue-ren Darstellungen eng miteinander verwobenen Begriffe „Experiment“, „Rekonstruktion“, „Living History“ und „Reenactment“ kurz aufgeschlüsselt werden. Am bekanntesten und in Ansätzen bereits zu einer eigenständigen Disziplin innerhalb der archäologischen Forschung geworden ist die so genannte „experimentelle Archäologie“. Noch immer wird aber um klar definierte und anerkannte methodische Grundlagen gerungen und auch die Etablierung in der universitären Lehre ist kaum gegeben. Die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und die Verankerung an Museen – insbesondere Freilichtmuseen – und Verei-nen sind dafür umso größer (Vorlauf 2010). Schon früh diente das archäologische Experiment nicht nur dem Erkenntnisgewinn, sondern erfüllte auch didaktische Funktionen. Als De-monstration ist es geeignet, dem breiten Publikum Forschungsergebnisse nahe zu bringen und Interesse an der archäologischen Arbeit bzw. dem Mittelalter zu wecken (Richter 1991, 19). In reiner Form verfolgt das archäologische Experiment eine wissenschaftliche Fragestellung. Die archäologische und schriftliche bzw. bildliche Überlieferung vergangener Objekte und Prozesse ist oftmals lückenhaft. Daher kann durch den nachvollziehenden Gebrauch von Rekonstruktionen auf die mutmaßlichen oder wahrscheinlichen Funktionen oder Abläufe rückgeschlossen werden. Es gelten die gleichen Maßstäbe wie in den Naturwissenschaften: Die Ergebnisse aus den durchgeführten Versuchen müssen messbar sein, jederzeit nachvoll-ziehbar sein und dokumentiert werden. Die erzielten Resultate müssen später unter den defi-nierten Bedingungen jederzeit reproduzierbar sein (Fansa 1990; Richter 1991, 19 ff.). Da der-artige Experimente schon durch die einhergehende akribische Dokumentation äußert zeitauf-wändig sind, und ihr erfolgreicher Abschluss oftmals offen ist, finden sie heute nur äußerst selten in der Öffentlichkeit statt (Keefer 2006, 14). Allein durch die schiere Menge der eher unterhaltenden oder belehrenden Formen der Rekonstruktion vergangener Lebenswelten ist das Experiment zumindest in der Wahrnehmung auch in Fachkreisen immer weiter zurück gedrängt worden, doch kann es nach wie vor einen wesentlichen Beitrag zum wissenschaft-lichen Erkenntnisgewinn leisten. Dies gilt nicht nur für die schriftlosen Zeiten, sondern auch für die vermeintlich dicht überlie-ferte Epoche des Mittelalters. Zwar kann die Archäologie des Mittelalters fast immer wesent-lich tiefer in die vergangenen Lebenswelten eindringen, als dies den Prähistorikern möglich ist, doch bleiben zuweilen auch scheinbar simple Fragen bis heute unbeantwortet. Es herrscht in der Fachwelt zum Beispiel Unklarheit über den Gebrauch so genannter Langzinkenkämme. Diese spezielle Kammform aus Knochen gehört insbesondere in Städten und Burgen vom 12.

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bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts zum durchaus geläufigen Fundgut. Nur was hat man mit Ihnen gemacht? Wechselweise wird die Nutzung als Webkamm in der Textilverarbeitung, als Verzierungsutensil in der Töpferei, Steckkamm zum Zusammenhalt von Hochfrisuren oder Läusekamm vorgeschlagen (vgl. z.B. Klápště 1999). Um sich der Lösung solcher Fragen zu nähern, hat das Experiment auch für die mittelalterliche Zeitstellung seine Berechtigung und wird in entsprechendem Umfang angewendet. Man betrachte nur die breite Palette der am Museumsdorf Düppel durchgeführten und bereits vor 25 Jahren in der Ausstellung „Experi-mentelle Archäologie in Deutschland“ versammelten Experimente und Rekonstruktions-versuche (Fansa 1990). Das Spektrum reicht hier von der Keramikherstellung (Böttcher/Böttcher 1990), über den Gebrauch eines Webstuhles (Goldmann 1990), bis zur Rückzüchtung von Nutztieren (Plarre 1990). Der eng mit dem Experiment verwobene Begriff der „Rekonstruktion“ führt wieder näher an den Aspekt der Unterhaltung und Belehrung. Nicht jede Rekonstruktion, etwa eines Gebäu-des, ist auch ein Experiment. Aber Funde (z.B. von Werkzeugen), Befunde (z.B. Pfosten-löcher, die sich zu einem Grundriss formen) und Experimente (z.B. über die Dachneigung) können zu einer Rekonstruktion führen, die idealerweise dem verlorenen Original entspricht. Die Rekonstruktion kann dann beispielsweise in einem musealen Kontext dazu dienen, den Besuchern die Lebensumstände im Mittelalter nahe zu bringen. Dabei ist selbstverständlich auf eine möglichst große wissenschaftliche Genauigkeit und Aufrichtigkeit zu achten, da sich ein „erlebtes“ falsches Bild bei den Betrachtern umso tiefer festsetzt als eine konventionelle museale Präsentation. Wird eine solche Rekonstruktion von Darstellern belebt, so spricht man heute auch in Deutschland zumeist von „Living History“ oder „Reenactment“; Begriffe, die am Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts im angloamerikanischen Sprachraum geprägt wurden (Hochbruck 2009, 217). Living History wird dabei zumeist auf die Darstellung historischer Lebenswelten durch Personen bezogen, deren Kleidung, Ausrüstung und Gebrauchsge-genstände möglichst realistisch der dargestellten Epoche entsprechen. Reenactment meint hingegen die Neuinszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Weise. Daneben gibt es noch eine ganze Reihe weiterer unterrichtender, nichtwissenschaft-licher und/oder kommerzieller Ansätze. Darunter sind auch die heute so beliebten Mittel-altermärkte, die zumindest das große öffentliche Interesse an unserem Forschungsgegenstand unterstreichen1. Letztlich geht es bei all den verschiedenen Richtungen bzw. Veranstaltungen um die Belebung historischer Kontexte, um das Nachempfinden bzw. Simulieren mittelalter-licher Lebenswelten. Experimente finden in diesem Zusammenhang nicht statt, Vorführungen oder Mitmach-Aktionen bauen aber oftmals auf zuvor erfolgreich durchgeführten Experi-menten auf (Keefer 2006, 15). Damit wären wir wieder beim Kern der Tagung und den in diesem Band zusammengeführten Beiträgen angekommen. Das Spektrum ist so breit gestreut und vielfältig wie die Thematik. Vertreten sind Beiträge aus archäologischen Freilichtmuseen, in denen moderne Vermitt-lungskonzepte archäologischer Ergebnisse ebenso angesprochen werden, wie fachliche Fragen zur Rekonstruktion und ihrer Überprüfung im archäologischen Experiment. Es erfolgt

1 Vgl. zur Begrifflichkeit auch den Beitrag von Ibrahim Karabed in diesem Band.

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die Auseinandersetzung mit der Belebung durch Museumsmitarbeiter, selbständige Archäolo-gen und die Zusammenarbeit mit Vereinen. Die Rekonstruktion von mittelalterlichen Lebenswelten bedeutet in weiteren Beiträgen aber auch die Beschäftigung mit dem Schmie-dehandwerk, der Textilherstellung, Nahrungsmitteln und dem Wasser als Energielieferant und in seiner infrastrukturellen Bedeutung.

Abb. 1. Der Aufbau des Geschichtsparks Bärnau-Tachov im Oktober 2011. Eine Bühne für die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten. Literatur:

BÖTTCHER, Gudrun/BÖTTCHER, Gunter: Herstellung mittelalterlicher Töpferware im Museumsdorf Düppel. In: Fansa, Mamoun (Bearb.): Experimentelle Archäologie in Deutschland. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 4. Oldenburg 1990, 355-361. DINZELBACHER, Peter: Lebenswelten des Mittelalters. 1000-1500. Badenweiler 2010. FANSA, Mamoun (Bearb.): Experimentelle Archäologie in Deutschland. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 4. Oldenburg 1990. FANSA, Mamoun: Experimentelle Archäologie in Deutschland. Einleitung. In: Fansa, Mamoun (Bearb.): Experimentelle Archäologie in Deutschland. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 4. Oldenburg 1990, 11-17. GOLDMANN , Annelies: Das Weben am Rundwebstuhl. In: Fansa, Mamoun (Bearb.): Experimentelle Archäologie in Deutschland. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 4. Oldenburg 1990, 427-431. GREWENIG, Meinrad Maria (Hrsg.): Leben im Mittelalter. 30 Jahre Mittelalterarchäologie im Elsass. Speyer 1992.

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HOCHBRUCK, Wolfgang: Delimitationen der Anschaulichkeit im Geschichtstheater. In: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hrsg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld 2009. 215-230. HUSSERL, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana Band VI. Den Haag 1954. KEEFER, Erwin: Zeitsprung in die Urgeschichte. Von wissenschaftlichem Versuch und lebendiger Vermittlung. In: Keefer, Erwin (Hrsg.): Lebendige Vergangenheit. Vom archäologischen Experiment zur Zeitreise. Stuttgart 2006, 8-36. KLÁPŠTĚ, Jan: Příspěvek k povaze svědectví středověkých artefaktů: úzký kostěný hřeben a možnosti jeho výpovědi (Ein Beitrag zum Zeugnis mittelalterlicher Artefakte: Der Langzinkenkamm und seine Interpretationsmöglichkeiten). In: Slovensko a európsky juhovýchod. Facultatis Philosophica Universitatis Comenianae Bratislavensis. Studia Archaeologica et Mediaevalia 5, Bratislava 1999, 364-384. KRAUS, Björn: Soziale Arbeit – Macht – Hilfe und Kontrolle. Grundlegung und Anwendung eines systemisch-konstruktivistischen Machtmodells. In: Kraus, Björn/Krieger, Wolfgang (Hrsg.): Macht in der Sozialen Arbeit – Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. Ort? 2007, 79–102. MELLER, Harald/RHEIN, Stefan/STEPHAN, Hans-Georg (Hrsg.): Luthers Lebenswelten. Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle 1. Halle 2008. PLARRE, Werner: Potentielle Rückzüchtung eines mittelalterlichen Weideschweins. In: Fansa, Mamoun (Bearb.): Experimentelle Archäologie in Deutschland. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 4. Oldenburg 1990, 158-165. RICHTER, Pascale B.: Experimentelle Archäologie: Ziele, Methoden und Aussage-Möglichkeiten. In: Experimentelle Archäologie. Bilanz 1991. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 6. Oldenburg 1991, 19-49. STEUER, Heiko (Hrsg.): Zur Lebensweise in der Stadt um 1200. Ergebnisse der Mittelalter-Archäologie. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 4. Köln 1986. VORLAUF, Dirk: Experimentelle Archäologie. Eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Kommerz. Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch, Heft 86. Oldenburg 2010.

Abbildungsnachweis

Abb. 1: Hans Losert.

PD Dr. Hauke Kenzler Lehrstuhl für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit Am Kranen 14 96045 Bamberg [email protected]

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Der Geschichtspark Bärnau-Tachov. Ein grenzübergreifendes Museumsprojekt in der Oberpfalz

The History Park Bärnau-Tachov. A Cross-border Museum Project in the Upper Palatinate

Stefan Wolters

Abstract

The small town Bärnau is located in northeastern Bavaria directly at the bohemian border. Since April 2010 one of the largest archaeological open-air museums in Germany is developing here in close proximity to a highly important historical trade route – the so called “Golden Road”. The History Park Bärnau-Tachov presents rural and early urban building traditions from the Early to the High Medieval period in the contact area between Slavs and early Germans. The park is run almost entirely by volunteers who follow an ambitious master plan under the expert guidance of archaeologists and historians. Besides a modern functional building, including restaurant, museum shop, office, meeting rooms and a permanent exhibition, a wide variety of temporally, spatially and thematically arranged building complexes were erected in the renaturated landscape near the small river Waldnaab. Based on archaeological evidence and using authentic historical tools and materials, various pit houses, residential buildings, stables and workshops, a tavern, church, motte-and-bailey castle, etc. were built. The buildings are open to visitors and on special occasions are given life by reenactment groups.

Vorgeschichte – Organisation – Grenzübergriff

In Bärnau, im Landkreis Tirschenreuth entsteht seit April 2010 eines der größten archäolo-gischen Freilichtmuseen Deutschlands, der Geschichtspark Bärnau-Tachov. Nach der Auffüh-rung eines historischen Festspiels vor rund zehn Jahren, aus dem eine grenzübergreifende deutsch-tschechische Zusammenarbeit hervorging, entschloss sich der damalige Festspiel-verein, die gemeinsame Geschichte in einem „Erlebnispark“ aktiv erfahrbar zu machen. Anfänglichen Ideen folgte die Erkenntnis, dass man sich bei der Weichenstellung bereits im Klaren sein müsste, wie ernsthaft und wissenschaftlich an die Sache herangegangen werden sollte. Erste Kontaktaufnahmen bei staatlichen Stellen und interessierten Gruppen und Ver-einen zeigten schon das große Potential der Idee und so entschloss man sich, einen eigenen Trägerverein – Via Carolina – zu gründen und unter Hinzuziehung externer Fachleute ein tragfähiges Konzept zu erarbeiten. Die Lage an der Grenze zur Tschechischen Republik und die bereits vorhandenen guten Kontakte ins Nachbarland eröffneten die Möglichkeit der durch die Europäische Union für ein grenzüberschreitendes Projekt im Rahmen des Ziel 3/INTERREG IV A Programmes. In der mehrjährigen Konzeptphase wandelten sich der „Erlebnispark“ zum „Geschichtspark“ und die „Eventveranstaltung“ zum „Archäologischen Freilandmuseum“. Unter der ehrenamtlichen Mitarbeit von Archäologen und Historikern wurde in drei Jahren ein anspruchsvolles Gesamtkonzept entworfen, welches den Grenzübergriff enthielt, den lokalen Bezug gewähr-leistete und die überregionale Bedeutung garantierte. Region – Themenstellung – Konzept

Direkt unterhalb des bayrisch-böhmischen Grenzkamms reifte der Entschluss, das nachbar-liche Zusammenleben zweier Völker zum Aufhänger zu nehmen und die geschichtliche Ent-

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wicklung der Region erlebbar zu machen. Die in der jüngeren Vergangenheit lange als eiser-ner Vorhang wahrgenommene Grenze war im Mittelalter eher ein mehrere Kilometer breiter, durchlässiger Grenzsaum. Deutsche, slawische sowie gemischte Orts- und Flurnamen belegen dies eindrucksvoll. Die verstärkte archäologische Tätigkeit in der Region und benachbarten Gebieten erlaubt nun erstmals fundierte Modelle dieser frühen Siedlungstätigkeit. So zeigt sich, dass slawische Stämme von Süden über die Donau und Naab nach Nordostbayern kamen und sich vermutlich sogar als Oberschicht an die Spitze der verbliebenen autochthonen Bevölkerung setzten. Es bildeten sich Siedlungskammern mit Hauptorten und weltlichen sowie geistlichen Zentren. Das früheste Zeitfenster im Geschichtspark orientiert sich an der Zeit der wendischen Immigration und so entstand ein Dorf des 8./9. Jahrhunderts mit seinen typischen westslawischen Hausformen und Bautechniken. Die Nennung der terra sclavorum und das Ungemach des Bamberger Bischofs auf einer Synode 1059 über die slawischen „Heiden“ bestimmt die Auswahl des zweiten Zeitfensters. Gleichzeitig mit intensivierter Binnenkolonisation konsolidierte das Reich seine Grenzen im Osten und festigte die politische Organisation auch in den Randgebieten. Mit den neuen Machtstrukturen etablierte sich das Christentum, das nach Aussage der archäologischen Quellen in Nordostbayern friedlich übernommen wurde. Den Fortgang der Geschichte ver-deutlichen die Turmhügelburg und der Kirchenbau eines Ministerialen. Nicht nur die Gebäu-deformen, sondern auch die Bautechnik unterscheiden sich grundlegend von den slawischen Häusern. Die Waldnaab, die das Gelände teilt, überschreitend begibt sich der Besucher nun in das dritte, dem 12./13. Jahrhundert gewidmete Zeitfenster. Hier sieht man den Häusern nicht mehr an, ob Slawe oder Deutscher darin wohnt, vielmehr spaltet sich die kleine „Siedlung“ in eine ländliche und eine frühstädtische Baugruppe. Der frühstädtische Bereich mit Schänke, frühen Fachwerkelementen und spezialisierten Werkstätten stellt sich hierbei klar als Innovations-träger dar. Für den Besucher werden so die Assimilation der verschiedenen ethnischen Bevölkerungs-gruppen und die kulturelle Bereicherung durch die verschmelzenden Einflüsse in einer Grenz-region erfahrbar gemacht. Hausgrundlagen – Auswahl – Ausführung

Neben den Häusern in der Freifläche, bietet die Dauerausstellung im benachbarten modernen Funktionsgebäude die Gelegenheit, den mittelalterlichen Alltag, die Bautechniken und die Technologie der vorgestellten Zeiten zu vertiefen. Da wegen des angestrebten stimmigen Ein-drucks der mittelalterlichen Lebenswelten in den Häusern selbst auf jegliche Beschilderung verzichtet wird, kann sich der Interessierte in der Ausstellung den erklärenden Wissensstand erarbeiten, um das Gesehene zu interpretieren. Ausgebildete Führer erläutern Entstehung und Inhalte des Geschichtsparks und mit mehrsprachigen Audioguides bleiben auch Individual-besuchern die Hintergründe nicht verschlossen. Neben Verwaltung und Gastronomie beherbergt der Funktionsbau auch die Kasse und den Museumsshop. In dem weitläufig angelegten Bereich um Biergarten und Museumsgebäude befindet sich auch die „Eventfläche“, der Bereich für Konzerte, Märkte und ähnliche Veran-staltungen. Der großen Mittelalterbegeisterung geschuldet, sollen derartige Spektakel nicht

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Abb. 1. Vom Besucher nicht einsehbares Konstruktionsdetail im Fundamentbereich.

Abb. 2. Mittelalterdarsteller beim Hausbau.

rundheraus abgelehnt werden, wichtig ist jedoch die deutliche, auch bauliche Tren-nung zwischen Eventbereich und Authen-tikbereich. Unsere Philosophie wird sein, die zahlreichen Mittelalterfans und Markt-besucher in ihrem „Unterhaltungsmittel-alter“ abzuholen und ihnen anzubieten, sich auch mal das „echte“ Mittelalter anzu-schauen. Im Gegensatz zu anderen Museumsanlagen sind die Gebäude im Geschichtspark nicht auf Originalfundstellen gebaut. Vielmehr wurden im westslawischen Siedlungsgebiet nach aussagekräftigen archäologischen Hausbefunden gesucht und geeignete Beispiele zu einem Dorf zusammengestellt und rekon-struiert. Ziel war es, in einem „Idealdorf“ das breite Spektrum frühmittelalterlicher Bautra-ditionen zu zeigen. So finden sich verschiedene Formen von Grubenhäusern, Pfostenbauten unterschiedlicher Größe, Flechtwandhäuser ohne Innengerüst und natürlich Blockbauten. Bei allen Häusern wird darauf geachtet, ausschließlich authentische Materialien und archäolo-gisch belegte Holzverbindungen zu verwenden. Da sich die Häuser als 1:1 Modelle bewähren sollen, ist es erforderlich, die Gesamtkonstruktion mit Originalmitteln nachzubilden, auch an Stellen, die vom Besucher nicht einsehbar sind, wie etwa im Bereich von Fundamenten (Abb. 1) und Dachdeckungen. Die zweite wichtige Maxime ist, dass alles im Museum benutzbar und funktional ist. Alle Gebäude sind begehbar, beheizbar und jeglicher Witterung gewach-sen. Eine große Zahl ausgewählter Mittelalterdarsteller bauen an den Häusern mit (Abb. 2) und beleben das Museum mit den anerkannten Methoden der living history, durch ihre Nut-zung der Häuser und verschiedene Handwerksdarstellungen. Hausformen

Herausragend sind natürlich das Langhaus im Frühmittel-alterbereich und die Turmhü-gelburg (Abb. 3) am Übergang zum Hochmittelalterbereich, wo die Schänke in entwickelter Fachwerktechnik gleichzeitig das modernste Gebäude im Authentikbereich darstellt (Abb. 4). Mit dem Langhaus – nach ei-nem Grabungsbefund aus Sta-rigard/Oldenburg – entsteht im Geschichtspark die derzeit

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Abb. 4. Die Schänke in entwickelter Fachwerktechnik – das modernste Gebäude im Authentikbereich.

Abb. 3. Turmhügelburg am Übergang zum Hochmittelalterbereich. größte Rekonstruktion eines mittelalterlichen slawischen Gebäudes in Europa. Die Auswahl fiel auf dieses weit entfernte Beispiel, da ein Gebäude benötigt wurde, welches groß genug ist, um einer ganzen Schulklasse als Aktionsraum zu dienen. Das Langhaus besteht zu einem Drittel aus einer Pfosten-Bohlen-Konstruktion (Abb. 5), die restlichen Wandflächen sind in herkömmlicher Flechtwandtechnik aufgebaut (Abb. 6). Das mit einem Satteldach versehene Gebäude mit dem Haupteingang unter einer Gaube hat eine Grundfläche von 21 x 7 Meter, ist in zwei Räume unterteilt und mit zwei Heizstellen versehen. Nach Abschluss der substan-ziellen Bauarbeiten sollen einzelne Elemente des Hauses farbig gefasst werden, um die Bedeutung dieses Hauptgebäudes des slawischen Dorfes zu unterstreichen.

Die Turmhügelburg oder Motte (von Chateau sur la Motte – Burg auf einem Hü-gel) ist das Wahrzeichen des Museums und darum auch auf dem Logo des Geschichts-parks zu sehen. Vorbilder dieses Bauwerkes oder viel-mehr die aufgeschütteten Hü-gel finden sich in der Ober-pfalz in großer Zahl und so diente ein nahes Beispiel als Vorbild. Die Bärnauer Motte ist im Gegensatz zu allen an-deren nachgebauten Turmhü-gelburgen in Deutschland eine

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Abb. 5. Langhaus mit Wandbereich in Pfosten-Bohlen-Konstruktion.

Abb. 6. Langhaus mit Wandflächen in Flechtwandtechnik.

Rekonstruktion für eine frühe Zeitstellung des 11. Jahrhunderts (Abb. 3). Als Leitbild dienen hierbei die Darstellungen auf dem Teppich von Bayeux, wenige Grabungsbefunde aus Bayern und sehr maßgeblich der gut ergrabene, dokumentierte und geradezu als Prototyp der „Motte“ geltende Bau von Abinger im Südosten Englands.

Der künstlich aufgeschüttete Hügel mit sei-ner steilen Zugangstreppe ragt fünf Meter aus der Niederung am Fluss empor, seine Basis ist von einem Wassergraben umgeben. Das Hügelplateau ist mit einer Palisade ver-stärkt, die einen Wehrgang trägt. In der Mitte steht ein trutziger, zehn Meter hoher, von einer weit ausladenden Kampfplattform be-krönter Holzturm. Das rund 15 Meter hohe hölzerne Bauwerk vermittelt dem Besucher einen Einblick in die Geschichte des Bur-genbaus und zeigt die seltene Rekonstruk-tion eines hölzernen Vorgängers unserer allseits bekannten Steinburgen. Wie alle Gebäude ist auch die Burg authentisch ein-gerichtet und hinauf bis zur Plattform zugänglich. In der ländlichen Siedlung des Hochmittel-alters finden sich Gebäude, deren Konstruk-tion weitgehend identisch ist mit denen des Frühmittelalters. Die Tatsache, dass es lediglich Abweichungen in Details der Holzverbindungen oder des Dachaufbaus gibt, verdeutlicht die Langlebigkeit be-währter Techniken, besonders dann, wenn althergebrachte Materialien und Werkzeuge weiterhin zur Anwendung kommen. Im frühstädtischen Bereich trifft man hinge-gen auf neue Konzepte und Problemstel-

lungen. Hier begegnen dem Besucher schon eine frühe Form des Fachwerkbaus, aber auch entwickeltere Formen wie Kopf- und Fußbänder. Die Mehrstöckigkeit erfordert ein durch-dachtes „Rauchmanagement“ – die Erdgeschossfeuerstellen und ein früher Kachelofen mit einfachen Becherkacheln sind im Bau. Lebensräume – Pflanzen – Tiere

Neben den Hausrekonstruktionen ist es ein Anliegen, auch die mittelalterliche Natur- und Kulturlandschaft nachzubilden. In der Niederung der Waldnaab wurde aus diesem Grunde auf der Fläche von einem Hektar ein großer Teich angelegt. Flach- und Tiefwasserbereiche ver-leihen ihm eine naturnahe „Wildnisökologie“. Neben dem flachen Schilfgürtel, der Bauma-

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Abb. 7. Versuchsacker mit alten, archäologisch belegten Getreidesorten.

terial liefert, ist der tiefere, mit Einbäumen befahrbare Teil zur Verdeutlichung harter Sied-lungsfaktoren, wie dem Nahrungsangebot gedacht. Deshalb wurden alte Fischsorten wie Nerflinge, Karauschen und Schuppenkarpfen eingesetzt. Ähnliches wurde bei der hier noch kleinen Waldnaab begonnen und der kanalisierte „Flurbereinigungsfluss“ auf dem Museums-gelände mit einem großzügigen Mäander renaturiert. Ein neuer Auenwaldstreifen vollendet die Wasserbaumaßnahme.

Im Bereich der drei Zeitfens-ter wurden zahlreiche alte Obst- und Wildobstpflanzen gesetzt und ein erster Ver-suchsacker trägt archäolo-gisch belegte Getreidesorten wie Rispenhirse und langhal-migen Roggen (Abb. 7). An den Häusern finden sich Bäume wie Mispeln, Quitten und alte Pflaumensorten (Kriecherl). Je nach Neigung der Hausbenutzer sollen mehr oder weniger umfangreiche Hausgärten entstehen, deren Artenvielfalt ebenfalls die Pollendiagramme archäologi-scher Grabungen vorgeben. So entstehen im Zusammen-

spiel von Bauten, Landschaft und Bepflanzung funktionierende Strukturen, die komplexe Siedlungszusammenhänge und Versorgungsabläufe sichtbar machen. Alle im Geschichtspark produzierten Rohstoffe sollen nach Möglichkeit auch vor Ort verar-beitet werden. Zu diesem Zweck wurden und werden Reenactmentdarsteller und interessierte Personen gesucht, die zum einen die Häuser beleben und sich zum anderen durch die Ver-richtungen des mittelalterlichen Alltags experimentell der Vergangenheit annähern und diese auch dem Museumsbesucher nahebringen. Belebung

Zum Zwecke der Belebung und Erhaltung wird angestrebt, Hauspatenschaften zu vergeben. Diese enthalten ein Nutzungsrecht, verlangen aber auch die tätige Mithilfe bei Unterhalt und Instandhaltung des jeweiligen Gebäudes. Stand und Ausblick

Dass dieses umfassende Konzept nur über Jahre verwirklicht werden kann, versteht sich von selbst. Gerade die Landschaftsumformungen und der Bewuchs brauchen ihre Zeit. Das Pro-jekt muss aber von Anfang an schon Eigenmittel generieren, um finanziell tragbar zu sein. Daher gab es 2011 zunächst eine Teileröffnung. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten

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Abb. 8. Detail der Dauerausstellung im Funktionsbau.

Abb. 9. Geschichtspark Bärnau-Tachov 2014.

Häuser der Baugruppe Frühmittelalter, die Turmhügelburg und die Renaturierungsmaß-nahmen abgeschlossen, das Gelände war angelegt und die angestrebten Strukturen erkennbar. Auch im Hochmittelalterbereich sind die Arbeiten im Landschaftsbau ausgeführt und die ländliche Baugruppe errichtet. Museumsbesucher erleben das Wachsen der unvollen-deten Bereiche mit und ge-winnen so Einblicke in mit-telalterliche Bautechniken, die die fertigen Häuser so nicht mehr ermöglichen. 2013 konnten die Authentik-bereiche als weitestgehend fertiggestellt angesehen wer-den und auch der Eventbe-reich außerhalb des archäo-logischen Freigeländes sowie die Museumsgastronomie waren vollendet. 2014 erfolgte mit der Fertig-stellung der Dauerausstellung die feierliche Eröffnung unter ministerieller Beteiligung. Im Gelände werden natürlich weiterhin „historische“ Bau-stellen eingerichtet, um den Besuchern Bauweisen, Werkzeuge und Materialien vorzuführen (Abb. 8). Neben dem Museumsbereich am Rande der Stadt Bärnau, hat der Geschichtspark eine zweite, quasi mobile Kom-ponente, die „Goldene Straße“. Diese mittelalterli-che Handelsroute von Nürn-berg nach Prag führt direkt am Parkgelände vorbei und war sogar der Grund für die Verlei-hung des Stadtrechtes an Bärnau im Mittelalter. Konserviert durch eisernen Vorhang und Todesstreifen, ist die Trasse dieses Fernhandelsweges im nahen tschechischen Wald hervor-ragend erhalten. Diesem Umstand verdankt das Museumskonzept einen erheblichen Teil seiner grenzüberschreitenden Bedeutung. Unterstützt von einem tschechischen Partnerverein ist es möglich, auf der Originaltrasse zwischen Bärnau und Tachov zu wandern und in einem Wald ohne Beeinträchtigungen durch Flur- und Forstreform die Hohlwege, Ausweichspuren und Furten der Handelsroute zu entdecken. Schon im Vorfeld des Projektes hat der tschechi-

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sche Partner lange Jahre die Routenführung erforscht, kartiert und prospektiert. Es folgte nun eine Beschilderung nach modernen Konzepten und nachempfundenen, historischen Meilen-steinen. Der Geschichtspark Bärnau-Tachov ist ein ehrgeiziges Projekt, das immer noch an seinem Anfang steht. Durch die Vielfältigkeit und die Tiefe der Möglichkeiten, zeigt sich schon jetzt sein enormes Potential, das es zu nutzen gilt (Abb. 9). Weitere Informationen zum vorge-stellten Projekt finden sich unter: www.geschichtspark.de. Abbildungsnachweis

Alle Abb.: Verfasser.

Stefan Wolters M.A. Geschichtspark Bärnau-Tachov Naaber Sraße 5b 95671 Bärnau [email protected]

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Die Rekonstruktion slawischer Grubenhäuser – theoretische Überlegungen und praktische Erfahrungen

The Reconstruction of Slavic Pit-Houses –Theoretical Considerations and Practical

Experiences

Hendrik Rohland

Abstract

The essay deals with the problem of reconstructing Slavic pit-houses. Based on the review of the Slavic settlement of Klitschmar in the region of Leipzig, Saxony, the author critically discusses the commonly known possibilities to reconstruct that kind of buildings. The idea of a house that is built merely over the outline of the square or rectangular pit is to be rejected as very unlikely, because it would result in a structure very vulnerable to deterioration by the influence of surface- and groundwater and to small to vent the smoke emitted by the stove. Following the thoughts of T. Sabján, a reconstruction of a bigger structure is proposed to be more likely. The pit has to be thought of as a central area in the building, which made it possible to walk and work in an upright position in an otherwise low building. The ca. 30 house-pits in the settlement of Klitschmar showed that there would be enough space that the houses could be up to 1 m bigger than their pit in every direction, even if they all would have been existent at the same time. Many of them had a pair of well-founded posts in the central axis of the pit, presumably carrying a roof-ridge. One could imagine a roof reaching down to the ground about 1 m away from the edge of the central pit, thus keeping the pit and the constructive posts in dry condition and providing space for rest and storage alongside the dug-in area. It is particularly edifying, that the developing “Geschichtspark Bärnau-Tachov” made it possible to try this reconstruction under real conditions. First experiences are prompting. The reconstructed houses now can become objects of research themselves to find out more about the life of the early-medieval slavs.

Anlässlich der Tagung „Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten“ zu Ehren des Jubilars war es mir eine besondere Freude, einige Ergebnisse meiner erst kurz zuvor am Lehrstuhl in Bamberg abgeschlossenen Magisterarbeit „Die slawische Siedlung von Klitschmar bei Delitzsch - Studien zu Hausbau und Siedlungsform“ vorstellen zu können. Ein wichtiges Ele-ment dieser Arbeit war die kritische Diskussion sowohl herkömmlicher als auch weniger populärer, alternativer Konzepte zur Rekonstruktion slawischer Grubenhäuser. Dabei war es möglich, basierend auf Befunden sowie konstruktiven und ökonomischen Überlegungen, wahrscheinlichere Rekonstruktionen zu finden, zu begründen und in der Rekonstruktion weiter zu verfeinern. Besonders reizvoll war es bereits zum Zeitpunkt des Vortrages, dass im Rahmen des im Entstehen begriffenen Geschichtsparks Bärnau-Tachov die Möglichkeit bestand, die Rekonstruktion eines slawischen Grubenhauses in die Realität umzusetzen und auf diese Weise weitere Hinweise auf die praktische Tauglichkeit des vorgeschlagenen Kon-zeptes zu erhalten. Mittlerweile ist der Bau eines solchen Grubenhauses abgeschlossen und es kamen weitere Grubenhäuser hinzu. Daher können in diesen kleinen Artikel bereits mehr Erfahrungen einfließen, als zum Zeitpunkt des Vortrages bestanden. Ausgangspunkt der Überlegungen war meine Bearbeitung der Befunde und Funde einer sla-wischen Siedlung unweit des Fleckens Klitschmar, Gemeinde Wiedemar in Nordwestsachsen. Die Siedlung wurde im Jahre 2002 bei der Erweiterung der BAB 9 um eine Fahrspur und einen Parkplatz mit WC entdeckt und großflächig archäologisch untersucht. Es wurden 18465 m² Fläche ausgegraben und mehr als 400 Befunde festgestellt. Die meisten dieser Befunde gehörten zu einer Siedlung mittelslawischer Zeitstellung. Darunter befanden sich Reste von

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32 Häusern, fast ausschließlich Grubenhäuser, der Teil eines kleinen kreisförmigen Grabens, drei beigabenlose nach Osten orientierte Körperbestattungen und schließlich zahlreiche Sied-lungs-, Speicher- und Pfostengruben. Die fachliche Betreuung übernahmen Prof. Dr. Ingolf Ericsson und PD Dr. Hans Losert. Die Betreuung von Seiten des LfA Sachsen erfolgte durch Dr. Thomas Westphalen und Dr. Harald Stäuble. Anhand der Keramik konnte die Siedlung grob in das 9. und 10. Jahrhundert datiert werden. Als Grundlage für die zeitliche Einordnung diente der Vergleich mit dem zum Teil sehr gut aufgearbeiteten Material des Mittelelbe-Saalegebietes, insbesondere der frühmittelalterlichen Keramik von Halle an der Saale1 sowie diversen älteren Arbeiten über diesen Raum2. Auf-grund der bekannten Ungenauigkeiten bei der Datierung mittelslawischer Keramik, insbe-sondere der Langlebigkeit der charakteristischen Merkmale, war jedoch keine sichere Unter-gliederung in einzelne Siedlungsphasen möglich. Besonderes Augenmerk zogen bei der Bearbeitung die Baubefunde auf sich: Die große Anzahl der dokumentierten Hausgruben und Pfostenspuren sowie verkohlte Holzreste in eini-gen abgebrannten Häusern versprachen reichlich Material zur Analyse und Interpretation. Daher war es ein Ziel der Arbeit, die verfügbaren Rekonstruktionsvorschläge für Gruben-häuser kritisch zu analysieren, ihre Anwendbarkeit auf die Befunde von Klitschmar zu prüfen und im Rahmen dieses Diskussionsbeitrages Alternativen herauszuarbeiten. Auf diesen Teil der Arbeit beziehen sich die folgenden Ausführungen. Zur Rekonstruktion slawischer Grubenhäuser aus archäologischen Befunden – Probleme und Möglichkeiten

Ein Hauptanliegen der Arbeit war es also, die Befunde der slawischen Siedlung von Klitschmar auf ihre Aussagekraft in Bezug auf den slawischen Hausbau zu untersuchen. Er-wägungen zu Konstruktion, Größe und Nutzung sollten in Vergleich und Abgrenzung zum gegebenen Stand der Forschung in plausiblen Rekonstruktionsvorschlägen münden. Fast alle sicher als Haus interpretierbaren Befunde der ergrabenen Siedlung deuteten auf Grubenhäuser hin. Eventuell rein obertägig errichtete Bauten dürften durch die gründliche Beackerung des Areals längst verloren gegangen sein. Die Dichte der Hausgruben macht es jedoch ohnehin schwer vorstellbar, dass sich noch weitere Gebäude in größerer Zahl hier einreihten. Dies bedeutet, dass wir für die Diskussion davon ausgehen müssen, dass die Grubenhäuser pri-märer Ort des Wohnens, Zusammenlebens und Wirtschaftens, sowie weiterer, archäologisch kaum fassbarer Tätigkeiten waren. Den Begriff Grubenhaus verwende ich hier in einem relativ weit gefassten Sinne. Aus den Ausführungen zur Rekonstruktion wird noch hervor-gehen, dass die Grube ein wesentliches Element zur Gewinnung von Nutzraum im Haus dar-stellte. Daher bezeichne ich als Grubenhäuser solche Bauten, die durch gänzliche oder meist teilweise Eintiefung ihrer Fußbodenfläche charakterisiert sind, ohne gesondert nach der Tiefe bzw. dem Anteil der Grubenwände an der Wandfläche zu fragen. Die Rekonstruktion vergangener Lebenswirklichkeit aus den Spuren, die sie im Boden hinter-lassen hat, ist traditionell ein Kernanliegen der Archäologie. Sie ist ein Mittel zur Kommu-nikation und Diskussion innerhalb des Faches und mit der Öffentlichkeit. Es ist dabei wichtig,

1 Herrmann 2001. 2 Brachmann 1978; Vogt 1987; Staňa 1994.

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nicht zu vergessen, dass jede Rekonstruktion den Charakter einer bestenfalls wohlüberlegten These hat. Sie sind mehr Konstruktionen als „Re“-konstruktionen. Die vergangene Wirklichkeit entsteht nicht wieder, sondern sie entsteht neu als geistiges Gebilde, als Nähe-rungswert ausgedrückt in Wort und Bild. Auf die Erschaffung dieses Gebildes wirken mindes-tens drei bestimmende Faktoren ein. Zunächst ist dies der archäologische Befund selbst, der Daten verschiedenster Qualität liefern kann. Diese sind bekanntermaßen kritisch zu betrach-ten: Es kann meist nicht mit völliger Sicherheit gesagt werden, wie einzelne Teile des Befun-des entstanden sind und in welchem funktionalen Zusammenhang sie standen. Außerdem bleibt unerschlossen, welche Elemente nicht in den Boden gelangten, d.h. welchen Ausschnitt des Vergangenen der vorliegende Befund genau darstellt. Abhelfen soll bei diesem Problem die Analogie: andere, ähnliche Befunde und Erkenntnisse verschiedenster Wissens- und Fachbereiche mit gemeinsamen Merkmalen werden miteinander verglichen und, wenn signifikante Gemeinsamkeiten festgestellt wurden, zu allgemeinen Begriffen wie z.B. „slawi-sches Grubenhaus“ oder „kultische Praktiken“ zusammengefasst und gegebenenfalls weiter untergliedert3. Danach können Regelmäßigkeiten herausgearbeitet und die fragmentarischen Befunde so miteinander ergänzt werden. Diese Vorgehensweise ist natürlich mit großen Un-sicherheiten verbunden: Auch die Analogie ist abhängig von der Qualität der erhobenen Daten, der Vorauswahl durch Forschungs- und Publikationsstand sowie bereits im Raum ste-henden Interpretationen und Theorien über die herangezogenen Befunde. Außerdem ist deren Vergleichbarkeit immer nur beschränkt gegeben und kann oft nicht sicher begründet werden. Es liegt dem Analogieschluss daher oft die unausgesprochene Annahme von anthropolo-gischen, kulturellen oder anderen Konstanten zugrunde, die wiederum nicht unumstritten sind. Das bringt uns direkt zum dritten Faktor, der bei Rekonstruktionen wirksam wird und viel-leicht der wichtigste ist: Prämissen. Selbst bei guter Datenbasis erklären sich archäologische Befunde nicht von selbst. Um zu einer Erklärung zu kommen, müssen Interpretationen vorge-nommen werden. Meist wird der Autor kenntnisreich versuchen, Befund, Form und Funktion in Einklang zu bringen. Dabei spielen die dem Autor bekannte Forschung und deren Rekon-struktionsversuche genauso eine Rolle, wie kulturell geprägte Vorstellungen vom Menschen, von seinen Bedürfnissen, Ansprüchen und Leistungsvermögen. Dieser Faktor ist nicht zu tilgen. Auch wenn man bestrebt ist, die Basis verlässlicher Daten möglichst zu verbreitern, ist der dritte Faktor sogar der einzige, der die weiterhin bestehende Lücke vom Befund zur Re-konstruktion zu schließen vermag. Somit ist die archäologische Rekonstruktion analog zu sehen zur „Modellvorstellung“ der Naturwissenschaften: Sie soll Zusammenhänge, die sich unserer unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, darstellen und begreiflich machen. Trotz der hier kurz umrissenen Probleme ist sie unverzichtbarer Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion. Wie jede These und jedes Modell ist sie konstanter kritischer Prüfung und Revision zu unterziehen. Dies soll in den folgenden Abschnitten mit den Rekonstruktionsversuchen des Phänomens „slawisches Gru-benhaus“ geschehen: Kritik, die in ein erweitertes Modell mündet, welches seinerseits wieder Anregung zu konstruktiver Kritik sein möchte.

3 Salkovský 2001, 16-56, arbeitete zahlreiche Typen slawischer Grubenhäuser heraus und machte sie durch

statistische Darstellung ihrer Eigenschaften gut zum Vergleich verwendbar.

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Forschungsstand zum slawischen Hausbau in Mitteldeutschland – Kritik

Unsere Kenntnisse zum slawischen Hausbau in Mitteldeutschland haben sich in jüngerer Zeit nur unwesentlich erweitert. Gerade für das Mittelelbe-Saale-Gebiet, aber auch in der deut-schen Forschung darüber hinaus, ist der prägende Einfluss der Hausrekonstruktionen durch Bruno Krüger aus seiner Publikation der Befunde von Dessau-Mosigkau kaum zu übersehen4. Er rekonstruierte aus den vorgefundenen Hausgruben mit verschiedenen Pfostenstellungen eine hybride Bauform aus Block- und Pfostenbauweise. Während ein Innengerüst aus Pfosten das Dach trägt, sollte die Wand in der Grube und im aufgehenden Teil aus um das Dachgerüst gelegten Hölzern im Blockverband gebildet werden. Die Wand müsse bis in die Grube gereicht haben, da Schutzmaßnahmen an der Feuerstelle in Form von Steinsetzungen nur so zu erklären seien, dass hier eine Holzwand gegen Brand abgeschirmt werden musste. Als Hauptindizien für die Verwendung der Blockbauweise nennt Krüger das Fehlen von größeren Mengen von Lehmbewurf in den Verfüllungen der Grubenhäuser, sowie eine „kreuzartige Überschneidung“ von Holzkohlebändern5, die in Hinsicht auf eine Blockbaukonstruktion wohl aber als überinterpretiert zu kritisieren sind. Im Ergebnis bleibt die Konstruktionsweise recht unklar: Es gelingt Krüger nicht, den Widerspruch zwischen einer Blockbauwand, die ja zugleich als Fußpfette für das Dach hätte dienen können, und den häufig um den Grubenrand innerhalb der Hausgrube gesetzten Pfosten, die noch dazu in der Ecke mit der Feuerstelle fehlen, aufzulösen. Er versucht ihn dadurch zu erklären, dass „die zur Wandgestaltung ver-wendeten Hölzer einen labilen Zusammenhalt gehabt haben werden, der eine stärkere Abstüt-zung erforderte“6. Diese Erklärung ist als unzureichend abzulehnen: Es ist nicht einsichtig, warum die slawischen Hausbauer die konstruktiven Vorzüge des Blockbaus nicht durch eine solide Ausführung ausgenutzt und somit weitere tragende Pfosten überflüssig gemacht haben sollten. Hätten sie andererseits die materialsparende Pfostenbauweise konsequent umgesetzt, so wäre wahrscheinlich eine andere Art des Wandaufbaus zur Anwendung gekommen. Ähnlich widersprüchlich stellt sich der 1970 bei Joachim Herrmann von Peter Donat veröf-fentlichte Rekonstruktionsversuch dar: Der Aufbau wird weiter verallgemeinert, die Kombi-nation von dachtragendem Pfostengerüst und Blockbauwand beinahe zur Regel erhoben7. Auch sonst zeigt die publizierte Rekonstruktionszeichnung ein höchst widersprüchliches Gebilde. Der massiv aussehende Blockbau ist an den Giebelseiten bis nahezu in den First-bereich hochgezogen – das Vorhandensein der dargestellten First- und Wandpfosten ist nicht erklärlich. Die Dachlast wäre ohne Probleme von den Wänden zu tragen. Die im Befund fest-gestellte Eingangsrampe mündet, einem Gully nicht unähnlich, direkt unter der Dachtraufe in die Hausgrube und führt deren Abwasser in selbige. Beim ersten Regen hätte der bemitlei-denswerte Bewohner dieser Behausung also nasse Füße bekommen, sein wärmendes Herd-feuer eingebüßt und zu allem Überfluss auch noch sein eventuell in einer Vorratsgrube vor-handenes Getreide unbrauchbar werden sehen. Zu guter Letzt würde das rund um das Haus in den Boden sickernde Traufwasser wahrscheinlich die Wandsubstanz innerhalb der Hausgrube schon sehr bald faulen lassen und zum Verlust der Behausung führen. Aufgrund dieser

4 Krüger 1967, 28-31. 5 Ebd. 30, Taf. 5e. 6 Ebd. 30. 7 Donat 1970, 138-140, Abb. 60.

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Mängel müssen diese Rekonstruktionsvorschläge als unzureichende Erklärung für die als slawische Grubenhäuser angesprochenen Befunde gelten. Dennoch fanden sie Eingang in die Lehrbücher der Archäologie und verbreiteten sich auf diese Weise weiter8. Andere Rekonstruktionsvorschläge warfen ebenfalls erhebliche Probleme auf. Das frühmittel-alterliche Grubenhaus von Bielovce ist dafür ein Beispiel. Hier wurde ein Grubenhaus des 10. oder 11. Jahrhunderts bei einer Notgrabung dokumentiert9. Da es durch einen Brand zerstört wurde, hatten sich verkohlte Hölzer erhalten und erlaubten nähere Aussagen zur Konstruk-tion. Neben der Hausgrube mit seichter Eingangsrampe wurden im Inneren eine Art Vorrats-grube, ein steinerner Kuppelofen, zahlreiche Pfostenspuren sowie eine Wandkonstruktion aus senkrecht gestellten, mit Lösslehm hinterfüllten Brettern festgestellt. Die Rekonstruktion beginnt bei dieser Publikation bereits in der Vorstellung des Befundes, indem die „ursprüng-liche“ Tiefe der festgestellten Hausgrube mit etwa einem Meter angegeben wird, ohne dies näher zu begründen. Dieser Angabe widersprechen die publizierten Zeichnungen und Fotos, die eine Hausgrube von deutlich unter einem halben Meter Tiefe zeigen10. Die sehr seicht geneigte Eingangsrampe scheint kaum geeignet um einen Höhenunterschied von einem ganzen Meter auf einer praktikablen Länge zu bewältigen. Die Grube von knapp 3 x 3 m wurde zu einem Viertel vom Ofen eingenommen, die verbleibende Grundfläche dadurch erheblich verkleinert. In der Rekonstruktion11 stellte sich der Autor den postulierten Befunden folgend ein Grubenhaus vor, das einen Meter in der Erde versenkt war und nur über eine fall-grubenartig steile Eingangsrampe erreicht werden konnte. Auch hier lässt sich, trotz einer bescheidenen Überdachung der schon oben erwähnte „Gully-Effekt“, leicht vorstellen. Ein-deutig aus dem Befund erkennbar war ein Verbau der Grube mit senkrecht stehenden Brettern. Das Dach wird als direkt auf der Grubenwand aufliegende Konstruktion mit Firstpfette und Rofen auf einem Balkenrahmen, der zugleich als oberer Wandrähm des Grubenverbaus dienen soll, rekonstruiert. Die größte Höhe im Bereich des Firstes wird mit 2,5 m angenommen. Wie der Autor dieses Versuches selbst feststellte, wurde bereits experimentell nachgewiesen, dass ein derartig kleines Gebäude über keine ausreichende Rauchführung verfügt. Beim Resümee einer zweiwöchigen, experimentellen Wohnnutzung eines ähnlichen Hauses ist gar von häufigen, „bitteren Tränen“ der im Haus arbeitenden Frau wegen dieses Problems die Rede12. Fusek rekonstruiert daher einen Rauchabzug über der Ofenstelle – eine Lösung die kom-pliziert und aufwändig erscheint, den Eindruck eines sehr verbauten Innenraumes verstärkt und nicht das Problem der Feuergefährdung des mit organischem Material gedeckten Daches löst. Dieses wird sogar durch einen Rauchabzug verstärkt, da durch den nötigen Zug Funken im Luftstrom nach oben gerissen werden und so das Dach leichter in Brand setzen können. Außerdem wäre noch zu prüfen, ob das geringe rekonstruierte Raumvolumen von 15 m³ überhaupt ausreicht, um einen ausreichenden Zug in einem offenen Abzug entstehen zu lassen. Treffen diese Erwägungen zu, so können objektive technische Argumente gegen eine Wohnnutzung derartig kleiner Gebäude vorgebracht werden, ohne mit fragwürdigen

8 Fehring 2000, 128, Abb. 53.

9 Fusek 2007, 525-544.

10 Ebd. 528, 530, Abb. 2, 3. 11 Ebd. 535-542, Abb. 6-8. 12 Pleinerová 1986, 148-153.

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modernen Prämissen wie dem Anspruch an Stehhöhe und Komfort der Behausung argu-mentieren zu müssen. Neben dem Raumvolumen stellt auch die Größe der rekonstruierten Bauten ein Problem dar, da diese meist mit einer Grundfläche von kaum mehr als 9-12 m² auskommen müssen, wäh-rend ihre ebenerdigen „Verwandten“, die Blockbauten, schwerpunktmäßig Grundrisse von 13-20 m² oder mehr aufweisen können. Für den nordwestlichen Verbreitungsraum dieser Bautra-dition, also Mitteleuropa, liegt der Schwerpunkt sogar im Bereich von um 30 m² Grund-fläche13. Zwar mag es wahr sein, dass die bekannten Blockbauten zum Teil aus anderen Befundzusammenhängen, sprich Burgwällen und frühstädtischen Siedlungen stammen, aber auch im ländlichen Bereich sind die Häuser tendenziell deutlich größer. Obwohl es Konsens ist, dass die unterschiedliche Bevorzugung von eingetieftem und nicht eingetieftem Haus eher naturräumlich als ethnisch-kulturell bedingt ist, sollen die Bewohner von Grubenhäusern deutlich weniger Platz zum Wohnen und Wirtschaften benötigt haben? Dies scheint, zumal in einer Region mit humidem Klima, das häufig zum Aufenthalt und Arbeit im Haus zwingt, nicht wahrscheinlich zu sein. Eine weitere, interessante Beobachtung ließ sich während der letzten Jahre an einem re-konstruierten Grubenhaus im Fränkischen Freilandmuseum Bad Windsheim machen. Hier wurde ein Grubenhaus mit sechs Pfosten, also vier Eckpfosten und zwei Firstpfosten, rekon-struiert. In der Grube und darüber hinaus erhebt sich bei diesem Beispiel eine lehmbeworfene Flechtwerkwand, die mit zahlreichen Staken zwischen den Pfosten realisiert wurde. Die Staken waren an ihren oberen Enden in einen Wandrähm eingezapft, unten lediglich ins Erd-reich eingegraben. Diese Konstruktion entspricht in etwa einem Rekonstruktionsvorschlag für das Grubenhaus von Gladbach-Neuwied14. Allerdings erwies sich dieses Gebäude als nicht eben langlebig: Offenbar verursacht durch den geringen Dachüberhang, wichen die wohl stän-dig durch Traufwasser feuchten, schweren Lehmflechtwerkwände in das Innere der Haus-grube aus, lösten sich aus ihren Einzapfungen und brachen schließlich ganz zusammen. Es muss also von einem deutlich größeren Dachüberhang ausgegangen werden, der es wohl mit sich bringen wird, dass das Dach weit außerhalb der Grube annähernd den Erdboden berührt. Auch dieses Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit einer Neuinterpretation des Phänomens der Grubenhäuser. Weiteren Grund zur Kritik geben die häufig archaisch anmutenden Holzverbindungen zahl-reicher Rekonstruktionszeichnungen, obwohl zahlreiche Beispiele für die elaborierte Verarbeitung von Bauholz in slawischer Zeit, etwa aus Brunnen oder Burgwällen, anzuführen sind15. Befundsituation in Klitschmar

Die Befunde der slawischen Siedlung von Klitschmar sind teils gut geeignet, um Fragen über den Hausbau in einer mittelslawischen Siedlung im Saalegebiet nachzugehen. Es wurden 31 größere Gruben als Grubenhäuser angesprochen und zu Komplexen zusammengefasst. Beson-ders zu erwähnen sind solche Hauskonstruktionen, die Brandereignissen zum Opfer fielen und

13 Salkovský 2001, 44, 60. 14

Wand 1991, 37, Abb. 26. 15 Hierzu allgemein Schuldt 1988.

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durch die Verziegelung von Lehm und die Verkohlung organischer Materialien einen beson-ders guten Erhaltungszustand zeigten. Auch die weniger gut erhaltenen Befunde zeigten häufig Regelmäßigkeiten, die sich in Bezug auf Fragen des Hausbaus verwerten lassen. Form und Tiefe der Grube

Die Gruben der Häuser waren meist etwa quadratisch oder rechteckig. Allerdings ist die Form in keinem Fall besonders regelmäßig, sondern weist meist stark abgerundete Ecken und ande-ren Abweichungen von der geometrischen Grundform auf. Die verbrannten Gruben zeigten meist eine deutlichere, schärfer abgegrenzte Form, weil die Hitze das umgebende Erdreich und eventuell vorhandene Lehmverstriche festigte. Diese Befunde wurden deshalb wohl weniger verwaschen und auch weniger vom Pflug verschliffen. Die Grubensohlen waren zumeist flach oder leicht muldenförmig, gelegentlich konnte die Feuerstelle leicht erhöht liegen. Die Grundfläche der Gruben schwankte zwischen 2,7 und 17,5 m². Die durchschnittliche Grundfläche betrug 10,8 m². Die erhaltene Tiefe war teils starken Schwankungen unterworfen. Nur neun der Hausgruben waren mit weniger als 20 cm schlechter erhalten oder auch weniger eingetieft. Die meisten der Hausgruben waren im Bereich zwischen 20 und 30 cm Tiefe erhalten. Immerhin sieben Hausgruben waren noch mehr als 30 cm tief. Der am stärksten eingetiefte Grubenhausbefund war 44 cm tief. Es ist nicht leicht abzuschätzen, um wie viel höher die Grubenwandung gewe-sen sein muss. Laut Grabungsbericht wurde zu Grabungsbeginn eine Humusschicht von 40-50 cm abgetragen. Diese mächtige Schicht zeugt von der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung der Fläche mit schwerem Gerät. Die wenig bewegte Topographie und die Zusam-mensetzung des relativ schweren Bodens lassen eine insgesamt nur geringfügige Erosion erwarten. Addiert man als Faustformel 50% der Tiefe der rezenten Ackerschicht auf die Befunde16, also 20-25 cm, so ergäbe sich für die Mehrzahl der hier festgestellten Gruben-häuser eine Tiefe zwischen rund 45 und 70 cm. Dieser Wert reiht sich gut in die statistisch erfassten Tiefen der quadratischen Grubenhäuser in der Nordwestzone nach Salkovský ein, die schwerpunktmäßig im Bereich um bzw. unter 60 cm liegen17. Neben der Dominanz dieser Gruppe sind an selber Stelle auch zahlreiche Belege für deutlich tiefere Hausgruben beige-fügt. Diese Werte sind insgesamt jedoch kritisch zu betrachten, weil nicht nachzuvollziehen ist, ob festgestellte oder rekonstruierte Tiefen für die Statistik verwendet wurden. In Hinblick auf die in der Literatur üblichen Hausrekonstruktionen ist zu befürchten, dass gelegentlich optimistisch tiefere Gruben angenommen wurden, um das Problem der aufgehenden Wand zu lösen. Gesondert zu nennen sind in der Siedlung von Klitschmar noch vier nur sehr flache und im Grundriss indifferente Gruben mit Feuerstelle. Sie könnten auch die Reste ebenerdiger Bauten darstellen, in denen nur bestimmte Bereiche mit speziellen Aufgaben, wie eben das Umfeld der Feuerstelle, schwach eingetieft wurden. Insbesondere bei zwei Komplexen spricht die zentrale Lage der Feuerstelle in der Grube dafür. Pfosten der Hauskonstruktion waren wohl nicht vorhanden. Etwas besser erhaltene Beispiele derartiger Befunde wurden in der Siedlung Březno bei Louny festgestellt. Ihre Pfostensetzungen markierten Mindestgrößen von 400 x

16

Salkovský 2001, 74. 17 Ebd. 45.

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380 cm und 460 x 370 cm18. Im Falle von Klitschmar wird man mangels Pfostenstellungen versucht sein, an ebenerdige Blockbauten zu denken. Heizeinrichtungen

In der großen Mehrzahl der Grubenhäuser wurden Heizeinrichtungen festgestellt. Nur drei von ihnen hatten keinerlei Feuerstelle. Bei der Anlage der Feuerstellen ist große Ein-förmigkeit festzustellen: Sie stellten sich fast immer als Flecken von Rotlehm und Holzkohle dar, die entweder mit Steinen gepflastert waren, oder aber zumindest eine Steineinfassung aufwiesen. Eine besondere Situation zeigte sich in einem gut erhaltenen Grubenhausbefund. Die mit Steinen eingefasste Feuerstelle war durch eine Art Feuerschirm aus in Lehm versetz-ten Sandsteinen gegen die nordöstliche Hausecke abgetrennt. Offenbar sollte diese Konstruk-tion ein Übergreifen des Herdfeuers auf den Verbau der Grube verhindern. Möglicherweise war diese Einrichtung einer insgesamt großen Ofenecke nötig, weil in dem Grubenhaus mit einem größerem Feuer und höheren Temperaturen hantiert wurde, wie z.B. – das ist nicht mehr als eine wohlerwogene Vermutung – im Zusammenhang mit handwerklicher Produk-tion. Die meisten Feuerstellen lagen in der nordwestlichen oder nordöstlichen Ecke der jeweiligen Hausgrube. Davon abweichend hatten einige Grubenhäuser der Siedlung die Feuerstelle in der Südhälfte. Außerdem traten einige andere Ausnahmen auf. Eingänge

In die eingetieften Hausgruben muss zweifellos eine Eingangslösung in der Art einer Rampe oder Treppe angelegt worden sein. Dadurch, dass die Befunde im oberen Bereich oft vom Pflug etwas verschliffen waren, waren eventuell vorhandene Eingangsrampen nicht immer sicher festzustellen. In der Regel werden die Eingangsbereiche jedoch gegenüber der Feuer-stelle gelegen haben. Spuren der Hauskonstruktion

Spuren der Hauskonstruktion waren in zahlreichen Grubenhäusern der Siedlung festzustellen. Meist handelte es sich dabei um Pfostengruben verschiedener Größe und Tiefe, gelegentlich mit Keilsteinen, die in der Verfüllung verblieben waren. Außerdem traten, wie in anderen ver-gleichbaren Siedlungen auch, Grubenhäuser auf, in denen sich keine Pfostengruben befanden oder zumindest nicht zu sinnvollen statischen Einheiten gruppieren ließen. Bei diesen Befun-den wird häufig von einem oberirdischen Blockbau ausgegangen, jedoch ist eine abgegangene Pfosten- oder gar Ständerkonstruktion aufgrund der Erhaltungsbedingungen in der Regel nicht auszuschließen. Zunächst zu den Pfostengruben: Neben den vereinzelten Befunden, denen kaum oder gar keine sicheren Pfostengruben zuzuordnen waren, kamen zahlreiche Häuser mit einer Vielzahl solcher Spuren vor. Um diese Pfosten nicht in einer Art „Käsekästchen“-Spiel zu komplexen Pfostenkonstruktionen zu verbinden, mussten Kriterien festgelegt werden, die es abschätzbar machen, ob eine Pfostengrube für eine tragende Funktion im Hausbau in Anspruch genom- 18

Pleinerová 2000, 48 f., Abb. 32-33.

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men werden kann. Durch die GIS-gestützte Kartierung der Befundtiefen im Grabungsplan konnte eine derartige Unterscheidung vorgenommen werden: Gesucht wurde nach Pfosten-gruben, die sich in Tiefe, Größe und Erscheinungsbild mindestens paarweise ähnelten und in einem sinnvollen Bezug zueinander standen, um ein stabiles Gebinde zu bilden. Bei zahl-reichen Hausgruben konnte eine solche Konstellation herausgearbeitet werden. Pfostengruben, die diese Bedingungen erfüllten, lagen beinahe immer einer der Mittelachsen der Gruben angenähert und lassen sich so als Spuren firsttragender Pfosten interpretieren, wie dies auch von anderen Fundstellen bekannt ist19. Die angenommen Dachfirste lagen meistens in west-östlicher, seltener in nord-südlicher Richtung. Gelegentlich waren die Pfosten nicht vollständig innerhalb der Grube, sondern lagen exakt in der Grubenwandung – halb in der Grube, halb im benachbarten Erdreich. Dies ist wohl als Indiz dafür zu werten, dass zunächst das Pfostengerüst aufgerichtet und erst anschließend die zentrale Grube angelegt wurde. Neben diesen Exemplaren fand sich in einigen Grubenhäusern eine Vielzahl weiterer Pfosten-gruben, insbesondere in der Nähe der Grubenwandung aber auch in der Grubensohle verteilt und in der Nähe der Feuerstelle. Insbesondere wenn die Pfostengruben in den Ecken der Hausgrube liegen, werden sie gern für ein wandstützendes und/oder dachtragendes Gerüst in Anspruch genommen. In situ erhaltene Befunde von Wandkonstruktionen in Hausgruben anderer Fundplätze scheinen dieses Bild zunächst zu bestätigen. Es muss allerdings hinter-fragt werden, ob ein solcher Befund zwingend eine aufgehende Wand, die auch noch das Dach trägt, zu bedeuten hat oder ob es sich nicht lediglich um einen stützenden Verbau der Grube handelte. In den verbrannten Häusern waren neben den Spuren von der Eintiefung konstruktiver Elemente in den Boden auch verkohlte Reste des organischen Baumaterials erhalten. Neben Spuren verkohlter Bretter gab es vor allem Hinweise auf Staken und Flechtwerk, sowie von Einstreu auf dem Boden. Leider konnten keine Details wie die Bearbeitung des Holzes oder die Art der Holzverbindung mehr festgestellt werden. Rekonstruktionsmöglichkeiten

Zur Rekonstruktion sollen einige besonders gut erhaltene Grubenhausreste der Siedlung herangezogen werden: Dabei handelt es sich vor allem um die brandzerstörten Grubenhaus-komplexe mit Erhaltung ihrer Form und organischen Baumaterials und jene mit regelmäßig wiederkehrenden Strukturen der Pfostensetzung. Wie können nun die Befunde der Gruben-häuser mit Pfostengruben mit einer schlüssigen Rekonstruktion erklärt werden? Wie kann ein Bau ausgesehen haben, der solche Spuren hinterlässt? Verbau und Tiefe der Grube

Eine Alternative zu dachtragenden Eckpfosten ist es, die Vielzahl an meist kleineren, unregel-mäßigen Pfostenspuren, die sich nicht zu paarigen Einheiten gruppieren und daher für dach-tragende Konstruktionen ausfallen, lediglich als Stützen des Verbaus der Hausgrube zu

19

Krüger 1967, 29; Salkovský 2001, 32; Fusek 2007, 532.

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Abb. 1. Verbau der Hausgrube mit senkrechten Bohlen.

betrachten. Dieser Verbau ließe sich leicht in Analogie zu den bekannten slawischen Kastenbrunnen wie dem von Eythra vorstellen20: Vierkan-tige Pfosten stützen eine Kon-struktion aus übereinander gestellten Brettern gegen ein Ausweichen nach innen oder sie nehmen waagerechte Boh-len in eingearbeitete Nuten auf. Außerdem können die Bretter auch durch eine Verkämmung an den Ecken untereinander verbunden wor-den sein. In der Ecke des Her-des könnte aus Feuerschutz-gründen häufig auf einen stüt-

zenden Innenpfosten oder einen hölzernen Verbau der Grube überhaupt verzichtet worden sein. Im Bereich des Eingangs hingegen, wo man, um einen flachen Abstieg in die Grube zu gewährleisten, vielleicht eine kurze Rampe anbringen mochte, musste der Verbau unter-brochen werden. Damit er an einer solchen offenen Stelle nicht nach innen ausweicht, wäre hier die Verstärkung durch zusätzliche Pfosten geboten. An dieser Stelle vorgefundene Pfosten wären somit nicht zwingend als Türpfosten zu interpretieren. Die Notwendigkeit eines Grubenverbaus ergibt sich aus den Ausführungen zum aufgehenden Bauwerk im nächsten Abschnitt. Es sei nur an dieser Stelle schon gesagt, dass von einem deutlich größeren Hausgrundriss um die eigentliche Grube auszugehen ist, so dass sich um diese eine Erdbank bildet, die als Sitzgelegenheit, Ruheplatz und Stauraum dienen kann. Gestützt wird diese Theorie durch die Tiefe der Gruben, die wir weiter oben zwischen 45 und 70 cm geschätzt hatten. Dies entspricht Werten wie sie für die Höhe von Stühlen, Betten und niedrigen Tischen üblich sind – aus naheliegenden anatomischen Gründen damals wie heute. Bei einer solchen Nutzung ist es unumgänglich, die Ränder der Grube zu stabilisieren, um Erosion und ausbrechen zu verhindern. Ein solcher Verbau ist in verschiedensten Varianten denkbar: durch eine Bohlenkonstruktion (Abb. 1), durch ein Flechtwerk oder eine Kon-struktion mit senkrechten Brettern und einem darauf liegenden Rähm, wie es bei einem der abgebrannten Grubenhäuser der Fall gewesen zu sein scheint. In diesem wurden orthogonal zur Grubenwandung in der Grube liegende Hölzer festgestellt. All diese Varianten können für die häufig auftretenden, kleineren Pfostenlöcher in Wandnähe verantwortlich gemacht werden. In den oben erwähnten Fällen, in denen Wandkonstruktionen in der Grube nach-gewiesen wurden, wurde die Baugrube hinter diesen wieder verfüllt. Wenn ein Grubenhaus nicht abbrannte, sondern aufgegeben wurde, so wurden die hier verbauten Hölzer wohl als

20

Herklotz/Stuchly 1987, 220-226.

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Baumaterial oder Brennstoff entnommen und weiterverwendet. Zurück blieben nur rätselhafte Pfostengruben. Aufgehender Bau und Dachkonstruktion

Einem Rekonstruktionsvorschlag des ungarischen Archäologen, Ethnographen und Archi-tekten Tibor Sabján21 für arpadenzeitliche Grubenhäuser Ungarns folgend, möchte ich die Rekonstruktion deutlich größerer Bauten über den Hausgruben der slawischen Bevölkerung anhand der Hausbefunde von Klitschmar glaubhaft machen. Sabján argumentierte, dass all die Widersprüche und Einschränkungen des Phänomens Gru-benhaus gelöst werden können, wenn man sich die aufgehende Konstruktion als ein auf dem Baugrund aufgelastetes Dach vorstellt, das einen Grundriss abdeckt, der in alle Richtungen etwa bis zu einem Meter größer als die zentrale Grube ist. Eine aufgehende Wand auf dem Grubengrundriss wird dadurch obsolet. Deutlich legte Sabján die Vorteile einer solchen Behausung dar, allen voran die vergrößerte Grundfläche, die mit Werten von bis zu 25 m² eher den üblichen Maßen eines bäuerlichen Raumes gerecht wird und außerdem Platz für verschiedene Eingangslösungen lässt. Um die Grube entsteht dabei die oben bereits erwähnte Erdbank, die Platz zum Aufenthalt, Ruhen und Lagern bietet. Die Grube selbst stellt eine Verkehrsfläche im Zentrum des Hauses dar, durch das größere Dach ist in ihrer gesamten Fläche problemlos aufrechtes Stehen möglich. Die Dachkonstruktion erhält auf diese Weise einen größeren Abstand zur Feuerstelle und ist damit einer geringeren Feuergefahr ausgesetzt. Das für den Abzug des Rauchs nötige Raumvolumen erhöht sich erheblich. Der Eingang wäre sowohl durch die Giebelseite, als auch durch einen aus dem Dach ausgestellten Eingangsbereich zu realisieren. Auch das gelegentliche Vorkom-men von Grubenhäusern, deren festgestellte Pfosten sich nicht recht an den Achsen der Grube orientieren wollen, wäre damit gelöst, da diese Konstruktion in ihrer Form unabhängiger von der Grube ist. Neben diesen konstruktiven und praktischen Erwägungen führte der Autor zahl-reiche ethnographische Beispiele an, denn dieses Konstruktionsprinzip wurde bis ins 20. Jahr-hundert für temporäre Schutzbauten und Ställe im ländlichen Raum verwendet22. Er bewies außerdem im Jahre 1988, dass sich ein derartiges Haus von vier Arbeitern ohne Spezialkennt-nisse in etwa drei Wochen errichten lässt23. Er legte an derselben Stelle einen detaillierten Bauablauf dar: Nach dem Aufrichten der Pfosten und des Firstes werden die Rofen auf selbigen gelegt, und die Dachhaut aufgebracht. Erst danach wird die zentrale Grube ausge-hoben, was die Arbeiten am Dach erleichtert und das gelegentliche Vorkommen von nur schwach eingetieften Pfosten erklärt. Denn wenn das Dach einmal auf dem First lastet, ist die Konstruktion in sich relativ stabil, die anfängliche große Eintiefung nicht mehr nötig. Mit diesem Vorgehen wäre auch das Vorkommen von Pfosten halb in der Grubenwandung erklärt, so wie sie auch in Klitschmar beobachtet werden konnten. An den Innenseiten der bereits stehenden Pfosten wurde die Grube abgetieft und die bereits eingetieften Pfosten so halbseitig wieder freigelegt. Allerdings kann der Bauablauf individuell sehr verschieden ausgesehen

21

Sabján 2004; detailliertere Publikation mit Grabungsbericht bei Bencze u.a. 1999 auf Ungarisch mit deutschen Zusammenfassungen. 22

Sabján 2004, 322-327. 23 Ebd.

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Abb. 2. Vereinfachte Maßskizze eines erwei-terten Grubenhauses.

haben. Den Aushub vermutete Sabján als zusätzliche Isolierung auf dem Dach des Hauses und nahm daher eine Dachneigung von nur etwa 45° an. Ein empfindlicher Punkt dieses Vorschlages ist die Tiefe der Hausgruben. Wenn man von einer Nutzung des Grubenrandes ausgeht, so darf dieser nicht höher gewesen sein als Stuhl- oder Tischhöhe. Also am besten zwischen 40 und 80 cm unterhalb des zu entfernenden leben-den Bodens. Die oben gemachten Ausführungen zur Tiefe der Hausgruben sowohl in Klitschmar als auch an anderen Fundplätzen zeigen aber deutlich, dass dies in der Regel auch der Fall gewesen sein dürfte. Dieses Problem steht der Argumentation also nicht entgegen. Zu beachten ist natürlich auch, ob der gestiegene Platzbedarf der angenommenen größeren Grundrisse mit der Anlage der Siedlung in Einklang zu bringen ist. Eine räumliche Analyse der Siedlung von Klitschmar ergab, dass dies tatsächlich der Fall ist. Selbst wenn man davon ausginge, dass alle sich nicht überschneidenden Häuser gleichzeitig bestanden haben, bliebe zwischen fast allen immer noch genug Platz für einen größeren Grundriss, der in alle Richtun-gen jeweils einen Meter über die Grube hinausgreift. Die Vergrößerung des Grundrisses um einen Meter ist dabei ein möglicher aber willkürlicher Wert, der natürlich schwanken kann, schon eine Erweiterung um 60-80 cm dürfte die Vorteile dieses Konstruktionsprinzips voll zum Tragen bringen. Die Breite der umlaufenden Erdbank, also der Abstand der Dachtraufe von der Grube hat dabei zusammen mit der nötigen Stehhöhe im Grubenbereich entscheiden-den Einfluss auf die Dachneigung und Firsthöhe des Gebäudes. Ein Abstand deutlich unter 60 cm ist daher weniger wahrscheinlich.

Die entstehenden Dächer würden theoretisch recht steil werden, dies soll anhand zweier Beispielrechnungen nach Konstruktionen des einfachsten Prinzips verdeutlicht werden. Nimmt man eine Grube von 3 x 3 m mit einer Eintiefung von 60 cm unter die untere Humuskante an und möchte auch am Rand der Grube noch etwa 1,8 m Höhe unter dem Dach erreichen, so ergibt sich bei einer Vergrößerung des Hausgrundrisses um 80 cm ein Abstand von der Grubensohle bis zum First von 3,67 m und eine Dachneigung von etwa 51° (Abb. 2). Die Rofen des Daches hätten eine Länge von rund 3,7 m. Bemisst man das Haus etwas bescheidener,

mit einem um 60 cm vergrößerten Grundriss und begnügt sich im Randbereich der Grube mit 1,6 m Höhe, so betrüge die Firsthöhe 3,6 m, die Länge der Rofen 3,5 m und die Dachneigung 53°. Ein so hohes, steiles Dach dürfte gut geeignet gewesen sein für die Eindeckung mit Rog-genstroh, da hierfür ein schneller Abfluss gewährleistet sein muss um Durchfeuchtung zu ver-hindern. Tatsächlich entspricht die Dachneigung von 53° exakt derjenigen eines der ältesten erhaltenen Bauernhäuser in Mitteleuropa, nämlich dem aus Höfstetten (1367d), das heute in seinem teilweise rekonstruierten mittelalterlichen Zustand mit strohgedecktem Vollwalmdach

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Abb. 3. Tief heruntergezogener Vollwalm an der Wetter-seite.

im Freilandmuseum in Bad Windsheim steht24. Auch die Abführung des Rauches der Feuer-stelle wird in einem hohen Dach wohl deutlich besser funktioniert haben. Ein weiteres Argument gegen die Rekonstruktion eines Hauses direkt auf dem Grundriss der erfassten Grube ist die Form derselben: Obwohl die Gruben grob quadratisch oder rechteckig sind, haben selbst die Befunde, die verbrannte Wände zeigen – deren ursprüngliche Form also sicher belegt ist – abgerundete Ecken und insgesamt leicht unregelmäßige Grundrisse. Wenn man aus diesen Spuren den gesamten Hausgrundriss ableiten möchte, so entstünden sehr un-förmige Bauten, an eine Blockbaukonstruktion innerhalb der Grube wäre dann nicht zu den-ken, weil sie die Grube durch ihre anzunehmende Rechtwinkligkeit unter Auslassung der Eck- und Randbereiche erheblich verkleinern würde. Die größte Schwäche hat diese Theorie mit allen anderen Rekonstruktionsversuchen gemein-sam: Sie ist nicht letztgültig beweisbar. Außer der Grube und Pfosten wird bei dieser Art des Grubenhauses nichts in den Erdboden eingetieft. Für die umlaufenden Erdbänke muss lediglich der Humus entfernt werden. Ein Eingriff in den gewachsenen Mineralboden findet nicht statt. Somit entzieht sich diese Konstruktion dem Zugriff der Archäologie, falls nicht einmal ein glücklicher Zufall sie konserviert haben sollte. Die Chancen hierauf sind allerdings recht gering: Slawische Siedler haben regelmäßig fruchtbares Ackerland in günstigen Lagen aufgesucht. Legt man eine Bodengütekarte von Sachsen über eine Kartierung slawischer Orts-namen, so sieht man auf den ersten Blick, dass diese praktisch nur auf Böden bester Qualität auftreten. Dabei handelt es sich meist um Flächen, die bis heute unter dem Pflug stehen und daher keine günstigen Erhaltungsbedingungen für Schichten direkt in oder unter dem A-Hori-zont bieten. Varianten der Hauskonstruktion

Das Grundverständnis von der Grube als eingetiefter, zentraler Verkehrsbereich eines größeren Hauses lässt enorm variantenreiche Kon-struktionsprinzipien zu. Ab-weichend von den im Fol-genden dargestellten Ideal-formen können nach diesem Schema je nach den indivi-duellen Anforderungen des Erbauers verschiedenste Lö-sungen realisiert werden. So könnten zum Beispiel an den Nord- und Westseiten von Gebäuden zum besseren Wit-terungsschutz und Wärmeiso-

24

Bedal 1987, 8-11.

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Abb. 4. Giebelseite mit schützendem Vordach über der Eingangsrampe.

lierung tief hinuntergezogene Walmdächer gebaut worden sein (Abb. 3), während zu der „freundlicheren“ Süd- oder Ostseite aufrechte Wände mit Tür- und vielleicht auch klei-nen Fensteröffnungen eine günstige Belichtung und Kli-matisierung erlaubten (Abb. 4). Die Teileintiefung des Hausbodens ermöglichte da-bei die optimale Ausnutzung des Raumes unter dem Dach bei material- und arbeitssparenden Verzicht auf oder zumindest Reduktion aufgehender Wände. Um wei-tere Bereiche wie nahe gele-gene Vorratsgruben in das

Haus und die Überdachung einzubeziehen, könnten weitere kleine Anbauten aus dem Gebäude ausgestellt worden sein. Die dabei entstandenen Gebäude und Dächer könnten gera-dezu unorthodox ausgesehen haben und daher schwer zu interpretierende Pfostenspuren hin-terlassen haben, die heute kaum mehr mit den Hausgruben und Pfostengruben in einen ein-deutig abzusichernden Zusammenhang zu bringen sind. Dennoch lassen sich einige Grund-prinzipien vermuten. Firstpfostenhaus mit Dach auf dem Erdboden

Das oben dargestellte Grundprinzip lässt sich also in verschiedenen Varianten weiterdenken. Am einfachsten ist die bereits vorgeschlagene Konstruktion mit auf dem Boden aufliegenden Rofen. Die experimentelle Rekonstruktion Sabjáns von 1988 erhielt eine über die Firstpfosten hinausragende Firstpfette, um die nötige Länge des Satteldaches zu erreichen. Abgeschlossen wurde das Haus jeweils mit einem Giebel in Flechtwandbauweise25. Noch leichter zu kon-struieren wäre ein Vollwalmdach mit entsprechenden Rauch- und Lüftungsöffnungen an den Enden des Firstes, so genannten Eulenlöchern. In der Siedlung von Klitschmar kann aufgrund der Lage der Feuerstelle und der Pfostengruben häufig auf einen Eingang parallel zur First-richtung geschlossen werden. In diesem Falle wäre eine aus dem Dach ausgestellte Über-dachung des Einganges nötig, was ebenfalls eher für ein Walmdach spricht, da man wohl sonst den Eingang in die Giebelseite verlegt hätte. Neben Walm- oder Satteldach sind natürlich auch Zwischenlösungen denkbar. Führt der Eingangsbereich in Firstrichtung aus dem Haus, so könnte an dieser Stelle eine Giebel oder Halb- bzw. Krüppelwalm zu finden gewesen sein, während die Seite ohne Eingang über einen gut schützenden Vollwalm verfügte. 25

Bencze u.a. 1999, 150.

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Firstpfostenhaus mit Schwellrahmen

Die Nutzbarkeit und Haltbarkeit des gesamten Hauses ließe sich deutlich verbessern, wenn die Rofen des Daches statt auf der Erde, auf einem Schwellenrahmen auflägen. Die Dach-konstruktion und -deckung wäre dann nicht mehr der Bodenfeuchtigkeit ausgesetzt, die Höhe der Schwelle würde im Inneren des Hauses den Zwickel zwischen Boden und Dach entfernen und somit die nutzbare Fläche der umlaufenden Erdbank weiter erhöhen. Firstpfostenhaus mit aufgehender Blockbauwand

Denkt man die Konstruktion mit einem Schwellrahmen weiter und setzt diesen als niedrige Blockbaukonstruktion zwei- bis dreimal übereinander, so entstünde eine niedrige, aufgehende Wand, die die Nutzbarkeit außerhalb der Grube für Lager- und Ruhezwecke weiter verbessert. Die entscheidenden Vorteile gegenüber einem ebenerdigen Gebäude blieben dabei erhalten: die vermutlich bessere Isolierung des insgesamt gedeckter liegenden Hauses und die material- und zeitsparende Konstruktionsweise. Die Hauptaufgabe der Grube bestand demnach darin, die eingesparte Höhe der aufgehenden Wände des Gebäudes auszugleichen und so ein beque-mes Verkehren im Inneren zu ermöglichen. Diese Rekonstruktionsweise scheint mir beson-ders attraktiv: Nicht nur, weil sie ein ökonomisches, relativ leicht aufzurichtendes Haus darstellt, sondern auch da sie sich sehr eng an die gleichzeitige Tradition ebenerdiger Block-bauten im westslawischen Raum anschließen lässt. Pfostenloser Blockbau mit Sparrendach

Die immer wieder festgestellten Grubenhäuser ohne nachweisbare tragende Pfosten können auf verschiedene Weise erklärt werden. Auf der einen Seite kann teilweise der schiere Mangel und die Unsicherheiten des archäologischen Quellenmaterials verantwortlich gemacht werden. Es ist aber auch ohne weiteres eine pfostenlose Konstruktion denkbar. Stellt man sich einen Schwellenrahmen oder eine niedrige Blockbauwand vor, so kann das Dach auch ohne Pfosten aufgerichtet werden, sowohl ein Sparrendach als auch Firstständer sind hierfür denk-bar. Insbesondere das Sparrendach scheint eine sehr geeignete Lösung zu sein, da der voraus-gesetzte Blockverband einen festen Rahmen bildet, um die Dachsparren gegen das Aus-weichen nach außen zu schützen und so ein stabiles Dach zu bilden. Die Vorteile von derartigen Gebäuden seien hier noch einmal kurz zusammengefasst: Das höhere Dach und das größere Raumvolumen gewähren einen besseren Abzug des Rauchs der Feuerstelle. Das Grubenhaus würde nach dieser Rekonstruktion eine größere Nutzfläche bekommen, die denen bekannter ebenerdiger Blockbauten entspricht. Diese haben in der Regel deutlich größere Grundflächen, als die in Klitschmar festgestellten Gruben mit durch-schnittlichen 10,8 m². Ebenerdige Blockbauten können bis zu 25 m² und noch größer gewesen sein, wie etwa im Burgwall von Berlin Spandau26 oder in Danzig nachgewiesen. Meist schwankte die Größe in ländlichen Siedlungen aber im Bereich von 12-20 m² Grundfläche27.

26 In Burg 2a von Spandau wurde ein Blockbaugrundriss von 4,5 x 4,5 m, also 20,25 m² und in Burg 6b ein mutmaßlicher Blockbau von 7,0 x 4,5 m, also 31,5 m² Grundfläche freigelegt. Müller/van Müller-Muci 1983, 27, 55, Taf. 12.2; 27.1. 27

Donat 1980, 28 f.

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Die Eintiefung eines Teils des Fußbodens stellte somit, in den Bereichen, in denen die Boden-bedingungen es zuließen, eine Möglichkeit einer einfacheren und sparsameren Konstruktion dar. Der Grube kommt dabei die Funktion zu, die eingesparte Wandhöhe auszugleichen und so eine gut nutzbare Verkehrsfläche im Inneren des Hauses herzustellen. Zugleich dürfte die Eintiefung günstige Folgen für die Klimatisierung des Hauses haben: Das niedriger über den Boden ragende Grubenhaus hat weniger Kontaktfläche mit der Umgebungsluft und ist daher besser isoliert. Zudem sammelt sich Kaltluft bekanntlich am tiefsten Punkt eines Raumes. Genau hier ist auch die Feuerstelle situiert, was für eine günstige Zirkulation gesorgt haben dürfte. Die Bereiche auf dem Grubenrand dürften daher eine höhere Temperatur aufgewiesen haben, und wären als bevorzugter Aufenthaltsort in Ruhephasen des Tages zu denken. Das große Dach würde die Grube vor Durchfeuchtung von abfließendem Traufwasser schützen. Der angenommene Verbau der Grube schützt sie vor Erosion während der Nutzung und erklärt die oftmals festgestellten kleinen Pfosten und anderen Konstruktionselemente in der Hausgrube, die sich nicht zwingend als Teile der Hauswände ansprechen lassen. Zu guter Letzt ist die Brandgefahr geringer, weil im direkten Umfeld der Feuerstelle außer dem leicht zu schützenden Verbau der Grube keine entzündlichen konstruktiven Bestandteile notwendig wären. Insgesamt kann dieser Rekonstruktion ein großes Maß an Plausibilität eingeräumt werden. Auf eine slawische Siedlung wie Klitschmar ist das Modell problemlos anwendbar. Es wird zu prüfen sein, ob die festgestellten Regelmäßigkeiten und Indizien auch für weitere, ver-gleichbare Fundplätze gelten und diese Form der Rekonstruktion untermauern oder wider-legen. Sie kann sicherlich nicht für alle Grubenhausbefunde geltend gemacht werden, da zum Beispiel die Funktionen und Anforderungen an handwerklich genutzte Grubenhäuser in früh-städtischen Siedlungen eine deutlich andere gewesen sein dürfte. Für die Hausgruben aber, die als Spuren ländlichen Wohnens und Wirtschaftens angesehen werden, scheint sie mir die plausibelste zu sein. Der Bau eines erweiterten Grubenhauses im Geschichtspark Bärnau-Tachov

Mittlerweile sind durch den Bau eines Grubenhauses mit erweitertem Grundriss im Geschichtspark Bärnau-Tachov einige Erfahrungen zur Errichtung und zur Funktionalität gesammelt worden. Hervorzuheben ist dabei die ausschließliche Verwendung archäologisch belegbarer Materialien und Techniken des frühen Mittelalters in geradezu vollkommener Konsequenz. Daher kann man getrost behaupten, dass die rekonstruierten Häuser in dieser Anlage eben nicht nur zu Visualisierung und Präsentation geschichtlicher Inhalte in ansprechender didaktischer Form dienen, sondern vielmehr regelrechte archäologische Experimente darstellen, die somit selbst zum Gegenstand der Forschung werden. Insbesondere dem unermüdlichen Einsatz von Stefan Wolters, dem wissenschaftlichen Leiter des Parks, ist es zu verdanken, dass ein derartig hoher Anspruch umgesetzt werden konnte. Für das Grubenhaus in Bärnau wurde auf den Grundrisstyp des Sechs-Pfosten-Hauses zurück-gegriffen, nicht zuletzt da dieser die größte Stabilität und Dauerhaftigkeit verspricht. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf moderne Bauvorschriften, die ja nun mal auch für die Rekonstruktion frühmittelalterlicher Gebäude gelten. Dabei wurden die Firstpfosten 80 cm, die Eckpfosten, die die firstparallelen Pfetten tragen, etwa 60 cm eingetieft. Zwei Riegel

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Abb. 5. Die Vorbereitete Hausgrube mit dem Pfostengerüst.

Abb. 6. Holzverbindungen im Inneren des Grubenhauses.

verbinden die Pfetten und die Firstpfosten, so dass auf die-ser Ebene ein rechteckiger Rahmen entsteht, der die ganze Dachkonstruktion aus-steift (Abb. 5). Auf First und Pfetten liegen die Rofen auf, die bis zum Boden reichen, wo sie auf starken Eichen-bohlen aufliegen, die sie von der Bodenfeuchte abheben und somit das empfindliche Hirnholz der Rofen vor dem Eindringen von Feuchtigkeit und Fäulnis schützen. Auf einer auf die Rofen aufge-bundenen Lattung ist die Dachhaut aus Stroh befestigt. Die Firstpfosten sind hoch genug, um dem organisch gedeckten Dach den nötigen steilen Winkel von über 50° zu verschaffen und in der gesamten Grube uneinge-schränktes Gehen und Stehen zu erlauben. An der Rück-seite formt das Dach einen Vollwalm mit einem, von einem kleinen Dachüberhang vor der Witterung geschütz-ten "Eulenloch" für den Rauchabzug (Abb. 6). Auf der Eingangsseite reicht das Dach über die senkrechte Giebelwand hinaus und über-dacht die Eingangsrampe sowie einen kleinen Werkplatz im Freien. Die eigentliche Hausgrube ist etwa 80 cm tief und wurde mit Spaltbohlen verbaut, die von einem Rähm an der Oberkante fixiert sind (Abb. 1). In der dem Eingang diagonal gegenüber-liegenden Ecke der Grube wurde ein kleiner Ofen mit Steinabdeckung realisiert. Durch die Erweiterung des Grundrisses um etwa 80 cm um die Grube herum entsteht eine umlaufende Erdbank, die zu verschiedenen Zwecken genutzt werden kann. Zwar war das Haus bei Manuskriptabschluss noch nicht vollständig fertig gestellt, insbesondere die Giebelwand war noch nicht vollständig geschlossen und es fehlte der Stampflehmboden. Dennoch sind erste Erfahrungen mit dem Haus äußerst viel versprechend:

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Abb. 7. Halbierte Pfostengrube, wie sie oft bei Ausgra-bungen zu beobachten ist.

Die Rauchführung funktio-niert hervorragend, d.h. der Rauch des Steinofens verlässt das Gebäude zügig durch die dafür vorgesehene Öffnung im Dach, ohne eine Dunstschicht zu bilden, die bis auf die Bewohner das Hauses herunterfällt, so wie es bei anderen Rekonstruk-tionsversuchen der Fall war28. Um Aussagen zur Dauer-haftigkeit zu treffen, ist es im Moment noch zu früh, doch es zeigen sich nach dem ersten Winter und einem feucht-kalten Frühjahr noch keinerlei Feuchtigkeits- und

Fäulnisschäden an Konstruktion und Dachhaut. Der Arbeits- und Materialaufwand zur Errichtung des Hauses hielt sich im Vergleich zu ebenerdigen Häusern in engen Grenzen. Während dieser Artikel entsteht, ist zur besonderen Freude des Verfassers ein weiteres Gru-benhaus mit erweiterter Grundfläche im Bau, das eine weitere Möglichkeit dieses Re-konstruktionsprinzips darstellen wird. Basierend auf einem ebenfalls aus sechs Pfosten beste-henden Grundgerüst – man beachte die halbierten Pfostenlöcher am Grubenrand, wie sie häufig im Befund anzutreffen sind – (Abb. 7) wird dieses Haus eine niedrige Blockbau-konstruktion erhalten. Diese erhebt das Dach noch etwas weiter über den Boden und die Erdbank im Inneren wird noch besser nutzbar, da hier keine allzu niedrigen Zwickel unter der Dachschräge entstehen. Somit ist mehr Platz zur Lagerung von Vorräten, Gerät oder zum Auf-enthalt von Personen im Sitzen oder Liegen vorhanden. Die ersten Erfahrungen scheinen die postulierte Plausibilität von Grubenhäusern als deutlich größere Strukturen bislang zu stützen. Außerdem bieten die errichteten Häuser auch die Mög-lichkeit, in Zukunft ausführliche Versuchsreihen zur Klimatisierung und dem Energie-verbrauch derartiger Grubenhäuser zu machen, was für kommende Winter geplant ist, um schließlich weitere Erkenntnisse zur Lebenswelt der mittelalterlichen Slawen zu gewinnen. Literatur

BEDAL, Konrad: Das Haus. In: Konrad Bedal (Hrsg.): Ein Bauernhaus aus dem Mittelalter. Bad Windsheim 1987, 7-64. BENCZE, Zoltán/GYULAI , Ferenc/SABJÁN, Tibor u. a.: Egy Árpád-kori veremház feltárása és rekonstrukciója. Ausgrabung und Rekonstruktion eines Grubenhauses aus der Árpádenzeit (Monumenta historica Budapestinensia 10). Budapest 1999. BRACHMANN, Hansjürgen: Slawische Stämme an Elbe und Saale. Zu ihrer Geschichte und Kultur im 6. bis 10. Jahrhundert auf Grund archäologischer Quellen (Schriften zur Ur- und Frühgeschichte 32). Berlin 1978.

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Pleinerová 1986, 104-176.

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Abbildungnachweis

Abb. 1, 3-7: Verfasser mit freundlicher Genehmigung des Geschichtsparks Bärnau-Tachov; Abb. 2: Verfasser.

Hendrik Rohland M.A. Aegidienstraße 1-5 23552 Lübeck [email protected]

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Abb. 1. Blick auf das fertiggestellte Bajuwarenhaus, Herbst 2009.

Das Bajuwarenhaus von Burgweinting: 7. Jahrhundert …im 21. Jahrhundert! The “Bajuwarenhaus” of Burgweinting: 7th century …in the 21st century!

Silvia Codreanu-Windauer und Lutz-Michael Dallmeier

Abstract

The reconstruction of historical lifeworlds is in the current trend. Usually the “final product” is the most important criterion. Only for archaeologists is the origin, in some cases even the deterioration and destruction, also the aim of the experiment. The example of the “Bajuwarenhaus” Burgweinting near Regensburg will show how difficult it is to reconstruct a Baiovarii residential building of the Merovingian period even under the supposedly best conditions in the 21st century. Many unexpected problems delayed the completion significantly despite the extraordinary engagement of all those responsible. Amongst others, this was due to careless cigarette enjoyment of an employee, which largely destroyed the thatched roof and eventually led to roofing with shingles. But also legal interests of nature conservation, occupational safety, static equilibrium or fire protection caused complications.

Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten liegt im Trend der Zeit – sei es als mehr oder weniger aufwändige Visualisierung in Filmen und Ausstellungen, im Internet und am Handy oder als reale Nachbauten, die nach bestem Wissen und Gewissen den jeweils aktuellen Forschungsstand widerspiegeln sollen. Dabei ist das „Endprodukt“ meistens das wichtigste Kriterium. Nur für hartgesottene Archäologen – meist ohnehin Idealisten – ist (auch) die Entstehung, in manchen Fällen sogar der Verfall, die Zerstörung, das Ziel des experimentellen Unterfangens. Wie schwierig es ist, bei besten Vorsätzen und Voraussetzungen im 21. Jahrhundert eine „Zeitreise“ ins Frühmittelalter zu unternehmen, soll im Folgenden das Beispiel des Bajuwarenhauses in Burgweinting darlegen.

Wenige Kilometer südöstlich der Stadt Regensburg, an der Autobahn A3, Ausfahrt Burgweinting, kann man un-mittelbar hinter dem Lärm-schutzwall der Franz-Joseph-Strauss-Allee den Blick auf ein großes schindelgedecktes Dach im Vorbeifahren erha-schen. Es ist das so genannte Bajuwarenhaus, das auf dem Freigelände der neuen Otto-Schwerdt-Schule steht (Abb. 1). Mit dieser Platzwahl soll-ten die Pflege des Gebäudes und der Schutz vor Vandalis-mus sichergestellt werden. Da ein Fußgängerweg am Baju-warenhaus direkt vorbeiführt, ist es zwar nicht zugänglich

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Abb. 2. Luftbild der durch Bepflanzung visualisierten Villa rustica.

für jedermann, kann aber aus der Nähe betrachtet werden. Besonders die im Vergleich zu den heutigen Baugepflogenheiten riesig wirkenden Dachflächen ziehen den Blick magisch an: Statt Toskanadach und eintönig roten, pflegeleichten Betonziegeln, ist es die bewegte Oberfläche des Schindeldaches, die manchen Besucher fasziniert – dies besonders an jenem Ort, der zu den größten Neubaugebieten Bayerns gehört! Seit fast 20 Jahren entstehen dort sukzessive Neubauten, zahllose Einfamilien- und etliche Miethäuser, aber auch zwei Schulen, ein Kinderhort, ein Sportheim usw. … und das Bauen geht weiter! Im Vorgriff dieser Endlosbaustelle fanden und finden dort seit 1994 kontinuierlich Rettungs-grabungen der Stadt Regensburg in Kooperation mit dem Bayerischem Landesamt für Denk-malpflege statt, die hinsichtlich der Befunddichte und ihres Ausmaßes von inzwischen knapp 70 ha Grabungsfläche ihresgleichen suchen. Grund hierfür ist die siedlungsgünstige Lage des Areals mit seinen fruchtbaren Lössböden in leichter Hanglage auf der Hochterrasse des Donautals sowie seine Nähe zu Quellen und zu einem Bachlauf1. Dementsprechend sind fast alle Zeiten und Befundgattungen in Burgweinting vertreten: Gräber der Schnurkeramiker und Glockenbecherleute, mehrere Siedlungen und Nekropolen der Spätbronzezeit bzw. Urnenfel-derzeit, Siedlungsspuren aus allen Perioden der Eisenzeit, vier römische Gutshöfe (villae rusticae) und fünf bajuwarische Friedhöfe.

Was bleibt nach einer archäologischen Grabung vor Ort übrig? Diese Frage stellt sich bei fast allen Ausgrabungen, in besonderem Maße aber bei Großgrabungen, die mit einer großflächi-gen Zerstörung nicht nur von einzelnen Bodendenkmälern, sondern gleich einer ganzen archäologischen Denkmallandschaft einhergehen.

Auch von Seiten der Planer und der Bevölkerung wurde der Wunsch laut, auch nach Abschluss der Grabungen, innerhalb des modernen Bau-gebiets die weit zurück-reichende Vergangenheit des Platzes spürbar zu machen. Der erste Schritt in diese Richtung galt schon in der ersten Planungsphase der Konservierung des Original-befundes einer römischen Villa, die am Anfang des 20. Jahrhunderts von Paul Rein-ecke „angegraben“ wurde. Durch Geomagnetik und Luftbilder konnte der damals ergrabene Grundriss vervoll-ständigt werden. Einer Idee

1 Überblick in: Von der Steinzeit bis zum Mittelalter 2004.

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Abb. 3. Blick auf den Kinderspielplatz mit „Römerkas-tell“.

des Vereins „Kultur in Blüte ev.“ folgend wurde der römische Gutshof im Jubiläumsjahr 2000 bepflanzt und im Rahmen eines Römerfestes einer großen Öffentlichkeit präsentiert2 (Abb. 2). Der Erfolg dieser Aktion hat dann dazu geführt, dass alle bekannten Mauerzüge und Räume des Gutshofes durch eine gezielte, teils dauerhafte Bepflanzung für den Besucher visualisiert wurden. So entstand inmitten der Baustellen ein Parkareal. Einige Jahre später folgte die Anlage eines themenbezo-genen „Römerspielplatzes“ mit kindgerechtem Holzkas-tell, „Galeere“ und einem kleinen „Keltendorf“ (Abb. 3). Die Bauwerke sind nur vage an den antiken Vorbil-dern angelehnt, ohne den geringsten Anspruch, eine echte Rekonstruktion zu sein. Einem altbewährten Schema folgend, wurde versucht, die geschichtliche Dimension des Ortes durch eine Vielzahl entsprechender neuer Stra-ßennamen vor Vergessenheit zu bewahren. Sie orientieren sich an Befunden der Vorge-schichte (z.B. Am Herrenhof, Glockenbecherweg, Keltenweg) und Römerzeit (römische Gottheiten wie Minerva, Juno, Mars, Victoria, Luna, Neptun, Apollo, Flora usw.). Als jüngstes Projekt dieser „archäologischen Achse“ von Burgweinting wurde ein Bajuwa-renhaus errichtet. Anstoß für diesen Bau gab die Firma Werkhof Regensburg GmbH, ein Unternehmen des Diakonischen Werks Regensburg, das seit Jahren auch das Hilfspersonal der Ausgrabungen in Burgweinting bereitstellte. Sie startete die Anfrage nach einer Idee zu einem so genannten Mikroprojekt, eine Arbeitserprobungs- und Beschäftigungsmaßnahme für zehn Personen für die Dauer von zwölf Monaten unter Anleitung eines Sozialpädagogen zum Wiedereinstieg ins Arbeitsleben. Der Umstand, dass der Leiter dieser Gruppe, Dieter Biereck, gleichzeitig auch Schreinermeister ist, erleichterte die Entscheidung der Denkmalbehörden als historischen Nachbau ein Holzhaus errichten zu lassen. Dass letztendlich ein bajuwarisches Gebäude gewählt wurde, lag an den bedeutenden bajuwarischen Gräberfeldern, die bei den Ausgrabungen ans Tageslicht kamen3: Im Südosten des Baugebietes stieß man auf eine Nekropole mit 44 Gräbern, die im 7. Jahrhundert in den bereits weitgehend abgetragenen Ruinen eines der römischen Gutshöfe angelegt wurde. 300 m weiter nördlich wurden 2002/03 zwei Grabgruppen dokumentiert: Die eine, 19 Bestattungen umfassend, gehört in das späte 5. und in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts. Die 50 m weiter liegende andere Gruppe bestand

2 Codreanu-Windauer/Irlinger/Fassbinder/Haase 2001. 3 Codreanu-Windauer 2004; 2005; 2007 und 2009; Osterhaus 1987.

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Abb. 4. Ausgrabung in der fünften frühmittelalterlichen Nekropole von Burgweinting, im Hintergrund das entste-hende Bajuwarenhaus im Herbst 2007.

aus elf, fast durchwegs äu-ßerst reich ausgestatteten Gräbern der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts4. 2005/06 entdeckte man dann auf dem Gelände der Ganztagsschule einen größeren Friedhof des späten 5. bis 7. Jahrhunderts, von dem allerdings nur etwa 80 Bestattungen ausgegraben wurden. Der Rest ist von der Baumaßnahme ungestört im Boden verblieben5. Im Spät-herbst 2007 kam unmittelbar westlich des Bajuwarenhauses wieder eine frühmittelalter-liche Gräbergruppe ans Ta-geslicht, die ins späte 5. und frühe 6. Jahrhundert datiert6 (Abb. 4).

Für die Entscheidung, ein Bajuwarenhaus zu bauen, war nicht nur der räumliche Bezug der frühmittelalterlichen Bestattungen zum geplanten Standort wichtig, sondern vielmehr der greifbare Befund eines bajuwarischen Gehöftes, das 1986 im Osten Burgweintings ergraben wurde7. Das dort dokumentierte Wohnhaus lieferte den Bauplan für das neue Haus.

Wie geht man an solch ein Projekt heran? Sehr hilfreich erwies sich die Kontaktaufnahme zum „Bajuwarenhof“ in Kirchheim: Von den Erfahrungen der Kirchheimer Gruppe und dem regen Austausch, besonders mit Hans-Peter Volpert (siehe seinen Beitrag in diesem Band) konnte das Burgweintinger Bauvorhaben profitieren. Gleichzeitig diente der „Bajuwarenhof“ mit seinen fertigen Häusern als Anschauungs- und Zielobjekt der im Projekt beschäftigten Langzeitarbeitslosen. Das Bauvorhaben wurde wissenschaftlich vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege und dem Amt für Archiv und Denkmalpflege der Stadt Regensburg betreut und tatkräftig vom Regensburger Gartenamt unterstützt, vor allem durch die Beschaf-fung der Baumaterialien Holz und Schilf: Eichenstämme für das Hausgerüst, Fichte für die Dachkonstruktion und Weidenholz für die Ausstakung und das Flechtwerk der Wände. Lehm liegt im Wortsinn vor der Haustüre, denn alleine durch die Ausgrabungen fielen riesige Men-gen davon an. Doch das Spannendste – auch für uns Archäologen! – ist der Entstehungsprozess des Bajuwa-renhauses an sich – mit viel Elan und besten Vorsätzen gingen alle ans Werk!

4 Siehe dazu auch Codreanu-Windauer 2004. 5 Codreanu-Windauer 2006; Codreanu-Windauer/Ehling/Schweissing 2007. 6 Codreanu-Windauer/Schleuder 2009. 7 Osterhaus 1987.

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Abb. 5. Modell des Bajuwarenhauses, ausgestellt bei der Einweihung der Schule 2008.

Abb. 6. Schilfschneiden im Winter 2006/07.

Abb. 7. Blick auf die angelieferten Hölzer, Frühjahr 2007.

Die ersten Schritte8 wurden bereits im Win-ter 2006/07 unternommen: Die Projektteil-nehmer bauten ein Modell des geplanten Hauses im Maßstab 1:10, das nicht nur der Motivation und Anschaulichkeit diente, sondern auch der konkreten Ermittlung der benötigten Materialien (Abb. 5). Schnell zeigte sich aber, dass so ein Unterfangen im 21. Jahrhundert auf Schwierigkeiten stößt. Dies gilt nicht nur für den Erwerb bzw. die Anfertigung der geeigneten historischen Werkzeuge, sondern in erster Linie für die Beschaffung von Baumaterial. Für das Schneiden des Schilfes war jener Winter zu warm und das erhoffte Einfrieren der Seen blieb aus. Dann setzte das Frühjahr auch noch so zeitig ein, dass wegen der Vogelschutzbestimmungen hinsichtlich der Brutzeit die Schneidearbeiten bereits Mitte März abgebrochen werden mussten. Auch zeigte sich, dass das Schneiden per Hand mit historisch korrektem Werkzeug nicht effektiv und viel zu langsam ging – also kam es zum Einsatz von Motorsensen (Abb. 6). Die benötigten Bauhölzer wurden vom Gartenamt zwar zeitgerecht geschlagen, ihre Anlieferung musste aber der beträchtlichen Länge wegen als nächtliche Sonderfahrt erfolgen (Abb. 7). In der Zwischenzeit wurde die Baufläche des Bajuwarenhauses vom Ausgrabungs-team untersucht. Währenddessen mahlten die bürokratischen Mühlen, denn das Haus brauchte einen „Bauherrn“, der ein förm-liches Baugenehmigungsverfahren durch-zieht. Da die Schule, auf deren Freigelände das Bajuwarenhaus entstehen sollte, noch im Bau war, musste das städtische Denkmalamt als Bauherr einspringen. Mit viel Elan und medialer Begleitung gin-gen die Arbeiten vor Ort im April 2007 los! Ziel war es, das Richtfest im Juli zu feiern

8 Codreanu-Windauer/Dallmeier 2007.

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Abb. 8. Aufstellen der Gebinde, Sommer 2007.

und bis zum Herbst das Haus pünktlich zum Förderabschluss des Projektes fertig zu stellen. Allerdings zeigte sich bereits beim Entrinden und Vorbereiten der Bauhölzer, dass diese Arbeiten um ein Vielfaches zeitraubender waren, als angenommen. Die hehren Vorsätze, nur mit traditionellem Werkzeug und in reiner Handarbeit ans Werk zu gehen, zerflossen im Schweiße der Angesichter… Um wenigstens eine gebeilte Oberfläche zu bekommen, wurde die Rinde mit der Motorsäge eingeschnitten um das Entrinden zu erleichtern.

Beim Hausgerüst selbst ver-ließ man den „bajuwarischen“ Arbeitspfad nicht: Jeder Ständer wurde sorgsam zuge-richtet, dann die Gebinde vorbereitet und mit einfachen aufgeblatteten Kopfbändern stabilisiert. Gebinde für Gebinde wurde dann mit dem gesamten Trupp und zusätz-lichen Helfern (mindestens zehn Mann!) mühsam hoch-gezogen, bis die beiden Wand- und der mittlere First-pfosten in die vorbereiteten Löcher glitten (Abb. 8). Die Stabilität wurde sogar von einem Statiker überprüft. Das

gewünschte Einbetonieren der Holzpfosten konnten die Archäologen mit ihrem Gewissen dann doch nicht vereinbaren! Unbeirrt und mit Riesengeduld trieb Dieter Biereck aber das Vorhaben weiter: Mitte Juni stand das erste Joch, Mitte Juli wurde – sogar unter Mithilfe einiger Mitarbeiter der Regens-burger Dienststelle und der Autoren – das zweite Joch aufgerichtet. Hilfe war angesagt, denn die massiven Bauhölzer aus Eiche wiesen ein ungeahntes Gewicht auf, das es mit Muskelkraft zu stemmen galt. Ende August war das Wandgerüst des vierjochigen Hauses fertig! Der „Bauzeitenplan“, der an dem Bewilligungszeitraum des Projektes orientiert war, geriet trotz gutem Baufortschritt dennoch immer mehr ins Rutschen! Nun war Eile geboten, denn als Termin für das Richtfest hatte man bereits mit der Regensburger Bürgermeisterin Petra Betz den 18. September 2007 festgelegt. Mit Ausnahme des unplanmäßig nasskalten Wetters, das immerhin für eine gewisse authentische Stimmung sorgte, war dann aber alles Notwendige perfekt erreicht: Das Grundgerüst des Dachwerks war fertig gestellt, die Werktätigen noch immer motiviert und bei guter Laune, die Gäste geladen. Neben den Vertretern aller beteilig-ten Institutionen gaben auch die Erbauer des Burgweintinger „Referenzobjektes“ dem Richt-fest die Ehre, nämlich die Archäologen des Projektes „Bajuwarenhof“ aus Kirchheim bei München – selbstverständlich in voller bajuwarischer Tracht9.

9 Codreanu-Windauer/Dallmeier 2007 und 2008.

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Da das Fest den alten Traditionen verbunden sein sollte, bekam nach dem Richtspruch des „Vorarbeiters“ Dieter Biereck das Haus dann auch noch einen Abwehrspruch mit auf den Weg: Mangels passender zeitgenössischer Überlieferung konnte mit Hilfe der Germanisten der Universität Regensburg ein Spruch aus dem 10. Jahrhundert gefunden werden, der aus dem alemannischen Raum stammt und mit dem Satz ad signandum domum contra diabolum überschrieben ist.

Abb. 9. Das fertiggestellte Dachwerk des Bajuwarenhauses, Herbst 2007. Zum Jahresende 2007 war das Haus im wahrsten Sinne „unter Dach und Fach“: Am vollen-deten Dachtragewerk wurden zur Aussteifung in Längsrichtung noch vier Windrispen sowie die Querhölzer aufgebracht, die später das Schilf tragen sollten (Abb. 9). Während im Winter das inzwischen getrocknete Schilf vorsortiert wurde, gingen die Arbeiten im Frühjahr 2008 am Haus weiter. Nun stand die mühsame Arbeit an den Wänden an. Zum Teil konnte man hier aber auch Schülergruppen einbinden, um die Wände mit Lehm auszu-fachen. Im Sommer begann man parallel dazu mit der Dachdeckung, doch da geschah ein „unbajuwarischer „Unfall: Trotz striktestem Rauchverbot auf der Baustelle hantierte einer der Projektteilnehmer beim Eindecken mit Schilfbündeln mit einer Zigarette. Im Nu war ein fast explosionsartiger Brand entfacht, der in Bruchteilen von Minuten das bis dato gedeckte Schilfdach (etwa ein Fünftel der Dachfläche) vernichtete und Teile des Dachstuhls beschä-digte. Zudem griff es auch auf das neben dem Haus gelagerte Schilf über. Bei allem Entsetzen

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Abb. 10. Eindeckung mit Schindeln Im Sommer 2009.

und Ärger konnte man sich damit trösten, dass keiner der Projektteilnehmer verletzt wurde und sich die Holzkonstruktion des Hauses statisch noch als tragfähig erwies.

Die Folgen dieses Vorfalls sind im 21. Jahrhundert nicht zu unterschätzen! Trotz des „Strohfeuers“ stand das gesamte Vorhaben kurz vor dem Aus und 2008 ging nichts mehr weiter. Als Konsequenz war klar, dass das Bajuwarenhaus nicht mehr mit Schilf eingedeckt werden kann - es fehlte nicht nur das Baumaterial, sondern in erster Linie die Bereitschaft seitens der Projektbeteiligten, solch ein Risiko erneut einzugehen.

Eine Rettung des Bajuwaren-hauses erreichte man durch die Neueindeckung mit histo-risch ebenso korrekten höl-zernen Schindeln. Es handelt sich hier um handgespaltene Schindeln aus Lärchenholz, die in etwa die Maße der rö-mischen scendulae haben und auch in ähnlicher Form im archäologischen Befund aus dem Kloster Frauenchiemsee nachgewiesen sind10. In einem Anschlussprojekt konnte 2009 das Haus fertig-gestellt werden. Allerdings war von Anfang an klar, dass die genehmigte Projektdauer

es nicht hergeben würde, die Schindeln per Hand, also auf bajuwarische Art und Weise herzu-stellen. Die Abstriche von den hehren Vorsätzen wurden immer größer: So wurden die Schin-deln per Spedition geliefert und mittels Elektrowerkzeug mit dünnen Stahlnägeln montiert (Abb. 10). Die erheblichen Mehrkosten dafür konnten glücklicherweise aus Mitteln der Brandversicherung und durch eine großzügige Spende des Lions Club Regensburg bestritten werden. In der zwischenzeitlich fertiggestellten Schule fand das Projekt viel Anklang: die Schüler strömten in den Pausen in das Freigelände, um den Fortschritt zu begutachten und auch mit dem einen und anderen Handgriff zu helfen. Unser aller Euphorie wurde jedoch zunehmend gedämpft durch die Kompromisse, die uns unsere Zeit abringt: Wegen der Nutzung für schulische Zwecke hatte das Bajuwarenhaus schon von Anfang an zwei Ausgänge. Nun wurde aus Gründen des Brandschutzes die Anlage einer Feuerstelle im Inneren des Hauses verboten. Da es dort relativ dunkel ist, mussten Leer-rohre in die Wandgefache eingebaut werden, damit das frühmittelalterliche Haus bei Bedarf elektrisch beleuchtet werden kann. Vor dem Bajuwarenhaus wurde ein Gärtchen angelegt und von engagierten Lehrerinnen mit ihren Schülern angepflanzt. Aber – wie zu erwarten im 21. Jahrhundert! – waren es nicht nur 10 Freundliche Mitteilung von Franz Herzig, BLfD Dendrolabor Thierhaupten.

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Pflanzen, die die Bajuwaren kannten. Und dann kam die Ferienzeit mit der Folge, dass auf-grund fehlender Pflege bald Unkraut die liebevoll gestalteten Rabatten überwucherte.

Am 9. Oktober war es endlich soweit! Das Bajuwarenhaus in Burgweinting wurde mit einer Menge Gäste eröffnet. Es kamen Prominente, so der Regensburger Bürgermeister Joachim Wolbergs und sogar der oberste Bodendenkmalpfleger Dr. Sebastian Sommer sowie viele Hauptschüler der Otto-Schwerdt-Schule, auf deren Gelände das Bajuwarenhaus steht. Wäh-rend sich die Schüler über diese unterrichtsfreien Stunden freuten und sehnsüchtig auf die frischen Dinkelsemmeln luchsten, standen die eigentlichen Akteure dieser Feier unauffällig im Hintergrund. Bis zum letzten Augenblick hatten die Arbeiter der gemeinnützigen Werkhof Regensburg GmbH an dem Haus gehämmert und die letzten „unbajuwarischen“ Dinge vom Metallgerüst bis zum Dosenbier entfernten. Verschiedene Holzgerätschaften und einfache Sitzmöbel, die sie in den Wintermonaten oder bei Schlechtwetter angefertigt hatten, wurden noch schnell ins Haus gebracht, um es zu „möblieren“.

Abb. 11. Eröffnung des Bajuwarenhauses im Herbst 2009. Bei der Eröffnung vertreten war auch wieder eine Abordnung des Bajuwarenhofes in Kirch-heim, um den Gästen gemeinsam mit Regensburger Kollegen Erläuterungen zum baju-warischen Alltagsleben zu bieten (Abb. 11). Allerdings hatte die Entzündung des Feuers mit-tels Feuerstein und Feuerstahl auf bajuwarische Art ihnen die Show gestohlen. Während über diesem Feuer – aus Sicherheitsgründen nicht innerhalb des Hauses sondern im Außengelände

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entfacht – ein zeitgenössisch korrekter Eintopf köchelte, wurde feierlich der „echt bajuwa-rische“ Schlüssel übergeben, ein „Gastgeschenk“ des Landesamtes für Denkmalpflege an das Haus und den Hausherrn, die Otto-Schwerdt-Schule, handgefertigt von H. P. Volpert vom Bajuwarenhof Kirchheim. Bürgermeister Wolbergs konnte es sich jedoch nicht verkneifen, selber auszuprobieren, wie ein bajuwarisches Schloss funktioniert und er schaffte es auf Anhieb!11

Hätte jemand im Frühjahr 2007 auch nur gemutmaßt, dass es fast drei Jahre lang dauern würde, bis das Haus fertig gestellt ist, wäre das Projekt nie zustande gekommen12. Der Weg war unser Ziel… Aber der Weg war eher ernüchternd! Abgesehen von den Problemen mit den Mitarbeitern (mangelnde handwerkliche Ausbildung, Durchhaltekraft und manchmal auch Motivation), waren es die zahlreichen Hindernisse und auch die Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts, die es schwierig machten ein Haus konsequent auf „bajuwarische“ Art zu errichten: Vogelnistschutz, Arbeitssicherheit, Statik und Brandschutz sind nur einige Schlag-worte in diesem Katalog. Und wo ein Elektrowerkgerät in der Nähe liegt, wird gerne auf das historische Werkzeug verzichtet… Schließlich beugt man sich der Macht des Faktischen. Andererseits brachte diese Bauzeit auch die Erfahrung mit sich, dass im frühen Mittelalter ein derartiges Haus nur in Zusammenarbeit vieler Menschen entstehen konnte, die alle im wahrsten Sinne des Wortes „an einem Strang zogen“ – z.B. um die schweren Gebinde aufzu-richten. Dass viel handwerkliches Geschick gefragt war, liegt auf der Hand! Erstaunlich für uns Archäologen war auch der hohe Bedarf an Baumaterialien und die arbeitsintensiven Vor-bereitungen. Das Bajuwarenhaus und sein kleiner Hausgarten stehen nun seit 2009 im Außenbereich der Ganztags-Hauptschule Burgweinting. Trotz mehrerer Anläufe ist weder die ursprünglich geplante regelmäßige Einbindung in den Unterricht, noch die Organisation von Besichti-gungsmöglichkeiten für die Allgemeinheit realisiert worden. Immerhin war das Bajuwaren-haus Schauplatz eines größeren Events – ein Rockkonzert mit Schülerbands und engagierten Regensburger Gruppen. Inzwischen gibt es im Haushalt der Stadt Regensburg auch eine Kostenstelle, die den regel-mäßigen Unterhalt gewährleistet…Verwaltungstechnisch ist also alles in „trockenen Tüchern“! Literatur

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11 Codreanu-Windauer/Dallmeier 2009 und 2010. 12 Zusammenfassend: Codreanu-Windauer/Dallmeier 2009.

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WINDAUER, Silvia/DALLMEIER , Lutz-Michael: Feierliche Schlüsselübergabe im Bajuwarenhaus Burgweinting. Jahresschrift Bajuwarenhof Kirchheim 2009, 100-103. WINDAUER, Silvia/DALLMEIER , Lutz-Michael: Feierliche Eröffnung des Bajuwarenhauses in Burgweinting. Denkmalpflege Informationen 145, März 2010, 41-42. WINDAUER, Silvia/DALLMEIER , Lutz-Michael: Burgweinting. Projekt Bajuwarenhaus. Denkmalpflege in Regensburg 11. Regensburg 2009, 242-246. CODREANU-WINDAUER, Silvia/EHLING, Kay/SCHWEISSING, Mike: Ein frühmittelalterliches Frauengrab mit Goldmünze in Burgweinting. Stadt Regensburg, Oberpfalz. Das archäologische Jahr in Bayern 2006 (2007), 111-112. CODREANU-WINDAUER, Silvia/IRLINGER, Walter/FAßBINDER, Jörg/HAASE, Rüdiger: Römische Spuren in Blüte: Die Villae rusticae von Burgweinting. Stadt Regensburg, Oberpfalz. Das archäologische Jahr in Bayern 2000 (2001), 70-73. CODREANU-WINDAUER, Silvia/SCHLEUDER, Ramona: Die fünfte frühmittelalterliche Nekropole von Burgweinting. Stadt Regensburg, Oberpfalz. Das archäologische Jahr in Bayern 2008 (2009), 104-105. OSTERHAUS, Udo: Ein frühmittelalterliches Gehöft mit Gräberfeld von Burgweinting. Stadt Regensburg, Oberpfalz. Das archäologische Jahr in Bayern 1986 (1987), 139-140. Von der Steinzeit bis zum Mittelalter. 10 Jahre Flächengrabung in Burgweinting. Begleitband zur Ausstellung im Historischen Museum der Stadt Regensburg. Regensburg 2004.

Abbildungsnachweis

Abb. 2: K. Leidorf, BLfD, Luftbildarchiv; alle anderen Abb.: S. Codreanu-Windauer.

Dr. Silvia Codreanu-Windauer Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege Referat Niederbayern Oberpfalz Adolf-Schmetzer-Straße 1 D-93047 Regensburg [email protected] Dr. Lutz-Michael Dallmeier Stadt Regensburg – Amt für Archiv und Denkmalpflege Domplatz 3 93047 Regensburg [email protected]

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Der Bajuwarenhof Kirchheim. Projekt für experimentelle Archäologie des frühen Mittelalters

The Baiovarii Farmstead Kirchheim. An Experimental Early Medieval Archaeology Project

Hans-Peter Volpert

Abstract

On a plot in the borough of Kirchheim to the east of Munich a reconstruction of a baiovarian farmstead is being developed since 2004. The basis are various archaeological features nearby. The upkeep and the supervisory staff of the “Baiovarii Farmstead – a project for living Early Medieval archaeology” (the official title) is paid for by the borough, all other goods and services are on voluntary basis. The agency responsible is an operating company of four archaeologists, supported by a friends’ association. Important parts of the currently erected ensemble are a longhouse, two pit houses and an outbuilding. They were all constructed with tools already known in the Merowingian period. The aims of the project are variegated. The complete system is meant to convey to visitors the circumstances of life as can be reconstructed through archaeological means. Not only the buildings convey this. Through information boards, guided tours and special events craftwork and historical information are explained. Programmes designed especially for school classes round off the choices. As the building reconstructions have not been planned down to the last detail, changes can be made during and after construction. Especially the roof construction, wall fillings and floor design offered many logical variations, which needed to be tested as to their suitability. Therefore the reconstructions also serve as study objects for archaeology itself. Different implementations of the only two-dimensionally recorded original features as well as their weathering the elements can be tested. As a complement a close cooperation exists with the museum in the neighbouring borough of Aschheim, where a great number of important Early Medieval exhibits can be found. The results of regional archaeological finds and features as well as information about the Baiovarii farmstead itself are published in a proprietary journal, which is published yearly by the friends’ association.

Archäologische Befunde sind all jene Objekte, die sich nur im Rahmen von Bodeneingriffen als anthropogene Strukturen, zumeist als Verfärbungen zu erkennen geben. Handelt es sich dann nicht gerade um charakteristische Mauern, sind für die wissenschaftliche Interpretation als weiteres Hilfsmittel die Kleinfunde aus dem Schichtzusammenhang von entscheidender Bedeutung. Sie erlauben eine genauere Datierung jener Erdverfärbungen (Befunde). Nur das Zusammenspiel beider Gattungen ermöglicht es, Aussagen über die angetroffenen Strukturen treffen zu können. Dabei muss man sich aber immer bewusst sein, dass die bis heute überdauerten archäolo-gischen Relikte nur einen geringen Bruchteil der ehedem vorhandenen Umwelt darstellen. Durch Verrottung sind in den Jahrhunderten nahezu alle organischen Erzeugnisse zerfallen und lassen sich im Gelände nur noch als Bodenverfärbungen im unmittelbaren Fundbereich oder bestenfalls in kleinsten Mengen unter Laborbedingungen nachweisen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass organische Erzeugnisse sicher mehr als 80 Prozent der von Menschen verwendeten Produkte darstellen. Textilien, Holz, Wachs, Leder, Horn oder Stroh: sie alle sind praktisch nicht mehr direkt nachzuweisen. Heute, in einer Zeit der DIN-Normen, ist es für Viele nur schwer vorstellbar, welcher vielfäl-tige Varianten- und Ideenreichtum bereits den Menschen vor- und frühgeschichtlicher Epochen zugestanden werden muss. In welch hohem kreativen Ausmaß und perfekter hand-werklicher Umsetzung die Menschen fernab von Massenproduktion und Hightech in der Lage waren, ihre Umwelt mit natürlichen Rohstoffen zu gestalten. Sie schufen sie nicht zuletzt als eine schützende Abgrenzung gegenüber einer oftmals noch bedrohlich wirkenden Natur.

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Abb. 1. Aufbinden des Schilfs als Dachhaut von der Leiter aus (Sommer 2008).

Auch im Großen stellen sich viele Fragen, wie beispielsweise bei Siedlungen oder im Hausbau. Auf Grabungen dokumentierte symmetrisch angeordnete Pfostengruben erlauben bis zu einem gewissen Maß Aus-sagen zu epochentypischen Gebäudeformen. Doch bereits bei der Konstruktion der Wände treten ernste Informationslücken auf. Wie war deren Ausführung, Oberfläche oder gar farbige Ausgestaltung? Welche Neigung besaß das Dach und aus welchem Material bestand es? Wie weit beeinflussten Arbeitsabläufe und technische Möglichkei-ten die Konstruktionen, in einer Zeit da bei-spielsweise ein Dachstuhl ohne Kran oder Bagger nur durch Muskelkraft aufzustellen war? Dies sind Fragen, die im Zeitalter mo-derner Maschinen zunehmend verloren gehen und nur noch durch schlichtes Aus-probieren zu ermitteln sind. Dabei muss man sich auch immer klarmachen, dass manche heute praktizierte Lösungen nicht der Weisheit letzter Schluss sind, die gewonnenen Ergebnisse somit lediglich als Näherungswerte angesehen werden dürfen.

Neben der Untersuchung technischer Details, wie Herstellung und Verarbeitung von Gegenständen, stellen sich auch ganz grundlegende Fragen nach Arbeitsaufwand einzelner Bauabläufe oder der Haltbarkeit von klassisch errichteten Holzgebäuden und Schilfdächern, wenn sie nicht nach dem modernen Anforderungsprofil der Gewährleistung errichtet wurden (Abb. 1). Der Bajuwarenhof Kirchheim

Stellvertretend soll hier der Bajuwarenhof Kirchheim vorgestellt werden. Ziel des im Winter 2003 begonnenen archäologischen Langzeitprojektes ist die Rekonstruktion eines frühmittel-alterlichen Gehöfts aus dem 6./7. nachchristlichen Jahrhundert. Das von fünf Münchner Archäologen initiierte Projekt unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht und besonders bezüglich der Intention deutlich von Rollenspiel- oder Reenactmentgruppen. Im Vordergrund stehen das wissenschaftliche Experiment und dessen publikumsnahe Ver-mittlung (Abb. 2). So versteht sich der Bajuwarenhof seit seiner Eröffnung im Mai 2005 als archäologisches Freilichtmuseum. Das zunächst nur für zweieinhalb Jahre genehmigte Projekt hat sich zum dauerhaften Museum gewandelt, das mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde Kirchheim – wie auch alle übrigen Tätigkeiten – ehrenamtlich errichtet und betrie-ben wird. Das Ensemble soll in der letzten Ausbauphase aus einem Langhaus und mehreren Nebengebäuden samt Einrichtung und Gärten bestehen, von denen ein Großteil bereits umgesetzt ist (Abb. 3). Die Grundlage bilden frühmittelalterliche Hausformen, die in zahlreichen modernen Grabungen der letzten Jahrzehnte im Großraum der Münchner Schotterebene zu Tage getreten

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Abb. 2. Präsentation frühgeschichtlicher Ei-sengewinnung am Rennofen durch die Uni-versität Wien (Sommer 2010).

Abb. 3. Dachlandschaften von Westen (Herbst 2009).

Abb. 4. Manuelles Zurichten der Balken (Sommer 2004).

sind. Auch wenn die Pfostenstellungen zu-meist klar erkennbar waren, werfen diese Gebäude im Detail noch eine Vielzahl an Fragen auf. Es wird versucht, sich den Lö-sungsansätzen mit dem genannten Projekt zu nähern. Beim Bau finden nur Werkzeuge und Mate-rialien Verwendung, die nach Funden und Überlieferung auch den Menschen der dama-ligen Zeit zur Verfügung standen. So werden zum Beispiel beim Bau der Häuser sämtliche Hölzer von Hand zugerichtet (Abb. 4), die Wände aus Spaltbohlen oder Flechtwerk ein-gefügt und mit Lehm verputzt. Selbst das Schilf für die Dächer wird im Winter nur mit der Sichel geerntet. Anders als bei touristischen Rekonstruk-tionen, die zumeist unter den Ansprüchen von kostengünstigen und daher haltbaren und wartungsfreundlichen Bauten mit mehr oder weniger realitätsnahen Baustoffen und Kon-struktionsweisen errichtet werden, sind ge-rade im archäologischen Experiment wie hier am Bajuwarenhof Erkenntnisse zu Ver-schleiß, Abnutzung sowie Verwitterung und Unterhaltsaufwand das Ziel (Abb. 5). Da es sich nicht um die Freizeitbeschäf-tigung unausgelasteter Stadtmenschen han-delt, werden Arbeiten und Beobachtungen dokumentiert und in den Jahresschriften des zugehörigen Fördervereins publiziert. In die-ser museumseigenen Schriftenreihe werden neben der Darstellung interner Tätigkeiten aber auch verwandte Themen, vorwiegend zum frühen Mittelalter in Süddeutschland, aus aktueller archäologischer Sicht darge-stellt. Für die interessierten Besucher werden die Arbeiten darüber hinaus mit einer Kauf DVD, Museumsführern oder Arbeitsheften anschaulich dargestellt. Das von Mai bis Oktober der Öffentlichkeit zugängige Projekt will zudem kein Museum im Sinne der Vermittlung eines bestimmten historischen Klischees sein. Vielmehr sollen unter Einbeziehung der archäologischen Be-funde die – soweit vorhanden – verschie-denen Lösungsmöglichkeiten der Rekon-

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Abb. 5. Langhaus: Spuren der Verwitterung mit Ausbes-serungen nach drei Jahren (Sommer 2011).

Abb. 6. Blick in das Museumsareal (Sommer 2011).

struktionen vorgestellt werden, die natürlich in ein harmonisch wirkendes Gesamterschei-nungsbild eingebunden sind (Abb. 6). So ist es beispielsweise mög-lich, das Entstehen der Ge-bäude in einzelnen Schritten über einen längeren Zeitraum hinweg selbst zu beobachten und Fragen zu den Arbeiten zu stellen. Infotafeln vor Ort lie-fern zudem den wissenschaft-lichen Hintergrund zu den fer-tigen Rekonstruktionen. Zu speziellen Anlässen angebo-tene Vorführungen ergänzen das Museum um viele weitere Aspekte des Alltags. Hierzu zählen neben der Zubereitung einfacher Mahlzeiten aus alt überlieferten Früchten (viele der heute angebauten Feld-früchte stammen ja aus Ame-rika), vor allem handwerkliche Tätigkeiten wie Spinnen von Wolle (ohne Spinnrad), Färben von Wolle und Stoffen mit Pflanzenfarben, Fertigung von Gebrauchskeramik und offener Feldbrand, aber auch Gerät und Schmuckherstellung aus Knochen, Geweih, Glas, Bronze oder Eisen (Abb. 7). Die charakteristische Form eines typisch merowinger-zeitlichen Langhauses des 6. bis 8. Jahrhunderts will aber keinen konkreten Befund ko-pieren. Genaue Kopien

ergrabener Grundrisse zu erstellen, ist auch nicht die Idee, die hinter dem Projekt steht, da dies – angesichts der großen Informationslücken der archäologischen Quellen – dem Befund auch gar nicht gerecht wäre. Vielmehr ist es das Ziel, offene Fragen zu diskutieren und im Experiment umzusetzen. Beispielsweise sei die Ausfachung der Wände betrachtet: Anders als beim ersten Haus besit-zen viele der Originalbefunde sehr eng stehende und im Durchmesser kleine Wandpfosten. Aus konstruktiver Sicht konnte ein horizontales Flechtwerk nicht in Frage kommen. Die logi-sche Konsequenz war, die Ruten – falls verwendet – senkrecht einzuflechten. Da aber bei

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Abb. 8. Darstellung verschiedener Wand-ausfachungen (Sommer 2007).

Abb. 7. Links: Kammherstellung; Mitte: Errichten eines Flechtwandzaunes; rechts: Weben.

frühmittelalterlichen Siedlungsbefunden in der Münchner Schotterebene immer nur sehr ge-ringe Lehmreste angetroffen wurden, lag es auch nahe, die Menge an verwendetem Lehm zu reduzieren. Lehm musste in der Schotterebene vielerorts herbeigeführt werden, während Holz ausreichend zur Verfügung stand. Die Konsequenz war im Experiment die Gestaltung der Wandfüllungen aus Spaltbohlen. In Nuten der Pfosten liegend oder in Schwellhölzer senk-recht eingesetzt schließen sie nun die Wände und bedürfen zudem einer je nach Auftragsart um bis zu zwei Drittel geringeren Menge an Lehmverputz als Flechtwerkausfachungen gleicher Größe. Die zum Teil unverputzten Wände sollen dem Besucher einen Einblick in die unterschiedlich denkbaren Wandformen ermöglichen (Abb. 8). Fragen ergaben sich auch hinsichtlich der Arbeitsabläufe bei der Errichtung frühmittelalterlicher Pfostenständerbauten. So war die Vorgehensweise sehr stark von den technischen Möglichkeiten abhängig. Fraglich war, ob und inwieweit diese auch auf die Konstruktionen Einfluss hatten. Wie kann man sich die Bauweise eines Rahmenwerks aus derart vielen, eng gestellten Pfosten im Detail vorstellen? Wie konnten 15 Meter lange Wände oben mit einem Rähm gleichmäßig verbunden werden, ohne am Boden ein einheitlich technisch nivelliertes Niveau zu besitzen? Den im Befund meist nur geringen Pfostendurchmessern wurde in bisherigen Rekonstruktionsvorschlägen nie Rechnung getragen. Die liegende Vorfertigung sollte auch hier der Lösungsansatz sein, wobei nun die kleinen Standpfosten in die obere Wandrähm eingezapft werden konnten (Abb. 9). Im Gegensatz zu heute waren auch andere große Bauteile wie beispielsweise ein

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Abb. 9. Zum Aufrichten vorbereitete West-wand des Langhauses (Spätherbst 2006).

Abb. 10. Aufrichten des Sparrendachs von Haus 2 (August 2007).

Dachstuhl nur durch Muskelkraft aufzu-stellen (Abb. 10). Sicherlich sind am Baju-warenhof praktizierte Lösungsversuche nicht der Weisheit letzter Schluss und die hieraus gewonnenen Ergebnisse nur als Näherungswerte anzusehen, aber eine „begreifbare“ Umsetzung soll als Anstoß zur weiteren Diskussion beitragen. Neben (Re-)Konstruktionsmöglichkeiten und ihrer handwerklichen Umsetzung stehen hier aber auch andere, ganz grundlegende Fragen zur Diskussion. So beispielsweise die strittige Frage nach der Haltbarkeit von Pfostenständerbauten mit Schilfdächern. Aussagen hierzu sind nur möglich, wenn die Häuser nicht nach modernen Anforderungen errichtet wurden. Anders als bei sich selbst erklärenden, „in die Landschaft ge-zimmerten Rekonstruktionen“, bei denen meist möglichst kostengünstige, haltbare und wartungsfreundliche Bauten angestrebt und mit mehr oder weniger realitätsnahen Baustoffen und Konstruktionsweisen er-richtet werden, sind im archäologischen Experiment wie am Bajuwarenhof gerade die Beobachtungen zu Verschleiß, Abnut-zung sowie Verwitterung und Unter-haltsaufwand das Ziel. Dabei stellt sich gerade aktuell heraus, dass die verwendeten Eschenstämme nicht die gewünschte Dauerhaftigkeit besitzen und als Bauholz weniger geeignet scheinen. Leider ist das Gelände des Bajuwarenhofs eine Rotlage-deponie mit extrem verfestigtem Unter-

grund: Partielle Staunässe fördert hier den Fäulnisprozess und die gewonnenen Aussagen haben nur bedingt Gültigkeit. Ein besonderer Fokus soll auch auf die bislang kaum diskutierte Innengliederung frühmittelalterlicher Häuser gerichtet werden. So liegt neben einer Halle (Abb. 11) und vielleicht einem Kleintierstall ein besonderes Augenmerk auf den Wohnbereichen. Hier sind noch viele Fragen zu überprüfen, etwa hinsichtlich der Heizmöglichkeiten im Winter oder grundsätzlich dem Einbau von Kammern und Stuben. Da die letztgenannten Lösungen Einrichtungen benötigen, die über das „Fell-Image“ hinausgehen, laufen bereits Arbeiten für ihre Ausgestaltung mit „Dekoration“ und Möbeln. Wichtig erscheint dabei allerdings, sich nicht sklavisch an die wenigen archäologisch überlieferten Formen zu klammern, sondern der Versuch, im Rahmen des wissenschaftlich vertretbaren die allgemeine Formensprache der Epoche zu vermitteln (Abb. 12).

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Abb. 11. Die Halle im Langhaus (Sommer 2008).

Abb. 12. Ausgestaltung der Stube (Sommer 2011).

Dazu ist es wichtig, dass ge-rade im Bezug auf die archäologischen Befunde eine große Vielschichtigkeit an Rekonstruktionen vorgestellt und diskutiert wird. Auch wenn im Ergebnis ein ge-wachsen wirkendes Hof-ensemble angestrebt wird, ist es notwendig, dauerhaft den Projektcharakter zu erhalten. Dem Besucher soll vermittelt werden, dass das Haus-ensemble nicht der idealisierte Nachbau oder das Zeigen ei-nes Klischees ist, sondern mit vielen Fragestellungen behaf-tet bleibt. Als Betreiber eines derartigen Projekts muss man sich bewusst sein, dass sich gerade bildliche Eindrücke in der Erinnerung besonders dauerhaft festsetzen. So ist der sorgsame Umgang mit Rekon-struktionen anzumahnen, um kein fest gefügtes Bild einer Kultur zu vermitteln, die wir nur aus Bruchstücken erschließen können. Infotafeln vor Ort liefern in kurzen Bil-dern und Texten den wissen-schaftlichen Hintergrund zur fertigen Rekonstruktionen oder der Epoche. Das Projekt wird von der Landesstelle für Nichtstaat-liche Museen in Bayern und vor allem von der Gemeinde Kirchheim bei München durch die Bereitstellung des Gelän-des, Know-how und finan-zielle Mittel unterstützt. Ins-besondere Schulklassen greifen im Rahmen des Lehrplans gerne auf die Möglichkeit einer anschaulichen Präsentation zurück (Abb. 13). Weitere Informationen zum Projekt finden sich unter: www.bajuwarenhof.de.

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Abb. 13. Schulklassen beim anschaulichen Unterricht.

Literatur

VOLPERT, Hans-Peter u.a.: Der „Bajuwarenhof Kirchheim“ in Heimstetten – Ein Projekt für lebendige Archäologie des Frühmittelalters. Das archäologische Jahr in Bayern 2004 (2005), 182-184. VOLPERT, Hans-Peter: Der Hof – Idee und Ziele. Ein langer Weg – ein kurzer Erfahrungsbericht. Jahresschrift Bajuwarenhof Kirchheim 2004 (2005), 22-43. HELMBRECHT, Michaela/ZINTL, Stephanie: Die Verantwortung von Archäologen im Umgang mit der Vergangenheit – von gesellschaftlichen Verpflichtungen, Identitätssuchen und anderen Dilemmata. Jahresschrift Bajuwarenhof Kirchheim 2006 (2007), 8-20. Abbildungsnachweis

Alle Abb.: Bajuwarenhof Kircheim.

Hans-Peter Volpert M.A. Bajuwarenhof Kirchheim Glockenblumenstr. 7 85551 Kirchheim [email protected]

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Lebenswelt Handwerk – Der Schmied im Frühmittelalter Artisan Realities – The Blacksmith in Early Medieval Times

Gunnar Gransche

Abstract

A reconstruction of an early medieval forge may have looked like the following: The work room itself was either in the open or in an open-sided shelter owed to the smoke emission. Simple wooden post structures with dug-in posts and a saddle- or pent roof construction, similar to a pit-house are most probable. The height of the roof may have been lower in dug-out facilities, to facilitate a certain protection from the elements. Also the work was down near the floor, so that standing room was not necessary. The sitting, kneeling or crouching work position can be inferred from the size or the height of the tools and understood as probable from the still present handiwork cultures in low mechanized societies in areas of Asia, Africa and the Orient. From a hand-working viewpoint the archaeological and ethnological examined tools cannot be manipulated in any other way. Ergonomics and efficiency demand the work position in relation to the tools. The furnishing of the work shop probably contained one or more anvils which were affixed to a low wooden block. A large stone near the anvil station was used as an anvil stone, to shape or repair large work pieces. Near the anvil assembly, in reaching of the smith, would have been the clay-covered vaulted hearth bordered with stones. Sometimes this is no more than a fire-place. It was furnished with air from leather bellows. To isolate and protect the leather bellows various heat shields were needed. These could be made from clay or stone. Often a single tuyere brick or tuyere stone formed the border between fire and air flow. These pierced stones lay directly next to the fire and were connected by a pipe to the bellows. A further aspect is the mobile character of the tools. Because of their size the anvils, bellows and tuyeres could be easily dismantled and taken away. At a different place the hearth could be assembled, the tuyere and bellows positioned and the anvil affixed to a wooden block. Even the transport of the anvil base may not have been a problem. The smithy tools such as hammers, tongs, rasps, nail iron, pokers, dippers and saws could be easily transported anyway. Indispensable tools and furnishings which, next to the named objects, would also have been in a blacksmith’s shop, are: chests or trunks to keep and transport the blacksmith tools, which may have been utilised for seating. A simply made stool or taboret is also possible. Further there may have been a basket or sack, in which charcoal was kept, and a bucket filled with water to cool or harden smithed objects. Graphically depicted the reconstruction of an early medieval forge may have looked similar to figure 14.

Bei der Rekonstruktion der frühmittelalterlichen Lebenswelt Handwerk im Allgemeinen und des Schmiedehandwerks im Besonderen empfiehlt es sich, neben den archäologischen und geschichtswissenschaftlichen Nachweisen auch einen Blick über den Tellerrand zu wagen und weitere Quellen mit einzubeziehen. Hier hilft zum einen der ethnologische Ansatz – die Auseinandersetzung mit archaisch an-mutenden Techniken etwa in ländlich geprägten Gebieten Afrikas, Asiens oder dem Orient, wo noch heute mittelalterlich anmutende Traditionen des Schmiedehandwerks lebendig sind1. Im Vergleich zu frühmittelalterlichen Fundstücken lassen sich oft erstaunliche Parallelen ziehen2. Zum anderen liefert die experimentelle Archäologie gerade in der Rekonstruktion von handwerklichen Zusammenhängen entscheidende Hinweise auf Funktion und Aussehen

1 Vgl. Kröger 1992, 13f; Sachse 1989, 113f. 2 Vgl. Abb. 2 und 8.

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Abb. 1. Byzantinisches Relief.

von nur noch rudimentär im Boden erhaltenen Befunden und Funden3. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Auseinandersetzung mit Handwerkern, die täglich mit entsprechendem Werk-zeug und Arbeitsprozessen zu tun haben. Die Funktion eines archäologischen Objektes, die für eine Rekonstruktion von Arbeitswelten unabdingbar ist, erschließt sich dem Handwerker aufgrund von Aussehen und Form einfacher als dem Laien. Das handwerkliche Know-how geht mit dem Slogan Form Follows Function4 Hand in Hand. Obwohl es in archäologischen rekonstruktiven Zusammenhängen auch Function Follows Form heißen könnte. Meistens dient ein Gegenstand nur einem bestimmten Zweck und setzt

eine definierte Verwendung voraus. Werk-zeuge wie beispielsweise Hammer und Zange haben sich phänotypisch über die Jahrtau-sende kaum bis gar nicht verändert und besit-zen heute noch die gleiche Funktion5. Es ist also relativ einfach, ihre Verwendung im Arbeitsprozess darzustellen. Spezialisiertere Werkzeuge hingegen, deren Funktion sich nicht sofort erschließt, weil das heutige Erscheinungsbild anders ist, bedürfen einer Herangehensweise nach oben genanntem Motto und sind dadurch Teil eines hand-werklich geprägten Diskurses. Beschäftigt man sich nun mit der Rekon-struktion von Lebenswelten mittelalterlicher Handwerkskunst, ist es also sehr hilfreich, neben den historischen Quellen auch inter-disziplinär zu arbeiten und die genannten Ansätze mit einzubeziehen. Die zeitgenössischen Schriftquellen, die es zum Thema Schmieden und Metallverarbei-tung gibt, sollen hier aus Gründen des Um-fangs außer Acht gelassen werden6. Bildliche Darstellungen von Schmieden und Werkzeugen kommen häufig in Form von Verzierungen an Gefäßen, als Reliefs auf Bildsteinen und steinernen oder hölzernen Architekturteilen vor. Sie liefern einen ersten Einstieg in die Rekonstruktion mittelalter-licher Handwerkswelten. Die Abbildungen 1 und 2 beispielsweise zeigen Schmiede-

3 Bezüglich des Endproduktes sei hier vor allem an die Damastspatha-Rekonstruktionen von Manfred Sachse erinnert (Sachse 1989 und 1993; Amrein/Binder 1997, 369-370). 4 Bei der Verwendung in rekonstruktiven Zusammenhängen ist dieser Slogan wörtlich zu nehmen. Aufgrund von Erscheinungsbild und Form können sehr gut Rückschlüsse auf Funktionen gezogen werden. Dem originären Sinn dieses Zitats von Louis Sullivan von 1896 aus „The tall office building artistically considered“ entspricht dies nur teilweise: „ (…) die Form folgt immer der Funktion, und das ist das Gesetz.“ Hierzu: McCarter 2010, 14. 5 Vgl. Pleiner 2006, 76-92. 6 Hierzu zusammenfassend: Gransche 2009, 9-12; weiterführend: Denig 1985, 10; Wever 1961, 9-14; Müller-Wille 1977, 127 f.

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Abb. 2. Türrelief aus dem 13. Jahrhundert, Hyllestad, Schweden.

szenen, die Aussagen über Arbeitsumgebung, Arbeitsprozesse und Werkzeug liefern. So arbeiten die Schmiede beider Reliefs im Sitzen auf einer Art Schemel, benutzen einen kleinen Blockamboss, der in einer Substruktion verankert ist, und die Schmiedewerkzeuge Hammer und Zange. Abbildung 2 zeigt zusätzlich zwei Blasebälge, die mittels einer Rohrleitung eine Esse belüften. Die zusammenfassende Betrachtung mehrerer solcher Darstellungen erlaubt es, genaue Details herauszulesen und diese als erste Grundlage zur Rekonstruktion frühmittel-alterlichen Schmiedehandwerks heranzuziehen7. 1. Schmiedewerkstätten im archäologischen Befund

Zunächst sollen hier die Rudimente archäo-logisch untersuchter Schmiedewerkstätten näher beleuchtet werden. Es stellen sich nun die Fragen: Was bleibt im Boden? Was macht einen Befund zur Schmiede? Wie könnte die Schmiede ausgesehen haben? Eine Schmiede besteht im Regelfall aus einem Essenbereich, in dem das Werkstück erhitzt wird; einem Ambossplatz, an dem die Verarbeitung stattfindet, eventuell mit Ambossstein; und dem Arbeitshorizont, in dem sich die dem Verarbeitungsprozess geschuldeten Nebenprodukte niederschla-gen. Die Arbeit eines Schmiedes hinterlässt ver-schiedene Rückstände, die im archäologi-schen Befund häufig vertreten und meistens die einzigen Spuren metallverarbeitenden Handwerks sind. Die Hauptgruppen sind: Spuren von Brennstoffen wie Holzkohle und die durch die Verbrennung entstehende Asche; die direkten Abfälle der Eisenverarbeitung wie Schmiedezunder, der sich bildet, wenn Eisen erhitzt wird und mit dem Luftsauerstoff reagiert; Schmiedeschlacken; Fragmente von Essenteilen; zerbrochene Winddüsen oder Hitzeschilder; verlorene oder beschädigte eiserne Gegenstände und Werkzeuge. Nach dem Verbrennen der Kohle bleibt Asche zurück, auch diese ist im archäologischen Befund gut nachzuweisen. Sofern sich ein Essenbereich erhalten hat, wird die Asche meistens dort in größerer Menge gefunden. Häufig ist sie aber im ganzen Werkstattareal und manchmal auch darüber hinaus in den Boden gelangt und durch häufiges Übergehen verteilt und festgestampft worden.

7 Hierzu zusammenfassend: Gransche 2009, 12-16; weiterführend: Pleiner 2006, 76, 88, 95; Müller-Wille 1977, 132 f.; Hägermann 1991, 431; Vgl. weiterhin: Schmiededarstellung aus dem Stuttgarter Psalter (9. Jahrhundert) bei Amrein/Binder 1997, 360.

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Abb. 3. Schmiede, Lebedka, Russland, 8.- 10. Jahrhundert.

Abb. 4. Frühmittelalterliche Schmiede, Kosel.

Wenn das eiserne Werkstück in der Esse erhitzt wird, ist das ein oxidierender Prozess. Die Zunderteile sind also eine Oxidschicht (FeO), die aus Eisen besteht und dem Werkstück ver-loren geht. Jedes Erhitzen des Eisens kostet zwischen 3-4 % Substanz. Der Schmied ist immer bestrebt, vor dem eigentlichen Schmieden den Zunder zu entfernen. Die Zunderteile fallen in ca. 1-2 mm dicken Plättchen vom Werkstück ab. Man findet diese also vorwiegend in der Nähe des Ambosses. Selbst wenn der Amboss sich nicht erhalten hat, kann man aufgrund von

den Zunderanteilen seine Position in der Werkstatt bestimmen. Allerdings wird auch der Zunder durch die ganze Werkstatt getragen, was Positionsbestimmungen wiederum erschweren kann8. Schmiedeschlacken sind nicht zu ver-wechseln mit Verhüttungsschlacken, die bei der Metallgewinnung aus Erzen entstehen. Die Unterscheidung dieser beiden Schlackenarten ist für die Interpretation von archäologischen Befunden immens wichtig9. Die Schlacken der Schmiede entstehen in der Esse. Partikel verschiedenster Art – ausge-brannte Kohle, Kohlestaub, Eisenfragmente, Zunder oder Asche – verschmelzen und ver-backen zu einer Art Klumpen. Zusätzlich kann das Einbringen von Sand, der vor allem bei der Feuerverschweißung auf das glü-hende Metall gegeben wird, um eine Art Oberflächenschutz vor Oxidation zu er-reichen, eine Verglasung fördern, die eine Entstehung eines Schlackenkuchens noch begünstigt. Dieser wird regelmäßig vom Schmied aus der Esse entfernt, um für ein frisches und sauberes Kohlefeuer zu sorgen. Diese so genannten Schlackenkalotten, die im wissenschaftlichen Sprachgebrauch als SHBs (Smithy Hearth Bottoms) oder PCBs (Plano Convex Bottoms) bezeichnet werden, bestehen aus einem runden oder ovalen Schlackenstück, das auf der Unterseite kon-vex und auf der Oberseite flach oder leicht konkav ist. Teilweise haften an ihnen noch Sand oder Stücke aus der feuerfesten Um-randung oder des Bodens der Esse. Zer-brechen diese Schlacken, haben sie eine poröse, granuläre oder schichtartige Struktur mit zahllosen Einschlüssen und Hohlräumen. Die Größen, die im archäologischen Befund auftauchen, variieren stark. Im Schnitt haben

8 Vgl. Pleiner 2006, 110-112. 9 Westphalen, 2004, 26.

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sie 10 cm im Durchmesser, obwohl es auch Stücke von 5 oder 20 cm gibt. Die Dicke reicht von 2-4 cm. Das Gewicht beträgt von einigen Gramm bis zu etwa 1 Kilo. Meist treten die Schlacken jedoch in Bruchstücken und Fragmenten auf10. Die Schmiedewerkstätten sind laut Befund in den meisten Fällen erdnahe oder eingetiefte, einfache, aber durchdachte und zweckdienliche Anlagen. Gelegentlich weisen in den Ecken gefundene Pfostenlöcher auf eine einfache Überdachung hin. Beispielhaft sollen hier einige archäologisch untersuchte Schmieden aufgeführt werden. Die Schmiede von Lebedka (Abb. 3) wird in das 8.-10. Jahrhundert n. Chr. datiert. Die achter-förmige Schmiede hat eine ungefähre Fläche von 5 x 4 m. Der westliche Teil ist ca. 3 x 2 m groß und etwa 80 cm in den sandigen Boden eingetieft. In diesem tiefer gelegenen Teil wurde noch mal ein 1,8 auf 1,8 m messender und 80 cm tiefer Bereich geschaffen, der mit Holz be-festigt war und als Standfläche für den Schmied diente. Daraus ergibt sich eine optimale Essenhöhe von 80 cm ausgehend von der Standhöhe des Schmiedes. Der östliche, fächer-förmige Bereich der Schmiede, 1,5 x 2 m groß und über 1 m tief, ist durch eine kleine Mauer abgetrennt und diente wahrscheinlich zur Unterbringung der Blasebälge und deren Betreiber. Überall fanden sich die erwähnten Verarbeitungsreste: Holzkohle, Schlacke und Asche11. Über die aufgehende Konstruktion dieses, einem Grubenhaus ähnelnden Komplexes, ist leider nichts bekannt. Es wird aber in irgendeiner Weise überdacht gewesen sein. Es wird deutlich, wie sehr der Boden den handwerklichen Bedürfnissen angepasst wird: ein tieferer Bereich vor der Esse, in dem der Schmied Platz hat, um zu stehen und zu arbeiten. Wenn man schon nicht Amboss und Esse auf eine ergonomische Höhe bekam, so scheint es, hat man in diesem Fall einfach den Schmied „tiefer gelegt“. Die aufwändige Anpassung des Bodens wie bei der Schmiede von Lebedka wird aber nicht immer betrieben. Entweder der Boden dient als flacher, ebenerdiger Arbeitshorizont oder er ist wie im nachfolgenden Beispiel grubenhausähnlich flächig eingetieft. Die ebenfalls ins Frühmittelalter datierende Schmiede von Kosel12 (Abb. 4), in der Nähe von Rendsburg-Eckenförde, ist ein rechteckiger 60 cm in den Boden eingetiefter Komplex mit einer Fläche von 4,2 auf 3,3 m. In der süd-östlichen Ecke fand sich ein etwa 1 m² großes Konglomerat aus Steinen und verziegeltem Lehm, das als Esse angesprochen werden kann. In der süd-westlichen Ecke lag sich eine weitere, diesmal etwas langgestrecktere Esse mit den Ausmaßen von 1 x 2 m. In der Mitte der Schmiede gab es einen Bereich, der durchsetzt war mit Holzkohleresten und Schmiedeschlacken. Ein großer Stein (A), der in der Nähe dieses Bereiches gefunden wurde, könnte als Ambossstein gedient haben. In diesem Areal dürfte auch der Steckamboss zu verorten sein. Auch eine Vielzahl kleinerer Eisenfragmente konnte aus dem Horizont geborgen werden. 2. Werkzeuge im archäologischen Befund

Hier sollen die primären archäologischen, für die Rekonstruktion einer Schmiede relevanten Funde beleuchtet werden. Dies sind vor allem Hammer und Zange, der Amboss mit Amboss-stock und Teile der Esse mit der zugehörigen Belüftung über Blasebälge. Die Esse ist dem Charakter nach eigentlich ein Befund, soll hier aber trotzdem, auch weil sie mit den Blasebäl-gen eine Einheit bildet, als Schmiedewerkzeug angesehen und diskutiert werden. Um das Fundspektrum und seine Aussage etwas zu erweitern, sollen auch einige Vorläufer der Werkzeuge aus römischer und keltischer Zeit betrachtet werden. Sie sind den Funden des

10 Pleiner 2006, 112. 11 Ebd. 112. 12 Ebd., 170.

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Abb. 5. Schmiedeinventar aus dem Byg-landgrab.

Frühmittelalters sehr ähnlich und helfen, die Rekonstruktion einer Schmiede zu komplettieren. Werkzeuge als Grabbeigaben und aus Horten stellen neben den Funden aus Siedlungen die Hauptquellengruppe dar. Gäbe es die Tradition der Beigabensitte nicht, so wäre das Bild der Metallverarbeitung im Frühmittelalter wesentlich undeutlicher. Andererseits bieten auch diese Quellen nur einen kleinen Einblick in die große Bandbreite der Werkzeuge, die für die Metallverarbeitung eingesetzt wurden. In der römischen Kaiserzeit war die Sitte, Geräte zur Metallbearbeitung als Grabbei-gaben zu verwenden, beidseits des Limes etabliert. Die klassische Kombination von Hammer und Zange wurde vereinzelt auch durch Feilen, Steckambosse oder Punzen ergänzt. Beispielhaft hierfür ist der Fund aus der römischen Villa von Örvenyes (Ungarn)13. Bei den germanischen Schmiedegräbern sind besonders die zahlreichen Grabfunde aus Dänemark, die überwiegend dem 1.-2. Jahrhundert n. Chr. angehören, zu nennen. Die Brandbestattung von Tolstrup (Däne-mark) mit Hammer und Zange ist besonders kennzeichnend14. Als herausragende frühmittelalterliche Fundkomplexe im Bezug auf Grabbeigaben, sind die zwei Schmiedegrabinventare von Skredtveit und Bygland, beide in Norwegen, zu nennen. Das Grab von Skredtveit stellt mit Barren oder Schlageisen aus Eisen, einem Satz verschieden großer Äxte, einem Zangen- und einem Meißelpaar sowie Feile und Nageleisen unzweifelhaft den Gerätebestand eines Grobschmiedes dar. Der größte Teil der mehr als zwanzig Geräte aus dem Grab von Bygland (Abb. 5) weist eben-falls auf Schmiedearbeiten hin, so die Zangen, grobe Setzhämmer, Eisenbarren, Rohei-senstücke und Schlackenklumpen. Die ungewöhnlich große Anzahl von Waffen sowie Serien verschiedener Gegenstände, wie Schlüssel, Schlösser, Sichel, Sense und Raspeln, führen zu der Annahme, dass dem Toten nicht nur seine Werkzeuge, sondern auch dessen Produkte mitgegeben wurden. Da unter den vier Lanzenspitzen drei mit Silber- und Kupfereinlagen verziert sind, war der Mann vermutlich auch mit Tauschierarbeiten vertraut. Blechschere und Feile weisen auf Blecharbeiten hin. Über die Waffen- und Geräteherstellung hinaus muss der Schmied auch als Gießer gearbeitet haben, wurden doch ein Gusslöffel und eine Gussform für kleine Buntmetallbarren angetroffen15.

13

Henning 1991, 69. 14

Ebd., 71. 15 Müller-Wille 1980, 257 f.

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Ein beeindruckender Schmiedehortfund wurde in Staraja Ladoga (Russland) ge-macht. Der Komplex wird ins 8. Jahrhundert n. Chr. datiert und war wohl der Besitz eines Grobschmiedes. Eventuell besteht ein Zu-sammenhang mit dem skandinavischen Ein-fluss in diesem Gebiet. Das Werkzeugarsenal umfasst einen etwa 12 cm großen Amboss mit einem Horn, sieben Zangen mit Längen von 20-40 cm, drei kleinere Hämmer, zwei verbogene Löffelbohrer, eine ca. 30 cm große Blechschere, ein Nageleisen, diverse Loch- und Abschrotgerätschaften sowie jede Menge Kleinteile16. Beschäftigt man sich mit Werkzeugen aus Hortfunden des frühen Mittelalters kommt man an dem Kronzeugen frühmittelalter-lichen Handwerks, dem Werkzeugkasten von Mästermyr auf Gotland, nicht vorbei (Abb. 6). Gerade im Hinblick auf das Schmiede-handwerk spiegelt der Inhalt dieses Kastens

einen Großteil der Utensilien wider, die ein Schmied seinerzeit benötigte. Diese Werkzeuge sollen hier herausgestellt werden. Bratpfannen, Kessel, ein „Grillrost“ sowie Holzwerkzeuge und nicht eindeutig dem Schmied zuordenbarere Gegenstände werden vernachlässigt. Der Kasten besteht aus etwa 2 cm starkem Eichenholz, misst 90 x 24 cm und ist etwa 30 cm hoch. Zusammen mit dem Kasten wurde eine große Zahl verschiedenster Werkzeuge für Metall-, Holz-, Bein- und Hornverarbeitung gefunden. Des Weiteren waren Rohmaterialien, Halbfabrikate, Fertigprodukte und Werkstattabfälle vorhanden17. Die schmiedetechnisch relevanten Objekte sind zum einen die fünf Hämmer, die als Schmie-dehämmer angesprochen werden können. Die Bandbreite besteht, vom größten mit einem Querschnitt 5,2 x 4,4 cm bei einer Länge von 24 cm und 3350 g bis hin zum kleinsten, mit einem Querschnitt von 2,5 x 2 cm bei einer Länge von knapp 15 cm und einem Gewicht von 375 g. Die Form der Hämmer ist im Grunde durchgehend einheitlich, mit einer Bahn auf der einen, und einer Finne auf der anderen Seite. Das Schaftloch befindet sich bei allen in der Mitte. Weiterhin fand sich eine große Flachzange mit einer Länge von 56 cm und einem Gewicht von knapp 2 kg. Eine Zange ist ein sehr universelles Werkzeug, sie kann sowohl große als auch kleine Werkstücke greifen. Der Schmied könnte, wenn es notwendig sein sollte, innerhalb kürzester Zeit eine für seine Zwecke geeignete Zange herstellen. Eine weitere kleine Zange mit geradem Maul und beschädigten Schenkeln, von denen noch ca. 10 cm erhalten sind, könnte aufgrund ihrer geringen Größe auch zum Verarbeiten von Bunt- oder Edelmetallprodukten gedient haben. Eine 46,7 cm große Schere wurde aller Wahrscheinlichkeit nach zur Blechbearbeitung einge-setzt. Hiermit konnten zum Beispiel Kupfer- und Eisenbleche geschnitten werden18. Unter den Schmiedewerkzeugen befindet sich auch eine größere Zahl von Ambossen. Eine beson- 16 Magnusson 1992, 196 f. 17 Thalin-Bergmann 1980, 195. 18 Ebd., 197.

Abb. 6. Werkzeugkasten von Mästermyr.

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dere Gruppe von Schmiedegeräten bilden Nietsatz und Nageleisen19. Im Übrigen wurde eine Bogensäge (Bügelsäge) gefunden. Das schmale Blatt dieser Bogensäge ist in einen eisernen Bogen eingenietet und die Zähne des Sägeblattes sind nach vorne gerichtet20. In Analogie zu modernen Metallbügelsägen fällt auf, dass sich weder die Zahnung des Blattes, noch die grundsätzliche Erscheinungsform geändert hat. Die Feilen, die in Mästermyr gefunden wurden, sind sehr vielseitig. Die Querschnitte reichen von 1,05 x 0,8 cm bei der größten, und von 0,85 x 0,55 cm bei der kleinsten. Die Länge ver-hält sich kongruent dazu: 21,4 cm die Große und 12,5 cm die Kleine. Bemerkenswert ist, dass sie auf mehreren Flächen behauen sind. Die Dichte der Hiebe wechselt von Fläche zu Fläche. Man hat also bei Vierkantfeilen auf den vier Flächen unterschiedliche raue bzw. feine Struk-turen, um Materialen damit zu bearbeiten. Es gibt auch eine Rundfeile mit einem Durchmesser von ca. 0,5 cm und einer Länge von 15,1 cm. Hier sind etwa zwei Drittel des walzenförmigen Körpers behauen. Eine zweckmäßige Ausrüstung zum Gießen und Löten war ebenfalls im Werkzeugkasten enthalten. Ein eiserner Gegenstand von etwa 18 cm Länge, ist wahrscheinlich als Barrenform für Kupfer-, Zinn- und Bleilegierungen zu deuten. Die spitzen Schenkel des Gerätes konnten beim Gießvorgang in Sand oder Kies gesteckt werden21. Die vorgefundene Schmiedeausrüstung reicht völlig aus, um alle Eisenstücke des Fundes, auch die Werkzeuge, herzustellen. Es fehlen jene Geräte wie Teile eines Blasebalges oder ein großer, evtl. steinerner Amboss. Abgesehen von der Schmiedeausrüstung, muss der Werk-zeugkasten, aufgrund der Masse von verschiedenen Werkzeugen, einem sehr vielseitigen Handwerksmeister gehört haben22. Wegen seiner Größe und Stabilität könnte er dem Schmied nicht nur zum Transport der Werkzeuge, sondern auch als Sitzgelegenheit während der Arbeit gedient haben. Neben dem Fundkomplex von Mästermyr, gibt es eine Vielzahl weiterer Werkzeugfunde, die als Grundlage für eine Rekonstruktion einer frühmittelalterlichen Schmiede wichtig sind. 3. Amboss und Substruktion

Der Amboss ist neben der Esse der wichtigste Gegenstand in einer Schmiede, er dient dem Schmied als Arbeitsfläche und bildet das Gegenlager für das zu bearbeitende Werkstück. Schmiedeambosse können in drei Hauptgruppen unterteilt werden, zum einen die recht-eckigen Blockambosse, und zum anderen die Hornambosse, die an einer oder an beiden Seiten einen hornartigen Fortsatz aufweisen. Weiterhin die Steinambosse, sie sind ungleich größer als die eisernen und dienen zum Bearbeiten und Richten von größeren Werkstücken23. 3.1. Blockambosse

Ältere ausgegrabene Blockambosse aus der Hallstatt- und Latènezeit sind mit einer Höhe von etwa 5-15 cm und wenigen Quadratzentimetern Arbeitsfläche von geringer Größe. Das Gewicht dürfte bei 1kg gelegen haben. Der Ambosskörper verjüngt sich konisch nach unten und ist mit diesem Ende in einem Holzklotz befestigt oder schlicht in die Erde gesteckt. Es liegen archäologische Exemplare aus Mähren24 (Býcí Skála) vor. Die dort gefundenen ca.

19 Ebd., 198. 20 Ebd., 198. 21

Ebd., 202 f. 22 Ebd., 215. 23 Gruppierung nach: Pleiner 2006, 93. 24 Pleiner 2006, 94.

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Abb. 7. Frühmittelalterlicher Blockamboss, Pastyrskoye, Russland.

10 cm großen Ambosse haben den schon erwähnten konischen Körper und eine etwa quadratische Arbeitsfläche. Römische Blockambosse sind etwas größer und schwerer als ihre vorgeschichtlichen Vorläufer und weisen zusätzlich noch Spezi-alisierungen auf. So besitzen die ca. 20 cm großen Ambosse aus Jouars-Pontchartrain (Frankreich) mitunter Bohrungen, die entwe-der zum Einsetzen von Gesenken dienen oder im Zusammenhang mit der Nagelproduktion zu sehen sind25. Die frühmittelalterlichen Blockambosse äh-neln ihren Vorgängern, jedoch sind sie etwas größer und schwerer. Eine Länge von knapp 30 cm ist hier das gängigste Maß. Auch sie weisen wieder die traditionelle konische bzw. pyramidenartige Form mit nahezu quadratischer Arbeitsfläche auf26. Hier sind

die Funde aus Skogar27 (Island) und Pastyrskoye28 (Russland) zu nennen (Abb. 7). 3.2. Hornambosse

Hornambosse existieren zeitgleich mit den Blockambossen. Sie erweitern die Möglichkeiten der damaligen Schmiede sehr. Die behornten Ambosse erleichtern beispielsweise Arbeits-techniken wie das Einrollen, Rundschmieden und Biegen von eisernen Werkstücken. Horn-ambosse unterteilt man ihrerseits wiederum in zwei Gruppen: Die einfach und die zweifach behornten Ambosse. Die L-förmigen Einhornambosse sind bereits aus dem Oppidum von Manching29 bekannt. Die Hörner dieser gut 10 cm großen Ambosse sind leicht nach oben gebogen, der Ambosskörper ist gerade. Die römischen Nachfolger sind in der Form ähnlich; jedoch bei dem knapp 25 cm langen Beispiel vom Magdalensberg30 (Österreich) sind die Hörner etwas kleiner. Ein Fund des 6.-7. Jahrhunderts n. Chr. aus Mezöband31 (Rumänien) zeigt, dass sich die For-men über die Jahrhunderte nicht stark verändern: Auf einem konisch-pyramenförmigen Ambosskörper, ähnlich den Blockambossen, sitzt einseitig ein nach unten gebogenes Horn. Ambosse mit zwei Hörnern, also T-förmige Exemplare, sind ab frührömischer Zeit belegt32. Dies gilt etwa für das schon erwähnte Stück vom Magdalensberg; die Hörner befinden sich entgegengesetzt zueinander, rechts und links der Ambossbahn. Das Besondere in diesem Fall ist, dass ein Horn einen rechteckigen Querschnitt aufweist, das andere einen runden. Man kann also Werkstücke winklig abbiegen und ebenso runde Biege-

25 Ebd., 94. 26 Ebd., 94. 27 Ebd., 94. 28 Ebd., 94. 29 Ebd., 98. 30 Ebd., 98. 31 Ebd., 98. 32 Ebd., 98.

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Abb. 8. Schmiede in Indonesien.

Abb. 9. Schmiede in Indien.

arbeiten durchführen. Auch die doppelhornigen Ambosse sind konisch spitz zulaufend gefer-tigt, sodass sie in einem Holzklotz befestig werden konnten. Aus dem frühen Mittelalter ist ein Amboss aus Sadovec33 (Bulgarien) überliefert. Das 24 cm große Exemplar hat zwei eher verkümmerte Hörner, besticht aber durch seine Masse. Auch bei diesem Beispiel ermöglicht der spitz zulaufende Ambosskörper ein festes Verankern in einem Ambossstock. Die Größe spielt angesichts der leichten, in Holzblöcke ein-setzbaren eisernen Steck-ambosse eine wichtige Rolle. Die zierlichen Formen könnten vermuten lassen, dass es bei diesen Werkzeugen nicht nur um die eines Eisenschmiedes geht, sondern auch um Spezi-alwerkzeuge für die Bunt- und Edelmetallverarbeitung. Dabei ist aber festzuhalten, dass das eine das andere nicht aus-schließt. Funde und Bildquellen gene-rieren also ein Bild von kleinen bis mittelgroßen, flexibel transportablen Steckambossen, die in Holzblöcken fixiert wer-den können. Große Schmiedeambosse aus heutiger Zeit, oft mit einem Gewicht zwischen 180 und 300 kg, sind in keinem bekannten mittelalterlichen oder frühneu-zeitlichen Fundkomplex nach-zuweisen. Sie werden wie im schon erwähnten Befund von Kosel oft durch große Steine meist aus Granit ersetzt. Dass die heutzutage gängigen großen Ambossmodelle nicht nötig sind, zeigt ein Blick in andere handwerkliche Kul-turen. In großen Teilen des Orients, Afrikas, Asiens oder Indiens sind archaische Am-bossformen wie aus keltischer oder römischer Zeit bzw. aus dem frühen Mittelalter bis in

33 Ebd., 98.

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die Gegenwart im Einsatz. Der Blockamboss eines indonesischen Schmiedes (Abb. 8) könnte auch in einer römischen oder frühmittelalterlichen Schmiede gestanden haben. Auch der Schmied im indischen Udaipur (Abb. 9) arbeitet hockend an einem Blockamboss, der in einem hölzernen Ambossstock befestigt ist. 4. Esse und Blasebalg

Um Eisen formen bzw. schmieden zu können, muss es erhitzt werden, ein einfaches Feuer genügt hierzu nicht. Man benötigt Temperaturen von bis zu 1200 °C34, die nur mit einer künstlichen Luftzufuhr, also mit Blasebälgen verschiedenster Art, erreicht werden können. Auch Holz als Brennstoff35 reicht nicht aus. Temperaturen dieser Größenordnung können leichter und effizienter mit Holzkohle erreicht werden. Im archäologischen Befund erkennt man die ofenähnlichen Feuerstellen üblicherweise auf-grund folgender Indizien: rot verziegelte, möglicherweise eingegrabene, ab und an mit Steinen umsäumte Bereiche, die mit Holzkohleresten, Asche, Schmiedezunder und Schmiede-schlacke durchsetzt sind. Das Vorhandensein von Rückständen aus der Metallverarbeitung ist für die Identifikation als Schmiedeesse sehr wichtig. Leider ist aufgrund des Erhaltungs-zustandes häufig nicht mehr zu entscheiden, ob es sich um überwölbte ofenähnliche Strukturen handelt, oder um offene Feuerstellen. Ethnologische Beispiele aus Afrika36 zeigen, dass beides möglich ist. In den eingangs dargestellten Befunden von Lebedka und Kosel sowie in vielen weiteren Schmieden befinden sich die Essen genau wie die Ambosse in Bodennähe37. Es ist also wahr-scheinlich, dass der Schmied tatsächlich gesessen, gekniet oder gehockt hat. Es lassen sich trotz der meist schlechten Erhaltung im Boden einige wenige Typunterschei-dungen durchführen. Auch hier ist ein Blick in römische bzw. keltische Zeit hilfreich, um das Aussehen gefundener Rudimente ähnlicher Essen zu rekonstruieren. Unterschiede nach Größe, Form, Inhalt und Konstruktion ergeben folgende durchaus auch gleichzeitig exis-tierende Typen: 4.1. Der langgestreckte Essentyp

Die ältesten Befunde in diesem Zusammenhang datieren an den Anfang des ersten vorchrist-lichen Jahrtausends, so der viel diskutierte Befund vom Tell Jemme38 (Palästina) und die dortigen vier Essen. Diese werden in Verbindung mit Metallarbeiten angesprochen, da Metallfragmente, Holzkohle und Zunder in den Lauf- und Arbeitshorizonten gefunden wurden. Die Größen bewegen sich zwischen 80-120 cm Länge und 40-60 cm Breite. Im ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr. entsteht in Lattes39 (Frankreich) ein metallverarbei-tender „Betrieb“. Es wurde laut Fundmaterial Bronze und Eisen verarbeitet. Die größte von vier gefundenen Essen ist ein Vertreter des langgestreckten Typs, sie besitzt die Maße 72 x 18 cm und ist 16 cm eingetieft. Auch diese Esse ist gefüllt mit Holzkohle, Asche und metallenen Überbleibseln.

34 Fischer 2011, 128. 35 „Die thermische Zersetzung von Holz setzt bei Temperaturen über 105 °C ein, wird ab 200 °C stark beschleu-nigt und erreicht ihren Höhepunkt bei 275 °C. (…) Der Flammpunkt des Holzes liegt zwischen 200 und 275 °C.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Holz#Thermische_Eigenschaften. 36 Vgl. Abb. 10 und 11. 37 Pleiner 2006, 169-174 38 Kröll 1996, 30. 39 Pleiner 2006, 130.

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Auch im Römischen Reich kamen die langgestreckten Essentypen vor. Im Kerngebiet, aber auch in den Provinzen, wurden Essen dieser Machart, teils mit riesigen Ausmaßen, betrieben. Die zum Erhitzen von langen Eisenbarren bestens geeigneten großen Essen dieses Typs wur-den in Bordeaux40 (Frankreich) ausgegraben. Über 40 Essen wurden auf einem Areal von 20 x 75 m gefunden. Die Längen reichten hier von 80 cm bis zu 4,5 m, die Breiten von 15 bis 24 cm. Eingetieft waren sie von 12 bis zu 25 cm. Die extreme Länge könnte im Zusammenhang mit der Herstellung von eisernen Reifenbewehrungen stehen. Bei diesen Längen dürfte es aber ein Problem mit der Belüftung gegeben haben. Denkbar sind hier mehrere an den Längs-seiten verteilte Blasebälge. Der ähnliche Fund von Bram41 (Frankreich), seinerseits knapp 1,9 m lang und 25 cm breit, hat sich als rot verziegelte, 25 cm tiefe, längliche Wanne erhalten. Aus dem frühen Mittelalter kennt man bis jetzt keinen eindeutig als langgestreckte Esse iden-tifizierbaren Befund. Hier sind eher die runden bis ovalen Typen vertreten. 4.2. Runde und ovale Essentypen

Frühe ergrabene Essen dieses Typs werden den Griechen zugeschrieben und datieren auf das 8. Jahrhundert v. Chr. So wurde auf der Mittelmeerinsel Ischia42 (Italien) ein entsprechendes, 80 cm durchmessendes Exemplar gefunden. Auf dem Magdalensberg43 (Österreich) wurden zwei Essenstellen des ausgehenden 1. Jahr-hunderts v. Chr. Gefunden, die eine knapp 1 m und die andere fast 1,8 m durchmessend. Sie waren gefüllt mit Holzkohle, Schlacke und Metallfragmenten. Während der Grabung bei der römischen Wegestation in der Nähe von Kriftel44 (Hessen) wurde eine Schmiedeesse zwischen zwei gemauerten Häusern gefunden. Sie hatte etwa einen Durchmesser von 80 cm und war mit einem kleinen Lehmwall umgeben. Der Vorbereich war mit Kieseln ausgelegt und als Verschluss für die Esse diente ein großer Stein. Die typischen metallverarbeitenden Relikte waren vorhanden. Eine weitere Esse der Römerzeit wurde in El Vilarenc45 (Spanien) ausgegraben. Sie hatte einen Durchmesser von etwa 1,4 m, wobei das Umfeld ebenfalls gepflastert war. Die eigent-liche Esse bestand aus einer steinernen Ringsetzung mit einem Boden aus großen, flachen Steinen. Beachtliche Mengen von Asche, Holzkohle und Schlacke zeugen auch hier von intensiver Metallverarbeitung. Diese Essentypen spielen eine wichtige Rolle im frühmittelalterlichen Schmiedehandwerk. Aufgrund ihrer eher abgeschlossenen Form und überschaubaren Größe kann sich die Hitze im Innern konzentrieren und es stellt sich eine kontrollierbare Atmosphäre ein. Dies wirkt sich auch vorteilig auf den Brennstoffverbrauch aus. Derartige Formen sind in vielen verschiedenen Größen bekannt, die Durchmesser reichen hier von 30 cm bis 1,5 m. Die meist in den Werkstattboden eingelassenen Essen können eine Tiefe von bis zu 40 cm erreichen. Auch sie sind gelegentlich mit Steinen umrandet oder haben kleine Wälle aus Lehm als Abgrenzung46. Beispielhaft zu nennen ist die schon erwähnte Schmiede von Lebedka47 (Russland) (Abb. 3). Hier gab es eine Esse, an der der Schmied im Stehen arbeiten konnte. Es wurde ein erhöhter

40 Ebd., 125. 41 Ebd., 130. 42 Ebd., 126. 43 Ebd., 126. 44 Ebd., 126. 45 Ebd., 130. 46 Ebd., 130. 47 Ebd., 126.

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Abb. 10. Esse, Ghana.

Abb. 11. Blasebalg, Ghana.

Essenkörper aus gestampftem Lehm errichtet, der in etwa die Größe von 1,8 m auf 1,1 m hatte. Im Zentrum dieser Erhöhung war eine 70 cm durchmessende Esse aus rot verziegeltem Ton, tönernen Wänden und flachen Bodensteinen aufgebaut. Auf einer Seite wurde eine 60 cm hohe Lehmwand vorgefunden, die in Zusammenhang mit dem Feuerschutz für die Blase-bälge interpretiert wird. Leider sind keine Aussagen über die Windformen zu treffen, da keine im Befund sichergestellt wurden. Zum Schmiedebefund von Trondheim48 (Norwe-gen) gehört eine isolierte ovale Esse mit den Maßen 50 x 70 cm und einer Tiefe 30 cm. Sie war mit Steinen gepflastert und von einem Lehmwall umgeben. Reste eines tönernen Hitzeschildes konnten auf einer Seite ausge-macht werden. 4.3. Quadratische und rechteckige Essen

Dieser Typ hat sowohl keltische als auch römische Vorgänger. Erwähnenswert in die-sem Zusammenhang ist die Schmiede des dritten Jahrhunderts n. Chr. von Gissey49 (Frankreich). Die Rückseite dieser 60 x 80 cm großen rechteckigen Esse bildet die steinerne Werkstattwand und auch die Vorderseite be-steht aus gemauerten Steinplatten. Der Boden dieser „Steinkiste“ war übersät mit Holzkohle, Asche und Zunder. Die archäologisch untersuchten Essen sind im Befund meist nur noch rudimentär, was Bestandteile wie Begrenzungswälle oder kleine Mäuerchen betrifft, vorhanden. Auch in diesem Zusammenhang lohnt ein Blick in die Ethnologie. Die Schmiede der „Bulsa“ aus Nordghana verwenden noch heute archaische Werkzeuge, so auch eine sich am Boden be-findende Lehmesse. Die rudimentären Befunde in den frühmittelalterlichen Schmie-den von Kosel und Lebedka könnten einen ähnlichen Aufbau gehabt haben (Abb. 10). 4.4. Blasebälge

Im archäologischen Kontext ist organisches Material aus Leder oder Holz meist vergan-gen, aber es finden sich immer wieder unter-schiedliche Windformen (bzw. Essensteine oder Düsenziegel)50. Es ist aufgrund der 48 Ebd., 126. 49 Ebd., 129. 50 Müller-Wille 1977, 161.

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Abb. 12. Byzantinisches Relief.

Erhaltungsbedingungen also schwierig, die ursprüngliche Form und Funktion eines frühmit-telalterlichen Blasebalges zu skizzieren. Jedoch sind ähnliche Blasebälge noch in archaisch anmutenden Kulturen Afrikas, Asiens oder des Orients zu beobachten51. Die „Bulsa-Schmiede“ aus Nordghana benutzen zur Erzeugung eines stetigen Luftstroms zwei mit Leder bespannte Tongefäße (Abb. 11). Das weich gegerbte Leder wird rechteckig zugeschnitten und zu einem flachen Kegel zusammengelegt, so dass an der Verbindungsstelle ein offener Spalt entsteht. Diese an eine Membran erinnernde Konstruktion lässt beim Aus-einanderziehen die Luft in den Ledersack einströmen und beim anschließenden Zusammen-drücken presst sie die Luft wieder aus. Durch den entstehenden Luftdruck im Inneren ver-schließt sich der Spalt und die Luft strömt nur durch die angeschlossenen Düsen. Zwei paral-lele Tonschalen mit den genannten Blasebalgaufbauten sorgen – abwechselnd bedient – für einen stetigen Luftstrom52.

Zeitgenössische Darstellungen helfen beim Verständnis der Funktion von Blasebälgen des Mittelalters, so zum Beispiel das schon erwähnte byzantinische Relief aus dem 10./11. Jahrhundert (Abb. 12). Derartige Ledersäcke als Blasebälge zu nutzen, ist wohl die einfachste und günstigste Methode53. Ähnlich könnte auch ein früh-mittelalterlicher Blasebalg in Mitteleuropa funktioniert haben. Auf dem bereits ange-sprochenen hochmittelalterlichen Türrelief aus Hyllestad in Schweden (Abb. 2) sind zwei Lederblasebälge mit Deckel und Boden aus Holz zu erkennen. Es ist denkbar, dass auch schon einige Jahrhunderte früher solche Konstruktionen bekannt waren und genutzt wurden. Die trichterförmige Düsenöffnung des Mundstücks, die die Verbindung zwi-schen Blasebalg und Esse herstellt, wird meist als einziger Rest des Balges geborgen. Es sind Stücke aus Ton bekannt und Düsen-ziegel, die aus Speckstein bestehen54. Im Zusammenhang mit frühmittelalterlichen Blasebälgen erscheinen im archäologischen Befund noch weitere Einrichtungen. Es sind dies etwa Vorrichtungen, die den Blasebalg, der vornehmlich aus brennbarem Material besteht, vor Hitze und Feuer, insbesondere Funkenflug, schützen sollten. Dies sind im Regelfall kleine Hitzeschilde aus Lehm oder Stein. Auch große Steine, die ein Loch für

51 Kröger 1992, 14. 52 Ebd., 13. 53 Hägermann 1991, 419-439. 54 Müller-Wille 1977, 161.

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Abb. 13. Frühmittelalterlicher Mündungs- stein, Vik, Norwegen.

die Düse des Blasebalges besitzen, sind keine Seltenheit55 (Abb. 13). Beispielhaft sei hier auf die rekonstruierten Fragmente der Hitzeschilde aus Haithabu und Ribe (Dänemark) verwiesen56. 5. Arbeitsweise

Die kleinen entweder direkt im Boden oder in einem niedrigen Holzklotz befestigten Steckambosse sind wohl neben der sich auf der Erde befindlichen Esse der Hauptgrund für die niedrige Arbeitsposition. Es stellt sich nun die Frage, warum das Werkzeug nicht auf eine angenehme Standhöhe gebracht wurde, um ein ergonomischeres und effizienteres Arbeiten zu ermöglichen? Aus handwerklicher Erfahrung bedeutet jede Verlängerung eine Destabilisierung des Ambossstocks. Da der frühmittelalterliche Amboss nicht genug Masse hat, um einen höheren Ambossstock zu beruhigen, wären Wackeln und ungünstige Schwingungen die Folge. Diese Down-To-Earth-Strategie bringt also die nötige Stabilität, um Werkstück und Schmied als Gegenlager zu dienen. Der flexible Charakter der Werkstatteinrichtung dürfte wohl ein weiterer Grund sein, warum die Schmiede keinen großen und somit schweren Holzambossstock besitzen. Wie das eingangs erwähnte Türrelief aus Schweden zeigt, wurden die Arbeiten zu zweit in gegenüberliegender Position ausgeführt. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Die Nutzung eines frühmittelalterlichen Ambosses kann man sich entsprechend diesen Bildern vorstellen. Der Zusammenhang von zeitgenössischen Abbildungen, Zeugnissen heutiger Kulturen und archäologischen Funden bzw. Befunden hilft also, handwerkliche Tätigkeiten und somit Lebenswelten zu rekonstruieren. Die Parallelen zwischen den Darstellungen unterschied-lichster Kulturkreise (Indien, Byzanz, Nordeuropa) und bis heute genutzten Werkstätten in Ghana, Indonesien oder Indien sind erstaunlich. Man könnte also von einem globalen Fall von Form Follows Function sprechen. Leider ist man bei der Rekonstruktion von Blasebälgen auf diese sekundären Quellen angewiesen, da sich die organischen Stoffe meist nicht im Befund erhalten haben. Hier helfen technisch-handwerkliches Verständnis und die Analyse der zuvor erwähnten, noch betriebenen Werkstätten weiter. Was kann man nun aus handwerklicher Sicht im Hinblick auf eine Rekonstruktion aus den Darstellungen herauslesen? Die Schmiede jener Zeit arbeiten auf nahezu allen Abbildungen im Sitzen oder kniend. Sofern sie nicht auf dem Boden saßen, muss es eventuell eine Art handwerklich genutztes Sitzmöbel gegeben haben. Einfache Schemel oder Truhen sind hier am wahrscheinlichsten. Amboss und Esse müssen beide vom selben Stand- bzw. Sitzpunkt aus erreichbar und Arbeitsabläufe auf die hockende Position zugeschnitten gewesen sein – Werkzeug und Werkstück konnten daher gewisse Dimensionen nicht überschreiten. Die archäologischen Funde aus frühmittelalterlichen Kontexten können aber bei Detailfragen helfen und diese weitestgehend klären. So zum Beispiel die Verbindung zwischen Blasebalg, eventueller Rohrleitung und Esse. Die Mündungssteine, die als eine Art Hitzeschild dienen, geben hierüber Auskunft (Abb. 13).

55 Ebd., 161. 56 Ebd., 159.

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Abb. 14. Zeichnerische Rekonstruktion. 6. Zusammenfassung

Eine Rekonstruktion einer frühmittelalterlichen Schmiede könnte aufgrund der voran gegan-gen Aspekte und der verschiedenen Herangehensweisen folgendermaßen ausgesehen haben: Die Werkstatt an sich dürfte entweder im Freien oder in einem wegen der Rauchentwicklung, an den Seiten offenem Unterstand gelegen haben. Einfache Bauten mit eingegrabenen Pfosten bzw. Ständern und einer Sattel- oder Pultdachkonstruktion, ähnlich einem Grubenhaus, sind wohl am wahrscheinlichsten. Da die Tätigkeiten meist kniend, hockend oder sitzend in Bodennähe ausgeführt wurden, mussten die Bauten nicht besonders hoch sein. Die Arbeitsposition ergibt sich auch aus der Größe bzw. der Höhe der Werkzeuge und kann aufgrund der erwähnten, heute noch existierenden Handwerkstraditionen in nicht hochtechnisierten Gebieten Asiens, Afrikas oder des Orients, als wahrscheinlich gelten. Aus handwerklicher Sicht lassen sich die archäologisch und ethnologisch erforschten Werkzeuge auch gar nicht anders bedienen. Ergonomie und Effizienz verlangen im Bezug auf diese Werkzeuge oben genannte Arbeitspositionen. Die Ausstattung der Werkstatt bestand wohl aus einem oder mehreren Steckambossen in den genannten Ausführungen, die in einem bodennahen Holzklotz fixiert wurden. Ein sich in der Nähe der Ambossstation befindlicher großer Stein diente als großer Amboss zum Schmieden oder Richten von größeren Werkstücken. Unweit des Ambossareals, in unmittelbarer Reichweite des Schmiedes, dürfte sich die lehm-umwehrte, überwölbte oder durch Steine begrenzte Esse befunden haben. Manchmal ist sie nicht mehr als eine Feuerstelle mit Blasebalg. Zur Abgrenzung und zum Schutz der ledernen

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Blasebälge brauchte es verschiedene Hitzeschilde aus Lehm oder Stein. Oft konnte auch nur ein einzelner Düsenziegel oder Mündungsstein die Grenze zwischen Feuer und Luftzufuhr bilden. Diese durchbohrten Steine lagen direkt am Feuer und waren über eine Rohrleitung mit den Blasebälgen verbunden. Ein weiterer Aspekt ist der mobile Charakter der einzelnen Werkzeuge. Aufgrund ihrer Größe konnten Ambosse, Blasebälge und Mündungsstein leicht abgebaut und transportiert werden. An einer anderen Stelle konnte relativ schnell eine Feuerstelle angelegt, Mündungsstein und Blasebalg positioniert und die Ambosse in einen Holzklotz oder Baumstamm fixiert werden. Auch das Mitnehmen des Ambossklotzes dürfte kein Problem dargestellt haben. Schmiedewerkzeuge wie Hämmer, Zangen, Feilen, Nageleisen, Schürhaken, Schöpflöffel oder Sägen, konnten ohnehin leicht transportiert werden57. Unverzichtbare Werkzeuge und Ausstattungsgegenstände, die neben den genannten Objekten, höchstwahrscheinlich noch zur Schmiede gehört haben, sind Kisten oder Truhen zur Aufbe-wahrung und zum Transport des Schmiedewerkzeugs, die möglicherweise gleichzeitig als Sitzmöbel dienten. Denkbar wären auch einfach gezimmerte Hocker oder Schemel58. Weiterhin dürfte es einen Korb oder Sack gegeben haben, in der die Holzkohle gelagert wurde und einen Eimer59 mit Wasser, um Schmiedeobjekte abzukühlen oder zu härten. Eine mögliche Rekonstruktion einer frühmittelalterlichen Schmiede zeigt Abbildung 1460. Literatur

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57 Vgl. Werkzeugkasten von Mästermyr. 58 Vgl. Wolf 1997: Schemel aus Oberflacht, 381. 59 Vgl. Ebd., 384. 60 Die Kleidung der dargestellten Personen lehnt sich an die Rekonstruktionen der männlichen Tracht der alemannisch-frän-kischen Zeit an. Vgl. hierzu: Martin 1997, 356.

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Abb. 1: Hägermann 1991, 431, Fig. 199; Abb. 2: Santon 2008, 72, Fig. 1; Abb. 3: Pleiner 2006, 170, Fig. 61.2; Abb. 4: Pleiner 2006, 170, Fig. 61.1; Abb. 5: Roesdahl 1992, 251, Katalog Fig. 94; Abb. 6: Roesdahl 1992, 251, Fig. 94; Abb. 7: Pleiner 2006, 94, Fig. 42.10; Abb. 8: Sachse 1989, 113, Fig. 190; Abb. 9; Sachse 1989, 93, Fig. 149; Abb. 10: Kröger 1992, 109, Fig. 1; Abb. 11. Kröger 1992, 14, Fig. 1; Abb. 12. Hägermann 1991, 431, Fig. 199; Abb. 13. Müller-Wille 1977, 161, Fig. 134; Abb. 14. G. Gransche (wissenschaftliche Ausarbeitung) und S. Seitz (zeichnerische Umsetzung) 2012.

Gunnar Gransche M.A. Amalienstr.26 96047 Bamberg [email protected]

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Alltagskleid und Alltagstrott – Textilien als Schlüssel zur Rekonstruktion von Lebenswelten

Daily Dress and Daily Routine – Textiles as a Key to the Reconstruction of Living

Environments

Katrin Kania

Abstract

Textile works are a topic both interesting and complicated – only few archaeological finds of textiles and textile tools can serve as the basis for studies. However, this area of research can serve as a basis for looking into many different aspects of medieval daily life and medieval crafts. Textile work is today seen as mostly or sometimes even exclusively female, a concept largely based on and due to the worldview of the 18th and 19th centuries. Actual evidence points to male employment in the textile crafts throughout the Middle Ages, even though females are shown and associated with textile works more often. A second question regarding the textile crafts is about the scale of textile works. The high importance of textiles for the medieval trade and markets is a strong indication that self-sufficient households in terms of textile production were the exception and not the rule. Textile production thus seems to have been largely done by skilled and professional or at least semi-professional workers. Studies of textile production thus are closely linked to studies of medieval economy, gender studies and studies of crafts processes. But since textiles were a status item in medieval society, they can also be employed to learn about conspicuous consumption and representation in daily life. Due to the few sources regarding both crafts process and actual textiles, studies in textile archaeology are often demanding, and the many special textile terms require some work before entering the field. But since textiles and textile work permeated so many aspects daily life, they are an invaluable source for studies regarding life of both the rich and the poor.

Textilien sind überall – sie begleiten uns von der Wiege bis zur Bahre. Daran hat sich seit dem Mittelalter nichts geändert; wohl aber an dem Stellenwert, den die Textilherstellung und die Beschäftigung mit diesem Alltagsbestandteil in unserem täglichen Leben einnehmen. Auch heute sind Stoffe, Garne, Bänder und deren Nutzung eng mit unserem Alltag verwoben, und wir sind uns meist gar nicht bewusst darüber, wie viel Stoff uns umgibt. Mit der Herstel-lung und der Verarbeitung von Textilien beschäftigen sich in Deutschland aber heute nur re-lativ wenige Menschen. Dass Textilien heute wie damals ein Teil des Alltags Aller sind und sich im Besitz jedes Men-schen unserer Kultur befinden, macht sie bestens geeignet zu einem Brückenschlag in den Alltag des Mittelalters. Kleidung und Textil sind und waren ein wichtiges Kulturgut. Dass sie auch in der Vergangenheit notwendig und wichtig waren, ist jedem modernen Menschen leicht ersichtlich. Aber nicht nur für Geschichtsvermittlung und Geschichtsdarstellung sind sie ein bestens geeignetes Thema: sie bieten zusätzlich einen wunderbaren Zugang zur Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten. Die Verwendungsmöglichkeiten und Einsätze von Textilien im mittelalterlichen Alltag waren Legion. Sie finden sich in den verschiedensten Lebens- und Funktionsbereichen: als Windeln, Handtücher, Kissen, Kleidung, Säcke, Verpackungsmaterial, Nähgarn, Putzlappen, Bettzeug, Raumschmuck, Sattelzeug, Rüstungsbestandteil, Verbände oder Isoliermaterial. Textilfunde lassen daher nicht nur Informationen auf das Textilhandwerk selbst zu, sondern können auch Einblicke in die Arbeit anderer Gewerke ermöglichen. Beispielsweise zeigt die Verwendung

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von Geweberesten als Kalfatermaterial oder als behelfsmäßiger Pinsel, wie über die Funde aus dem Hafen von Haithabu belegt1, einen Aspekt der Arbeitsweise von Schiffsbauern. Über die handwerklichen Bereiche hinaus kann Textil auch einen Beitrag zu den Disziplinen der Wirtschafts- und Handelsgeschichte öffnen. Textilien waren ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaft, wovon verschiedenste Quellen wie Zollbestimmungen und Handelslisten zeugen. Ab dem 11. Jahrhundert war die Textilindustrie einer der drei führenden Sektoren der Wirt-schaft, und Textil war neben Nahrungsmitteln und Gewürzen eines der drei Hauptgüter für internationalen Handel2. Hochwertige Gewebe wurden für wesentlich höhere Preise verhan-delt als einfache Gewebe und zeigten dementsprechenden Reichtum und Status ihrer Besitzer. Der Versuch, dieses öffentliche Zurschaustellen der eigenen finanziellen Möglichkeiten im späten Mittelalter einzugrenzen, ist durch die zahlreichen Kleiderordnungen3 bestens dokumentiert. Leider sind archäologisch kaum Textilien erhalten geblieben. Die besonderen Erhaltungsbe-dingungen, die dafür notwendig sind, liegen nur selten vor. Geräte zur Herstellung von Textil waren häufig aus Holz und damit ebenfalls seltene Funde, mit Ausnahme einiger spezieller Werkzeugtypen wie Webgewichte oder Spinnwirtel als relativ häufigem Fundgut. Wie bei allen anderen Handwerkstechniken lassen sich die Vorgänge der mittelalterlichen Textilherstellung grundsätzlich zumindest grob nachvollziehen oder rekonstruieren. Dabei gilt jedoch, wie auch bei allen anderen Handwerkstechniken, dass es niemals die eine einzig verwendete Technik oder den einen, einzig verwendeten Ablauf gab. Regionale Besonder-heiten, Einflüsse durch die lehrenden Personen und persönliche Abneigungen oder Vorlieben führen bei handwerklichen Arbeiten dazu, dass gleiche Ergebnisse mit variierenden Mitteln oder Prozessen erreicht wurden. Gerade aus dem textilen Bereich gibt es zahlreiche Beispiele für dieses Phänomen. So kann ein und dasselbe geflochtene Band beispielsweise durch Flechten mit einzelnen Fäden oder durch eine Schlaufenflechttechnik hergestellt werden. Dem fertigen Stück ist, fehlerfreies Flechten vorausgesetzt, die Herstellungsweise nicht mehr anzusehen. Ebenso können Gewebe auf unterschiedlichen Webstuhltypen hergestellt werden, ohne dass dem Gewebe hinterher die Herstellungsweise mit Sicherheit angesehen werden kann. Die Verwendung derart unterschiedlicher Techniken bedeutet auch wesentlich unterschied-liche Arbeitsabläufe und möglicherweise stark abweichenden Zeitbedarf für die Herstellung eines fertigen Stückes in den entsprechenden Werkstätten. Aber auch kleinere Unterschiede zwischen den üblichen Vorgehensweisen in einzelnen Betrieben oder Lehr“stammbäumen“ müssen den mittelalterlichen Handwerkern durchaus bewusst gewesen sein. Davon zeugen Lehrverträge auch für erwachsene Menschen – Gesellen und anerkannte Meister – die eine Zusatzlehre antraten, sowie die ab dem 13. Jahrhundert praktizierte Gesellenwanderung4. Grundlagen der Textilherstellung

Ungeachtet der vielen Unterschiede im Detail der Herstellungsprozesse haben sich die not-wendigen grundlegenden Vorgänge für die Fertigung von gewebten Textilien bis heute nicht verändert. Dabei ist der erste Schritt die Fasererzeugung, die durch Anbau der entsprechenden Pflanzen wie Hanf, Flachs oder Nessel beziehungsweise die Haltung von Schafen erfolgt. Nicht heimische Fasern wie Seide oder Baumwolle wurden importiert. Durch

1 Hägg 1984, 15-17. 2 Cipolla 1993, 188. 3 U.a. Baur 1975; Reich 2005; Zander-Seidel 1993. 4 Schulz 2010, 52-54.

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Abb. 1. Spinnwinkelmessung mit Bildbearbei-tungssoftware. Spinnwinkel von etwa 20° bei einem typischen Faden eines modernen Handspinners.

Ernte und Aufbereitung der Pflanzenfasern, respektive das Scheren und Aufbereiten der Wolle, werden spinnfähige Halbfertigpro-dukte erhalten. Art und Intensität der Aufbe-reitung hängen dabei unter anderem von den Fasern und der gewünschten Garnqualität ab. Für Wolle lassen sich im Mittelalter die Verwendung von langzinkigen Wollkäm-men sowie ab spätestens Ende des 13. Jahr-hunderts auch die Verwendung von Karden nachweisen5. Im nächsten Schritt werden die Fasern zu Garn versponnen. Dabei werden die einzel-nen Fasern zu einem Faserband möglichst gleichmäßiger Dicke verstreckt und durch Drehung zu einem haltbaren Faden verbun-den. Die Drehung presst die einzelnen Fasern aufeinander, so dass durch ihre Ober-flächenstrukturen Reibung entsteht. Je dün-ner, kürzer und glatter die einzelnen Fasern dabei sind, desto mehr Drehung muss der Faden haben, um stabil zu werden. Mittel-alterliche Garne zeigen typischerweise eine starke Drehung, die über den so genannten Spinnwinkel gemessen werden kann (Abb. 1). Der Spinnwinkel wird leider nicht bei allen Veröffentlichungen von Textilfunden angegeben; eine ausführliche Liste aller gemessenen Spinnwinkel findet sich in der Publikation der Funde von Herjolfsnes. Die bei diesen Funden gemessenen Spinnwinkel liegen meist im Bereich von 40-50° für Kettfäden und 30-40° für Schussfäden, niedrigere oder höhere Winkel finden sich nur in Ausnahmefäl-len6. Moderne Spinner stellen meist Fäden mit wesentlich geringeren Spinnwinkeln, also weit weniger stark gedrehte Fäden, her. Für die Herstellung von Geweben werden die Garne dann – möglicherweise gefärbt oder gebleicht – als Kette auf einen Webstuhl aufgezogen oder als Schussfaden verwebt. Das Gewebe kann schließlich noch verschiedensten Veredelungsprozessen wie beispielsweise dem Walken, Rauen oder Scheren unterzogen oder im Stück gefärbt werden. Heute finden diese Herstellungsprozesse fast ausschließlich mit industriellen Methoden statt, und Stoffe können fertig veredelt als Meterware oder bereits als Konfektionskleidung zuge-schnitten und genäht erstanden werden. Die meisten Menschen in unserem Kulturkreis haben daher heute kaum mehr Wissen über die Vorgänge von der Faser bis zum fertigen Kleidungs-stück, das im Laden auf der Stange hängt, oder gar über die entsprechenden Prozesse bei handwerklicher Textilproduktion. Diese große Distanz zum textilen Handwerk, wie es im Mittelalter und der Vorgeschichte ausgeführt wurde, erschwert das Verstehen der Arbeitsabläufe für heutige Archäologen und Historiker gleichermaßen. Für eine sinnvolle Interpretation der Quellen in Bezug auf Hand- 5 Walton Rogers 1997, 1719-1721. 6 Østergård 2004, 52, 233-252.

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Abb. 2. Spinnende Frau. Gaukler auf der Wanderschaft, kolorierter Holzschnitt eines anonymen Künstlers. Ein- blattdruck um 1450, Herzog-Anton-Ulrich-Museum, Braunschweig.

werk und handwerkliche Arbeiten im Alltag ist ein ausreichendes Wissen über die ent-sprechenden Vorgänge jedoch unabdingbar. Infolgedessen werden diese Prozesse heute oft-mals in allen ihren Aspekten – Zeitdauer, notwendige Ressourcen und notwendige hand-werkliche Kompetenz – deutlich unterschätzt.

So wird häufig bewusst oder unbewusst das Bild vermittelt, spinnen sei eine Tätigkeit ausschließlich für Frauen ge-wesen, die diese Arbeit „mal eben zwischendurch“ erledigt hätten. Bilder, die Frauen in allen möglichen Situationen mit Spinngerät zur Hand zei-gen, können diesen Eindruck verstärken. Ein hervorragen-des Beispiel dafür ist die Frau eines Gauklers auf der Wan-derschaft: Auf einem Esel reitend, hat sie allen Hausrat um und an sich befestigt; zu-sätzlich balanciert sie auf dem Kopf einen Korb mit dem zum Haushalt gehörigen Ge-flügel und auf den Knien eine Wiege mit einem Kind. In dieser Lage ist die Frau dem Bild nach noch immer fähig, nebenher zu spinnen (Abb. 2). Sicherlich ist es besonders einem geübten Spinner mög-lich, auch unter ungünstigen Bedingungen wie beispiels-weise schlechten Lichtver-hältnissen, Ablenkung und zahlreichen Unterbrechungen etc. noch Garn herzustellen. Die Arbeitsgeschwindigkeit und die Qualität der ausge-führten Arbeiten werden aber, wie bei jeder anderen unter

ungünstigen Umständen stattfindenden handwerklichen Tätigkeit, darunter leiden. Textilherstellung nebenher im Alltag?

Aus obertägiger Überlieferung sowie aus archäologischem Kontext sind viele hochwertige Textilien des Mittelalters und der Jahrhunderte vorher erhalten. Dabei handelt es sich um Textilien in einer Qualität und Feinheit, die nicht „mal eben zwischendurch“ mit wenig Zeit-aufwand hergestellt werden konnten. Ein Hinweis auf besonderes Qualitätsbewusstsein und eine sehr sorgfältige Herstellung der Garne ist zudem die Verwendung von vorbereitetem

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Fasermaterial. Die Auswahl und gezielte Aufbereitung von Spinnfasern ist keine Entwicklung des Mittelalters, sondern hat bereits eine jahrtausendelange Tradition. Analysen von Textil-funden in Bezug auf das verwendete Fasermaterial zeigen, dass bereits ab der Bronzezeit, in großem Umfang spätestens in der Eisenzeit, die Fasern beim Vorbereiten für den Spinnpro-zess gezielt sortiert wurden. Dies geschah, um Garne in der gewünschten hohen Qualität und Feinheit herstellen zu können7. So stellt sich die Frage, wie viel Anteil an der täglichen Arbeitszeit in einem ländlichen oder städtischen Haushalt die Textilherstellung einnahm. War es für einen nicht spezialisierten Haushalt tatsächlich möglich, den gesamten Bedarf an Textil durch eigene Herstellung zu decken? Und wurde diese Möglichkeit auch tatsächlich ausgenutzt? Oder wurden Textilien aus spezialisierter Produktion zumindest teilweise zugekauft? Aus schriftlichen Quellen lassen sich Informationen über die alltäglichen Vorgänge in Haus-halten in Stadt oder Land nur in Ausnahmefällen entnehmen; im Normalfall wurden diese Vorgänge nicht dokumentiert. Archäologische Ausgrabungen könnten hier unter Umständen einen besseren Einblick ermöglichen – eine perfekte Erhaltung der meist aus Holz bestehen-den Geräte zur Textilherstellung vorausgesetzt. Leider sind entsprechende Erhaltungsbedin-gungen die Ausnahme, und eine flächendeckende Untersuchung zur Verbreitung gerade von Webgeräten in bäuerlichen und städtischen Haushalten ist daher kaum möglich. Allerdings lässt sich indirekt darauf schließen, dass der in Bezug auf Textilien autarke Haus-halt in der historischen Wirklichkeit nicht der Regelfall, sondern bestenfalls eine Aus-nahmeerscheinung gewesen sein kann. Dies zeigt ein Blick auf Textil im Rahmen des mittel-alterlichen Handels. Waren werden immer dann gekauft oder durch Tauschhandel erworben, wenn die betreffende Person oder Personengruppe das benötigte Gut entweder nicht selber herstellen kann oder nicht selber herstellen will. Dafür können viele Gründe ausschlaggebend sein, beispielsweise zu geringe handwerkliche Fähigkeiten für die benötigte oder gewünschte Qualität, nicht genügend Platz oder genügend Kapital für die notwendigen Gerätschaften und Werkzeuge zur Herstellung, oder einfache wirtschaftliche Überlegungen. Wäre für jeden Haushalt die Her-stellung von Geweben für den eigenen Bedarf an Kleidung, Wohntextilien und Gebrauchs-textilien einfach und problemlos möglich gewesen, wäre ein Textilhandel in großem Maßstab wohl kaum entstanden. Die bereits erwähnte große Bedeutung des Textilhandels für die mittelalterliche Wirtschaft deutet dagegen darauf hin, dass diese Deckung des Eigenbedarfs eben nicht die Regel, son-dern eher die Ausnahme war. Gerade hochwertige Textilien setzen eine geeignete Ausstattung mit Werkzeug und Gerät, passendes Fasermaterial, eine hohe handwerkliche Qualifikation und ausreichend Zeit für die Herstellung voraus; Umstände, die in der Nebenproduktion im Rahmen des Hauswerks sicher nicht immer vorhanden waren. Und was bedeutet „ausreichend Zeit für die Herstellung“ im Zusammenhang mit von Hand hergestellten Textilien? Wie viel Zeit für die Herstellung einer bestimmten Menge beispielsweise von Garn oder von Gewebe notwendig ist, hängt von vier grundsätzlichen Bedingungen ab: den verwendeten Werkzeugen oder Geräten, dem Fasermaterial, der gewünschten Garnqualität und der Arbeitsweise (und damit Arbeitsgeschwindigkeit) der ausführenden Person. Dies beginnt bereits bei der Faseraufbereitung. Eine aufwendige, sorgfältige Vorbereitung der Fasern durch Auflockern und Kämmen dauert wesentlich länger, als die Faser direkt aus dem Vlies zu verspinnen; die erreichbare Fadenqualität ist bei gut vorbereitetem Fasermaterial dafür eben-

7 Vortrag von Antoinette Rast-Eicher auf der Tagung „3000 years of Colour“ in Wien, 22.03.2012.

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falls wesentlich höher. Auch für das Spinnen lässt sich der Zeitbedarf nur sehr schwer abschätzen. Bis mindestens ins 12., wahrscheinlich eher bis ins 13. Jahrhundert ist die Hand-spindel das einzige Spinngerät im heute deutschsprachigen Raum. Dabei handelt es sich um einen denkbar einfachen Gegenstand, nämlich einen Spinnstock (die Spindel) mit einer Schwungmasse, dem Spinnwirtel, der meist etwa im unteren Drittel oder unteren Viertel des Spinnstockes sitzt. Dieser Spinnwirtel ist Archäologen aus diversen Fundkatalogen bestens bekannt – ein kleiner, unscheinbarer Gegenstand aus Keramik, Stein, seltener aus Blei, Knochen, Geweih oder anderen Materialien, rotationssymmetrisch mit einem Loch in der Mitte. So wichtig wie unscheinbar: der Rocken

Während die Handspindel den Archäologen meist noch ein Begriff ist und sie sich, zumindest anhand des Wirtels, im Fundgut auch gut nachweisen lässt, sieht es bei dem Rocken schon anders aus. Ein Spinnrocken oder Rocken, manchmal auch Kunkel genannt, ist in seiner einfachsten Form nur ein Stab oder Stecken, an dessen oberem Ende der Faservorrat befestigt wird. Aufwendigere Formen von Rocken, beispielsweise mit Kerben, spindelförmigen Oberteilen oder einem Ständer versehen, sind ebenfalls dokumentierbar8. Wenn kein direkter Bezug zur Textilverarbeitung gegeben ist, besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein als Rocken verwendeter, relativ einfacher Stab nicht als solcher erkannt wird. Nachweisen lässt sich die Verwendung von Spinnrocken archäologisch bereits ab der Eisen-zeit: auf dem Klapperblech von Bologna ist eine Frau mit einem kurzen Spinnrocken abgebil-det, der entsprechenden archäologischen Funden entspricht9. Wozu ist ein Rocken eigentlich notwendig? Er erfüllt beim Spinnprozess eine Haltefunktion. Die vorbereiteten Fasern werden auf den Rocken aufgewunden und sind dadurch in großer Menge griffbereit für die spinnende Person, müssen aber nicht in der Hand gehalten werden. Moderne Spinner arbeiten meist ohne Rocken und halten ihren Faservorrat dementsprechend in der Hand; bei längerer Spinnzeit beziehungsweise weniger günstigen Bedingungen führt die Kombination aus Handfeuchtigkeit, Wärme und Bewegungen der haltenden Hand unwei-gerlich dazu, dass die einzelnen Fasern sich verwirren und beginnen, zu verfilzen. Industriell vorbereitete Fasern sind heute günstig und dank Internet-Versendern auch leicht erhältlich, so dass kleine Verluste durch verfilzte Restchen nach dem Spinnen einer Handvoll leicht verschmerzbar sind. Bei Fasern, die von Hand nach historischen Verfahren aufbereitet werden, ist der Zeitaufwand bereits vor dem ersten Zentimeter gesponnenen Garnes beträcht-lich. Wollfasern beispielsweise werden nach der Schafschur nach Qualitäten innerhalb des einzelnen Vlieses sortiert. Die entsprechenden Wollpartien werden gewaschen, falls dies nicht bereits vor der Schur direkt am Schaf erfolgt ist10. Dann werden die Fasern gelockert, was durch Zupfen von Hand oder durch Schlagen auf einem speziell dafür bespannten Rahmen erfolgen kann. Danach werden die Fasern geordnet, was typischerweise mit Hilfe von Woll-kämmen geschieht. Nach diesem Kämmvorgang liegen alle Fasern spinnfertig in etwa parallel in einem langen Band, dem Kammzug, der auf den Rocken aufgewunden werden kann. Je besser die Fasern aufbereitet sind, desto leichter sind sie zu einem gleichmäßigen Faden hoher Qualität zu verarbeiten – natürlich steigt dabei aber auch der Zeitbedarf für die Faservorbe-

8 Beispiele für verschiedene Rockenformen u.a. in Grömer 2010, 84; Øye 1988, 34; Walton Rogers 1997, 1734; Wild 2003, 27. 9 Vgl. Grömer 2010, 85. 10 Eine entsprechende Schafwaschanlage des frühen Mittelalters ist aus der Wurt Hessens bekannt; vgl. Siegmüller 2010.

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reitung. Die spinnfertig aufbereitete Faser ist in jedem Fall ein wertvolles Halbzeug, das möglichst vollständig ausgenutzt werden soll. Ein Halten kleiner Portionen in der Hand verbietet sich schon allein aus diesem Grund. Eine weitere Funktion des Spinnrockens ist, die Spindel bei kurzen Unterbrechungen der Spinnarbeit zu sichern – gewissermaßen „zwischenzuparken“. Dabei wird durch Kontakt der oberen Spindelspitze mit dem Rocken und den daran befestigten Fasern die Spindel am Zurückdrehen und damit Aufdrehen des Fadens gehindert. Auch dies lässt sich auf zahl-reichen mittelalterlichen Abbildungen sehen: Die Spindel scheint direkt vom Faservorrat am Rocken herunterzuhängen. Dieses Bild kann leicht nachgestellt werden, indem ein Reststück Faden, das Spindel und Faservorrat auf dem Rocken verbindet, durch Drehung des Rockens entlang seiner Längsachse um den Rocken herum aufgewickelt wird. Der obere Bereich des Spindelstabes ist dann in Kontakt mit dem Faservorrat, was genügend Reibung erzeugt, um die Spindel zu sichern. Der Rocken mit der so „geparkten“ Spindel kann dann abgelegt, abge-stellt oder einfach weiter unter dem Arm bzw. im Gürtel mitgetragen werden. Soll weiterge-sponnen werden, genügt es, das aufgewundene Fadenstück vom Rocken abzurollen, und die Arbeit kann sofort fortgesetzt werden. Unterschiede zwischen historischer und moderner Spinntechnik

Die Verwendung eines Rockens ist aber nicht der einzige Unterschied zwischen mittelalter-lichen und modernen Spinntraditionen. Auf den Abbildungen finden sich Fußspindeln, das heißt Spindelstäbe, in deren unterem Bereich der Spinnwirtel sitzt. Heute sind dagegen Kopf-spindeln eine äußerst beliebte Variante. Diese Spindelform hat einen Wirtel, der knapp unter dem oberen Ende der Spindel sitzt; am oberen Ende des Spindelstabes ist ein kleiner Haken befestigt, in den der Faden eingehängt wird. Fuß- und Kopfspindeln zeigen leichte Unterschiede in der Handhabung und wirken während des Spinnvorganges vor allem optisch deutlich anders. Von Abbildungen aus dem europäischen Mittelalter ist mir bislang keine Kopfspindel bekannt. Zur Frage, ob diese Spindelform im europäischen Mittelalter überhaupt bekannt und in Verwendung war, ist bisher keine nennenswerte Forschung betrieben worden. Im irischen Nationalmuseum in Dublin liegen jedoch einige ins Mittelalter datierte, metallene Spindelstäbe für Kopfspindeln11. Auch die Art und Weise, wie das fertige Garn auf den Spindelstab gewunden wird, ist nicht gleich geblieben. Moderne Spinner wickeln meist in eine Konusform, bei der die Windungen parallel zueinander liegen. Diese Technik wird sowohl für Kopf- als auch für Fußspindeln angewendet. Auf mittelalterlichen Abbildungen ist diese charakteristische Form jedoch nicht auszumachen. Das aufgewickelte Garn scheint hier in einer Art Spindelform zu sein – eine Form, die sich durch schräge, sich stets kreuzende Wicklungen des Garns auf dem Spindelstab leicht erzielen lässt. Die dadurch entstehende Knäuelform, die in etwa einem Rugby-Ball entspricht, hat eine wesentlich höhere Stabilität als die parallele Wicklung in Konusform (Abb. 3). Die Kreuzwicklung kann daher einfach vom Spindelstab herunter geschoben werden und muss nicht zwangsläufig umgewickelt werden.

11 Dauerausstellung, Stand 2009.

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Abb. 3. Links Spindel modernen Typs mit konusförmiger Wicklung des Garns, rechts Spindel historischen Typs mit kreuzweiser Garnwicklung.

Zeitbedarf beim Spinnen mit der Hand-spindel

Die Produktivität der Handspindel, mit oder ohne Rocken verwendet, hängt sehr stark von der Person ab, die sie benutzt. In der Literatur wird die Produktivität von Handspindeln daher auch mit den unter-schiedlichsten Zahlen angegeben. Im Rah-men eines Spinnexperimentes 2009, das zur Ermittlung von Art und Größe ver-schiedener Einflüsse auf den Spinnprozess dienen sollte, spannen 14 Personen insge-samt je 10 Stunden unter kontrollierten Bedingungen. Unter den 14 Personen befanden sich eine Person mit wenig Übung und eine Anfängerin. Insgesamt spannen die Experimentatoren im Durch-schnitt 37,66 m pro Stunde mit einer Spin-del, deren Wirtel die physikalischen Eigen-schaften eines archäologischen Fundes aufwies. Die höchste Spinnleistung mit dieser Spindel betrug 60,06 m in einer Stunde, die geringste Spinnleistung einer einigermaßen geübten Spinnerin 25,58 m. Die höchste insgesamt erbrachte Leistung in einer Stunde waren 72,69 m in einer Stunde12. Bei einer Bäuerin in Bukovine maß Schwarz 1912 eine Spinnleistung von 60-84 m/h inklusive Vorbereitungen wie z.B. der Einrichtungszeit für den Rocken; in Süditalien leistete ein Spinner mit einer Kopfspindel 110 m/h, eine finnische Spin-nerin erreichte beim Spinnen von Leinen-garn eine Leistung von etwa 120-129 m/h beziehungsweise 144 m/h bei unterschied-licher Faservorbereitung13. Versuche am Centre for Textile Research (CTR) in Kopenhagen ergaben für zwei Proban-dinnen Spinnleistungen zwischen 40 und 54 m/h, der Gesamtschnitt aus 42 Spinn-vorgängen lag bei 43 m/h14.

Aus diesen Zahlen wird ersichtlich, dass sich auf die Spinnleistung einer historischen Person kaum mehr rückschließen lässt – wir wissen nicht, ob es sich bei der entsprechenden Person

12 Kania [in Vorbereitung]. 13 Endrei 1968, 21. 14 Mårtensson, et al. 2006, 8.

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um einen schnellen oder eher langsamen Spinner handelte, ob das Rohmaterial gut vorbereitet war etc. Falls die Spinnleistung einer „normalen“ historischen Person der Leistung einer heu-tigen geübten Spinnerin entspricht, was sich jedoch keinesfalls beweisen oder belegen lässt, wäre die ungefähre Geschwindigkeit der Garnherstellung bei etwa 40-80 m/h. In jedem Falle aber – selbst bei sehr optimistischen Schätzungen zur Spinnleistung einer berufsmäßig Garne herstellenden Person – wird die maximal mögliche Geschwindigkeit bei Nutzung einer Hand-spindel deutlich unter 200 m/h liegen. Um diese Zahlen und ihre Bedeutung für den Zeitbedarf und die Wichtigkeit der Textilher-stellung besser einschätzen zu können, hilft eine grobe Rechnung zum Bedarf an Fäden für die Gewebeherstellung. Klaus Tidow teilt archäologische Gewebe in fünf Stufen, zwischen „sehr grob“ (bis zu 5 Fäden/cm), „grob“ (bis zu 8 Fäden/cm), „mittelfein“ (bis zu 12 Fäden/cm), „fein“ (bis zu 18 Fäden/cm) und „sehr fein“ (über 18 Fäden/cm) ein15. Der Einfachheit halber soll im Folgen-den der Fadenverbrauch bei einem mittelfeinen Gewebe mit 10 Fäden/cm in Kette und Schuss sowie einer Webbreite von einem Meter berechnet werden. Für einen Quadratmeter Stoff werden also 100*10 Schussfäden und 100*10 Kettfäden von jeweils einem Meter Länge benötigt; dies ergibt einen Fadenverbrauch von insgesamt 2000 m. Dabei ist nicht berücksichtigt, dass der tatsächliche Fadenverbrauch höher ist, weil an Anfang und Ende des Webstückes jeweils etwas Garn ungenutzt bleibt, durch die leicht wel-lige Lage der Fäden im Gewebe etwas mehr als die genaue Gewebebreite benötigt wird und das Gewebe nach der Abnahme vom Webstuhl noch mehr oder weniger stark eingeht, abhän-gig von der genauen Technik, der Fadenart und weiteren Faktoren. Wird der Stoff nach dem Weben noch gewalkt, geht das Textil dabei nochmals wesentlich stärker ein, das Gewebe und damit der Fadenverbrauch müssen also entsprechend größer berechnet werden. Rechnen wir, um einen Richtwert für möglicherweise benötigte Spinnzeit zu erhalten, mit einem Mehrverbrauch von etwa 10 %, so werden für einen Quadratmeter Stoff 2200 m Garn benötigt. Die Herstellungszeit für diese Garnmenge aus entsprechend aufbereiteten Fasern beträgt für eine Person mit der Spinnleistung von 40 m/h etwa 55 Stunden, bei einer Leistung von 80 m/h genau die Hälfte, also 27,5 Stunden, und bei einer angenommenen sehr hohen Spinnleistung von 150 m/h immerhin noch knapp 15 Stunden. Für die Herstellung eines einfachen Frauenkleides oder einer einfachen Männertunika wird erfahrungsgemäß zwischen etwa 2 und 3,5 m² Stoff benötigt. Die genaue Stoffmenge, die notwendig ist, hängt von Art und Webbreite des Stoffes, verwendeter Nähtechnik, dem Schnitttyp des Kleidungsstückes und Größe sowie Körperumfang der zu bekleidenden Person ab. Das benötigte Garn für ein entsprechendes Kleidungsstück, aus 3 m² Stoff hergestellt, wäre damit etwa 6600 m lang und entspräche benötigten Herstellungszeiten von 165 h bei 40 m/h, 82,5 h bei 80 m/h und noch 45 Stunden bei 150 m/h. Soll anstatt des mittelfeinen Stoffes ein sehr feiner Stoff mit 25 Fäden/cm in Kette und Schuss hergestellt werden, sind – eine gleich bleibende Spinnleistung vorausgesetzt – für die Herstellung der 15000 m Garn plus 10 % Verbrauchszuschlag insgesamt 412,5 h, 206,3 h beziehungsweise 110 Stunden notwendig. An diesem Beispiel ist hoffentlich klar geworden, wie schwer eine Abschätzung des Zeitbe-darfs für historische Handwerkstechniken ist – aber auch, dass selbst bei einer optimistischen, sehr hohen Schätzung der Spinnleistung beträchtliche Zeit für die Herstellung von Garn notwendig ist. Dabei beschränkt sich der Zeitaufwand nicht auf die Spinnerei allein, sondern ist wesentlich höher als nur die Spinnzeiten: Zusätzlich muss die Faser vorbereitet und nach

15 Tidow 2004, 148.

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dem Spinnen verwoben werden, bevor ein Kleidungsstück zugeschnitten und genäht werden kann – Tätigkeiten, deren Dauer ebenso wie die Dauer des Spinnens von vielen verschiedenen Faktoren abhängt und die ebenso schwer eingeschätzt oder rekonstruiert werden kann. Auch Zeitprotokolle, die bei einzelnen Webversuchen im Rahmen von Museumsprojekten angefer-tigt wurden, sind hier nur begrenzt hilfreich, da häufig nicht alle Arbeiten darin verzeichnet sind und die Arbeitsumstände mit den Gegebenheiten und Abläufen in einer historischen Webwerkstatt kaum vergleichbar sind16. Auf eine weitere Schätzung der Gesamtdauer zur Herstellung eines Kleidungsstückes soll daher hier verzichtet werden. Die verschiedenen Zeiten, die bei diesen „Zahlenspielen“ erzielbar sind, können also im besten Fall eine grobe Abschätzung zum Zeitbedarf einer handwerklichen Tätigkeit geben, im schlechtesten Fall führen sie den modernen Beobachter oder Leser in die Irre. Was das Spin-nen mit der Handspindel angeht, lässt sich feststellen, dass selbst bei sehr optimistischer Ein-schätzung der Spinnleistung viele Arbeitsstunden für Garnherstellung benötigt werden, um den Grundbedarf an Textilien für Kleidung und Haushalt zu decken. Für die Herstellung hochwertiger Gewebe als Handelsware und Repräsentationsmittel oder Statussymbol müssen insgesamt schier unzählige Stunden aufgewendet worden sein. Textile Selbstversorgung?

Die lange notwendige Arbeitszeit für die Textilherstellung bedeutet, dass für die Eigenbe-darfsdeckung in einem Haushalt die notwendigen Gerätschaften – Geräte zur Wollaufbe-reitung wie Kämme oder Karden, Spinngerätschaften, Webgerät – vorhanden sein müssen. Während Wollkämme, Haspel, Spinnrocken und Spindel einfache Gegenstände sind, die nur wenig Platz einnehmen und leicht herzustellen sind, ist ein Webstuhl ein wesentlich komplexeres Gerät mit deutlich höherem Platzbedarf. Zusätzlich müssen eine oder eventuell sogar mehrere Personen zumindest teilweise für die Weberei freigestellt werden. Ob ein solcher Aufwand an Material, Platz und Arbeitszeit für einen normalen bäuerlichen Haushalt die Regel war? Immerhin kommen alternativ mehrere Möglichkeiten in Frage, wie die Deckung des Bedarfs an Stoff ohne einen eigenen Webstuhl erzielt worden sein kann. Eine Möglichkeit ist die Herstellung von Garn für die Weberei und die Abgabe an einen professio-nellen oder semiprofessionellen Weber, der für das Verweben entlohnt wird. Denkbar ist auch ein Tausch von Garn gegen eine geringere Menge fertigen Stoffes, so dass über das Garn auch die Arbeitszeit des Webers beglichen wird. Dies würde gleichzeitig eine Entlohnung der Spinnarbeit bedeuten. Schließlich kommt auch der direkte Kauf von fertigen Geweben in Frage. Bereits Barbara Purrucker zweifelt an, dass im bäuerlichen Bereich jeder Haushalt seine Textilherstellung vollständig selbst durchführte17. Der bereits besprochene immense Bedarf an Garn für ein einzelnes Kleidungsstück bedeutet eine deutlich längere Spinnzeit als Webzeit, so dass stets mehrere Spinner notwendig sind, um einen einzelnen Weber zu versorgen. Daher liegt eine Form des Verlagswesens für den Garn-bedarf der Weberei nahe. Ein solches frühes Verlagswesen lässt sich bereits ab dem 13. Jahr-hundert nachweisen18. Auch dies spricht gegen das Vorhandensein von einem Webstuhl auf jedem bäuerlichen Gut und für den professionellen oder semi-professionellen Weber, der Garn von verschiedenen Stellen bezieht und verarbeitet. Welche Personen deckten nun diesen Garnbedarf der Weber? Die typische Darstellung einer spinnenden Person im Mittelalter zeigt eine Frau, die mit Handspindel und Spinnrocken

16 Ein Beispiel für ein solches Zeitprotokoll findet sich in Goldmann 1990. 17 Purrucker 1998, 26 f. 18 Schulz 2010, 157; weiterführend zum Verlagswesen Holbach 1994.

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Abb. 4. Mann arbeitet am Spinnrad. Mit einer Hand wird das Rad angetrieben und kontrolliert, mit der anderen Hand wird die speziell vorbereitete Faser gegen die waagerecht montierte Spindelspitze zu einem Faden verzogen.

arbeitet. Der Rocken und die Spindel sind das Symbol schlechthin für die weiblichen Tätig-keiten, und spinnen wird heute oft als reine Frauensache angesehen. Im Englischen ist ein etwas blumiger Ausdruck für Frauen sogar „distaff gender“, also das „Rockengeschlecht“. Textilherstellung und die Geschlechterfrage

Textilarbeit ist heute geradezu ein Synonym für Frauenarbeit, eine grundsätzliche Annahme, die nur wenig hinterfragt wird. Beispielsweise heißt es in der Enzyklopädie „Women and Gender in Medieval Europe“ zum Thema Textilherstellung: „Some of the basic processes […] remained exclusively female until the eighteenth-century Industrial Revolution, in particular spinning, though some males can be found in the wool-preparation processes from the fifteenth century.“19 Dabei gibt es durchaus Belege für Männer im Bereich des textilen Handwerks: Weber, Färber und sogar Spinner finden sich auf mittelalterlichen Darstellungen, wie beispielsweise der Wolle kardierende Mann (fol. 147) oder der am Spinnrad arbeitende Mann (fol. 147v) aus MS Royal 10 E IV der British Library20 aus dem letzten Viertel des 13. oder dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts (Abb. 4). Das streng getrennte Rollenbild, das heute gern als die Normalität für das europäische Mittel-alter gesehen wird, stammt zum größten Teil aus den Anfangszeiten der Archäologie und ent-spricht dem bürgerlichen Geschlechterbild des 18. und 19. Jahrhunderts. Die moderne strenge Aufteilung in weibliche und männliche Arbeiten wurde damals als das ursprüngliche und natürliche geschlechtsspezifische Arbeits- und Rollenbild auf die Vergangenheit zurückproji-ziert und dadurch legitimiert. Durch die Gewöhnung an dieses, heute als klassisches Rollen-bild verstandene Bild, erscheint es dem modernen Betrachter als vertraut und richtig und wird daher kaum kritisch betrachtet21. Gerade textile Handarbeiten wie Spinnen und Nähen wurden im 18. und 19. Jahr-hundert als Frauenarbeit ein-gestuft. Doch inwieweit ent-spricht dieses Bild der Rea-lität im Mittelalter? Betrachtet man die mittelal-terlichen Bildquellen, die in einschlägiger Fachliteratur abgebildet sind, findet man fast ausschließlich Frauen bei der Textilherstellung, vor allem, wenn es um Garnher-stellung geht. Auch in Bezug auf die hand-werklichen Aspekte spricht einiges dafür, dass viel von Frauen gesponnen wurde. Eine Handspindel kann ver-

19 Schaus 2006, 792 f. 20 Katalogseite zum Manuskript Royal 10 E IV: http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/record.asp?MSID=6549 &CollID=16&NStart=100504. 21 Röder 2007.

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wendet werden, um kleine „Totzeiten“ während anderer, beispielsweise häuslicher Tätigkei-ten, zu überbrücken. Wenn Spinnen sich leicht in – auch kurze – Zeiten der Nichtbeschäf-tigung einschieben lässt, das Spinngerät billig und leicht zu beschaffen sowie leicht zu trans-portieren ist, andererseits aber die Herstellung von Garn in ausreichender Menge sehr viel Zeit benötigt, ist die Verwendung der Handspindel als eine Art „kontinuierliche Nebentätig-keit“ die logische Folge. Gerade Frauen mit Säuglingen sind nur begrenzt mobil und müssen ihre Arbeiten immer wieder kurzfristig unterbrechen können. Tätigkeiten wie Spinnen sind hierfür gut geeignet22. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Spinnen sowie andere Textilarbeiten nur von Frauen ausgeführt wurden, und hier führt das in unseren Köpfen heute noch festsitzende Rollenbild vielleicht auch zu einer selektiven Blindheit: Frauen in „typisch weiblich“ und Männer in „typisch männlich“ erscheinenden Tätigkeiten werden in der Literatur als Abbild einer empfundenen Normalität gern abgebildet und sind damit entsprechend bekannt. Sie werden somit wahrgenommen und immer wieder zitiert – und damit erneut abgebildet. Jedem Archäologen und Historiker ist dieses Phänomen der „typischen Abbildung“ zu einem Thema bekannt, sei es eine immer wieder zitierte Rekonstruktionszeichnung oder eine andere Il-lustration. Im Gegensatz dazu werden abweichende Darstellungen, die sich wesentlich selte-ner in Büchern oder Aufsätzen finden, ausgeblendet und weit weniger ins Bewusstsein gerückt – oder sogar mehr oder weniger direkt als Ausnahme beziehungsweise Sonderfall dargestellt. Eine solche Begrenzung der Abbildungsvielfalt auf eine Art Kanon aus der Literatur liegt zum guten Teil in der noch vor wenigen Jahren stark eingeschränkten Zugänglichkeit origi-naler Abbildungen begründet. Heute sind jedoch die Möglichkeiten gegeben, diesen Kanon stark zu erweitern. Die zunehmende Digitalisierung illuminierter Handschriften und anderer Kunstwerke und Darstellungen des Mittelalters, die in Form von Bilddatenbanken und virtu-ellen Bibliotheken oder Museen über das Internet leicht und kostenfrei zugänglich sind, bieten dafür ein enormes Potential, das bislang von Archäologie und Geschichtswissenschaften nur eingeschränkt genutzt wird. Die in den meisten Portalen integrierte Suchfunktion ermöglicht es, eine wesentlich größere Zahl von Bildern zu einem Thema einzusehen und dadurch passende Darstellungen zu finden, die nicht schon mehrfach in der Fachliteratur abgebildet sind. Auch wenn die Verschlagwortung nicht immer vollständig oder ganz korrekt ist, sind diese Suchfunktionen eine große Hilfe. Beispiele für entsprechende Datenbanken, die voll oder größtenteils verschlagwortet sind und somit eine Möglichkeit zur Stichwortsuche der abgebildeten Themen und Gegenstände bieten, sind die Datenbank IMAREAL der öster-reichischen Akademie der Wissenschaften23, der CORSAIR Collection Catalogue der Pier-pont Morgan Library24, das Digital Scriptorium25 oder die Bildersuche für mittelalterliche Illuminationen der niederländischen Nationalbibliothek26. Auch die Hausbücher der Nürnber-ger Zwölfbrüderstiftung sind online zugänglich und nach Schlagworten durchsuchbar27. Eher objektorientiert mit nur wenigen gelisteten mittelalterlichen Abbildungen, dafür vielen neu-zeitlichen Drucken, ist die Datenbank des Fitzwilliam Museums28. Links zu weiteren, zahl- 22 Interessant wäre in diesem Zusammenhang sicher eine Untersuchung, wie häufig eine mit der Handspindel spinnende Frau schwanger oder mit einem Säugling gezeigt wird. 23 http://www.imareal.oeaw.ac.at/. 24 http://utu.morganlibrary.org/index.htm für mittelalterliche Abbildungen; Suchmaske für den gesamten Katalog auf http://corsair.themorgan.org/cgi-bin/Pwebrecon.cgi?DB=local&PAGE=kbSearch. 25 http://www.scriptorium.columbia.edu/. 26 http://www.kb.nl/manuscripts/. 27 http://www.nuernberger-hausbuecher.de/. 28 http://www.fitzmuseum.cam.ac.uk/explorer/index.php.

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reichen Online-Datenbanken mittelalterlicher Abbildungen finden sich auf http://www.netserf.org/Art/Illumination/Image_Collections. Bei Durchsicht dieser Datenbanken mit dem Stichwort „spinning“ in der Bildersuche finden sich, wie zu erwarten, zahlreiche Darstellungen mit spinnenden Frauen. Zusätzlich finden sich spinnende Tiere und Mischwesen. Der erwähnte spinnende Mann aus dem Manuskript der British Library ist die Ausnahme – aber immerhin vorhanden und insgesamt auch nicht der einzige Mann, der bei textiler Arbeit gezeigt wird. Auf den Abbildungen sind Männer im Textilbereich also durchaus zu finden, wenn ihre Zahl auch weit geringer ist als die Zahl der entsprechend beschäftigten Frauen, besonders in Bezug auf Spinnarbeiten. Ist Spinnarbeit also doch vollständig oder fast vollständig Frauenarbeit? Würde die Herstellung von Garn als reine Frauenarbeit nur von Frauen durchgeführt, fielen etwa 50% der Bevölkerung als mögliche Garnhersteller aus. Gehen wir davon aus, dass Spin-nen häufig nur als Nebentätigkeit ausgeführt wurde, so bedeutet die Einschränkung auf diese Tot- und Pausenzeiten ausschließlich von Frauen eine erhebliche Reduktion der möglichen Spinnzeiten. Reicht diese stark beschränkte potentielle Spinnzeit aus, um innerhalb eines Haushaltes den Bedarf an Garn zu decken? Für die strikte Geschlechtertrennung bei bestimmten Arbeiten, auch textilen Arbeiten, gibt es ethnographische Belege. Ein Beispiel hierfür ist die klare Trennung zwischen Spinn- und Webarbeiten für die Herstellung von Nomadenzelten in Syrien, die allein den Männern vor-behalten ist. Andere textile Arbeiten, also auch Spinn- und Webarbeit für gewöhnliche Stoffe, werden (auch) von Frauen durchgeführt29. Für das europäische Mittelalter ist ein solches kla-res Tabu meines Wissens jedoch nicht dokumentiert. Wenn sich auf der Mehrzahl der Bilder Frauen bei textilen Tätigkeiten und Männer meist in anderen Tätigkeiten finden lassen, muss dies nicht zwingend bedeuten, dass Textilherstellung im Mittelalter gemeinhin als Frauensache betrachtet wurde. Dagegen sprechen die zahlreichen spätmittelalterlichen Zünfte nicht nur im Zusammenhang mit Textilgewerken, die in gewis-sem Umfang beiden Geschlechtern offen standen. Besonders bekannt in Bezug auf Frauen in Zünften der Textilgewerke sind die Kölner Frauenzünfte der Garnmacherinnen, Seiden- und Goldspinnerinnen und Seidenstickerinnen des späten Mittelalters. Die Regel war starke Frauenpräsenz in den Zünften nicht; dies zeigen Beispiele wie die Basler Gewerbe- und Zunftwesen, bei denen sich in allen Zünften ein Frauenanteil von durchschnittlich 15,7 % nachweisen lässt. Textile Nebentätigkeiten wie Wollvorbereitung und Spinnen zählten nicht als zünftige Tätigkeiten; sie konnten frei ausgeübt werden30. Dementsprechend finden sich für die unzünftigen Arbeiten auch weniger Aufzeichnungen zu den ausführenden Personen. Mit der modernen Assoziation Textilarbeit = Frauenarbeit geht einher, dass auch die Geräte zur Textilherstellung als „Frauensache“ eingestuft werden. Neuere Untersuchungen zu den Vorkommen von Spinnwirteln in wikingerzeitlichen und mittelalterlichen Gräbern zeigen jedoch, dass in einer beträchtlichen Menge der „männlich“, d.h. mit Waffen ansgestatteten Gräbern, ebenfalls Geräte zur Textilherstellung vorkamen, wie beispielsweise Webgewichte, Webschwerter und Spinnwirtel. So fanden sich in 42 männlichen und 73 weiblichen Gräbern Textilgerätschaften; ein Befund, der unser klar abgegrenztes Geschlechterbild im Textilge-werk stark in Frage stellt31. Vielleicht stand bei den Darstellungen die Spindel in der Hand der Frau als Symbol für einen anderen Sachverhalt – zum Beispiel für besonderes manuelles

29 Hald 1981, 19. 30 Zu Frauen in Zünften vgl. Schulz 2010, 87-91. 31 Vortrag von Ingvild Øye auf der Tagung „Textiles and Economy in the Middle Ages“ in Copenhagen am 20.04.2012. Abstract auf http://medievaltextiles.saxo.ku.dk/.

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Geschick oder für besonderen Fleiß? Laut Schulz ist die Spindel „Symbol der tätigen Frau“32 und wäre auf Bildern damit unter Umständen nicht direkt mit der Tätigkeit der Garnherstel-lung gleichzusetzen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Arbeiten zur Textilherstellung wohl vielfach oder möglicherweise sogar überwiegend von Frauen ausgeführt wurden, aber keinesfalls aus-schließlich Frauenarbeiten waren. Dies gilt nicht nur für die Weberei oder Veredelungsar-beiten wie färben, walken und scheren; auch der große Garnbedarf für die Textilherstellung wurde nicht ausschließlich durch Frauenarbeit gedeckt. Archäologisch lassen sich Geräte zur Textilherstellung immerhin auch in Männergräbern nachweisen. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang die regelhafte anthropologische Untersuchung von Skeletten aus Körpergräbern, statt der besonders in der Vergangenheit üblicherweise praktizierten Geschlechtszuweisung über Grabbeigaben; vielleicht finden sich dann in Zukunft noch weitere Hinweise auf Männer im Textilgewerk. Abbildungen bieten ebenfalls Hinweise auf männliche Beteiligung. Das genaue Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Arbei-tern ist beim bisherigen Forschungsstand jedoch nicht zu erschließen. Ähnlich schwer wie die Frage nach der Geschlechtsverteilung ist die Frage nach Hauswerk oder Handwerk für die Textilherstellung zu klären. Wie bereits angesprochen, war die voll-ständige Autarkie eines Haushalts in Sachen Textil wohl eher die Ausnahme als die Regel, was unter anderem aus der immensen Bedeutung von Stoffen für den mittelalterlichen Handel, aber auch aus der notwendigen Logistik für die Textilherstellung selbst abzuleiten ist. Textilien als Fenster auf soziale Strukturen

Über diese handwerklichen und genderbezogenen Betrachtungen hinaus bieten Textilien und die Beschäftigung mit Textilhandwerk auch wunderbare Möglichkeiten, andere Aspekte des sozialen Lebens zu betrachten. Textil im Mittelalter ist das Statussymbol schlechthin, heute noch reflektiert in Sprichwörtern wie „Kleider machen Leute“. Besonders hochwertige, reich verzierte und aus kostbaren Materialien hergestellte Kleidungsstücke von Herrschern und hohen kirchlichen Würdenträgern sind bisweilen obertägig überliefert geblieben. Diese enorm kostbaren Stücke zeigen die Bedeutung von Repräsentationstextil. Aber kostbar verzierte Kleidungsstücke oder Kleidungsbestandteile waren nicht nur den hoch-rangigen und besonders reichen Personen vorbehalten. Aus dem Gräberfeld von Villach-Judendorf in Kärnten sind diverse Textilreste mit Goldbroschur oder Goldstickerei erhalten, die ins 12. und 13. Jahrhundert datieren und sich nicht besonders hochgestellten Personen zuordnen lassen33. Ein ähnliches Bild von erschwinglichem textilem Luxus zeigen die vielen mit Seidenstickerei verzierten Schuh-Oberleder, die bei den Ausgrabungen in Bergen, Trond-heim und anderen norwegischen Fundplätzen geborgen wurden: 33 % der gefundenen Ober-leder zeigen Spuren von Seidenstickerei34. Da Textil und Kleidung als Statussymbol dienen, ist damit stets das Bestreben auch weniger wohlhabender Personen verknüpft, sich als reich darzustellen. Dies ist ein soziales Phänomen, das auch heute noch zu erkennen ist. Prestigeträchtige Gegenstände wie Markenkleidung, teure Accessoires oder Autos, die als Statussymbole gelten: immerhin 10,4 % der Überschul-dung privater Personen in Deutschland ging 2011 auf „unverantwortliches Konsumverhalten“

32 Schulz 2010, 158. 33 Petrascheck-Heim 1970. 34 Vortrag von Gitte Hansen auf der Tagung „Textiles and Economy in the Middle Ages“ in Copenhagen am 21.04.2012. Abstract auf http://medievaltextiles.saxo.ku.dk/.

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zurück, 2009 waren es sogar 11,8 %35. Unverantwortliches Konsumverhalten bedeutet den Kauf teurer Güter, die nicht zur Deckung der Grundbedürfnisse notwendig sind und die finan-zielle Leistungsfähigkeit der kaufenden Person deutlich übersteigen. Überschuldung, um den Besitz besonders repräsentativer Kleidung zu ermöglichen, ist jedoch kein modernes Phänomen. Dies zeigt ein Bericht aus der Heiligenvita der Elisabeth von Thüringen: Sie verschenkte „Schleier und andere Kostbarkeiten aus Seide“ an arme Frauen. Dies geschah mit der expliziten Auflage, diese nicht selbst zu tragen, sondern zu verkaufen und das so erhaltene Geld für lebensnotwendige Dinge auszugeben36. Die Tatsache, dass diese Auflage notwendig war, zeigt deutlich den Wunsch dieser armen Frauen, den kostbaren Schleier als Statussymbol zu behalten. Arme Frauen mit kostbaren Schleiern, ein großer Teil der einfachen Bürger mit seidenbe-stickten Schuhen, hochwertige Textilien und Verzierungen aus Gold – diese Vorstellung steht deutlich im Gegensatz zum Bild des einfachen, farblosen Alltagskleides aus grobem Stoff, das heute noch in vielen Köpfen steckt. Kleidung als Konsumgut

Vermutlich beeinflusst auch in Bezug auf die Alltags- oder Arbeitskleidung unsere moderne Konsumgewohnheit das Bild der mittelalterlichen Verhältnisse und Vorgehensweisen, das wir haben. Heute ist es üblich und ohne weiteres möglich, sich mit verschiedenen „Sätzen“ an Kleidung auszustatten: Kleidung für zuhause und Freizeit, Kleidung für Büro oder Arbeits-stelle, Kleidung für besondere Gelegenheiten. Die entsprechenden Kleidungsstücke werden dabei gezielt für diesen Einsatzbereich gekauft und meist auch nur innerhalb dieses Bereiches getragen. Eine entsprechende Vorgehensweise kann für das Mittelalter nicht vorausgesetzt werden. Wesentlich wahrscheinlicher ist es, dass die Verwendung von Kleidung für verschiedene Einsatzbereiche wie Festlichkeiten und Kirchgang, Alltag, besonders schmutzige oder schwere Arbeiten, ähnlich wie die Verwendung der Juppentracht im Bregenzerwald gehand-habt wurde. Bei der Juppe handelt es sich um das Oberkleid der Bregenzerwälder Frauen-tracht. Zum Zeitpunkt einer Dokumentation über die Herstellung der Juppe 1985 wurde sie nur noch als Festkleid getragen; die frühere Verwendungsweise war allerdings auch als All-tagskleidungsstück, wobei zwischen Feiertagstracht, Sonntagstracht und Werktagstracht unterschieden wurde. Dabei wurden abgetragene Juppen jeweils in die nächst niedere Katego-rie „heruntergestuft“, so dass eine Feiertagsjuppe im Lauf der Zeit zur Werktagsjuppe werden konnte37. Zahlreiche Flicken und Ausbesserungen bei erhaltenen mittelalterlichen Kleidungsstücken in Kombination mit den meist sorgfältig und gleichmäßig ausgeführten originalen Nähten des Gewandes und einer ebenfalls meist guten Qualität des verwendeten Gewebes legen den Schluss nahe, dass mittelalterliche Kleidung ähnlich genutzt wurde. Dies bedeutet, dass gute Kleidung für Festtage oder Sonntage genutzt wurde, um im Lauf der Zeit bei zunehmender Nutzung und den damit einhergehenden Spuren zu Werktags- und Arbeitskleidung herunter-gestuft zu werden. Musste ein Kleidungsstück angeschafft werden, so können wir vermuten, dass die betreffende Person das bestmögliche Gewand in Bezug auf aktuelle Mode, Farbe und handwerkliche Qualität von Stoff und Schneiderarbeit erstand; nicht zuletzt, da das Klei-dungsstück ja auch zur Repräsentation diente. Mit hoher Qualität eines Stoffes geht dabei

35 http://www.deutschland-im-plus.de/download/pdf/Pressemitteilung_iff-Report_2011.pdf, abgerufen März 2012. 36 Kroos 1981, 213. 37 Bönsch 1985, 62 f.

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auch besonders gute Haltbarkeit einher. Eine feste und gleichmäßige Webstruktur, gleich-mäßiger und starker Drall beim Spinnen sowie unter Umständen die Nachbearbeitung durch Walken, die typisch für eine große Zahl der erhaltenen mittelalterlichen Textilien sind, bewir-ken eine hohe Festigkeit und eine sehr gute Abriebfestigkeit des Gewebes. So kann von einer sehr langen Nutzbarkeit eines Kleidungsstückes guter Qualität ausgegangen werden. Bei dem erstandenen Gewand kann es sich um ein neu angefertigtes oder um ein bereits getragenes Kleidungsstück gehandelt haben. Dass auch getragene Kleider weiterverkauft wurden und Abnehmer fanden, ist durch zahlreiche Hinweise aus schriftlichen Quellen belegt. So stellte der Handel mit Altkleidern im 14. Jahrhundert eine der wenigen verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten für Juden dar38. Dass auch im Altkleiderhandel nicht immer im Sinne des Kunden verfahren wurde, zeigt unter anderem eine Stelle aus der Predigt von den fünf Pfunden. Darin wird ein Kleiderhändler kritisiert, dass er abgetragene Stücke mit Stärke behandelt, um sie als scheinbar bessere Qualität zu verkaufen39. Auch wenn die meisten archäologischen Funde von Textilien – kleine braune Stofffetzen – unspektakulär erscheinen mögen: Textilien und die Beschäftigung mit ihrer Herstellung sind nicht nur vom Aspekt des Handwerks ein spannendes Thema. Sie ermöglichen, ja erzwingen geradezu auch die Beschäftigung mit anderen Aspekten, die über das Fundgut selbst hinaus-gehen. Untrennbar mit Textilien verbunden sind die Fragestellungen in Bezug auf Geschlecht der arbeitenden Personen. Die soziale Funktion als Statussymbol führt schnell zu Fragen bezüglich Wert und Wertschätzung von Textilien, Beschäftigung mit dem Wert von Stoff wiederum in das Gebiet der Wirtschaftsgeschichte. So vielfältig wie die Textilien des Mittelalters selbst sind auch die Möglichkeiten, diese Fundgattung zu betrachten und in andere Forschungsbereiche einzubinden. Auch wenn die Fachterminologie zu Beginn abschrecken mag und ein wenig Einarbeitung erfordert, die Beschäftigung mit dem Fasern, Fäden und Geweben kann neue Perspektiven auf das Alltags-leben im Mittelalter eröffnen und zu neuen Fragestellungen anregen. Dass Textilarbeit im Mittelalter keine reine Frauensache war, konnte im Rahmen dieses Aufsatzes hoffentlich klargestellt werden – und heute sollte die Beschäftigung mit archäologischen Textilien nicht nur den Frauen überlassen werden. Literatur

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38 Dünzelmann 2001, 64. 39 Röcke 1983, 18.

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Abb. 1 und 3: Katrin Kania; Abb. 2: Uitz 2003, S. 102; Abb. 4: British Library Board, Royal 10 E IV. Dr. Katrin Kania M.A. An der Lauseiche 8 91058 Erlangen [email protected]

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Die Schwarzach. Wasserstraße und Energielieferant The Schwarzach. Waterway and Energy Source

Thomas Liebert

Abstract

The construction of the high-speed line Nuremberg-Ingolstadt, Bavaria, made possible large scale archaeological excavations in the years 1995-2001. Two of these sites unearthed waterlogged features and findings, including over 3000 early medieval timber logs. One site revealed a ship landing place, first dated in the early 9th century and often remodelled. On the second site the remains of ten watermills were discovered, succeeding one another during the period from the 6th to the 9th century. It also included structures of mill dams, ponds and channels. Some of the features belong to the so far oldest known early medieval mill in Europe. These discoveries of early medieval hydraulic systems and techniques show the high standard of milling technology even in non-roman areas. The mills were mostly grain mills, as the collected millstones show. The millstones were of local production. The unearthed features demonstrate at the same time first ecological problems in the valley arising due to human use of resources. The parallelism of construction phases on both excavation sites might be caused by periodical floods which made it necessary to rebuild the structures. Through linking the ceramic finds of early medieval times with the construction phases it was possible to gain dendrochronological based datings for them. All this together with numerous collected wood artefacts of daily life offer us not only a view of technical possibilities but also of early medieval living. The research results together with the evidence of other nearby archaeological sites, written sources and still operating mills show a continuity of milling at the river Schwarzach next to Großhöbing from the 6th century until today.

1. Einleitung

Unverhofft kommt oft! Dieser Spruch bewahrheitete sich wiederholt beim Bau der mittlerweile bestehenden ICE-Trasse Nürnberg-Ingolstadt. Als bei geologischen Untersuchungen des Untergrundes im Vorfeld der eigentlichen Baumaßnahmen im Jahr 1995 erste Hölzer mit Bearbeitungsspuren zum Vorschein kamen, war noch nicht einmal ansatzweise zu erahnen, was für ein Befund hier angeschnitten wurde. Die Fundstelle an der Schwarzach nordöstlich von Großhöbing im Landkreis Roth blieb jedoch nicht die einzige – weitere folgten (Abb. 1). Bis Ende des Jahres 2001 wurden mehrere tausend Hölzer an den verschiedensten Stellen des im südlichen Mittelfranken gelegenen Aueraumes und seiner angrenzenden Hänge geborgen. Oft vorgeschichtlicher Zeitstellung, entstammen sie jedoch zumeist dem frühen Mittelalter. Vor allem diese Hölzer und ihre Befunde – es handelt sich um mehr als 3000 Holzfunde – belegen nicht nur die entgegen bisheriger Anschauung intensive Nutzung einer Flussaue, sondern auch sehr unterschiedliche Wasserbauwerke mit speziellen Nutzungsansprüchen. Allen gemein ist deren Ansiedlung am Fluss, der zugleich die Voraussetzung für ihre Verwendungsfähigkeit und Lage ist1.

1 Soweit nicht anders angegeben beruhen die Aussagen dieses Beitrages auf dem Inhalt der noch unpublizierten Dissertation des Verfassers (Liebert 2011).

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Abb. 1. Der Freistaat Bayern mit seinen Regierungsbezirken und dem Fundort Großhöbing.

2. Die Grundlagen

Die wichtigste und entscheidende Grundlage bilden natürlich die Holzfunde und -befunde sowie die Sedimentstrukturen. Gerade letz-tere stellen ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. So verunklarten die über Jahr-hunderte währende Einwirkung des Wassers wie auch stete Verlagerungen des Flussbettes die jeweilige Befundsituation in erheblichem Maße. Ein ständiger Abgleich mit den Holz-befunden und deren Datierungen ist bei der Interpretation der Sedimentstrukturen daher unerlässlich. Die Zuordnung der einzelnen Holzfunde und -befunde ist wiederum häufig nur anhand ihrer Jahrringdatierungen mög-lich. Sie bilden daher eine wesentliche Vor-aussetzung für die Klärung der Baustruk-turen. Mehr noch als andere Bauwerke und Baukomplexe gehen Wasserbauwerke unter-schiedlicher Verwendung eine sehr enge Verbindung mit dem sie umgebenden Natur-raum ein. Ein Umstand, der sich nicht zuletzt

aus dem Gewässer als Bezugspunkt der betreffenden Anlage ergibt. Darüber hinaus erlauben die Bestimmungen der für die Konstruktionen verwendeten Hölzer weiterreichende Rück-schlüsse auf das natürliche Umfeld zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und davor2. Das gleiche gilt für die Sedimentstruktur des Aueraumes, die letztendlich auch menschliche Aktivitäten innerhalb des die Befunde umgebenden Landschaftsraumes widerspiegeln kann. Im Zusam-menspiel mit den geologischen und klimatischen Gegebenheiten lassen sich auf diesem Wege weitere Informationen zum Landschaftsbild des betreffenden Raumes und Zeitabschnittes gewinnen. 2.1. Befunde und Funde

Entsprechend ihrer Funktion ist die Lage der Holzbefunde im Aueraum sehr unterschiedlich. So befinden sich die Hölzer der ehemaligen Bootsanlegestellen inmitten der Flussaue, an einer Stelle, die sowohl vor als auch nach der Verlegung der Schwarzach in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts stets im Verlaufsbereich des Flusses lag. Dass die Holzbefunde trotz der fortwährenden Verlagerungen des Flussbettes an Ort und Stelle verblieben, ist letztendlich den Sedimentationsprozessen im Schwarzachtal zu verdanken – Sedimenten, die sich bis heute im Talraum anreichern. Die Fundstelle mit Resten frühmittelalterlicher Mühlen

2 An dieser Stelle sei dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege für die großzügige Übernahme der Holz-bestimmungen und -datierungen herzlich gedankt. Herrn Franz Herzig von der Holzrestaurierungsstelle in Thier-haupten und seinem Mitarbeiter Wolfgang Wagner möchte der Verfasser für die sehr konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit herzlich danken.

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hingegen ist am Rande der Flussaue, im Übergangsbereich zur Niederterrasse angesiedelt. Die Ortswahl mag einerseits dem damaligen Verlauf der Schwarzach geschuldet sein. Andererseits befinden sich beide Fundstellen damit in einer Lage, die sich angesichts deren Interpretation als Wassermühlen und Bootsländen als sehr charakteristisch erweist. In der nordöstlich von Großhöbing gelegenen Fundstelle wurden Befundstrukturen angetrof-fen, die sich als Reste mehrerer Bootsanlegestellen interpretieren lassen3. Auffallend waren hier verschiedenen Pfahlreihen. Sie setzten sich aus jeweils unterschiedlichen Hölzern, Rund-, Halb- und Spalthölzern, zusammen. Diese Pfahlreihen verlaufen dicht hintereinander gesetzt und im Süden leicht abweichend parallel (Abb. 2). Lediglich die älteste der angetroffenen Bauphasen aus dem dritten Viertel des 8. Jahrhunderts nimmt einen gänzlich anderen Verlauf. Sie belegt eine kleinräumige Verlagerung des Flussbettes im Vorfeld der Baumaßnahmen des früheren 9. Jahrhunderts. Denn die jüngeren Pfahlreihen sind mehr oder weniger Nord-Süd orientiert. Östlich dieser Reihen überlagerte eine mattenartige Struktur in mehreren horizon-talen Lagen ausgelegter Hölzer einen Abschnitt des älteren Flussbettes, das hier im 8. Jahr-hundert verlief. Das Bemühen, den dort vorhandenen, sehr instabilen Untergrund zu befes-tigen, ist anhand dieser Maßnahme deutlich erkennbar. Verhaltenstypisch ist in diesem Zusammenhang auch die Art und Zusammensetzung der verwendeten Hölzer. So wurden neben oft sekundär verwendeten Hölzern unterschiedlicher Bearbeitungszustände und -quali-täten vielfach einfache Rundhölzer beziehungsweise Astholz für die Substruktion herange-zogen.

Abb. 2. Mittlerer Abschnitt der Pfahlreihe von 854/855 n. Chr.

3 Herzig u.a. 1998, 143; Liebert 2004, 71-75.

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Der Anteil an Holzartefakten ist dagegen äußerst gering. Dem Bild unterschiedlichster zu-sammengelegter Hölzer entspricht zudem das breite Spektrum der angetroffenen Holzarten. Eiche ist in diesem Fall zwar zahlenmäßig am häufigsten vertreten, macht aber nur etwas weniger als die Hälfte der Hölzer aus. Ein anderes Bild ergibt sich wiederum bei den Pfahl-reihen. Sie bestehen – zumindest die Hölzer der drei Hauptbauphasen von 769, 819 und 854/55 n. Chr. – nahezu ausschließlich aus Eiche. Die Pfahlreihen jüngerer Bauphasen setzen sich hingegen fast durchweg aus schmächtigen Rundhölzern zusammen, für die meist auf Weichhölzer zurückgegriffen wurde. Die exakte zeitliche Einordnung dieser jüngeren Struk-turen ist daher nicht möglich. Westlich der beiden Pfahlreihen von 819 und 854/855 n. Chr. befand sich ein parallel verlaufendes Flussbett, dessen östliche Begrenzung und zugleich Sicherung sie darstellten. Soweit rekonstruierbar wird es eine Breite von 6 bis 7 Metern besessen haben. Mit der Bauphase von 854/855 erhielt das Flussbett eine Sohl- und Böschungsauskleidung aus überwiegend plattigen, örtlich anstehenden Kalksteinen. Auffal-lend ist, dass diese Steinsetzung südlich der Pfahlreihe aus Halbhölzern ursprünglich böschungsartig auf den Uferbereich heraufzog, wo sie noch in Resten angetroffen wurde. In dieser Zone wiederum steckten im Abstand weitere massive Halb- und Rundhölzer aus Eiche im Untergrund. Die Längenausdehnung der beiden Bauphasen von 819 und 854/855 bewegte sich zwischen 15,5 bis 16,5 Metern. In der Gesamtschau betrachtet stellen die Befunde mit der Abfolge von Flussbett, parallel verlaufenden Pfahlreihen als Böschungssicherung, geböschten Uferbereichen, die flach in das Flussbett abfallen und mit den Stabilisierungsmaßnahmen des rückwärtigen Uferbereiches in Form der hölzernen Substruktion ehemalige Bootsanlegestellen an der Schwarzach dar. Nach Ausweis der Holzdatierungen diente dieser Flussabschnitt bis weit in das 9. Jahrhundert hinein als Anlegestelle. Durch die kaiartigen Ufersicherungen in Verbindung mit den flach ins Wasser abfallenden, ab 854/855 mit Kalksteinen befestigten Uferzonen erfüllte diese Anlegestelle zugleich die Funktion einer Lände. Es war also möglich, die Boote an Land zu ziehen beziehungsweise problemlos von dort ins Wasser zu lassen. Trotz der steten Wasserbewegungen, denen der Aueraum ausgesetzt ist, trotz der wechselweisen Sedimentablagerungen und -abtragungen infolge der Wanderungsbewegungen der Schwarzach deckt sich die Fundverteilung unter Berücksichtigung der Zeitstellung der jeweiligen Keramikfunde alles in allem recht gut mit der zeitlichen Abfolge der Bau- bezie-hungsweise Nutzungsphasen. Im Bereich der anderen Fundstelle östlich von Großhöbing zeichnet sich hinsichtlich der Fundverteilung, insbesondere der Keramik, ein ganz ähnliches Bild ab. Auch hier korres-pondiert die Zeitstellung der Kleinfunde trotz der oben genannten Faktoren überraschend gut mit den einzelnen Bauphasen. Ansonsten erwies sich die Befundlage in dieser Fläche als wesentlich komplexer und zunächst deutlich unübersichtlicher als im Bereich der Bootsanle-gestellen. Grund dafür war nicht nur der überwiegend fragmentarische Erhaltungszustand der einzelnen Wasserbauwerke, sondern vor allem auch der Umstand, dass von den eigentlichen Mühlengebäuden lediglich deren Substruktionen erhalten blieben. Anhand des Grabungs-planes sind zwar einige fragmentarische Baustrukturen nachvollziehbar, die endgültige Ermittlung der insgesamt zehn Bauphasen dieser Fundstelle war jedoch erst in Verbindung mit den Holzdatierungen und der Schichtabfolgen sowie dem Abgleich zahlreicher Holzfunde dieses Areals möglich. Sehr hilfreich für die Rekonstruktion der einzelnen Bauphasen war

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zudem der anstehende Opalinuston4 mit seiner Oberflächenstruktur, die an verschiedenen Stellen anthropogene Eingriffe aufwies. Darüber hinaus sind weitere Bauphasen anhand der Bearbeitung zugehöriger Pfähle unterscheidbar. Im Ergebnis offenbarte sich hier ein früh-mittelalterlicher Mühlenstandort des ausgehenden 6. bis späten 9. Jahrhunderts mit sich mehr-fach überlagernden Bauphasen. Trotz der komplexen Befundlage sind bereits anhand des Planes zwei Befundschwerpunkte erkennbar – eine ausgedehnte Pfahlsetzung im Norden der Grabungsfläche und ein „Pfostenfeld“ im Süden. Sie markieren zwei Zeitabschnitte des Frühmittelalters.

Abb. 3. Nordabschnitt des im ausgehenden 6. Jahrhundert angelegten Wehres. Bei der nördlichen Pfahlsetzung handelt es sich um die älteste Bauphase des frühen Mittel-alters (Abb. 3). Den Jahrringdatierungen der verwendeten Hölzer zufolge entstand sie im aus-gehenden 6. Jahrhundert n. Chr. Für die rund 13 Meter lange Konstruktion wurden vorwie-gend Kiefernspältlinge gesetzt, die an einigen Stellen durch solche aus Eiche ergänzt wurden. Hinter der geschlossenen Pfahlreihe befanden sich weitere Eichenpfähle, die ebenfalls Teil des Gesamtbauwerkes waren. Dank der mitverbauten Eichenpfähle konnten die Datierungen der Kiefern zusätzlich abgesichert werden. Den Schichtabfolgen und -strukturen nach zu schließen, wurden die Hölzer in eine eigens dafür ausgehobene Baugrube gesetzt. Die Stabi-lisierung der ursprünglich senkrecht stehenden Pfähle erfolgte mittels unterschiedlich mäch-tiger Packungen aus Kalksteinen, die beiderseits der Pfahlreihe ausgelegt wurden. Durch die Kraft der von Norden talabwärts fließenden Schwarzach sind die Kiefernspältlinge des mitt-leren Abschnittes zu einem späteren Zeitpunkt nach hinten verdrückt worden; und zwar auf

4 Vgl. hierzu Schmidt-Kaler 1987, Blatt Nr. 6933.

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etwa der gleichen Breite, wie sie das Flussbett im Bereich der Bootsanlegestellen besessen hat. Die Lage, Länge und Bauweise lassen darauf schließen, dass es sich bei dem Befund um die Reste eines ehemaligen Wehres handelt, das hier zum Aufstauen der Schwarzach angelegt worden ist. Weitere Eichenpfähle am südwestlichen Ende der Konstruktion waren nach Ansicht des Verfassers ebenfalls Teil der Anlage. Dort wird sich ein Überlauf befunden haben. Außer dem Wehr wurden keine Baustrukturen dieser frühen Zeitstellung gefunden. Lediglich eine Dreiergruppe aus Eichenpfählen, die einige Meter südöstlich davon angetrof-fen wurde, konnte in den gleichen Zeitraum datiert werden. Für die spätere Rekonstruktion des Befundes wird sie aber noch eine wichtige Rolle spielen. Südlich des Wehres erstreckt sich eine Zone mit lockerer Pfahlstreuung (Abb. 4). Es handelt sich überwiegend um Eichenpfähle. Ihre Dimensionierung wie auch ihre Bearbeitungs-zustände sind unterschiedlich. Neben einfachen Rundhölzern sind Halb- und Spalthölzer ebenso anzutreffen. Die meisten der Pfähle steckten im anstehenden Opalinuston, der ihnen über die Jahrhunderte hinweg den nötigen Halt bot. Regelhafte Baustrukturen in Form von Pfahlreihen, Flechtwerk oder einem verstürzten Verbau eines Mühlkanals traten nur vereinzelt auf. Für die Befunde dieser Fundstelle ist das Zusammenspiel von Jahrringdatierungen, Bear-beitungsmerkmalen an der Oberfläche des Opalinustones und typologischen Abgleichen der Pfähle untereinander sowie den Sedimentstrukturen sehr wichtig. Im Zuge der Auswertung zeigte sich, dass die Fundverteilung insbesondere diverser Holz- und Eisenfunde wie auch der Mühlsteinfragmente ebenfalls wichtige Hinweise zu den ehemals geschaffenen Bebauungs-strukturen liefert. Die Verbindung dieser Faktoren beziehungsweise deren gegenseitiger Abgleich erlaubt es, die Baustrukturen der einzelnen Bauphasen mit Wasserführung wie Mühlengebäuden herauszufiltern, um sie als Grundlage für weitere Rekonstruktionsversuche des ursprünglichen Zustandes, besonders der aufgehenden Gebäude zu verwenden. Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Lokalisierung der Mühlen ergab sich zum einen durch den Umstand, dass die ihnen zuweisbaren Pfähle lediglich Substruktionen des aufgehenden Bau-werkes waren, und zwar Teilsubstruktionen. Zum anderen wurden für diese Substruktionen auch ältere Hölzer, mitunter zweitverwendet, verbaut. Diese Verhaltensweise beruhte wohl auf dem Umstand, dass bei diesen nicht sichtbaren Hölzern ihr Erscheinungsbild nicht so wichtig war. Vor allem im Falle der Mühlengebäude spielen zahlreiche Holzfunde eine größere Rolle, die, wie die Auswertung ergab, für die jeweils nächst jüngere Bauphase zweit-verwendet worden sind. Dies gilt in ähnlicher Weise für einen weiteren Teil der Holzfunde, die an den verschiedensten Stellen der Grabung geborgen werden konnten und in direkter Verbindung mit den Mühlengebäuden und ihrer eigentlichen Funktion stehen. Gemeint sind damit so genannte Mühlradschaufeln. Sie gehörten zu Wasserrädern vom Typ der Strauber-räder. Deren Kennzeichen sind von außen in den Radkranz eingesteckte, hölzerne Schaufeln, die vom Wasser angetrieben werden. Die solchermaßen nachgewiesenen Strauberräder setzen wiederum eine unterschlächtige Wasserführung voraus. Zugleich ist mit den Mühlrad-schaufeln der Betrieb von Mühlen am Ort belegt. Angesichts der Funde von Mühlsteinfrag-menten hat es sich vorwiegend um Getreidemühlen gehandelt. Während die Funde mehrerer Messer direkt mit der Nutzung beziehungsweise Reparaturen an den Mühlen in Zusammen-hang gebracht werden können, ist dieser im Falle der Keramikfunde eher indirekter Natur.

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Abb. 4. Im anstehenden Boden steckende Pfähle der südlichen Grabungsfläche. 2.2. Der Landschaftsraum

Im Anschluss an die überblicksartige Schilderung der Befundsituationen beider Fundstellen scheint es dem Verfasser angebracht, den Blick auf den Naturraum zu lenken, in den die Befunde eingebettet waren. Schließlich bedingen sich beide Faktoren gegenseitig. Wie eingangs erwähnt befanden sich beide, die Bootsanlegestellen und die Mühlen, direkt am Fluss beziehungsweise letztere in seiner unmittelbaren Nähe. Ohne die Schwarzach wären die zwei wasserbautechnischen Anlagen nicht denkbar, weil sie nicht funktionieren könnten. Die Mühlen, weil sie den Fluss als Energielieferanten benötigen, und die Bootsanlegestellen, weil sie ohne den Fluss ebenso nutzlos in der Landschaft stehen würden wie ein Autobahn-parkplatz ohne Straßenanbindung. Mit diesem Beispiel dürfte die weitere Funktion der Schwarzach denn auch hinreichend charakterisiert sein. Sie diente zumindest im 9. Jahrhun-dert als Wasserstraße. Durch sie war der Höbinger Raum in erster Linie an den Altmühl-Donau-Raum angeschlossen. Den nördlichen Endpunkt wird sie wohl nur phasenweise bei Niedrigwasser gebildet haben. Bei normalen Wasserständen hingegen verlief der Boots-verkehr wenige Kilometer weiter nördlich bis Burg Greuth, die erst vor wenigen Jahren in das Blickfeld der Forschung gerückt ist5. Daneben dürfte die Höbinger Anlegestelle allerdings noch zwei weitere Aufgaben erfüllt haben. Zum einen wird sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der im Höbinger Raum ansässigen Bevölkerung für Transport- und Anlieferungszwecke in Anspruch genommen worden sein. Zum anderen bot sich die Anlege-stelle durch ihre Lage an der Thalacheinmündung als Umschlagplatz geradezu an. Von hier

5 Vgl. Herrmann 2008, 209-232.

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aus konnte nicht nur der Landweg nach Norden eingeschlagen werden, sondern auch ein anzunehmender Weg entlang des Thalachtales nach Westen. Der Naturraum mit der West-Ost verlaufenden und anschließend im Höbinger Raum nach Norden abknickenden Fränkischen Alb schuf hierfür die Voraussetzung. Nicht umsonst stellt das Schwarzachtal bei Höbing noch heute einen stark genutzten Durchgangsraum durch die Fränkische Alb mit der gleichzeitigen Ostwestverbindung an der nördlichen Albkante entlang dar. Darüber hinaus sind der Naturraum und die Wasserbauwerke beziehungsweise die Mühlen noch in anderer Weise miteinander verbunden. Am augenfälligsten natürlich durch die stete Verwendung von Gesteinsmaterial der Jurakalke. Immer wenn Steine für Bau- beziehungs-weise Ausbaumaßnahmen wie zum Beispiel im Bereich der Bootsanlegestellen benötigt wurden, griffen die Talbewohner auf den nahezu unbegrenzt verfügbaren Stein der angren-zenden Hänge zurück6. Die einzige Ausnahme stellen hier die Mühlsteine dar, die wegen der speziellen Materialanforderungen im Bereich des nur wenige Kilometer entfernt anstehenden oberen Burgsandsteines gebrochen wurden7. Parallel dazu spiegelt sich der ökologische Zustand des Landschaftsraumes im Artenspektrum der geborgenen Holzfunde wider. Allerdings steht hier zunächst die Frage im Raum, welche Baumarten im frühen Mittelalter im Umfeld Höbings wuchsen. Voraussetzend darf ange-nommen werden, dass die menschlichen Eingriffe zu dieser Zeit noch nicht so umfassend waren, dass sie die vollständige Verdrängung einzelner Baumarten zur Folge hatten. Deshalb lohnt sich ein Blick auf die so genannte potentielle natürliche Vegetation des Untersuchungs-gebietes. Mit diesem Begriff ist die Vegetation gemeint, die sich vor dem Hintergrund bereits erfolgter menschlicher Eingriffe in den Naturhaushalt – und die gab es ja schon in vor- und frühgeschichtlicher Zeit – von selber wieder an den jeweiligen Standorten ansiedeln würde. Eine von Hohenester8 erstellte kartographische Übersicht belegt ein umfangreiches Holzarten-spektrum, auf das die Bewohner des Schwarzachtales zurückgreifen konnten. Besonders verschiedene, von den geologischen, topografischen und hydrologischen Besonderheiten eini-ger Hangabschnitte profitierende Pflanzengesellschaften trugen zu dieser Bandbreite bei9. Um nicht alle Baumarten aufzählen zu müssen, sei nun der umgekehrte Weg gewählt. Welche Holzarten lassen sich anhand der Holzfunde nachweisen und welche davon waren Teil der potentiellen natürlichen Vegetation? Zu den belegten Holzarten gehören der Ahorn, die Birke, die Eiche, die Erle, die gemeine Eibe, die gemeine Esche, die gemeine Fichte, die gemeine Hasel, der gemeine Wacholder, die Hainbuche, Hartriegelgewächse, der Holunder, die Kiefer, Obstgehölze, die Pappel, die Rotbuche, Steinfruchtgewächse, die Weide, die Weißtanne und die Ulme. Sie alle standen in der näheren Umgebung zumindest theoretisch zur Verfügung. Den Hauptanteil unter den Funden machen die wasserbeständige Eiche mit 57 % sowie Weide und Erle mit jeweils 11 % und 10 % aus. In Sedimentproben enthaltene Mollusken wiederum zeigen, dass sich die Erbauer des im ausgehenden 6. Jahrhunderts angelegten Wehres in einer offensichtlich noch wenig landwirtschaftlich erschlossenen Umgebung

6 Vgl. hierzu die geologische Karte von Schmidt-Kaler 1987, Blatt Nr. 6933. 7 Vgl. hierzu die geologische Karte von Gruß 1958, Blatt Nr. 6833. 8 Hohenester 1978. 9 Zu Pflanzen- und Waldgesellschaften siehe Ellenberg 1996.

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bewegten10. Umgekehrt zeichnet sich anhand der zunehmenden Verwendung von Buchenholz für die Fertigung der Mühlradschaufeln im späteren 9. und im 10. Jahrhundert das Bild einer immer mehr von landwirtschaftlicher Tätigkeit geprägten Tallandschaft ab. Die Eichenbestände des Aueraumes waren nun offenbar weitgehend ausgeholzt. Letztendlich spiegeln die verschiedenen Mühlen die Intensivierung des Getreideanbaues um Höbing vom ausgehenden 6. bis 10. Jahrhundert wider. Die Folgen dieser Rodungstätigkeit sind ebenfalls an den Befunden ablesbar. So sprechen nicht nur die Sedimentablagerungen im Aueraum, die sich natürlich auch über die Fundstellen erstreckten, für nachhaltige Hangerosion. Auch die auffälligen, in vergleichsweise kurzen Abständen zeitlich parallel erfolgenden Neubaumaßnahmen an der Bootsanlegestelle und dem Mühlenstandort im 9. Jahrhundert sind eigentlich nur vor dem Hintergrund von Hochwässern erklärbar. Deren destruktive Wirkung wurde durch erhebliche Sedimentfrachten sicher noch erhöht. 3. Vergleichsmaterial und Vorgehensweise

Bevor nun die Rekonstruktionsversuche vorgestellt werden, ist es nach Ansicht des Autors notwendig, die Vorgehensweise, an deren Ende die Rekonstruktionszeichnungen stehen, zu erläutern. Sie stehen am Ende einer Kette von Vergleichen und Verknüpfungen unterschied-licher Fakten, Quellengattungen und Informationsgrundlagen. Jenseits der bisher vorgestellten „ortsgebundenen“ Informationsgrundlagen, die in der Regel nur einen Teil dessen bilden, was den umfassenden Rekonstruktionsversuch der frühmittel-alterlichen Lebenswelt – in diesem Fall Groß- und Kleinhöbings – ermöglicht, zog der Verfasser weitere „ortsungebundene“ Grundlagen heran. Allen voran sind hier direkte Vergleichsbeispiele von Wassermühlen und Schiffsanlegestellen archäologischer Grabungen aus dem europäischen In- und Ausland zu nennen. Dem derzeitigen Forschungsstand Rech-nung tragend liegt das Übergewicht hier bei den ausländischen Grabungsbefunden. Sie erlau-ben mitunter direkte Vergleiche mit den Höbinger Befunden oder zumindest Rückschlüsse auf deren Verwendung. Trotz der meist großen räumlichen Distanz zu den hier behandelten Bauten offenbaren sich immer wieder konstruktive und typologische Parallelen. Als ebenso hilfreich erweisen sich Vergleiche mit anderen Holzbauten, die vom Verfasser gerade für die Rekonstruktion des aufgehenden Baubestandes herangezogen werden konnten. Neben den archäologisch erschlossenen Vergleichsbeispielen griff der Verfasser auf bildliche Darstellungen von Mühlen und Wasserbauten zurück. Problematisch ist hierbei der Umstand, dass keine zeitgenössischen Abbildungen zur Verfügung stehen. So bleibt nur noch der Umweg über jüngere hoch- bis spätmittelalterliche Vorlagen zu Mühlen, Hausbauten sowie Wasserbauwerken. Wie Beobachtungen des Verfassers an rezenten hölzernen Wasserbauten zeigen und typologische Übereinstimmungen frühmittelalterlicher Holzfunde mit denen jüngerer Darstellungen, zum Beispiel bei Agricola11, nahe legen, stellt deren zeitlicher Abstand zum frühen Mittelalter keinen generellen Hinderungsgrund dar. Die Art der Abbil-dungen ist jedoch sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von der Steinplastik über Miniaturen beziehungsweise Buchmalerei, Darstellungen auf Kartenwerken, Altarbilder,

10 Herrn Prof. em. Dr. Ludwig Reisch und Frau Sabine Kadler vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Uni-versität Erlangen möchte ich an dieser Stelle herzlich für die Untersuchung der Molluskenfunde danken. 11 Agricola 1994.

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Malerei im Allgemeinen, bis hin zu Drucken mit rein künstlerischem Hintergrund und solchen in Werken, welche die Hebung des damaligen Wissensstandes zum Ziel hatten12. Gerade den letzteren kommt daher gesteigerte Bedeutung zu, weil bei deren Abbildungen gemeinhin größerer Wert auf die Genauigkeit der Darstellungen gelegt wurde, wie zum Beispiel bei Agricola. Aber selbst wesentlich jüngere, neuzeitliche Malereien oder Zeichnun-gen etc. eignen sich mitunter zum Abgleich bestimmter Bauweisen. Schriftquellen bieten sich in einzelnen Fällen ebenfalls als Vergleichsmaterial an. Meist aber fehlen bei ihnen Nennungen zu konstruktiven Details oder gar der Funktionsweise der Mühlen. In der Regel beschränkt sich ihr Aussagegehalt auf die Erwähnung und kursorische Lokalisierung der Mühle(n). Dieser Kategorie gehören Polyptycha, Kapitularien, Urbare sowie Pertinenzformeln im Rahmen von Schenkungen an. Im Falle letzterer konnte Schwine-köper13 nachweisen, dass sich die formelhafte Nennung der Pertinenzen in etlichen Fällen durchaus an den jeweiligen realen Verhältnissen orientierte und beileibe keine von den tatsächlichen Gegebenheiten vollkommen losgelöste, rein formalisierte Aufzählung darstellte. Verglichen mit ihnen enthalten die leges, also die Rechtstexte der Alamannen, Langobarden14 usw., jenseits deren rechtlichen Einordnung schon etwas mehr Informationen zu den Mühlen beziehungsweise zu deren Bestandteilen. Etwas umfangreicher äußern sich Werke wie zum Beispiel die Gregor von Tours15 oder die Vita der Juraväter16 aus dem frühen Mittelalter zu baulichen Details, nicht nur von Mühlen sondern von Wasserbauwerken allgemein. Vor allem erlauben sie mitunter den direkten Vergleich mit den archäologischen Befunden. 4. Rekonstruktionsversuche

In den vorangehenden Abschnitten erfolgten die allgemeinen Befunddarstellungen, deren kurze Einbindung in den Naturraum und die Schilderung der Verknüpfungen, die für die endgültigen Rekonstruktionsversuche unabdingbar sind. Im Folgenden sollen nun basierend auf den Befunden als Grundlage und den zur Verfügung stehenden Vergleichsmöglichkeiten die Rekonstruktionsversuche vorgenommen werden. Um den Rahmen des Beitrages nicht zu sprengen, wird sich der Verfasser auf wenige Bauphasen beschränken und diese exemplarisch vorstellen. Dem Aufbau des Beitrages folgend, steht die Bootsanlegestelle an erster Stelle. Im Zentrum der Betrachtung soll die 854/855 n. Chr. neu angelegte Bootsanlegestelle stehen. Das im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts neu geschaffene Flussbett wurde weiter genutzt, ebenso die Substruktion, mit der der angrenzende Uferbereich stabilisiert werden sollte (Abb. 5). An der Oberfläche war sie jedoch nicht zu sehen. Deshalb erscheint sie auch nicht auf der Rekonstruktionszeichnung. Die Befundlage für diese Bauphase ist wiederum so klar, dass die folgende Befundschilderung bereits die Rekonstruktionszeichnung erklärt. Die neu angelegte Bootsanlegestelle besaß eine Länge von 15,5 Metern und verlief in nordnordost-

12 Beispielhaft sei hier auf Mühlendarstellungen des 12. Jahrhunderts auf einem Kapitell der Kirche in Vézelay (Hägermann 1997, 350 Abb. 172), im hortus deliciarum der Herrad von Landsberg (Lohrmann 1998, 221 Abb. 1) oder die „Verlorene Mühle“ von Sebald Beham aus dem 16. Jahrhundert (Yorck Project 2003) verwiesen. 13 Schwineköper 1977, 22-56. 14 MGH LL nat. Germ. V, I; MGH LL IV. 15 MGH SS rer. Merov. I, II. 16 MGH SS rer. Merov. III.

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Abb. 5. Rekonstruktionsversuch der Anlegestelle. südsüdwestlicher Richtung. Deren eigentlicher Uferverbau bestand in erster Linie aus Halb-hölzern von meist 12 bis 15 Zentimetern Durchmesser und 4 bis 9 Zentimetern Stärke. Einige Exemplare waren allerdings stärker. Die erhaltenen Längen der Pfähle waren je nach Einschlagtiefe unterschiedlich. Sie alle bestanden aus Eiche. Die Konstruktionsweise des Verbaues war ebenso einfach wie dauerhaft. So wurden die Halbhölzer Pfahl an Pfahl gesetzt ins Ufer gerammt. Der palisadenartige Uferverbau neigte sich mit 60° bis 77° gegen das Ufer. Auf Flechtwerk konnte bei dieser Bauweise weitgehend verzichtet werden. Dieser Abschnitt des Uferverbaus war lediglich an einer Stelle von Flechtwerk unterbrochen. An seinem südlichen Ende zog der Uferverbau leicht nach Osten hin ein und endete an einem massiven Eichenpfahl, der von kleineren, schräg ansetzenden Pfählen gesäumt wurde. Rund 10 bis 30 Zentimeter hinter diesem nördlichen Abschnitt der Bootsanlegestelle steckten zusätzliche Eichenpfähle im Abstand von mehreren Metern senkrecht im Untergrund. Sie fanden ihre südliche Fortsetzung in weiteren Pfählen, einem Pfahlpaar und einem massiven Rundholz, das den südlichsten Pfahl der Bauphase von 854/855 darstellt. Die leicht zurückgesetzten Rundhölzer bilden zusammen eine gerade Linie. Im südlichen Abschnitt der Bootsanlegestelle fehlt jegliche Art des Uferverbaues. In diesem Bereich fällt die Uferböschung flach zur Schwarzach hin ab. Die zuletzt genannten Pfähle steckten hier nicht nur im Abstand von 2 bis 3,6 Meter im Untergrund, sondern sie befanden sich in der Randzone einer ausgedehnten Steinsetzung aus überwiegend plattigen Kalksteinen, die zur Sicherung des Ufers, der Böschung wie auch der Flusssohle ausgelegt worden waren. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass sie als Widerlager eines wie auch immer gearteten Uferverbaues gedient haben. Die Sohlauskleidung der Schwarzach erstreckte sich zudem bis zum nördlichen Abschnitt der Bootsanlegestelle. Die freistehenden Pfähle des südlichen Abschnittes wie die rückwärtigen Pfähle des nördlichen Abschnittes boten in Anbetracht des Gesamtzusammenhanges sicher die Möglichkeit zum Vertäuen der anlegenden Boote beziehungsweise im südlichen Abschnitt des Sicherns der an Land gezogenen Boote. Im

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Abb. 6. Bootslände mit Einbäumen. Radier-ung von Christoph Murer, 1610.

Wasser bewegten sie sich – nach Aussage der Profilschnitte – in einem Flussbett von rund 6 bis 7 Metern Breite. Die vorgefundene Befundlage vermittelt ein detailliertes Bild nicht nur vom Aussehen der Anlegestelle. Sie belegt zugleich, dass es sich hier weder um eine klassische Bootslände noch um eine typische Anlegestelle mit Kaianlagen handelt, wie sie von anderen ehemaligen Häfen inzwischen mehrfach belegt sind. Die Höbinger Anlegestelle vereinigt vielmehr beide Lan-detechniken in einer Anlage. Und das übrigens nicht nur im Rahmen einer Bauphase, was eventuell noch als Experiment gewertet werden könnte, sondern bereits bei der Vorgänger-bauphase. Die Kombination hat sich offensichtlich bewährt. Die Frage nach vergleichbaren Befunden ist ebenso leicht wie schwer zu beantworten. Zwar gibt es eine Reihe von mittel-alterlichen Kaianlagen und Uferbefestigungen, die im In- und Ausland archäologisch unter-sucht wurden. Diese lagen aber im Nord- und Ostseebereich, dem Bodensee beziehungsweise größeren Flüssen wie der Themse17. Von einem kleinen Fluss wie der Schwarzach sind dem Verfasser bislang keine vergleichbaren Anlagen bekannt. Wesentlich seltener gelangen bis heute archäologische Nachweise von Boots- beziehungsweise Schiffsländen. Dies liegt natür-lich in der Natur der Sache. Schließlich ist der Nachweis von dauerhaft oder nur temporär genutzten Länden, die häufig sicher keine weiteren hölzernen oder gar steinernen Ausbauten erhielten, nur sehr schwer möglich. Die Schwierigkeit liegt hierbei schon im Erkennen des Befundes besonders im Rahmen von Baggerarbeiten. Im Falle der schriftlichen Überlieferung ist die Problematik dagegen etwas anders gelagert. Es werden zwar in den Quellen des frühen Mittelalters verschiedene Orte mit einem portus genannt, jedoch fehlen in der Regel Hinweise mit deren Hilfe die Häfen exakt geortet werden könnten. Außerdem enthalten die Quellen

keine weiteren Angaben zur tatsächlichen Größe, geschweige denn Bauweise des ge-nannten portus18. Dieses weitgehende Schweigen ist andererseits nicht verwunder-lich, wenn man bedenkt, dass derartige Angaben im Kontext der Quelle nicht benö-tigt wurden. Nur wenige Schriftquellen bie-ten Hinweise auf Schiffsländen19. Dagegen zeigt die schriftliche Überlieferung, welche Bedeutung gerade die klösterlichen Grund-herrschaften solchen Häfen und damit natür-lich auch den Flüssen als Verkehrswegen beimaßen20. Bei den weltlichen Grundherr-schaften wird es nicht viel anders gewesen

17 Ellmers 1972, 150-174. – Röber 2000, 185-213; Milne 1991, 116-120; Potter 1991, 137-149. 18 Vgl. hierzu Ellmers 1972, 123 f.; Elmshäuser 2002, 39; Johanek 1987, 46 f. mit Anm. 213. 19 Ellmers 1972, 123 f. Zum Versuch der volkssprachlichen Unterscheidung von Schiffsländen und Kaianlagen siehe a.a.O. 124; 137 f. 20 Johanek hat das Streben der klösterlichen Grundherrschaften nach Präsenz an günstigen Verkehrs- und Handelspunkten am Beispiel des Klosters Lorsch dargestellt. Neben diesem Beispiel aus dem 9. Jahrhundert verweist er u. a. auch auf den etwas anders gelagerten Fall des Klosters Cormery, das im Jahr 800 eine Zollbefreiung für zwei Schiffe erhielt; Johanek 1987, 46 f., 49.

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sein, jedoch ist hier die schriftliche Überlieferung weniger umfangreich21. Ähnlich überschau-bar ist die Anzahl der bildlichen Darstellungen von Länden. Der Verfasser weicht daher auf eine frühneuzeitliche Abbildung aus der Schweiz aus (Abb. 6). Sie vermittelt zugleich eine Vorstellung von der täglichen Nutzung der Länden wie auch der Schwierigkeit, diese später archäologisch nachzuweisen. Die Techniken und Bauweisen von Boots- beziehungsweise Schiffsanlegestellen unter-scheiden sich nicht grundsätzlich von denen des Mühlenbaues. Schließlich galt es bei beiden Arten von Wasserbauwerken die gleichen bautechnischen Probleme zu bewältigen und mit demselben Element, dem Wasser, zurechtzukommen. Für den Betrieb von Mühlen war es oft genug notwendig, einen Mühlteich anzulegen oder einen Fluss aufzustauen, um ein ausrei-chendes Wasserreservoir und Gefälle zu erhalten. Zu beobachten ist dieser Vorgang bereits an der ältesten Höbinger Mühlenbauphase des ausgehenden 6. Jahrhunderts. Ihre wesentlichen Baubestandteile wurden im Kapitel 2.1 bereits angesprochen, ebenso dessen Datierung wie auch die anzunehmende Funktion des Gesamtbefundes.

Abb. 7. Rekonstruktionsversuch des Wehres. Welche Rekonstruktionsmöglichkeiten ergeben sich nun auf dieser Grundlage. Die vordere, also flussaufwärts gewandte Schale des Wehres bestand aus Kiefernspältlingen, die senkrecht in den Untergrund gesetzt waren (Abb. 7). Im Abstand von 0,5 bis 0,6 Metern hinter ihnen steckten Eichenpfähle im Boden, deren Abstand untereinander maximal 4 Meter betrug. Wegen ihrer tieferen Gründung waren sie stabiler im Boden verankert als die Kiefernspält-linge. Der weite Abstand der Eichenpfähle spricht dafür, dass sie als „Widerlager“ für hori-zontal davor gesetzte, mehrere Meter lange Hölzer, wahrscheinlich Rundhölzer, dienten.

21 Immerhin belegt nach Johanek die Raffelstetter Zollordnung die Teilnahme weltlicher Grundherren am Salz-handel im Donauraum; Johanek 1987, 46 mit Anm. 210. Zur allgemeinen Bedeutung der Flusssysteme für den frühmittelalterlichen Handel siehe a.a.O. 19.

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Abb. 8. Mühle mit Wehr und Stelzenrad bei Schwarzen- bruck (Gsteinach). Zeichnung von J. A. Klein 1800.

Beide zusammen bildeten die Rückseite des Wehres, dem sie zusätzliche Stabilität verliehen. Der Zwischenraum war sicher mit Erde, Steinen oder ähnlichem Material verfüllt und abge-dichtet. Lediglich die Vorderseite des nördlichen Drittels des Wehres dürfte zusätzlich mit Flechtwerk versehen gewesen sein, wie der Befund nahe legt. Mit der bereits angesprochenen Packung aus Kalksteinen wurde die gesamte Konstruktion zusätzlich stabilisiert. Um seine Funktion voll erfüllen zu können, muss das Wehr eine horizontal verlaufende Oberkante besessen haben. Im Verbund mit den verlagerten und damit zumeist noch wesentlich länger erhaltenen Pfahlhölzern des Wehres lässt sich dessen sichtbare Höhe in etwa rekonstruieren. Diese bewegte sich von Osten aus betrachtet zwischen 1,0 und 1,2 Meter, von Westen aus gesehen, wo die Sohle des Staubeckens etwas tiefer reichte, ragte das Wehr noch rund 0,5 Meter höher auf. Die Krone des Wehres wurde sicherlich mit Steinen oder Holzbohlen vor Ausschwemmungen durch das stets überlaufende Wasser bewahrt. Am südwestlichen Ende des Wehres wiederum ist anhand zusätzlicher Pfahlsetzungen südlich desselben nach Ansicht des Verfassers der eigentliche Mühlschuss anzunehmen. Er wurde in Anlehnung an eine im oberbayrischen Freilichtmuseum Glentleiten stehende Hammerschmiede rekonstruiert, da der Höbinger Befund sehr gut mit deren Konstruktionsweise korrespondiert. Die Dreiergruppe aus Eichenpfählen einige Meter unterhalb des Wehres diente mit hoher Wahrscheinlichkeit als Widerlager. Dieses stand im Zusammenhang mit dem Wehr. Denn es ist sicher kein Zufall, dass die Pfahlgruppe auf Höhe des Mittelpunktes des Wehres liegt. Mittels eines Baumstammes, der zwischen das Wehr und die Pfahlgruppe gespreizt wurde, konnte das Wehr an seiner labilsten Stelle vor zu großem Wasserdruck gesichert werden22. Die Zeitlosig-keit dieser Konstruktionsweise und auch ihre Verwendung für den Betrieb von Mühlen belegt wiederum eine Zeichnung von A. Klein aus dem 19. Jahrhundert. Sie zeigt auch die Position

der Mühle im Rahmen der Gesamtanlage, wie sie der Verfasser auch für den Höbinger Befund annimmt (Abb. 8). Da von ihr keine weiteren Spuren gefunden wurden, wird auf ihre Dar-stellung in der Rekonstrukti-onszeichnung verzichtet. Um-gekehrt erbringen Beschrei-bungen von Wasserbauten aus dem frühen und hohen Mittel-alter den Nachweis, dass ganz ähnliche Konstruktionsweisen auch in anderen Teilen Mittel- und Westeuropas praktiziert wurden.

22 Der Verfasser und seine Grabungsmannschaft wandten genau das gleiche Konstruktionsprinzip etliche Monate vorher in der Fundstelle der Bootsanlegestellen an. Dort musste der verbliebene Profilsteg vor der hochwasser-führenden Schwarzach geschützt werden. Mittels Baggermatratzen und genau der gleichen Abspreizung wurde der Profilsteg gesichert. Er hielt dem Druck des Wassers stand.

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Im 9. Jahrhundert ist man in Höbing beim Bau der Mühlen offenbar von diesem Schema wieder abgewichen. Die Wasserversorgung der Mühlen folgt nun einem anderen Grundmuster. Dies soll im Folgenden exemplarisch an einer jüngeren Bauphase dieses Jahrhunderts dargelegt werden. Besonders geeignet erscheint zu diesem Zweck Bauphase 6, mit deren Anlage 847 n. Chr. begonnen wurde, deren Mühlteich aber zwei Jahre später verkleinert wurde. Die zu dieser Zeit geschaffene Mühlenanlage weist alle Elemente auf, die Mühlen des Mittelalters und der Neuzeit prägen sollten (Abb. 9). Im Gegensatz zum vorhergehenden Beispiel aus dem ausgehenden 6. Jahrhundert ist sie, wie auch die anderen Höbinger Mühlen des 9. Jahrhunderts, nicht mehr direkt am Fluss sondern etwas abseits davon errichtet worden. Ein Mühlkanal leitete das Wasser von der Schwarzach in einen künstlich angelegten Mühlteich. Nachdem für Bauphase 6 ein älterer Mühlteich der beiden Vorgängerbauphasen weiter genutzt wurde, kann dieser Mühlkanal für die behandelte Bauphase nur indirekt erschlossen werden. Er ist allerdings zwingend vorauszusetzen, da der Mühlteich schließlich kontinuierlich mit Wasser gespeist werden musste. Der Mühlteich der älteren Bauphasen stellt für Bauphase 6 nur ein Zwischenreservoir dar, das möglicherweise zur Fischhälterung weitergenutzt worden ist. Ihm wurde ein zweiter Mühlteich nachgeschaltet, der eigentliche zu Bauphase 6 gehörende Mühlteich. Er besitzt bereits die klassische Keilform, bei der sich der Mühlteich zur Mühle hin verjüngt. Reste seiner Randeinfassung spiegeln seine ehemalige Form wider. Sie erlauben es auch, seine Größe zu rekonstruieren. Demnach besaß der Mühlteich eine Länge von 10,5 Metern. An seinem

Abb. 9. Rekonstruktionsversuch der Bauphase 4.

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breiteren Ende war er etwa vier Meter breit, an seinem schmalen Ende oberhalb der Mühle lediglich gut einen Meter. Im Norden, Süden und Osten bestand seine Randeinfassung aus senkrechten Pfählen, die in größeren Abständen im Untergrund steckten. Sie konnten archäologisch nachgewiesen werden. Da ihre Abstände für Flechtwerk zu groß waren, bilde-ten sie sehr wahrscheinlich die Widerlager für dahinter gesetzte Bohlen oder einfaches Stan-genholz. Für beide Bauweisen finden sich noch heute Beispiele an rezenten Fischteichen. So zeigt ein Böschungsverbau beim mittelfränkischen Weinzierlein, Landkreis Fürth, die Kom-bination aus kleinen Pfählen und dahinter verlegtem Stangenholz. Der Verbau an der West-seite des Mühlteiches unterscheidet sich von dem der anderen drei Seiten. Hier sitzen schräg angeordnete, aber parallel ausgerichtete schmächtigere Pfähle. Auch wenn an ihnen keine Reste von Flechtwerk angetroffen wurden, spricht ihre parallele Ausrichtung doch für eine solche Konstruktion. Eiche bildete das bevorzugte Holz für die verwendeten Pfähle des Ufer-verbaus. An seinem breiteren Ende war der Mühlteich von Bauphase 6 mit dem älteren Teich durch einen kurzen Mühlkanal verbunden. Um Treibgut von den Mühlradschaufeln fernzu-halten, wurden vor dem Schütz des Mühlschusses stets ein Rechen beziehungsweise ein hölzernes Gitter angebracht, die das Treibgut auffingen. Ein anschauliches Beispiel liefert hierzu eine 1515 von Thomas Murner angefertigte Abbildung der Mühle von Schwyn-delßheym23. Auf ihr ist solch ein Rechen deutlich erkennbar. Da solch ein Schmutzabweiser für Bauphase 6 nicht nachgewiesen werden konnte, griff der Verfasser für den Rekonstruk-tionsversuch der Mühle auf eine erheblich einfachere, aber nahezu ebenso effektive Lösung zurück. Ein vertäutes, schwimmendes Rundholz übernimmt hier die Funktion des Schmutzabweisers. Der große Vorteil dieser Konstruktionsweise liegt in dem Umstand, dass sich das schwimmende Holz stets dem aktuellen Wasserstand anpasst – der im Mühlteich allerdings keinen allzu großen Schwankungen unterworfen gewesen sein dürfte. An seinem östlichen Ende mündete der Mühlteich in den Mühlschuss. Wenngleich es nicht als Holzfund in Erscheinung trat, so ist ein Schütz an dieser Stelle zwingend vorauszusetzen. Anders wäre die Wasserregulierung zum Betrieb der Mühle nicht möglich. Das Schütz befand sich bereits auf Höhe des Mühlengebäudes, wie die Pfahlbefunde nahe legen. Der daran anschließende Mühlschuss führte das Wasser an die Mühlradschaufeln des Wasserrades. Er war nur geringfügig breiter als die Mühlradschaufeln. Für beides, den Mühlschuss wie die Mühlradschaufeln, gibt es zu dieser Bauphase entsprechende Holzfunde. So können die Breite des Mühlschusses und zugleich die Position des Wasserrades anhand der Schwelle bestimmt werden, die sich direkt unter dem Mühlrad befand. Es handelt sich hierbei um ein Halbholz von insgesamt 88 Zentimeter Länge. Es besitzt an seinen Enden zwei Zapflöcher. Mit diesen wurde es über zwei senkrecht im Untergrund steckende Pfähle geschoben, die ihrerseits zwei ausgearbeitete Zapfen als Pfahlköpfe aufweisen. Der Abstand zwischen den beiden durch das Schwellholz ragenden Zapfen betrug knapp 0,5 Meter. Dieser Befund, der in fragmentierter Form auch an der nächst jüngeren Bauphase zu belegen ist, findet eine Parallele unter den Befunden der ebenfalls frühmittelalterlichen Mühle von Dasing im Bezirk Schwaben24. Es scheint sich hier um eine zumindest im süddeutschen Bereich gängige Bauweise gehandelt zu haben. Zieht man vom Abstand der Zapfen noch eine seitliche Verschalung ab, mit der die seitlichen Wandungen des Mühlschusses gesichert werden mussten, so verringert sich die 23 Mager u.a. 1989, 162 Abb. 127. 24 Czysz 1998, 17 Abb.; 21 Abb.; 24 f.

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verbliebene Breite des Mühlschusses noch einmal deutlich. Sie zeigt das Bemühen, das Wasser möglichst direkt an die Schaufeln zu führen, und den Anteil des seitlich an den Schau-feln vorbei fließenden Wassers so gering wie möglich zu halten. Die Mühlradschaufeln, die der Bauphase 6 zugewiesen werden können, hatten leicht trapezförmige Schaufelblätter mit einer Breite von rund 24 Zentimeter. Nachdem das Wasser das Mühlrad passiert hatte, floss es hinter dem Mühlengebäude in den Mühlgraben, der für den raschen Abfluss des Wassers zu sorgen hatte. Nur auf diese Weise ließ sich ein Rückstau des Wassers vermeiden, der im Extremfall zum Stillstand des Mühlrades hätte führen können. Wegen der Bebauungsgrenze, die zugleich die Grabungsgrenze bildete, konnte dieser Sachverhalt bei Bauphase 6 nicht weiter verfolgt werden. Für andere Mühlenbauphasen der Fundstelle ist der Mühlgraben aber belegt. Darüber hinaus liefert der Befund der Mühlradschwelle aber noch weiterreichende Informa-tion zur Mühle, ihrem Getriebe und dem Durchmesser des Wasserrades. Durch die Schwelle im Mühlschuss ist auch die Position des Wellbaumes definiert, der mit dem Wasserrad verbunden war. Er befand sich demzufolge im mittleren Bereich der Mühle, 3 Meter vom Schütz entfernt. Sein Durchmesser wiederum kann auf anderem Wege nachvollzogen werden. Eine für die Nachfolgerbauphase zweitverwendete Eichenbohle besitzt eine kreissegment-förmige Aussparung. Sie bildete einen Teil der Öffnung mittels derer die Mühlradwelle in das Mühlengebäude geführt wurde. Zu einem vollen Kreis ergänzt, muss sich der Durchmesser des Wellbaumes zwischen 25 bis 35 Zentimetern bewegt haben. Ein rezentes Beispiel dieser Form der Wandöffnung ist im Freilichtmuseum Glentleiten an der so genannten Hofmühle zu sehen. Bei ihr durchschneidet die kreisrunde Öffnung drei Lagen von Bohlen. Der Fund der Eichenbohle verrät außerdem einiges über den Wandaufbau der Mühle, worauf später zu kommen sein wird. Aus dem Verhältnis der Sohltiefe des Mühlschusses, der anzunehmenden Höhe des ehemaligen Fußbodenniveaus in der Mühle sowie des Größenverhältnisses zwischen Wasserrad zu Kammrad hat der Verfasser den Versuch unternommen, den unge-fähren Durchmesser des verwendeten Wasserrades zu ermitteln. Jenseits des archäologischen Befundes wurden hierfür zwei Bezugsgrößen zugrunde gelegt. Zum einen wird vorausgesetzt, dass es keine Grube gab in der sich das Kammrad drehen konnte, zum anderen wird für das Größenverhältnis von Wasser- und Kammrad ein Verhältnis von 2:1 angesetzt. Letzteres deshalb, weil der Verfasser sich hier an der Mühlenfachliteratur des 18. Jahrhunderts wie zum Beispiel bei Leupold25 orientierte. Bei ihr bewegen sich die betreffenden Größenverhältnisse um diesen Wert. Gerade diese Prämisse ist natürlich mit einem Unsicherheitsfaktor behaftet, da nicht zwingend davon ausgegangen werden kann, dass die Mühlenbauer des frühen Mittel-alters solch ein Größenverhältnis favorisierten. All diese Faktoren vorausgesetzt, ergäbe sich für das Wasserrad ein Durchmesser von knapp 2,5 Metern. Der Mühlschuss wie auch die Mühlradschaufeln erlauben hierbei nur einen unterschlächtigen Antrieb des Strauberrades. Vom Mühlengebäude blieben im Wesentlichen nur noch die Pfahlsubstruktionen erhalten. Der Raster der Eichenpfähle wurde offenbar so gewählt, dass er beim aufgehenden Bauwerk problemlos aufgegriffen werden konnte. Dafür spricht nicht nur die Lage des Schwellholzes im Verhältnis zum Baukörper sondern auch die Bohle mit der kreissegmentförmigen Ausspa-rung für das Wasserrad. Sie lässt sich sehr gut in den durch zwei Ständer vorgegebenen

25 Leupold 1735, Tab. XII.

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Abb. 10. Die „Verlorene Mühle“ von Sebald Beham, um 1526.

Zwischenraum einfügen, die links und rechts der Schwelle angeordnet waren. Wenn-gleich die Pfahlsubstruktionen weitgehende Rückschlüsse auf die Konstruktionsweise des Gebäudes erlauben und es zugleich – wie auch bei eini-gen anderen Bauphasen – ermöglichen, das Getriebe mit dem darüber befindlichen Mahlwerk zu lokalisieren, bleibt die tatsächliche Aus-dehnung der Mühle im Unkla-ren. Dies liegt zum einen an der vorgegebenen Grabungs-grenze, zum anderen an der Tatsache, dass sich die Er-bauer der Höbinger Mühlen auf die Ausbringung von Teil-substruktionen beschränkten. Sie wurden dort angelegt, wo der anstehende Opalinuston

nach unten abfiel, so dass das darüber befindliche Erdreich offenbar merklich instabiler war. Die Bereiche der Mühlen unter denen der Opalinuston unmittelbar anstand wiesen in der Regel keine Substruktionen auf. Aus diesem Umstand muss wiederum auf Schwellenkon-struktionen geschlossen werden, die auf den Pfählen beziehungsweise dem stabilen Unter-grund ruhten. Vereinzelt erhaltene Zapfen an den Pfahlköpfen belegen dies. Auf den Schwellen erhob sich schließlich – auch bei Bauphase 6 – das Mühlengebäude mit dem Getriebe und dem Mahlwerk. Anhand für jüngere Bauten sekundär verwendeter Bohlen, wie zum Beispiel der bereits vorgestellten Bohle, ergibt sich zumindest für Teile der Mühlen ein Wandaufbau als Ständerbohlenkonstruktion. Insgesamt ist aber von kleinräumig dimensio-nierten Mühlenbauten auszugehen, die nichts mit den stattlichen Mühlen zu tun haben, wie wir sie aus der Neuzeit kennen. Bildliche Darstellungen von Mühlen aus dem Mittelalter im Verbund mit andernorts archäologisch nachgewiesenen Mühlen belegen, dass dies ein allgemeiner Zustand jener Zeit war (Abb. 10). Zum Leidwesen des Archäologen haben sich vom Dach und seiner Konstruktion keine Reste erhalten. Insofern können die Rekonstruktion des Daches, seiner Neigung und Dachhaut nur über Analogieschlüsse erfolgen. Um den Rah-men dieses Beitrages nicht zu sprengen, sei an dieser Stelle auf die ausführlicheren Schilde-rungen in der Dissertation des Verfassers verwiesen. Im Ergebnis ist für das Dach der Mühle mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von einer Strohdeckung auszugehen. Stroh war im land-wirtschaftlich geprägten Europa ein weithin verfügbares, leicht zu beschaffendes und ebenso günstiges Gut. Letztendlich belegen ja auch die Getreidemühlen, dass infolge des Getreide-anbaus in periodischen Abständen ausreichend Stroh zur Verfügung gestanden haben muss.

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Andere Formen der Dacheindeckung sind zwar ebenso denkbar und mit wenigen möglichen Schindelfunden mehr oder weniger nachgewiesen, dennoch scheint dem Verfasser Stroh als gängige Dachdeckung dieses Raumes im frühen Mittelalter wegen seiner leichten Verfügbar-keit und Handhabung wesentlich wahrscheinlicher zu sein. Stroh als Dachhaut setzt wiederum entsprechend stark geneigte Dächer, seien es Sattel- oder Walmdächer, voraus26. Nur so war gewährleistet, dass das Wasser rasch vom Dach abfließen konnte. Andernfalls wäre die Dich-tigkeit des Daches infrage gestellt und das verwendete Stroh verfrühter Zersetzung ausge-liefert. 5. Schlussbemerkung

Ziel des vorliegenden Beitrages war es, einen Eindruck von der Befundlage und ihren Inter-pretations- wie Rekonstruktionsmöglichkeiten zu vermitteln. Vieles konnte nur in Form eines Überblicks vorgestellt werden, anderes, um im vorgegebenen Rahmen zu bleiben, überhaupt nicht. Die vergleichsweise hohe Anzahl der Bauphasen verhinderte ebenso deren vollständige Präsentation. Nachdem es auch nicht möglich war, die schriftlichen Ausführungen durch die für einen Tagungsband viel zu großen Grabungspläne zu ergänzen, blieb dem Verfasser bei der Vorstellung der exemplarisch ausgewählten Befunde letztendlich auch nur die Wahl kursorischer Beschreibungen, um das Verständnis nicht zu behindern. Für all diejenigen Leser, die eine umfassendere Darstellung bevorzugen, sei auf die Publikation der vollstän-digen Arbeit mit den entsprechenden Plänen verwiesen. Das Potential, das in den Feucht-bodenbefunden von Höbing steckt, dürfte dennoch zu erahnen sein. So ergibt sich nicht nur in rein technikgeschichtlicher Hinsicht ein umfassendes Bild eines frühmittelalterlichen Mühlen-standortes, dessen Kontinuität bis heute in Form der nicht weit entfernten Zinkelmühle gewahrt bleibt. Auch der für alle Epochen und Ortschaften sehr wichtige verkehrs-geographische Aspekt erhält für Höbing durch die Bootsanlegestellen eine gänzlich neue Gewichtung. Erhellende Einblicke in die Ökologie wie Klimageschichte des Kleinraumes vermitteln auf der einen Seite die in den Holzfunden gespeicherten Information und die Sedimente des Aueraumes. Auf der anderen Seite leisten die Baubefunde hierbei wertvolle Schützenhilfe hinsichtlich der richtigen Interpretation bestimmter Fakten. Belegen doch schließlich die Getreidemühlen auf indirektem Wege die intensiveren menschlichen Eingriffe in den Naturhaushalt und ihre mittelfristigen Folgen. Vollkommen ausgespart hat der Ver-fasser in diesem Beitrag darüber hinaus die Rekonstruktionsversuche der agrarwirt-schaftlichen Strukturen und Verbindungen, die sich anhand der verschiedenen örtlichen Fak-toren für den Höbinger Raum herleiten lassen. Sie darf auch der Archäologe nicht außer Acht lassen, will er seine Befunde einer richtigen Bewertung unterziehen. Dies umso mehr, als gerade diese (agrar-)wirtschaftlichen Strukturen die mittelalterliche Lebenswelt der meisten Menschen im Mittelalter in erheblichem Maße prägten und sich zugleich bestimmend auf das Landschaftsbild auswirkten.

26 Vgl. hierzu auch Platz 2008, 206 f.

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Abbildungsnachweis

Abb. 1: Kartengrundlage nach Menghin 1990, Abb. 2; Abb. 2-4: Fa. Faustus, 91186 Büchenbach; Abb. 5, 7 und 9: Verfasser; Abb. 6: Deuchler 1981, Abb. 2; Abb. 8: Bedal 1992, 36; Abb. 10: Yorck Project 2003.

Dr. Thomas Liebert Schwalbenhof 4 90574 Roßtal [email protected]

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Das Brot ist Lebensquelle. Nichts darf übrig bleiben Bread is a Source of Life. Nothing Must be Left

Andrej Pleterski

Abstract

As a linguistic continuity from ancient Slavs until today exists, it is possible to get through the language an insight into their kitchen-culture. Newly made analysis of kitchen-culture, based on archaeological, ethnological, linguistic and written sources, show an extremely coherent system. Common elements of kitchen culture on Slavic territories refer mainly to the treatment of farinaceous grains (Tab. 1). Before us is an image showing a fully developed and diverse cooking procedures of cereal grains, which carry the clear traces of the entire history of cooking. It is obvious that the system was developed step by step, by adding new procedures, of which it was probably the youngest to bake leavened bread – “hleb”. Ancient Slavs were thus aware of all the fundamental procedures: germinating of grains, grains roasting, grinding grains, making the dough, fermenting, cooking and baking. And also the housewives knew how to creatively combine them.

Durch die Sprachkontinuität von der altslawischen Zeit bis heute ist es möglich, Einsicht in die Küchenkultur der Altslawen zu bekommen. Eine jüngst durchgeführte Analyse der Küchenkultur1, die auf archäologischen, völkerkundlichen, historischen und sprachlichen Quellen begründet ist, zeigt ein sehr kohärentes System. Die gemeinsamen Küchenkultur-bestandteile der slawischen Territorien beziehen sich hauptsächlich auf die Verarbeitung von Getreidekörnern (Tab. 1). Küchenprodukte

1. Prga (pražmo) – geröstete, noch nicht ganz reife Getreidekörner

Der Name ist bei den Slawen allgemein bekannt, die Bedeutung hat sich allerdings über-wiegend mittlerweile verändert. Etymologie: Das urslawische *pьrga – was trocken ist geht aus der indoeuropäischen Wurzel *(s)p(h)er – trocknen, brennen hervor2. Veränderungen: Das rumänische pîrgă bedeutet eine gerade reif gewordene Frucht, das altrussische pъrga indes geröstete Getreidekörner. Im Slowenischen bedeutet prga eine Art Maiskuchen, auch Mehl aus Trockenobst3 oder den Rückstand beim Pressen von Kürbiskernen. In Serbien bedeutet prga noch immer geröstetes Getreide, Gerste oder Mais4. Das alttschechische prha, das Gries aus unreifen Ähren bedeutet, verbindet Rejzek mit den „Urgetreidesorten“5. Eine archaische Weise der Zubereitung ist varuvka oder pražunka in Těšínsko (Nordostböhmen bzw. Teschener Schlesien). Das grobe Weizenmehl wurde zunächst geröstet, dann goß man unter ständigem Rühren kochendes Wasser hinzu, in den besseren Fällen am Ende noch Milch. Von dieser Art war wahrscheinlich auch die pražba, die man mit Gerste oder Sommerweizen zubereitete6. Das Verfahren ist also das gleiche wie bei den slowenischen suhi žganci (trockener Sterz), die dem Namen nach an die Stelle der ehemaligen Bezeichnung prga traten.

1 Pleterski 2008. 2 Furlan 1995. 3 Ebd. 4 Kruszec 2004, 241. 5 Rejzek 2001, 500 f. 6 Tomolová/Stolařík/Štika 1997, 184.

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Tab. 1. Grundlegende Verfahren in der frühmittelalterlichen Kochkultur der slawischen

Gebiete.

Nach dem Rösten wird zweifellos die alttschechische Speise pražmo oder pražma bezeichnet. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts pflegte man sie am Fest Johannes des Täufers (24. Juni) zu essen, indem man milchreife Getreidekörner röstete, was einen süßlichen Geschmack ergab. Ein Teil des Getreides wurde nämlich schon in der ersten Junihälfte geerntet, der übrige Ende Juli und im August. Damit erhielt man zum Einen Nahrung, an der es bereits mangelte, weil die letzte Ernte schon aufgebraucht war, zum Anderen erstreckte sich die anspruchsvolle Feldarbeit über einen längeren Zeitraum, was es den Bauern ermöglichte, eine größere Fläche zu bebauen. Von zwei Ernten in Böhmen berichtet schon Mitte des 10. Jahr-hunderts Ibrahim ibn Jakub, ein Händler und Gesandter des Kalifen von Cordoba al-Hakem in seinem bekannten Reisebericht7. Da man unreife Körner rösten muss, damit sie nicht verder-ben, ist dadurch pražma im frühen Mittelalter indirekt bewiesen. Möglich ist auch eine andere Erklärung der Angabe von zwei Ernten. Es könnte sich um die Folgen der Dreifelder-wirtschaft gehandelt haben, bei der die zweite Ernte für Hirse als Nachfrucht bestimmt war. Pražma findet auch in den mittelalterlichen polnischen Quellen Erwähnung. Es handelte sich um die Nahrung der Armen, obwohl sie zeitweilig auch von Angehörigen höherer Schichten verspeist wurde. Sie wurde aus unreifen Roggenkörnern zubereitet, die auf der Herdstelle getrocknet wurden, was die Grundlage für den Brei bildete. Wenn nötig, wurden die Körner in warmem Wasser eingeweicht und dann mit Milch und Speck gekocht. Der Vorteil, grüne 7 Beranová 2005, 65.

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Körner zu verzehren, liegt darin, dass sie früher gekocht und leichter zu verdauen sind als reife Körner. Darüber hinaus werden die Körner verbraucht, bevor sich das giftige Mutterkorn entwickelt. Dieses verursacht eine im Mittelalter häufige Krankheit, die als „Antoniusfeuer“ bezeichnet wird8. Zweifellos waren prga und ihre Variante pražmo auch im frühen Mittelalter eine Speise zu besonderen Anlässen. 2. Kaša – in Wasser oder Milch gekochte ganze, zerstoßene oder gemahlene Getreidekörner

Diese Bezeichnung und ein entsprechendes Verfahren zur Zubereitung der kaša (Brei) kennt man überall in den berücksichtigten slawischen Gebieten. Deswegen kann man sie mit Sicherheit als Bestandteil der Küchenkultur in der „Urheimat“ der Slawen klassifizieren. Die Etymologie ist nicht ganz eindeutig. Von den Erklärungen, dass es sich um das Durch-siebte oder das Kleingehackte, Zerstoßene handelt, gibt Rejzek9 der zweiten den Vorrang. So erklärte das Wort kaša schon 1885 auch Nikolaj Fedorovič Sumcov, der es als Speise aus zer-stoßenen Körnern kannte; sanskrit kaš – knacken, brechen10. Veränderungen: Vasilij Grigorovič-Barski beschrieb 1744 das Klosteressen auf dem Heiligen Berg Athos im Ägäischen Makedonien. Unter anderem aß man dort Hirsebrei11. Dies scheint der letzte Hinweis auf Hirsebrei in Makedonien gewesen zu sein, Hirse wurde wohl vom Mais verdrängt. In Makedonien bedeutet kaša nämlich Weizen- oder Maismehl, das man auf Fett röstet und anschließend mit Wasser übergießt. Dem Verfahren nach entspricht dies den slowenischen suhi žganci (trockener Sterz). Bei den Westslawen wurde die Hirse vom Buch-weizen verdrängt und das Wort kaša begann den Buchweizenbrei zu bezeichnen12. In Polen war Hirsebrei Grundbestandteil der alltäglichen Ernährung, bis er ab dem 18. Jahrhundert durch Kartoffeln ersetzt wurde13. In ähnlicher Weise ersetzten Buchweizen, Kartoffeln oder Mais die alten Breiarten auch anderswo. Anmerkungen14: Das Zerstoßen der Körner deutet darauf hin, dass die Speise aufgekommen war, noch bevor sich das Mahlen von Körnern durchsetzte. Körner können sowohl zwischen zwei Steinen als auch mit einer Stampfe zerstoßen werden. Damit stimmen das Vorkommen des urslawischen Wortes *batъ aus dem indoeuropäischen *bhāt – hauen, schlagen15 überein und das Vorkommen des urslawischen Wortes *sto(n)pa, das aus dem urgermanischen *stampa- entlehnt ist. Letzteres geht wiederum hervor aus der indoeuropäischen Wurzel *stemb – mit den Füßen treten16. Da in den slawischen Sprachen stopa (Stampfe) eine beson-dere Vorrichtung (Gefäß und Stampfer) zum Zerstampfen von Körnern bedeutet, zeigt die angeführte Wortentwicklung, dass die „Urslawen“ die Körner ursprünglich ohne diese zerstießen und sie erst von den „Urgermanen“ übernahmen17.

8 Dembińska 1999, 113. 9 Rejzek 2001, 267. 10 Sumcov 1996, 183. 11 Bogoevski 1997, 135. 12 Sumcov 1996, 183. 13 Dembińska 1999, 20. 14 Zu dem möglichen Backen von Brei siehe Kap. 6.5. Nalesnik. 15 Bezlaj 1976, 13. 16 Snoj 1997, 610. 17 Die Bezeichnungen Urslawen und Urgermanen sind technische sprachwissenschaftliche Bezeichnungen der Angehörigen rekonstruierter Sprachgruppen in der Entwicklung der Sprachen.

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3. *Tlakno – gekochter Hafer, im Ofen oder darauf getrocknet und anschließend gemahlen oder zerstoßen

Die Bezeichnung und das Verfahren sind bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur in Gebieten erhalten, die verhältnismäßig weit voneinander entfernt sind: bei den Ostslawen tolokno, in Polen tłokno und in den Ostalpen Talken oder Dalken. Eine solche Übereinstimmung gäbe es nicht, wenn es sich nicht um einen Bestandteil der ehemaligen Küchenkultur der „Urheimat“ handelte. Etymologie: Das urslawische *tolkъno ist abgeleitet vom Verb schlagen, drücken oder pressen18. Veränderungen: Die letzte Aufzeichnung dieses Wortes im Slowenischen stammt aus dem 18. Jahrhundert als Hafergries – tolta19. Aber die Speise und die dafür gebrauchte Bezeichnung erhielten sich im Bayerischen20. Das Wort ist auch im Tschechischen als vdolek erhalten, was heute Laib aus aufgegangenem21 oder gegossenem Teig bedeutet22. Die letztere Bedeutung hat Talken oder Dalken heute auch in Deutschland. Von den Russen breitete sich tlakno auch bis zu den Finnen als talkkuna aus. Die Finnen in Karelien nahmen auf Wanderungen Salz und gekochten, getrockneten und gemahlenen oder zerstoßenen Hafer in Feldflaschen mit. Man musste ihn nur noch mit Wasser übergießen23. Anmerkungen: Das steirische Dalken (Österreich) wird auch so vorbereitet, dass der wie oben beschriebene Hafer mit Milch zu einer Art Teig verarbeitet wird, den man sowohl roh als auch gekocht oder abgeschmalzt essen konnte. Die Steirer aßen gern geschmalzte Dalken zum Frühstück. Karl Rhamm sah kurz nach 1880 im Iseltal in Osttirol, wie man diese Speise am Aschermittwoch als Gebäck ohne Treibmittel zubereitete, das man in Asche buk und den Kindern für die Schule mitgab24. Diese Festspeise gehört so auch zur Geschichte des Brotes25. Aus den Beispielen, die Rhamm vor allem im österreichischen Kärnten sammelte, ist zu schließen, dass es sich bei Talken um eine Art Grieß handelte, der aus Hafer, Saubohnen, Gerste, Mais und sogar getrockneten Birnen zubereitet werden konnte und dann auf verschie-dene Art und Weise verspeist wurde. Man mischte es mit heißem Wasser, mit süßer Milch zum Abendessen, mit Sauermilch zur Jause oder man bereitete es als gut geschmalzten Milchbrei zu. Noch um 1870 war Talken eines der Hauptnahrungsmittel. Wenn man ihn siebte, gab es viel Abfall, deswegen war er nicht billig. So war das Gericht im oberen Görschitz/Krčica-Tal eine Delikatesse, die man gern Gästen kredenzte. Die Diener bekamen es nicht, da man es nur selten zubereitete. Nach Rhamms Angaben bekommt der Talken einen süßlichen Geschmack, weil sich darin Dextrin entwickelt26. Das würde auch seine Beliebtheit und Nutzung in nicht verarbeiteter Form bei Reisen erklären. Sein Name wurde schon im Alt-hochdeutschen entlehnt27, also spätestens bis zum 11. Jahrhundert, als sich das Mittelhoch-deutsche durchsetzte28. Dadurch gilt die frühmittelalterliche Existenz des Gerichtes als ge-sichert. Die Etymologie zeigt sogar, dass man tlakno entweder schon in der Zeit zubereitete,

18 Snoj 2005. 19 Bezlaj 2005, 195. 20 Rhamm 1909. 21 Štika 1997, 50. 22 Rejzek 2001, 702. 23 Rhamm 1909, 218 f. 24 Ebd. 211. 25 Siehe Kap. 6.1. Kruh. 26 Rhamm 1909, 211 ff. 27 Snoj 2005. 28 Meyers 2007.

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als Körner noch nicht gemahlen wurden, oder mit dem getrennten Verfahren zur Zeit des Mahlens von Getreide29 begann. Im ersten Fall könnte es sich um die Verarbeitung von Körnern verschiedener Getreidesorten handeln, wogegen aber die allgemeine Verbindung von tlakno mit Hafer spricht. Das würde schon eher für das angepasste Verfahren sprechen, das dem Hafer entsprach, indem man daraus die bestmögliche Speise zubereitete. Möglich ist auch die Verbindung beider Erklärungen, dass man zunächst mit einfachem Schlagen alle Kornarten verarbeitete. Mit der Entwicklung des Mahlens kam es indes zur Spezialisierung, die die Eigenschaften der einzelnen Getreidesorten besser nutzen konnte. 4. Kiselica – Mischung aus Wasser und (Hafer-) Mehl, die solange steht, bis sie sauer gewor-den ist, auch mit Hilfe von Hefe

Mehl, Kleie, Gries, Getreideflocken aus Weizenkorn – häufig auch Hafer- oder Gerstenkorn – werden mit kochend heißem Wasser übergossen. Oftmals fügt man ein Stück Hefe (Sauerteig) oder die Rinde von altem Brot hinzu und lässt es an einem warmen Ort stehen, damit es fer-mentiert. Dann wird die Flüssigkeit gewöhnlich abgeseiht und man isst die Speise warm oder kalt. Das Verfahren und die Bezeichnung des Produktes sind in den slawischen Ländern allgemein verbreitet. Deswegen kann man sie mit Sicherheit zum Bestandteil der Küchen-kultur der slawischen „Urheimat“ zählen. Das Vorkommen der kiselica im Frühmittelalter bezeugen auch schriftliche Quellen30. Letzten Endes ist auch das sogenannte Bier der alten Ägypter nichts anderes als fermentierter Teig31. Etymologie: Kiselica geht aus dem altslawischen *kysati – säuern bzw. fermentieren hervor, was sich aus der indoeuropäischen Wurzel *kuaHt oder *kuatH – gären, säuern, fermentieren oder faulen entwickelte, auf die auch das Wort kvas (Hefe) zurückzuführen ist32. Veränderungen: Kiselica oder kvašenica war bei den Kroaten in der Bačka ein Gericht, das man als Fastenspeise an Freitagen zubereitete. Es handelte sich um eine saure Suppe aus Wasser, Kajmak oder Sauermilch und Labferment, womit man anschließend altes Brot über-brühte33. Das tschechische kyselo besteht aus Hefe. Man stellt es her, indem man die Press-hefe in ein Gefäß bröckelt, mit lauwarmem Wasser oder lauwarmer Milch übergießt, Gers-tenmehl hinzufügt und zu weichem Teig verknetet. Man kann auch ein Stück zerbröckelte Brotrinde hinzufügen. Dann deckt man den Teig zu und lässt ihn an einem warmen Ort aufgehen. Schließlich kocht man eine Suppe und rührt den Teig hinein34. Dieses Verfahren ist das gleiche wie bei der russischen polevka, deswegen bildet sie mit ihr eine Verbindung von močnik, kiselica und Suppe35. Ähnlich ist die kyselica, zelnica oder zelnačka im mährischen Valašsko, eine Milchsuppe mit Sauerkraut. Jede Hausfrau kochte sie auf ihre eigene Art und Weise. Darin findet man Kartoffelstücke mit wenig Sauerkraut und Sauerkrautwasser. Sie wird mit Milch verdickt und gesalzen. Wenn man sie von der Herdstelle nimmt, schlägt man noch ein oder zwei Eier hinein und verrührt sie. Man kochte auch kyselica ohne Sauerkraut und Sauerkrautwasser. Den sauren Geschmack gab dann die Molke36. Anmerkungen: Den russischen kisel, der aus Hafer zubereitet wird, ließ man zwei oder drei Tage fermentieren. Dann goss man die Flüssigkeit ab und brachte die Hafermilch zum

29Siehe Kap. 4. Kiselica und 5. Močnik. 30 Siehe unten. 31 Vgl.: Hirschfelder 2001, 44 f. 32 Snoj 1997, 231. 33 Kruszec 2004, 239. 34 Staněk 1989, 269. 35 Siehe Kap. 5. Močnik und 8. Juha. 36 Štika 1997, 61 ff.

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Kochen, damit sie sämig wurde. Man aß ihn warm und kalt. Warm wurde der kisel in einer Schale serviert, in die Mitte goss man Milch37. Im mittelalterlichen Polen gab es ein Gersten-gericht namens kyssel, heute kisiel genannt, eine Nahrung vornehmer Leute. Gerstenmehl wurde mit kochendem Wasser übergossen und flüssige Hefe, die als sämiges Bier bezeichnet wird, hinzugefügt. Langsam fermentierte es und wurde fest, dann gab man Honig, Milch oder Obst hinzu. Erwähnt wird es schon 997 als Fastengericht am königlichen Hof. Heute heißt dieses Gericht žur, was eine Entlehnung aus dem Russischen ist. Anstelle von Gerste verwendet man Buchweizen, Hafer und Roggen. Bis vor kurzem hatten die Bauern besondere Tongefäße nur für dieses Gericht. Sie spülten sie nicht, damit die Reste der vorigen Zubereitung als Ferment für die neue dienten. Die kiselica wurde während der Fastenzeit nur gesalzen und mit Knoblauch gewürzt. Am Ende der Fastenzeit wurde das Gefäß symbolisch getötet, indem es zerschlagen oder in den Erdboden vergraben wurde. Man erwarb ein neues Gefäß und begann den neuen Jahreszyklus38. In Osttirol und in Oberkärnten bereitete man Geislitz oder Geislaz so zu, dass man das tlakno in einen Bottich gab und mit Wasser über-goss, so dass es fermentierte. Einst war dies ein gewöhnliches Gericht und man pflegte es zum Abendbrot zu essen. Wegen der aufwändigen Zubereitung wurde es schließlich aufgegeben. Es gibt eine Erwähnung der giselitz schon aus dem 12. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Kloster St. Florian bei Linz in Oberösterreich. Das Jahrbuch von Ipatijev erwähnt kisel im Belgorod, das von den Petschenegen belagert wurde39. Rhamm erwähnt die Verwendung von Hefe nicht, jedoch existierte diese in einem nicht gespülten Gefäß schon von selbst. Es ist klar, das tlakno den Rohstoff sowohl für den močnik als auch für die kiselica bildete. Der Unterschied zwischen kiselica und močnik besteht in der Zubereitung und folglich auch im Geschmack. Während der močnik schnell aus frischem Teig zubereitet wird, wird die kiselica aus fermentiertem, flüssigem Sauerteig hergestellt, und ihre Zubereitung dauert mehrere Tage. Die kiselica ist eine altslawische Speise, die bei allen Ukrainern, Russen und Weißrussen erhalten ist. Ihre Variante ist die „Hefe aus Brot“, ein erfrischendes Getränk, das bei den erwähnten Völkern beliebt ist40. Die Hefe entsteht nach dem gleichem Verfahren41 wie die kiselica. Sie unterscheidet sich davon nur nach dem anfänglichen Rohstoff – dem alten Brot und bietet eine hervorragende Möglichkeit, Reste nützlich aufzubrauchen. Natürlich war dies nur möglich, wenn es Brot in Überfluss gab. Das war aber bei weitem nicht immer und über-all der Fall. 5. Močnik – in Wasser oder Milch zerkochter weicher Teig oder zerkochtes Mehl

Während es beim Kochen von Mehl keine Grenze zu Brei gibt, stellt das Kochen von Teig einen offensichtlichen Unterschied dar. Die Bezeichnung und das Verfahren sind bis heute in Slowenien am lebendigsten erhalten. Dem Verfahren und der Bezeichnung nach stimmt auch das Gericht múčnice im ostmährischen Valašsko (mährische Walachei) damit überein. Das ist in Milch gekochtes Mehl, das die Mutter in ein Leinentuch wickelte und dem Säugling zum Saugen reichte, wenn die Muttermilch ausging42. Die slowakischen Rusinen kochen eine Pilz-suppe mit dem Namen mačanka. Sie besteht aus Sauerkrautwasser, das sie mit Mehl ver-dicken43. Man kochte auch das sehr archaische Gericht čyr oder čer. Es wurde aus Hafer- oder

37 Ljahovskaja 2004, 340 f. 38 Dembińska 1999, 108. 39 Rhamm 1909, 214 ff. 40 Sopoliga 2006, 213 f. 41 Siehe Kap. 9. Kvas. 42 Štika 1997, 122. 43 Sopoliga 2006, 212.

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Gerstenmehl zubereitet, das allmählich in heißes Wasser gegeben wurde, so dass eine dick-flüssige Masse, also eine Art Teig, entstand. Diese goss man dann erneut in heißes Wasser44. Dem Verfahren nach gehört hierher auch die russische polevka, bei der saurer Roggenteig (raščina) in kochendes Wasser eingerührt wird45. Etymologie: Močnik ist eine Ableitung von moka (Mehl), einem gemeinslawischen Wort. Das urslawische *mo(n)ka entwickelte sich aus der indoeuropäischen Wurzel *menHk – kneten, pressen oder schlagen46. Dass man hier an die Zubereitung von Teig zu denken hat und nicht an die Verarbeitung von Körnern, darauf deutet die Bedeutung des Wortes in den baltischen Sprachen47. Moka bedeutet demnach höchstwahrscheinlich Teigrohstoff. Diese Bedeutung und das Kochverfahren zeigen in ihrer Übereinstimmung, dass močnik in altslawischer Zeit offenbar ursprünglich ein Gericht aus gekochtem Teig war. Veränderungen: Der tschechische Begriff moučník bezeichnet schon lange nicht mehr Mehlspeisen, sondern ist heute in den Speisekarten die allgemeine Bezeichnung für Süßspeisen. Der Bedeutung nach stimmt mit močnik auch mučanka im ostmährischen Valašsko überein. Dort gilt es als jahrhundertealtes Gericht. Es wurde in einem Tontopf mit breitem Boden zubereitet. Man schüttete grobes Mehl, šroťanka genannt, hinein und röstete es auf heißer Platte. Wenn es etwas dunkler wurde, goss man es mit kaltem Wasser ab und rührte es fleißig um, damit ein dicker Brei entstand48. Nach diesem Verfahren bereitet man in Slowenien den trockenen Sterz zu. Čyr kochte man auch im tschechischen Beskidi. Das war in kochendem Wasser verrührtes Gersten- und Hafermehl49. In Valašsko kochte man Weizen- oder Roggengries. Er wurde als krupica bezeichnet. Diesen schüttete man unter ständigem Rühren in heiße Milch. Man konnte ihn auch in Milch kochen, welche mit Wasser in einem Verhältnis von 2:1 verdünnt war50. In Westslowenien wurde das Wort močnik mit der Einführung von Mais durch das italienische Wort polenta allmählich verdrängt51. Dünnflüssiger močnik wird in Slowenien sok (Saft) genannt. Diese Form weist ebenfalls darauf hin, dass močnik Suppen ähnelt52. Anmerkungen: Die obige Bedeutung von moka beweist vielleicht indirekt schon das zweite gemeinslawische Wort für Mehl brašno. Das urslawische *boršьno soll auf dem indoeuropäischen *bhar(e)s – Gerste gründen. Snoj erscheint diese Erklärung wahrscheinlicher als die ursprüngliche Bedeutung „Reiseproviant, Lebensmittel, das man beim Reisen mitträgt“ und die Abstammung von der indoeuropäischen Wurzel *bher – tragen53. Wenn brašno schon in altslawischer Zeit nicht nur Gerstenmehl bedeutete, sondern irgendein Mehl, und wenn die gleichzeitige Existenz der Wörter moka und brašno nicht die Folge eines unterschiedlichen Wortschatzes zweier Dialekte für dieselbe Bedeutung ist, dann gibt es einen inhaltlichen Unterschied zwischen diesen beiden Wörtern aufgrund der unterschiedlichen Stelle beim Arbeitsverfahren. Brašno würde die Körner nach dem Zer-stoßen bezeichnen und moka den Rohstoff zur Teigzubereitung. An dieser Stelle muss noch das Wort munk'n, mungg'n oder munke im Deutschen des öster-reichischen Kärnten und der Steiermark erwähnt werden. In Kärnten bedeutet Munggen

44 Ebd. 214. 45 Ljahovskaja 2004, 230. 46 Snoj 1997, 351. 47 Bezlaj 1982, 192. 48 Štika 1997, 60. 49 Tomolová/Stolařík/Štika 1997, 183. 50 Štika 1997, 55 f. 51 Vgl. Godina-Golija 2006, 54 f. 52 Siehe Kap. 8. Juha. 53 Snoj 1997, 44.

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dasselbe wie Talggen, also tlakno. Im äußersten Nordosten der Steiermark in Jokelland bedeutet es einen Brei, den man aus Mehl und trockenen Birnen zubereitete54. Munk’n ist natürlich vom slawischen Wort moka – *mo(n)ka abzuleiten. Das Wort wurde offensichtlich schon in der Zeit entlehnt, als die Nasale im Alpenslawischen noch „lebendig“ waren. Da sie schon im 11. Jahrhundert zu schwinden begannen55, haben wir wie bei tlakno höchstwahr-scheinlich einen Einblick in den frühmittelalterlichen Zustand. Die Übernahme im Deutschen erklärt Rhamm damit, dass es sich genauso wie bei tlakno um eine besondere Art von slawi-schem Mehl handelt, das mit der Stampfe und nicht mit Mahlsteinen hergestellt worden war56. Die Erklärung bietet einen Ausgangspunkt für verschiedene Modelle der damaligen Verhält-nisse in den Ostalpen. Ein Modell wäre, dass sich damals die deutschsprachigen Einwanderer anzusiedeln begannen, die das Zerstoßen von Körnern nicht kannten. Die einheimische sla-wischsprachige Bevölkerung war hingegen damit vertraut. Diese Erklärung ist allerdings unwahrscheinlich. Das zweite Modell wäre, dass die einheimische slawischsprachige Bevöl-kerung ihre Sprache aufzugeben begann und nur die alten spezialisierten Ausdrücke beibe-hielt, welche die neue Sprache nicht bot. Diese Erklärung ist wahrscheinlicher, weil das Gebiet, in dem das Wort Talggen und Muggen gebraucht wird, mit dem ehemaligen slawi-schen Siedlungsgebiet in den Alpen übereinstimmt. Ferner würde es bedeuten, dass tlakno und moka schon damals eine spezialisierte Bedeutung hatten. Tlakno bedeutete Hafermehl, das nach besonderem Verfahren vorbereitet wurde57 und für den weiteren Kochgebrauch bestimmt war. Noch bis vor kurzem streute man es in heißes Wasser und kochte es auf. Man konnte es mit Milch zu einem Teig verkneten, der anschließend roh oder gekocht verzehrt wurde58. Kurz gesagt war tlakno das Rohmaterial auch für den močnik. Wenn man močnik aß, aß man tlakno. Daraus resultiert auch die spätere Sprachsituation in Kärnten, wo Talggen und Munggen scheinbar dasselbe bedeuten. Auf der anderen Seite würde nach dieser Erklärung Munggen den Gebrauch von močnik – mit diesem Namen – im frühen Mittelalter bezeugen59. 6. Mlinci-kruh – gebackener Teig ohne Triebmittel aus Mehl und Wasser

Bekannt ist dieser bei allen Slawen, jedoch unter verschiedenen Namen, die allesamt relativ allgemein gehalten sind. Dies deutet auf das gleichzeitige Vorkommen all dieser Bezeich-nungen schon im frühen Mittelalter hin, welche die einzelnen Eigenschaften ein und dessel-ben beschreiben. Das darf uns nicht überraschen, denn Brot war das Grundnahrungsmittel der alten Slawen. Wenn man die Formulierung gebraucht, dass man Brot vergötterte, ist sie keinesfalls übertrieben. Man muss sie sogar wörtlich nehmen. Die rituelle Bedeutung von Brot war nämlich sehr groß60 und das, was vergöttert wird, erhält viele Namen. Diese Vorliebe für das Brot soll mit der Feststellung von Sumcov veranschaulicht werden, dass das Fleisch bei den Russen das Brot nicht ersetzte. Auch dann nicht, wenn infolge schlechter Ernten ein fürchterliches Elend herrschte, obwohl es damals an fleischlicher Nahrung nicht mangelte61.

54 Rhamm 1909, 214. 55 Ramovš 1936, 32. 56 Rhamm 1909, 220 f. 57 Siehe Kap. 3. *Tlakno. 58 Vgl. Rhamm 1909, 211 f. 59 Siehe Kap. 4. Kiselica. 60 Z. B. Sumcov 1996, 158 ff.; Janeva 1997. 61 Sumcov 1996, 172.

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6.1. Kruh (Brot)

Etymologie: Das urslawische *kruxъ bedeutete Stück bzw. Brotkrume. Die ältere Bedeutung „Stück, Klumpen oder Bruchstück“ entwickelte sich zur Bezeichnung eines Gerichtes, weil man einst beim Essen Brot ohne Triebmittel abbrach. Die indoeuropäische Wurzel lautet *kreu – schlagen, hauen62. Die Bezeichnung kruh betont also die Bröckeligkeit gebackenen Teiges ohne Triebmittel. Veränderungen: Als man aufgegangenen Teig zu backen begann, blieb das Brot ohne Trieb-mittel mehr oder weniger nur noch als Speise für besondere Anlässe in Gebrauch63. Die alte Bezeichnung kruh für gebackenen Teig ist in allgemeiner Bedeutung nur im Slowenischen und Kroatischen erhalten, wo es auch auf das Backerzeugnis übertragen wurde, obwohl das aufgegangene Brot nicht so bröcklig ist wie das nicht aufgegangene. Der umgekehrte Fall liegt in den anderen slawischen Sprachen vor, wo die Eigenschaft des neuen Erzeugnisses64 zur allgemeinen Bezeichnung für gebackenen Teig wurde. 6.2. Mlinec (Fladenbrot)

Etymologie: Das urslawische *mlinъ – Fladenbrot entwickelte sich aus dem indoeuropäischen *mliHno – gestampft, geschlagen65. Die Bezeichnung bezieht sich höchstwahrscheinlich auf die alte Art und Weise der Zubereitung von Fladenbrot. Heute wird der Teig ausgerollt, jedoch ist das Nudelholz ein junges Gerät. Ohne dieses wurde der Teig bis zu entsprechender Dicke mit leichten Handflächenschlägen geformt66. So entstand die charakteristische flache Form. Veränderungen: Die Bezeichnung und das Verfahren sind in Slowenien und Kroatien erhal-ten, was vielleicht umso leichter passierte, als die Bezeichnung kruh auf das Gebäck aus aufgegangenem Teig übertragen wurde. Die Bezeichnung ist auch bei den Ostslawen erhalten, jedoch sind die russischen bliny heute ein Süßgebäck aus eingegossenem Teig67. Kleineres flaches Gebäck aus gesäuertem Teig buken die Rusinen in der Slowakei. Es hatte die ver-schiedensten Namen, so etwa oščipok, ošipok, pagač, pidpalok, poškribok, opreslok, pryplanča oder moskal“ 68. Pagáč war im mährischen Valašsko ursprünglich ein flaches Produkt aus Teig ohne Triebmittel aus beliebigem Mehl oder Gries und auf verschiedene Art angedickt. Der Begriff pagáče überschneidet sich inhaltlich mit dem Begriff osúchy. Osúch unterschied sich nur durch die Backweise. Man gab ihn erst dann in den Ofen, nachdem die Brotlaibe entnommen waren und die Temperatur schon niedriger war, so dass er besser trocknete69. Auch im ostböhmischen Těšínsko, wurden osuchy aus Teig ohne Triebmittel hergestellt, den man mit weniger qualitätvollem dunklem Mehl andickte, in den Bergen mit Hafer. Man buk sie nach dem Backen von Brot oder Kuchen im selben Ofen. Bei abnehmender Ofentemperatur wurden sie eher getrocknet als gebacken. Man knabberte sie zur Suppe oder zum Kraut. Die Bezeichnung osuchy überlappt sich mancherorts der Bedeutung nach mit placki70. Die charakteristische flache Form erhielt nämlich bei den Westslawen die Bezeichnung placki. Wie Rejzek vermutet, handelt es sich um eine 62 Bezlaj 1982, 104; Gluhak 1993, 354. 63 Siehe Kap. 6.6. Kravaj und 6.4. Presnec. 64 Siehe Kap. 7. Hleb. 65 Snoj 1997, 348. 66 Trifunoski 1986, 266. 67 Vgl.: Ljahovskaja 2004, 339. 68 Sopoliga 2006, 215. 69 Štika 1997, 47 f. 70 Tomolová/Stolařík/Štika 1997, 181 f.

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Entlehnung des deutschen Plätzchens, das bekanntlich flaches Gebäck bezeichnet71. Eine andere Erklärung bietet Dembińska. Die Bezeichnung placki soll aus dem Lateinischen (placenta) übernommen worden sein und würde nur die flache Form bezeichnen72. Die polnischen placki sollen ein Hirsebrot sein73. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, auch das Gericht zu erwähnen, das proja heißt. In Serbien und Makedonien versteht man darunter heute Maisbrot. Im Slowenischen Savinjatal war dies eine Art Brot ohne Triebmittel, das in glühender Asche gebacken wurde. Die Verbindung zwischen der slowenischen und der serbisch-makedonischen Bezeichnung proja ist nicht klar. Auf jeden Fall entstand die Letztere aus dem Wort proha – Hirse74. Also bedeutete proja ursprünglich Hirsebrot. 6.3. Opekanec

Im mährischen Valašsko ist eine Fladenbrotart erhalten, deren Bezeichnung auf die Art der Herstellung verweist. Der Teig aus Mehl und Wasser wird zwischen den Handflächen abge-flacht, auf eine heiße Herdstellenfläche gelegt und auf beiden Seiten gebacken. Wenn die Schüssel voller gebackener opekanci ist, werden sie mit heißer Milch übergossen75. Es handelt sich um ein altertümliches Verfahren des Backens, wobei keine Hilfsmittel benötigt werden. Hinsichtlich des Übergießens mit Milch handelt es sich natürlich auch um die so genannte polevka76. Es ist keinesfalls notwendig, dass die Bezeichnung opekanec so alt wie das Verfahren selbst ist. Ihre Verwendung ist nämlich nur in den Verhältnissen sinnvoll, in denen es auch andere Backverfahren gibt, was gewiss auch bereits im frühen Mittelalter der Fall war. 6.4. Presnec

Etymologie: Das urslawische *prěsknъ bedeutet frisch oder ungesäuert77. Auch diese Bezeichnung wurde erst dann sinnvoll, als das Brot mit Triebmittel auftrat und man beide unterscheiden musste. Als prisnyj chlib ist das Brot ohne Triebmittel im ukrainischen Teil der Karpaten und in Galizien erhalten. Dort war dies die älteste Art und Weise der Brotzubereitung. Man stellte es so her, dass man aus Wasser, Mehl – hauptsächlich Hafer- oder Gerstenmehl – sowie Salz einen Teig anrührte. Man formte es rund und buk es auf der Herdstelle oder im Ofen. Es war flach, nicht aufgegangen und wog im Durchschnitt 1 kg. Neben der allgemeinen Bezeichnung gibt es noch andere, etwa ošipok, ščipok, oščipok, osuch, adzymka, pagač, moskol oder moskal. Dieses Brot wurde nicht mit einem Messer geschnitten, sondern gebrochen. Da es relativ hart war, wurde es noch heiß mit Wasser aufgeweicht. Die aufgeweichten Stücke wurden mit Sahne oder geschmolzener Butter übergossen78. Das beweist natürlich, dass die polevka79 nicht nur für das Aufbrauchen alten Brotes bestimmt war, sondern ursprünglich den gewöhnlichen Abschluss des Brotbackens darstellte.

71 Rejzek 2001, 470. 72 Dembińska 1999, 117. 73 Ebd. 105. 74 Snoj 1995; Pleteršnik 2006. 75 Štika 1997, 49. 76 Siehe Kap. 8.1. Polevka. 77 Snoj 1997, 492 f. 78 Sopoliga 2006, 215. 79 Siehe Kap. 8.1. Polevka.

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Veränderungen: In Makedonien ist presnec ein rituelles Brot, das zum Verzehr am Grab gebacken wird80. Auch der tschechische přesňák war eine rituelle Speise. Als im Frühjahr die Bauern zum ersten Mal das Feld pflügten, nahmen sie zum Essen die so genannten přesňáki mit, gerillte Rechtecke aus Teig ohne Triebmittel. Sie waren ein Symbol der Felder, auf denen man mit einem Hakenpflug Furchen ziehen und die man für die neue Ernte befruchten musste81. Auch in Slowenien ist presnec ein Brot für besondere Anlässe, wie z.B. Ostern. 6.5. Nalesnik

Etymologie: Die Bezeichnung hängt offensichtlich mit dem Krautblatt zusammen, auf dem die Speise gebacken wird. Veränderungen: In Rumänien ist die altertümliche Weise der Zubereitung von Brot auf einem Blatt erhalten geblieben. Mit einem Blatt wird es auch bedeckt und dann mit glühender Asche überschüttet82. Auch im Weinanbaugebiet Goriška Brda (Slowenien) backt man Maiskuchen unter einem Kohlblatt und glühender Asche. In Dolenjsko wird ein Brot auf Kohlblättern im Ofen gebacken. Das Kohlblatt verleiht einen guten Geruch und Geschmack und hinterlässt ein schönes Muster auf der Rinde83. Podlesníky bzw. podlistníky gibt es auch im mährischen Valašsko. Der dünnflüssige Teig ohne Triebmittel, der mit Milch, Molke oder Sahne angerührt wurde, wurde auf ein Kohlblatt gegossen, eingefettet und in den Ofen gegeben. Das geschah gewöhnlich beim Brotbacken oder danach. Einst wurde es nur aus Mehl gebacken. Das Kohlblatt wurde vor dem Gebrauch gewaschen und der Stil entfernt. Das gebackene Blatt wird dann geschält, der podlesnik wird abgeschmalzt und eingerollt84. Die Bezeichnung weist eindeutig darauf hin, dass das Blatt einst auch das Gericht bedeckte, was folglich bedeutet, dass man es in glühender Asche buk. Auf ähnliche Weise buken die slowakischen Rusinen auf Kohlblättern bandurjanik, nalisnyk oder nalesnyk. Er bestand aus geriebenen Kartoffeln und Mehl85. Heute sind nalesniki in der Ukraine Palatschinken. In Polen nennt man sie naleśniki. Anmerkungen: Ursprünglich waren nalesniki oder podlesniki Gelegenheitsgerichte. Die slowenischen und rumänischen Beispiele weisen auf die Variante des Brotbackens in glühen-der Asche. Aber eine solch feste Verbindung mit flüssigem Teig bietet anderswo noch zusätzliche Erklärungen. Eine Erklärung könnte sein, dass man auf diese Weise schon im frühen Mittelalter ähnlichen Teig buk. Man könnte sich auch vorstellen, dass auf diese Weise Brei als flüssiger Teig gebacken wurde. 6.6. Kravaj

Etymologie: Die Bezeichnung ist wahrscheinlich aus dem urslawischen *korva, krava (Kuh) hergeleitet86. Welche Verbindung gibt es zwischen kruh und krava? Eine logische Erklärung gab schon 1885 Nikolaj Fedorovič Sumcov. Die armen Leute, die den Göttern keinen Stier, keine Kuh, keinen Widder, keinen Ziegenbock oder kein Schwein opfern konnten, brachten Erzeugnisse aus Teig in Form dieser Tiere dar. Bei den alten Slawen war die Kuh das wich-tigste Zeichen von Reichtum und der Ernährung. Schwache Spuren der Opferung von Kühen

80 Mirčevska 1997, 145. 81 Dvořák 2002, 33. 82 Knežević 1997, 60. 83 Muratcović 2005. 84 Štika 1997, 48-49. 85 Sopoliga 2006, 212. 86 Bezlaj 1982, 84.

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sind in den Volksbräuchen erhalten. So weihten die Bauern am Tag der heiligen Agaphia, dem 3. April, im Gubernium von Vilnius (Litauen) in der Kirche Brot, in dem sich Salzstücke befanden. Dieses Brot wurde dann an die Hörner von Kühen gehängt. Der Reichtum wurde anhand der Kopfzahl von Hornvieh bestimmt. In den Wolken erblickte man Himmelskühe, die mit ihrer Milch, dem Regen, die Erde ernähren. Auch die Erde selbst war eine Kuh und in den Sternen sah man eine Himmelsherde, die vom Stier, dem Mond, angeführt wird. Die Bedeutung der kravaj in den Brotbräuchen kann man also dadurch erklären, dass sie das Opfern von Kühen ersetzte. Ein klarer Beweis für diesen Ersatz ist die Bezeichnung und die Form des kravaj. In den Volksbräuchen und -liedern sind die Anspielungen auf den Ersatz der Kuh durch Presshefe erhalten. In Bulgarien und Weißrussland wird die Presshefe manchmal sogar mit Teighörnern versehen. In Liedern wird der kravajc häufig der Hörnige genannt87. Und wodurch erinnert der zwei Spannen breite, flache, schwarz-braun gebackene kravaj so sehr an eine Kuh? Auf den ersten Blick erscheint er wie ein Kuhfladen, im Slowenischen kravjek genannt! Wir haben es also mit der so genannten homöopathischen bzw. imitativen Magie zu tun. Kravaj ist kravjek und dieser ein Teil der krava – der Kuh. In ähnlicher Weise haben die im Tschechischen als koblih bezeichneten Pfannkuchen den Namen nach ihrer Form erhalten. Die alte Bezeichnung lautet kobylihy, also Stutenäpfel88. Genauso kann man sich fragen was das Wort klobasa (Wurst) zunächst bezeichnete – das Fleischgericht oder den Rest nach abgeschlossener Verdauung? An dieser Stelle muss man den alten Slawen zuge-stehen, dass sie viel Sinn für praktische Schalkhaftigkeit hatten. Die obigen Überlegungen unterstützt auch das gemeinslawische Wort govno, das ursprünglich gerade die Exkremente von Rindern – slowenisch govedo – bezeichnete89. In Mazedonien versteht man unter kravajče ein rituelles Brot, das zu Weihnachten gebacken wurde. Es besteht aus einem Teig, der keine Triebmittel enthält. Die Hausfrau rührte ihn wäh-rend rituellen Schweigens an. In den Teig gab man eine Münze, im Dorf Psača (Kriva Palanka) auch eine Roggenähre. Kravajče buk man in glühender Asche und nicht im Back-trog, der crepna, oder in einem Ofen. Man darf dieses Brot nicht mit einem Messer schneiden, damit es nicht gut durchschnitten wird und ein Unglück herbeiruft. Das Brot wird abgebro-chen, damit sich die Menschen nicht streiten90. Veränderungen: Korovaj ist bei den Ostslawen das Hochzeitsbrot, später wurde es dort in großem Ausmaß durch jüngere Motive ersetzt. Sein Merkmal ist die ungewöhnliche Größe91. In Dolenjsko (Slowenien) bezeichnet kravajc zu Hause zubereitete Hefe aus Hirsemehl, die man mit Most verrührt, wenn sie am stärksten gärt. Man fertigt sie in Form von Laiben an, die ungefähr einen Durchmesser von 10 cm haben. Diese Laibe müssen gut trocknen. Im Sommer schützt der kravajc das Brot besser vor Geruch als Hefe92. Auf welche Weise sich kravaj in Slowenien zur Presshefe verändern konnte, kann man vielleicht dadurch erklären, dass man als Rohstoff Hirsemehl verwendete und dass hier einst der kravaj als Brot ebenso mit Hirse-mehl zubereitet wurde. Möglicherweise verwendete man sogar alten kravaj als Presshefe, vielleicht bei ritueller Zubereitung neuer Presshefe93. Auf jeden Fall bezeichnet kravajəc in der Bela Krajina in Slowenien noch heute einen Laib Brot aus Sauerteig, in Notranjsko

87 Sumcov 1996, 238 ff. 88 Dvořák 2002, 46. 89 Gluhak 1993, 241. 90 Svetieva 1997, 168. 91 Sumcov 1996, 107 und 195. 92 Ložar 1944, 496 f. 93 Vgl. Atanasovska 1997, 287.

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(Slowenien) hingegen Leinölkuchen94, eben nach dem Muster der prga im Sinne von Öl-kuchen95. 6.7. Rogljiči (pirogi) – Gebäck aus gebackenem Teig in charakteristischer Hörnchen- oder Halbmondform

Ein Gebäck mit diesem Namen ist in den slawischen Sprachen allgemein verbreitet. Etymologie: Das Wort rogljič geht hervor aus dem urslawischen *rogъ96. Das Gebäck hat also seinen Namen von der typischen Form. Für das russische pirog gibt es verschiedene Erklärungen. Die Etymologen leiten das Wort zumeist aus dem altrussischen pirъ – Gastmahl her und dieses aus dem urslawischen *piti97. Die Erklärung wäre sinnvoll, wenn man die pirogi nur bei Gastmahlen essen würde oder wenn man wenigstens bei Gastmahlen nur pirogi essen würde. Beweise dafür gibt es nicht. Piroški sind kleine pirogi. In lebhafter Erinnerung habe ich die köstlichen mit Marmelade gefüllten Hörnchen, die uns einst als polnisches Nationalgericht Aurelia Nowicka aus Poznań buk. Sie nannte sie rośki. Sie waren halbmond-förmig. Veränderungen: Heute ist der russische pirog ein beliebiges besseres Gebäck aus Hefeteig98. Das erschwert auch das Verständnis seiner älteren Bedeutung. Anmerkungen: Rogljiči sind eine Speise für besondere Anlässe. Die Form weist auf ihre rituelle Bedeutung. Sie sind die bildhafte Ergänzung des kravaj. Während der kravaj eine Kuh darstellt, präsentiert der rogljič – das Hörnchen – den Stier99. Erst beide zusammen bilden eine Herde und die Grundlage für Wohlstand (slowenisch blagostanje). Es sei an dieser Stelle daran erwähnt, dass blago früher Vieh bedeutete100. 6.8. Kolač – Erzeugnis aus Teig, das rund wie ein Rad gebacken ist

Kolač ist in allen slawischen Sprachen bekannt. Überall ist dies ein Kuchen für besondere Anlässe, größtenteils rituelle. Etymologie: Das Wort ist von kolo (Rad) abgeleitet101. Veränderungen: Der kolač wird heute auch aus Hefeteig zubereitet. 7. Hleb – gebackener Hefeteig aus Mehl und Wasser

Die Bezeichnung und das Verfahren kennen alle slawischen Sprachen. Etymologie: Das altslawische *xlěbъ (Brot) ist eine Entlehnung der germanischen Form *hlaibaz, die die Form des Brotes bezeichnete, also den Laib102. Der aufgegangene Teig hatte natürlich eine andere Form als der nicht aufgegangene. Veränderungen: Das Wort hleb bedeutet im Slowenischen und Kroatischen immer noch nur die Form: ein Laib Brot. In den anderen slawischen Sprachen kam es dagegen zu einer Bedeutungserweiterung auf das Produkt als solches.

94 Pleteršnik 2006. 95 Siehe Kap. 1. Prga. 96 Rejzek 2001, 542. 97 Snoj 1997, 445; Rejzek 2001, 458. 98 Vgl.: Ljahovskaja 2004, 30 ff. 99 Siehe Kap. 3.2.7.6. Kravaj. 100 Vgl.: Bezlaj 1976, 23. 101 Niederle 1911, 183; Bezlaj 1982, 54 f. 102 Gluhak 1993, 262 f.; ähnlich schon Niederle 1911, 184.

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Anmerkungen: Es handelt sich also um ein gemeinslawisches Wort schon aus der Zeit, als die Slawen in der gemeinsamen „Urheimat“ lebten. Damals trat ein neues Zubereitungsverfahren auf, das die Slawen von den Germanen übernahmen. Das würde nämlich das germanische Wort für das Produkt eines neuen Verfahrens erklären. Als sehr wahrscheinlichen Umstand der Übernahme muss man an die Zeit des engen Zusammenlebens von Slawen und Germanen im Rahmen eines Stammesverbandes unter der Führung der Goten denken, spätestens im 4. Jahrhundert103. Mit einer solchen Erklärung stimmt noch ein Umstand überein. Alle slawi-schen Sprachen haben ein gemeinsames Wort für den Teig, aus dem sowohl hleb als auch kruh bestehen. Das urslawische *těsto geht hervor aus der indoeuropäischen Wurzel *taHis, sekundär auch *teis(k) – drücken, kneten104. Jedoch hat die augenfälligste Eigenschaft des Hefeteiges, nämlich dass er aufgeht, kein gemeinslawisches Wort, sondern es gibt eine Reihe von verschiedenen Ausdrücken: vom slowenischen vzhajati, über das tschechische kynouti bis zum russischen broženie und anderen. Das zeigt, dass der Gebrauch von aufgegangenem Teig sich erst dann durchgesetzt hatte, als die Slawen schon begonnen hatten, auseinander zugehen. So sind wir wieder am Ende des 4. Jahrhunderts angelangt, als nach dem Einfall der Hunnen im Jahr 375 der gotische Stammesverband zerfällt, der bislang die Slawen zurückgehalten hatte105. 8. Juha (Suppe) – flüssige Speise

Flüssige Speisen und das Wort juha kennen alle Slawen. Etymologie: Das urslawische *(j)ucha geht hervor aus dem indoeuropäischen *ieu – rühren. Beim makedonischen juva und slowakischen jucha handelt es sich um Krautsuppe. Das weiß-russische júška oder juchá bedeutet Blut oder Blutwasser, auch das polnische jucha bedeutet Tierblut106. Veränderungen: Der berühmte ostslawische boršč, eine Suppe aus roten Rüben, könnte andeuten, dass es möglicherweise eine ältere Art von Suppe aus Blut gab. Das würde nämlich die polnische und die weißrussische Bedeutung erklären. Jedoch weist das Wort boršč noch auf etwas anderes hin. Die slowakischen Rusinen in der Umgebung von Sina bezeichnen Hefe, die getrunken wird, als boršč107. Bei den Bulgaren ist boršč eine Suppe, die man mit grünen Früchten oder Hefe säuert108. Etymologisch soll boršč Suppe bedeuten, die man aus dem borščevnik, im Russischen und Slowenischen der Bärenklau (heracleum sphondylium), zubereitete. Dieses hat seinen Namen von der Wurzel bol'š (groß), denn das Doldengewächs wächst ziemlich hoch109. Die jungen Blätter sind essbar und es gibt viel davon an feuchten Standorten. Bezlaj führt an, dass man Bärenklau für eine Art Hefegetränk gebrauchte und er verbindet es deshalb mit dem slowenischen Wort déža in der Bedeutung von Presshefe110. Seine Angabe würde erklären, warum die Rusinen in Snina (Slowakei) mit boršč Hefe bezeichnen. Wahrscheinlich benutzte man einst Bärenklau auch als Hefegewürz. Vielleicht wurde einst auch Blutsuppe mit Bärenklau gewürzt. Dabei muss man an die Samen denken, denn eines der tschechischen Wörter dafür lautet kmín sviňský111.

103 Vgl.: Pleterski 1996, 30 f. 104 Snoj 1997, 665. 105 Pleterski 1996, 32 ff. 106 Bezlaj 1976, 233. 107 Sopoliga 2006. 108 Knežević 1997, 60. 109 Rejzek 2001, 85 ff. 110 Bezlaj 1976, 100. 111 Krejči 2007.

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8.1. Polevka

Das tschechische polevka und das slowakische polievka bedeuten heute im Allgemeinen Suppe. Das ist schon die erweiterte Bedeutung, denn ursprünglich soll es sich nur um eine bestimmte Art von Suppe gehandelt haben, bei der man die Speise auf dem Teller mit kochend heißer Flüssigkeit übergoss112. Damit stimmt in etwa auch die russische polevk a überein, bei der der Teig in Wasser gekocht wird113. Noch weiter entfernt von dieser Bedeu-tung ist die polnische polevka. Das ist Hirsebrei, den man auf zwei Arten kochte. Die erste Möglichkeit war, ihn einfach zu kochen, bis er sämig wurde, dann aß man ihn mit Milch. Oder man gab noch Gemüse und manchmal auch Fleisch hinzu. Der Brei aus grob gemah-lenem Korn war ein typisches Bauerngericht und bei höheren Gesellschaftsschichten wenig geschätzt114. Anmerkungen: Dass in der Slowakei und in Makedonien juha gerade Kohlsuppe bedeutet, stimmt mit der Kohlsuppe šči überein, ohne die es keine russische Küche gibt. Das weist auf die Bedeutung der Gemüsesuppe in altslawischer Zeit hin. Des Weiteren zeichnen sich auch das Bestehen einer Blutsuppe sowie der Gebrauch von Gewürzen ab, was aber einer eigenen Erörterung bedürfte. Die verschiedenen Arten von polevka deuten im Hinblick auf die Verbreitung des Namens und die Bedeutungsveränderung ebenfalls auf ein hohes Alter. In altslawischer Zeit handelte es sich höchstwahrscheinlich um hartes Brot, das man mit heißem Wasser oder heißer Milch übergoss. In Serbien und Makedonien nennt man das heute popara, wenn man mit Wasser altes Brot übergießt und es dann mit Butter mischt115. In Slowenien werden auf diese Art und Weise die mlinci vorbereitet116. 9. Kvas

9.1. Getränk

Das Getränk kvas wird aus getrockneten Stücken Roggenbrot zubereitet, am besten aus einem Brot, das mit einem Zusatz von Malz gebacken wurde. Wenn man je nach Wunsch die Stücke auf dem Feuer anschwitzt, dann wird das Getränk eine stärkere Farbe bekommen. Anschließend wird der Zwieback mit kochend heißem Wasser übergossen und man lässt ihn 4-5 Stunden stehen. Danach zerbröckelt man das Brot und fügt Zucker und Presshefe hinzu. Die Zutaten werden vermischt, mit einem Leinentuch bedeckt und an einen warmen Ort gestellt, damit die Mischung gärt. Wenn sich Schaum gebildet und der typische Brotgeruch entwickelt haben – letzteren bezeichnet man als hlebnyj duh – ist das Getränk fertig. Danach wird es gefiltert und an einen kühlen Ort gestellt117. Die Bezeichnung kvas und das Verfahren sind noch heute bei den Ostslawen lebendig. 9.2. fermentierte Mischung aus Wasser und Mehl zum Aufgehen von Teig und andere Fermentierungen

112 Vgl.: Rejzek 2001, 484. 113 Siehe Kap. 5. Močnik. 114 Dembińska 1999, 106. 115 Kruszec 2004, 250; Hadži Ristić 1997, 70 f. 116 Siehe Kap. 6.2. Mlinec und 6.1. Kruh. 117 Ljahovskaja 2004, 770.

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In dieser Bedeutung und mit dieser Bezeichnung kennen kvas die West- und Südslawen. Für denselben Inhalt kennen alle Slawen noch ein anderes Wort – droži. Der Gebrauch von kvas und droži in der altslawischen „Urheimat“ ist unstrittig. Etymologie118: Das urslawische *drožďi bedeutet Bodensatz, Hefe bzw. Presshefe. Es handelt sich um eine Ableitung der indoeuropäischen Wurzel *dherH-gh – trüber Bodensatz oder Treber119. Veränderungen: Die Etymologie zeigt, dass kvas und droži ursprünglich verschiedene Bedeu-tungen hatten. Warum ist dann der inhaltliche Unterschied zwischen beiden heute so unklar? Da der Unterschied zwischen ihnen dort ganz eindeutig ist, wo kvas als Getränk gebraucht wird, ist es offensichtlich, dass das Wort kvas dort eine andere Bedeutung annahm, wo man kvas nicht mehr als Getränk herstellte. Da dies bei den West- und bei den Südslawen geschah, musste es zu einer Bedeutungsveränderung nach der Auswanderung aus der „Urheimat“ gekommen sein. Das Verfahren der Herstellung von kvas, wo die droži die Fermentierung beginnen, verbindet der Bedeutung nach beide Wörter so sehr, dass die spätere Sinnüber-tragung nicht schwer gewesen sein musste. Die Menschen, die keine kvas als Getränk mehr herstellten, konnten den Unterschied nicht mehr erkennen. Anmerkungen: Wie die Etymologie von droži besagt, hat man zum Aufgehen des Teiges einen Bodensatz verwendet, der bei der Zubereitung eines Getränkes, höchstwahrscheinlich von Bier, zurückgeblieben ist. Nach Ansicht von Maria Dembińska wird nämlich das polni-sche Wort für Hefe droŜdŜe vielleicht vom so genannten dickflüssigen Bier hergeleitet, welches aus Weizen und Gerste hergestellt wurde. Dickflüssiges Bier benutzte man zum Vergären sowohl von Bier als auch von Teig120. Interessant ist das Rezept für das dickflüssige Bier droŜdzy: Kochend heißes Wasser wird über trockenen Hopfen gegossen und beides zusammen 20 Minuten umgerührt. Wenn die Flüssigkeit lauwarm ist, gibt man Bier hinzu und man gießt die Mischung über Gersten- und Dinkelmehl. Man rührt alles um und lässt es unbedeckt 3 bis 5 Tage stehen bzw. solange, bis sich ein Schaum gebildet hat. Dies ist abhän-gig vom Wetter und der Temperatur. Es muss nach Sauermilch riechen. Die Fermentierung kann wiederholt werden, wenn man wieder Mehl und Flüssigkeit hinzufügt121. Die Mischung aus Wasser, Mehl und Hopfen zur Zubereitung von Hefe muss einst weiter verbreitet gewesen sein. So stellte man in Cerklje na Gorenjskem (Slowenien) zu Hause drože (Presshefe) aus Hirsemehl und Hopfen her122. In Serbien stellte man in den Haushalten Hefe aus Maismehl oder aus einer Mischung von Mais- und Weizenmehl, den so genannten komlov, her und auch aus trice – aus Hopfen und Maismehl. Manchmal gab man anstelle von Hopfen gesäuerten Brotteig hinzu. Dieses Mehl wurde mit Wasser vermischt. Am folgenden Tag machte man daraus kleine Laibe, trocknete sie und gebrauchte sie später als Hefe123. Die obigen Angaben bieten die Erklärung, warum bei den Slawen die droži ursprünglich aus Bierpresshefe bestan-den und zum Vergären verschiedener Gerichte und Getränke verwendet wurden. Der Unter-schied zwischen den Getränken pivo (Bier) und kvas, einer Art fermentiertem Getränkes, bestand in den grundlegenden Zutaten: beim pivo Malz124 und beim kvas altes Brot. Eine Folge war natürlich auch der unterschiedliche Geschmack. Wie der Name schon sagt, war

118 Zu kvas siehe Kap. 4. Kiselica. 119 Snoj 1997, 105. 120 Dembińska 1999, 120. 121 Weawer 1999, 183. 122 Ložar 1944, 497. 123 Grubić 1997, 446. 124 Kap. 10. Slad.

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kvas saurer und es handelte sich in diesem Sinn um saures Bier, in ähnlicher Weise wie die kiselica ein saurer močnik ist. 10. Slad (Malz) – aufgekeimte Getreidekörner (am besten Gerste), zerstoßen und geröstet

Die Bezeichnung und die Bedeutung sind bei allen Slawen bekannt. Etymologie: Das urslawische *soldъ bedeutet süß bzw. wohlschmeckend und geht hervor aus dem indoeuropäischen *sal – Salz. Zur Bedeutungsverschiebung soll es über die gemeinsame Bedeutung einer wohlschmeckenden Speise gekommen sein125. Veränderungen: In Serbien stellt man Malz aus gut aufgekeimtem Getreide her, das man in einem Mörser zerstößt, mit Mehl vermischt und backt126. Das russische solod besteht aus an-gekeimten Roggen- oder Gerstenkörnern. Aufgekeimte Körner können schnell verschimmeln, deshalb werden sie getrocknet und gemahlen. Sie haben einen süß-sauren Geschmack. Dieses Mehl verwendete man für soloduha, fügte es dem Brotteig für den Geschmack und das Aroma hinzu, braute Bier und kochte Wodka. Soloduha stellte man her, indem man in einem Tontopf Wasser zum Kochen brachte, es auf Körpertemperatur abkühlen ließ, Malz hineinschüttete, verquirlte und hinter dem Ofen warm stellte. Um die Mischung nicht zu überwärmen, gab man Schnee oder Eis hinzu, um die Fermentierung nicht zu unterbrechen und zu starke Süße der soloduha zu verhindern. Wenn sie infolge des Schnees oder Eises zu sehr verdünnt wurde, gab man noch Roggenmalz hinzu und rührte sie häufig um. Die Hausfrau musste ständig kosten. Die Stufe der Fermentierung beurteilte man nach der Süße. Nachdem die Fermen-tierung abgeschlossen war, stellte man den Topf in den Ofen, so dass die soloduha aufkochte. Dann nahm man sie aus dem Ofen, kühlte sie schnell auf eine Temperatur von 25° bis 30° C ab, gab eine Roggenbrotrinde hinzu und bedeckte sie mit einem sauberen Küchentuch. Wieder wurde sie auf den warmen Ofen gestellt, so dass sie sauer wurde und so ihren charak-teristischen süß-sauren Brotgeschmack erhielt127. Ein aufmerksamer Leser hat inzwischen festgestellt, dass sich die soloduha von dem heute gewöhnlichen Bier nur dadurch unter-scheidet, dass man ihr, wenn man sie aufkocht, keinen Hopfen hinzufügt, der den Geschmack natürlich ganz verändern würde. So kann man sagen, dass die soloduha eine Art Bier darstellt und dass man höchstwahrscheinlich auf diese Weise Bier hergestellt hatte, noch bevor man Hopfen kannte und ihn bei der Zubereitung mit einbezog. Der Unterschied zwischen dem serbischen und dem russischen Malz besteht in der Reihen-folge des Zerstoßens und Röstens. Wenn man Gries oder Mehl machen möchte, dann muss man die nötigen Körner zuvor trocknen. Das Zerstoßen ist dann leichter und geht schneller, das Mehl trocken und deswegen haltbarer. Möchte man aber eine Speise vorbereiten, dann nimmt man sich mehr Zeit zum Zerstoßen der ungerösteten Körner und der Gries wird anschließend gebacken. Möglicherweise ist das serbische Verfahren das ursprüngliche und das russische gehört zu denjenigen, die sich erst später herausgebildet haben, als der süße Gries Ausgangspunkt für nachfolgende Speisen war. Anmerkungen: Sehr geeignet für Malz ist Gerste. Bei ihrer Keimung wird Stärke sehr gut in Zucker umgewandelt. Durch das Rösten der gekeimten Körner kommt es zur Karamellisie-rung und es entsteht Malz128. So erhält man eine Süßspeise, die für besondere Anlässe gebraucht wurde. Wenn man Rhamms Angabe berücksichtigt, dass auch tlakno aus Hafer

125 Snoj 1997, 577. 126 Vlahović 1997, 250. 127 Ljahovskaja 2004, 231–233. 128 Dvořák 2002, 24.

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einen süßen Geschmack bekommt, weil sich darin Dextrin bildet129, und auch milchige Ge-treidekörner im Allgemeinen einen süßlichen Geschmack haben130, dann erkennt man, dass die Unterschiede nur im Beginn des Verfahrens liegen. Beim tlakno muss man die Körner zunächst kochen, beim slad aufkeimen, bei der prga gerade im rechten Augenblick ernten. Höchstwahrscheinlich hängt dies auch mit der bestmöglichen Nutzung der einzelnen Getrei-dearten zusammen, weil sie sich nicht alle unter den gleichen Bedingungen gleich verhalten. So ist tlakno offensichtlich mit Hafer und slad mit Gerste verbunden. Schluss

Wenn man die Verarbeitung von Rohstoffen (Nahrungsmitteln) mit Hilfe des (Koch-) Verfah-rens zum Endprodukt, der Speise, darstellt, entsteht ein sinnvolles Bild der Körnerverar-beitung bei den alten Slawen (Tab. 1). Vor uns zeichnet sich eine Entwicklung ab, die durchaus entwickelte und vielfältige Verfah-ren der Zubereitung kannte und die Spuren der gesamten Geschichte der Verarbeitung von Getreidekörnern enthält. Offensichtlich entwickelte sich das System Schritt für Schritt, mit der Hinzufügung neuer Verfahren, von denen das Backen des Hefebrotlaibes wahrscheinlich das jüngste ist. Am einfachsten ist die so genannte prga, wobei lediglich Körner geröstet wurden, was sogar ohne Verwendung eines Gefäßes möglich ist. Ähnlich einfach ist der Brei, bei dem allerdings ein Gefäß, in dem dieser gekocht wird, notwendig ist. Der folgende Ent-wicklungsschritt war die Erkenntnis, dass zerstoßene Körner einen Rohstoff für weitere Kocherzeugnisse bieten. Vielleicht ahmte man zunächst die Tätigkeit der Zähne nach, um zahnlosen Mündern zu helfen. Wenn man Gries und Wasser verrührt, erhält man einen Teig, der schon genießbar ist, insbesondere, wenn die Körner schon ein wenig geröstet waren. Wenn man das Gemisch noch etwas kocht, erhält man močnik, und wenn man es bäckt, Brot. Falls man die Mischung von Mehl und Wasser vergisst, beginnt sie zu fermentieren131, was neue Möglichkeiten eröffnet. Man kann Getränke herstellen, wie kiselica, oder Hefebrot backen. Und wenn man hartes Brot mit Wasser einweichen möchte, erhält man polevka. Wenn man auch diese vergisst, erhält man Hefe (kvas als Getränk). Parallel dazu machte man die Erfahrung, dass gerade aufgekeimte Körner süß sind und dass man sie auf die oben beschriebenen Arten nutzen konnte, nicht zuletzt auch schon für die Herstellung von moder-nem Bier. Die alten Slawen kannten also alle grundlegenden Verfahren: Aufkeimen von Getreide, Rösten von Körnern, Zerstoßen von Körnern, Herstellung von Teig, Fermentieren, Kochen und Backen. Ebenso wussten sie die Hausfrauen schöpferisch zu kombinieren. Literatur

ATANASOVSKA (АТАНАСОВСКА), Фима: Пченкарното брашно во секојдневната исхрана и во некои обредни јадења кај Мијаците – Corn flour in the daily nutrition and some dishes of the Mijaks. ЕТНОЛОГ – Ethnologist 7/8, 1997, 286-292. BERANOVÁ, Magdalena: Jídlo a pití v pravěku a ve středověku. Praha 2005. BEZLAJ, France: Etimološki slovar slovenskega jezika. Prva knjiga A-J. Ljubljana 1976. BEZLAJ, France: Etimološki slovar slovenskega jezika. Druga knjiga K-O. Ljubljana 1982. BEZLAJ, France: Etimološki slovar slovenskega jezika. Četrta knjiga Š-Ž. Ljubljana 2005.

129 Rhamm 1909, 215. 130 Kap. 1. Prga. 131 Ähnlich bereits Sumcov 1996, 175.

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Ein kleines Einmaleins der Darstellung historischer Lebenswelten im musealen Kontext

The Basics of the Presentation of Historical Life-Worlds in a Museum Context

Ibrahim Karabed

Abstract

After long years of popularity, there is still an ongoing enthusiasm for all things medieval in Germany. This raises the question as to who generates a reimagining of history where, when, for whom, and with what intentions. The phenomenon of the reconstruction of historic environments has only been a matter of scientific interest in Germany since around 2007, which may be one of the reasons why there is as yet no clearly defined terminology in this field. The paper tries to clarify the terms Histotainment, ReenLarpment, Reenactment, Living History and Experimental Archaeology as they are used in Germany as opposed to the original meaning of Reenactment and Living History in English-speaking countries. While Living History in the original sense has been a part of Museum Education in the U.S. since the first half of the twentieth century, in Germany it only began to gain importance towards the end of the last century. Even then, it was usually not initiated by the museums but rather by the performing groups themselves, resulting in a win-win-situation where the museum gained both publicity and an increase in visitors while the groups could experience authentic historical environments. The great success of this “Museumstheater” (the term is used for historical depictions in museum environments) led to a discussion of the standards that need to be observed, focussing on the quality of the kit of the actors, their expert knowledge, acting ability and social skills, and the educational concept. The various methods of depiction are analysed according to their suitability for the portrayal of different historical periods. As long as some inherent risks are avoided, “Museumstheater” can provide a great way to make museums more approachable and interesting to the general public. It also offers the possibility to show an alternative, more accurate view of history than that propagated by Medieval Fairs and the film and television industry.

Totgesagte leben länger. Als gutes Beispiel hierfür kann die in Deutschland weiterhin ver-breitete Mittelalterbegeisterung angesehen werden, unkten doch Veranstalter und aktive Teil-nehmer von Stadtgründungsfesten und Mittelaltermärkten schon seit ein paar Jahren, dass der Zenit der Nachfrage nach solchen Spektakeln schon lang überschritten und damit die Umsatzmöglichkeiten eher rückläufig seien. Doch weit gefehlt: nicht nur der Veranstalter des nach eigenen Aussagen „größten Ritterturniers Deutschlands“ kann im Sommer bei gutem Wetter täglich mit über 10000 Besuchern rechnen; kleinere Veranstaltungen erfreuen sich ebenso weiterhin großer Beliebtheit. Besser noch lässt sich in den Medien das scheinbar ungebrochene Interesse an der Geschichte im Allgemeinen und am Mittelalter im Speziellen nachweisen, was durch Einschaltquoten von Fernsehfilmen und Dokumentationen gut belegt wird. Es scheint vielmehr, als gehöre nun der Konsum von „Geschichte“ zum festen Bestandteil des Jahreslaufs einer breiten Bevölkerungsschicht. Wie einst Volksfeste werden nun Mittelalterjahrmärkte von unzähligen Besuchern an den Wochenenden von Frühjahr bis Herbst besucht und im Winter kann man auf diversen „Mittelalterlichen Weihnachtsmärkten“ in der ganzen Republik seinen Glühwein oder heißen Met trinken und einen Ritterzipfel im Hanfbrötchen, a.k.a. Bratwurst in der Semmel, verspeisen. Komplettiert und abgerundet wird das Jahresangebot in den Herbst- und Wintermonaten vor allem durch das Programm des pri-vaten deutschen Fernsehens, das in dieser „dunklen“ Zeit mit Erstausstrahlungen von Filmen

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Abb. 1. Mittelalter Markt.

mit „historisch-fantastisch-mittelalterlichen“ Settings aufwartet und besonders mit Roman-verfilmungen sagenhafte Einschaltquoten erreicht1. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen bedient die Nachfrage mittlerweile nicht mehr nur durch Dokumentationsreihen à la Guido Knopp und Konsorten. So konnte man ab dem 19.10.2011 erstmals die mehrteilige deutsch-französischen Co-Produktion „Borgia“ im ZDF verfolgen. Im Gegensatz zu den privaten Sendern wurde dem geneigten Fernsehzuschauer hier jedoch nicht die Möglichkeit offeriert, im Anschluss eine der nahezu unvermeidlichen, zumeist in Low Budget produzierten Doku-mentationen über das „wahre“ Mittelalter zu verfolgen. Und schon ist man, ehe man sich versieht, mitten in dem Diskurs angelangt, wer – wo – wann – wem und mit welcher Intention Bilder mittelalterlicher Lebenswelten generiert und damit für einen gewissen Personenkreis eine Vorstellung von Geschichte kreiert. Bevor man sich jedoch diesen Fragestellungen und den mit ihnen verbundenen Begrifflich-keiten nähern kann, muss darauf hingewiesen werden, dass man sich in Deutschland erst seit ca. 2007 wissenschaftlich interdisziplinär mit dem Phänomen der Rekonstruktion historischer

Lebenswelten, die außerhalb des wissen-schaftlichen Diskurses stattfinden, aus-einandersetzt. Bis heute hat nicht nur die wissenschaftliche Diskussion zu dieser Thematik zwar eine Reihe von Wortneu-schöpfungen wie Archäotechnik, Histo-tainment oder Edutainment kreiert, aber bisher kaum allgemeingültigen Begriffs-definitionen für bereits kursierende Begriffe wie ReenLarpment, Reenactment, Living History, experimentelle Archäologie oder Museumstheater hervorgebracht. Dies ist wohl einer der Gründe, warum all diese Begriffe an unterschiedlichen Stellen teils als Synonyme, teils als Überbegriffe ver-wendet werden, so zum Beispiel Reenact-ment und Living History aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum, die von Jay Anderson Anfang der 1980er Jahre geprägt wurden2. Tatsache ist, dass die Grenzen zwischen den Begriffen fließend sind, wenn man sich ihnen ausschließlich über die Handlungen der Ausübenden nähert.

1 So stürzte 2010 der erste von vier Teilen der „Säulen der Erde“ mit 8,1 Millionen Zuschauer (24 % Markt-anteil) den bisherigen Quotenkönig „Bauer sucht Frau“ und im Februar 2012 bescherte die „Rache der Wanderhure“ dem Privatsender Sat.1 erneut 8,01 Millionen Zuschauer (25,3 % Marktanteil); Wörner, Natalia: 16. Nov. 2010 und mk/dpa, 29. Feb. 2012. 2 Hochbruck 2009, 217.

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Daher scheint es ratsam, einen zusätzlichen Fokus auf die persönlichen Intentionen der aktiven Ausübenden und auf den Rahmen, der ihren Handlungen zugrunde liegt, zu setzen, um so ein wenig Klarheit in den „Wilden Westen“ der Begriffsdefinitionen zu bringen. Die größte Breitenwirkung der Darsteller „historischer“ Lebenswelten kann man mit Fug und Recht den bereits erwähnten Medien3 und den Veranstaltern von historischen Jahrmärkten unterstellen (Abb. 1). Ihrer Zeichnung von Geschichtsbildern liegen ganz nüchtern und wer-tungsfrei betrachtet in erster Linie ein unterhaltendes Element und dessen kommerzielle Ver-marktung zugrunde, wobei der edukative Anspruch in den Hintergrund tritt und mit ihm auch der Wunsch nach fundierter Recherche und „historischer Akkuratesse“. Dieses Geschäft mit der Geschichte kann man durchaus mit der Wortneuschöpfung Histotainment4 umschreiben. Sicherlich sind Bemühungen im Bereich der öffentlich-rechtlichen Medien um solide Recher-che und informativen Charakter in manchen ihrer Formate zu verzeichnen; doch ähnlich den Artikeln zu historischen Themen in wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazinen weisen sie hinsichtlich der Qualität inhaltlich starke Schwankungen auf. Wundern darf das jedoch nicht, sind doch auch sie dem Diktat der Einschaltquoten und des Absatzes der Auflagen un-terworfen. Im Nachfolgenden soll sich nun die Betrachtung den Orten und Gelegenheiten zuwenden, an und bei denen historische Lebenswelten rekonstruiert werden, aber ein kommerzielles In-teresse entweder nicht vorhanden ist oder weit in den Hintergrund tritt.

Abb. 2. Links: Live Rollenspiel; rechts: ReenLarpment. Ein Beispiel, das normalerweise keinerlei Außenwirkung erzielt und in dessen Rahmen mehr oder weniger historische Lebenswelten konstruiert werden können, ist eine Form des Live

3 Unter Medien seien hier in erster Linie Kino, Funk und Fernsehen sowie Printmedien mit Breitenwirkung ver-standen und keineswegs Fachzeitschriften oder das world wide web. 4 Diesen Begriff ließen sich die Organisatoren des Histotainment Parks Adventon patentieren.

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Action Role Play, die seit etwa 2004 mit dem Kunstwort ReenLarpment umschrieben wird (Abb. 2). Im Liverollenspiel allgemein schlüpft ein Teilnehmer in die Rolle eines Charakters, den er entweder selbst gewählt hat oder der ihm von den Organisatoren zugewiesen wurde, und agiert darin über den gesamten Zeitraum der Veranstaltung5. Die Veranstalter legen ledig-lich die Rahmenhandlung fest, in der der Teilnehmer das Verhalten seiner Rolle vollkommen frei selbst bestimmen kann. Ebenso versucht der Veranstalter, den Ort der Veranstaltung der Handlung entsprechend auszuwählen und zu gestalten. Zumeist finden daher solche Spiele in der freien Natur, auf Burgen, in historischen Häusern oder in Freilichtmuseen statt. Die Hauptintention der Spieler liegt zum einen darin, für einen bestimmten Zeitraum ganz in eine fiktive Realität einzutauchen, zum anderen aber auch für den in der Regel geschlossenen und relativ engen Personenkreis der Teilnehmer6, seine Rolle gegenüber seinen Mitspielern best-möglich auszufüllen und darzustellen. Dies wird erzielt durch die schauspielerische Leistung sowie durch das äußere Erscheinungsbild des Teilnehmers in Form von Kleidung und Aus-rüstung. So geartete Veranstaltungen können in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre besucht werden. Orientierten sich die fantastischen Spielhintergrundwelten anfangs an Roma-nen wie Tolkiens „Herr der Ringe“, finden sich heute die unterschiedlichsten Spielszenarien. Das ReenLarpment hat seinen Ursprung in der Tendenz mancher Rollenspieler, sich mit ihrer Kleidung und Ausrüstung an historischen Vorbildern, inspiriert von der Reenactment- und der Living History Bewegung, zu orientieren. Daraus entstanden schließlich Spiele, die komplett vor historischen Hintergründen stattfinden. ReenLarpments unterscheiden sich zum einen von Reenactments, weil die Teilnehmer ihre Rolle wirklich in „erster Person“ spielen, zum anderen, weil die Anforderung an die materielle Qualität der Ausrüstung, Alltagsgegenstände und Kleidung geringer sein kann. So sind im ReenLarpment die Waffen aus Plastik und auch die Kleidung muss nicht vom Material bis hin zur Fertigung eine bestmögliche Annäherung an etwaige Originale darstellen, solange sie in ihrer Form der gewählten Epoche entspricht7. Anders ist eine möglichst perfekte Annäherung der Kleidung und Ausrüstung an die histori-schen Vorbilder ein wesentlicher Bestandteil dessen, was man heute unter Reenactements wie auch der Living History Darstellung versteht. Reenactments sind älter als es vielleicht den Anschein haben mag. Geschichtsinszenierungen im weitesten Sinne kennt man von der Antike bis in die Gegenwart aus der ganzen Welt. Dabei werden sagenhafte oder historische Ereignisse vor einem großen Publikum mehr oder minder „authentisch“ nachgestellt. Den Zuschauern werden so beispielsweise Gottes Wunder bildlich vor Augen geführt – Stichwort Passions- oder Mysterienspiele – oder sie dienten und dienen der Geschichtsmythisierung und damit der politischen propagandistischen Indoktrinierung. Tatsächlich ist, auch wenn aus vielen Reenactments, wie beispielsweise der Völkerschlacht bei Leipzig, der Schlacht von Hastings, aber auch der Landshuter Hochzeit, heute zum Teil kommerzielle Großveranstaltungen geworden sind, die ein großes Publikum anziehen, unter

5 Die Dauer einer solchen Veranstaltung erstreckt sich von ein paar Stunden bis über mehrere Tage. 6 In Deutschland kennt man Veranstaltungen von 2000-7000 Teilnehmern. 7 Für weitere Informationen zum Thema Reenlarpment siehe auch Wild 2008.

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Abb. 3. Reenactment in Waterloo.

dem eigentlichen modern-deutschen Reenactment, das vom angloamerikanischen Sprachraum inspiriert wurde, etwas anderes zu verstehen. Hierbei versuchen die Reenactors auf der Basis historischer Quellen, eine Begebenheit aus der Geschichte so detailgetreu wie möglich und wenn möglich am Originalschauplatz nachzustellen. Nachgespielt werden mehr oder minder bedeutende Episoden aus der Vergangenheit (Abb. 3), wobei die Akteure die Rollen der am Ereignis beteiligten Personen und Persönlichkeiten übernehmen, was nicht zwangs-läufig bedeutet, dass sie die Person im theatralischen Sinn spielen. Vielmehr handeln sie lediglich in deren Rolle, wobei sie in der Regel „Lieschen Müller“ und „Otto Normal-verbraucher“ bleiben. In ihren Verhaltensweisen sind sie streng an den historischen Ablauf der Ereignisse gebunden und verfügen über keinerlei freien Handlungsspielraum. Ein Publikum kann, muss aber nicht zwangsläufig den Ablauf verfolgen, denn ursprünglich steht im Zentrum der Akteur mit seinem Bedürfnis, Vergangenheit mit allen Sinnen und auf die ihm authentischste Art und Weise zu erleben8. Als Hilfsmittel dazu dienen seine historische Tracht, seine Ausrüstung und das Bewegen in der historischen Rahmenhandlung. Living History Darsteller haben die gleiche Intention und bedienen sich der gleichen Hilfs-mittel, doch unterscheiden sie sich von den „Reenactoren“ in zweifacher Hinsicht: zum Einen beschränken sie sich nicht auf die Darstellung eines bestimmten Ereignisses, lediglich Zeit und Region bestimmen den Rahmen, wodurch sie in ihrer Handlungsfreiheit nicht drehbuch-artig eingeschränkt werden; zum Anderen liegt der Fokus der Darstellung auf der Inszenie-rung von Alltagskultur einer festgesetzten Epoche. Dies umfasst alle Belange des täglichen Lebens vom Kochen bis zum Handwerk, von der Wiedergabe eines gemeinen Tagesablaufes bis hin zum Fest- oder Markttag (Abb. 4). Wie auch beim Reenactment bleibt der Darsteller in der Regel ein Mensch aus dem 21. Jahrhundert und spielt und versetzt sich nicht gänzlich in die Rolle eines Menschen aus einer fremden Epoche. So geartete Veranstaltungen fanden in Deutschland in ihrer Anfangszeit vor allem im privaten Rahmen statt. Betreiber von Reen-Larpment, Reenactments und Living History in Deutschland sind nach dem hier vorliegenden Verständnis reine Hobbyisten, die zum Teil ihr Hobby bis zu einem Höchstmaß an Professio-nalität betreiben, aber in erster Linie darin ihr Freizeitvergnügen finden, Geschichte zu „erle-ben“. Wie weit sie dabei mit ihrer Darstellung gehen, hängt ganz von den jeweiligen Stan-

8 Hochbruck 2009, 217.

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Abb. 4. Living History im Oberpfälzer Freilandmuseum Neusath-Perschen.

dards und dem Kenntnisstand der Gruppen ab, wobei die Ansprüche an die Schaffung von möglichst „originalgetreuen“ vergangenen Lebenswirklichkeiten von extrem bis moderat rei-chen.

Durch das Nachstellen von Alltagstätig-keiten, Handwerk und das Verwirklichen von Großprojekten wie dem Nachbau eines historischen Hauses, Schiffes und derglei-chen wurde und wird Living History oft fälschlicherweise mit der experimentellen Archäologie gleichgesetzt. Die experimen-telle Archäologie widmet sich aber vorrangig der Gewinnung von Erkenntnissen zu Tech-niken, Arbeits- oder aber auch natürlichen Prozessen9 auf praktischem Wege, die mit den herkömmlichen Mitteln eines Archäo-logen oder Historikers nur schwer oder gar nicht erzielt werden können. Ihr Schwer-punkt liegt, egal ob vom Laien oder Fach-mann durchgeführt, vor allem auf dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, das soll heißen, das Experiment und nicht das sinnliche Erfahren von Vergangenheit steht bei ihr im Vordergrund (Abb. 5). So spricht man nur dann von einem experimental-archäologischen Versuch, wenn er erstens in seiner Fragestellung genau definiert ist, zweitens die Ergebnisse messbar und jeder-zeit nachvollziehbar sind, drittens selbige in allen Einzelheiten dokumentiert werden und schließlich viertens die Ergebnisse später unter den gleichen Bedingungen zu jedwe-dem Zeitpunkt reproduzierbar sind10. Allein die Dokumentation des Versuchs ver-hindert schon, dass ein Living History Darsteller ganz in seiner konstruierten Umgebung aufgehen kann, wodurch die eigentliche Intention, Geschichte sinnlich zu erleben, verloren ginge. Abschließend sei auch noch darauf hingewiesen, dass der ex-perimentelle Archäologe sich normalerweise

9 Zum Beispiel der Verfall eines Gebäudes und dessen Widerspiegelung im archäologischen Befund. 10 Kelterborn 1994, 7-9.

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Abb. 5. Experimentelle Archäologie; links: im Urgeschichtemuseum in Asparn/Zaya, Niederösterreich; rechts: im Mittelalterzentrum Nykobing, Falster, Dänemark.

nur in historischer Tracht kleidet, wenn es explizit zum Experiment gehört. Im Rahmen einer Living History Darstellung ist jedoch die Tracht ein essentieller Bestandteil.

Im angloamerikanischen Sprachraum wird zwischen Reenactment und Living History unter-schieden. Bei Reenactors handelt es sich um Hobbyisten, während in der Regel unter den Living History Interpreters professionelle Darsteller in einer Einrichtung verstanden werden, die sich die Vermittlung von Geschichte zum Ziel gesetzt haben11. Doch sind auch hier die Grenzen fließend. Dies mag vielleicht mit zu den Gründen zählen, warum in Deutschland die beiden Begriffe mittlerweile eher ungern gebraucht werden. Der Hauptgrund ihrer Ablehnung ist jedoch vor allem der Tatsache geschuldet, dass sich in Deutschland praktizierende Hobby-isten wie Wissenschaftler an der wortwörtlichen Übersetzung von Reenactment, – Wiederauf-führung, Nachstellung und Living History – gelebte Geschichte stoßen. Darüber hinaus lieferten im angloamerikanischen Sprachraum dem Nachstellen von Geschichte Personen wie Robin George Collingwood, Freeman Tilden und Jay Anderson wissenschaftstheoretische Untermauerungen, wohingegen in Deutschland eine solche Praxis von wissenschaftlicher und musealer Seite auf Grund inhaltlicher und fachlicher Vorbehalte bestenfalls ignoriert oder belächelt, schlimmstenfalls verteufelt wurde. Als Beleg dafür mag gelten, das diese Tech-niken der Geschichtsvermittlung selbst in der 2005 erschienenen „Einführung in die Museo-logie“ nicht mal am Rande Erwähnung fanden12 und das, obwohl sie bereits seit mehreren 11 Hochbruck 2008, 45-60. 12 Hochbruck 2006, 12 und Flügel 2005.

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Abb. 6. Living History/Museumstheater im Oberpfälzer Freilandmuseum Neusath-Perschen.

Jahren in diversen Freilichtmuseen erfolgreich angewendet wurden. Alles in allem konnten sich seit den 1970er Jahren lediglich einzelne Wissenschaftler im deutschen Sprachraum für das moderne Reenactment und die Living History erwärmen, vornehmlich jedoch wurde dies von geschichtsinteressierten Laien praktiziert. 2007 schließlich wurde auf der Jahrestagung der volkskundlichen Kommission für Westfalen in Cloppenburg Living History im Museum zum Thema gemacht, doch eine breite transdisziplinäre Diskussion löste schließlich ein Vor-fall im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung „Eine Welt in Bewegung“ in Paderborn 2008 aus, bei der ein Darsteller der Gruppe „Ulfhednar“ eine „Meine Ehre heißt Treue“-Tätowierung offenbarte13. Das Nachspielen von Geschichte, welches sich im Verlauf der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil der Museumspädagogik in den USA entwickelte, zog schließlich zum Ende des 20. Jahrhunderts langsam mehr und mehr in die deutsche Museumslandschaft ein, vornehmlich in Freilichtmuseen oder historischen Themenparks. Dieser Impuls kam jedoch zumeist nicht von den Museen selbst. Vielmehr traten Praktizie-rende, die sich in Vereinen zusammengeschlossen hatten, und Einzelpersonen an die Ein-richtungen heran, angetrieben von dem Wunsch, ihre Darstellungen in einer möglichst authentischen Kulisse durchführen zu können.

Daraus entwickelt sich für beide Parteien eine Win-Win-Situa-tion. Die Darsteller konnten nicht nur in der gewünschten Kulisse agieren, sondern erhiel-ten auch eine gewisse Adelung durch die Museen gegenüber den anderen Praktizierenden (Abb. 6). Die Einrichtungen bekamen im Gegenzug eine publikumswirksame Attraktion, die sich durchaus signifikant niederschlug. So ergab eine Besucherzählung während eines solchen Veranstaltungswochen-endes im Freilichtmuseum Bad Windsheim eine Verdreifach-

ung der Besucherzahlen gegenüber einem normalen Wochenende. Zusätzlich fanden und finden derartige Aktionstage ihren Widerhall nicht nur in der lokalen Presse, sondern oft auch im regionalen Rundfunk und Fernsehen und bringen damit den Einrichtungen eine positive Medienresonanz. Vor dem Hintergrund der „Museum und Marketing“14 Diskussion scheinen solche Ergebnisse durchaus viel versprechend. Ebenso begeistert die Besucher ein auf diese Weise gestalteter Museumstag, wie eine Besucherumfrage aus dem Jahre 2000, ebenfalls 13 Schwarzenberger 2008. 14 Lorentzen (ohne Jahr), 113.

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Abb. 7. Bausteine qualitativ hochwertigen Museumstheaters.

durchgeführt in Bad Windsheim, ergab. In der durchwegs positiven Resonanz der Befragten wurde von ihnen besonders die Anschaulichkeit hervorgehoben15. Dem anhaltenden breiten Misstrauen in punkto Seriosität von Seiten der Wissenschaft allge-mein mag es jedoch geschuldet sein, dass man sich bis vor wenigen Jahren weder auf breiter wissenschaftlicher Ebene mit der Thematik auseinandersetzte noch Gedanken darüber machte, dass das Auftreten in Museen weit komplexere Anforderungen an die Laiendarsteller stellte als das Praktizieren unter Gleichgesinnten. Vor allem handelt es sich dabei um Anfor-derungen an soziale Kompetenzen, aber auch Intentionen, die weit über die Vervollkomm-nung der materiellen Qualität der eigenen Ausrüstung und Kleidung hinausgehen. Im Rahmen des deutschsprachigen wissen-schaftlichen Diskurses haben sich in den Jahren 2007-2008 zu den Darstellungen historischer Lebenswelten im musealen Kontext oder während Veranstaltungen mit didaktischem Anspruch die Begriffe „Historisches Spiel“16, „gespielte Geschichte“17 oder „Museumsthea-ter“18 als Pendant zu dem englischen Living History herausgebildet. Als Überbegriff soll im Folgenden der Begriff „Museumstheater“ für alle lebendigen Darstellungsformen von Geschichte im Museum der Vorzug gegeben werden. Spätestens nach dem Vorfall in Paderborn bemühte man sich um die Definition möglicher Standards und diskutierte die Möglichkeiten einer Ein- und Durchführung von Qualitäts-kontrollen im Rahmen des Museumstheaters. Während letztere Diskussion weiterhin kontrovers zwischen allen Beteiligten geführt wird, einigten sich 2008 Theoretiker und aktive Darsteller beim ersten Waldkircher Museumsgespräch auf folgende Bausteine, aus denen sich qualitativ hochwertiges Museumstheater zusammensetzen muss (Abb. 7)19: Wie schon angedeutet, legte man in Anfangszeiten das Hauptaugenmerk auf materielle Qua-lität der Ausstattung der Darsteller (Abb. 8). Da sich die Darsteller bei vielen Formen des Museumstheaters rein äußerlich kaum vom Living History Darstellern oder Reenactoren un-terscheiden, sprich, sie ebenso eine historische Tracht tragen und während ihrer Darbietung

15 Karabed 2007, 51-52. 16 Walz 2008, 15-44. 17 Faber 2008, 79-97. 18 Hochbruck 2008, 23-35. 19 Hochbruck 2009, 218 f.

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Abb. 8. Materielle Qualität.

Abb. 9. Fachwissen.

passende Gebrauchsgegenstände, die den Originalen möglichst nahe kommen, oder gar Originale der Epoche selbst benutzen, ist die Ausrüstung der Darsteller weiterhin ein we-sentlicher Bestandteil qualitätvoller Dar-stellung im Museum. Allerdings besteht je nach Darstellungsform und Vermittlungs-schwerpunkt die Möglichkeit, Mindest- und Maximalanforderungen an die Ausrüstung zu stellen. Entscheidend ist dabei auch, auf welche Weise der Praktizierende mit dem Besucher interagiert. Allgemeingültigkeit bei der Darstellung in historischer Tracht muss jedoch der Grundsatz erhalten, dass der Praktizierende für Zuschauer sichtbar nur Ausrüstungsgegenstände mit sich trägt, die von Form und Gestalt in die darzustellende Epoche passen, auch wenn diese nicht mit historischen Mitteln hergestellt sein müssen. Ein weiterer essentieller Bestandteil ist das Fachwissen um die darzustellende Epoche (Abb. 9). Dieses beinhaltet das Wissen um den aktuellen Forschungsstand zur Alltags-kultur und der historischen Sozialstruktur, sowie zu den gesamthistorischen wie auch regionalhistorischen Zusammenhängen. Dies

gilt besonders für all jene Darstellungsformen, bei denen der Akteur in den direkten Kontakt mit den Besuchern tritt und auf mögliche Fragen des Besuchers reagieren muss. Durch den Auftritt in einem musealen Zusammenhang erhält er zu einem gewissen Grad den Nimbus der fachlichen Kompetenz der Einrichtung und übernimmt gleichzeitig auch den Volksbildungs-auftrag des Museums. Einfacher gesagt: er wird zum Gewährsmann für Fachwissen und zum Vertreter des Museums gegenüber dem einfachen Besucher, weshalb es sein Ziel sein muss, sich bis hin zu einem Alltagsexperten für seine Darbietung zu bilden. Um das angestrebte Ziel des Museumstheaters, Geschichte anschaulich zu vermitteln, zu erreichen, sind gewisse Skills und Soft Skills wünschenswert bis unerlässlich. Diese werden unter dem Oberbegriff „darstellerische Befähigung“ zusammengefasst (Abb. 10). Damit sind also nicht nur wirkliche schauspielerische Fähigkeiten gemeint, die nur bei bestimmten For-men des Museumstheaters wirklich erforderlich sind; hilfreich ist es zum Beispiel, ein Hand-werk vorführen zu können, um auf diesem Wege das Interesse des Besuchers zu wecken, damit Verknüpfungen zu historischen Inhalten herzustellen und so Wissen leichter transpor-tieren zu können. Aber auch praktische Fähigkeiten wie das Feuermachen mit Stein und Stahl, ja sogar Holzhacken, kann Publikum anziehen und Brücken schlagen, um ins Gespräch zu kommen. Nicht zu unterschätzen ist die vielschichtige Wirkung der historischen Tracht. Sicherlich erweckt sie bei vielen Besuchern zunächst Neugier, allerdings schafft sie auch

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Abb. 10. Darstellerische Befähigung.

Abb. 11. Einfluss der Quellenlage auf die Art der Darstellung.

durch ihre Fremdartigkeit Distanz, vielleicht vergleich-bar mit Uniformen, die es zu überbrücken gilt. Zur Unab-dingbarkeit sozialer Kompe-tenzen oder Soft Skills hatte man sich vor 2008 noch gar keine Gedanken gemacht. Fähigkeit zur Kommunika-tion und Einfühlungsver-mögen sind je nach Form des Museumstheaters, je nach Publikum aber auch je nach darzustellender Rolle unver-zichtbar. Dass man auf Kinder, Ju-gendliche, Erwachsene oder Senioren unterschiedlich ein-gehen muss, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Manche Darstellungen jedoch können auf den Zuschauer verstörend wirken, beispielsweise wenn ein Handwerksmeister seinen Lehrjungen maßregelt oder religi-öse und politische Inhalte transportiert werden. Dies erfordert ein hohes Maß an Fingerspit-zengefühl. Die endgültige Zusammenstellung der darstellerischen Befähigung wird daher ähnlich stark wie die materielle Qualität durch die Form des Museumstheaters bestimmt, aber auch durch die zu transportierenden Inhalte dementsprechend beeinflusst20. Vielleicht ist auch hier ein Beispiel angebracht: setzt man den Schwerpunkt auf die Vermittlung alter Handwerkstechniken, kann ein gewisses Maß an Inhalten allein durch die visuelle Vermittlung erreicht werden. Auf der anderen Seite werde ich ohne gute Kommunika-tionsfähigkeiten nur wenig zu historischen „Alltagswirklichkeiten“ vermitteln können. Jeder Darsteller, aber auch jede Einrichtung, muss sich schließlich selber darüber klar werden, welches päda-gogische Konzept und wel-che didaktische Ausrichtung hinter den Museumstheater Vorführungen stehen sollen – womit wir nun beim letzten Baustein des qualitätvollen Museumstheaters angekom-

20 Hochbruck 2011, 82.

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Abb. 12. Begegnungsstrategien.

men sind. Am Anfang einer jeden Konzipierung einer Darstellung steht die Auswahl der gewünschten Epoche. Je nach bestehender Quellenlage sollte der zeitliche Rahmen, nach dem man seine Ausrüstung zusammenstellt, so eng wie nur irgend möglich gefasst sein. Tatsäch-lich nimmt die bestehende Quellensituation starken Einfluss auf die Form der Darstellung (Abb. 11).

So ist bei frühgeschichtlichen Perioden von Darstellungs-formen in erster Person, bei denen die Akteure die Rollen von Personen theatralisch nachspielen, abzusehen, wäh-rend andere Perioden sich für diese Form der Darstellung nahezu anbieten. Ist die Mög-lichkeit einer Darstellung in erster Person gegeben, gilt es auch zu überlegen, ob man die Rolle im Dialekt oder partiell im Sprachduktus der darzustellenden Zeit sprechen lässt. Aber Vorsicht: weder darf eine Kunst- oder Phanta-siesprache verwendet werden, noch soll die Verständlichkeit der Inhalte dem Wunsch nach einer möglichst authentischen Vorstellung geopfert werden. Daher bieten sich solche Sprachmodelle eher für neu-zeitliche Darstellungen an. Bevor man sich jedoch Gedanken über die Sprache macht, sollte man sich auf ein Thema, wie beispielsweise die Demonstration eines speziel-len Berufes oder Berufszwei-

ges, festlegen. Abschließend ist es hilfreich, sich auch Gedanken zu Begegnungsstrategien für die jeweiligen Zielgruppen zu machen (Abb. 12). Nachdem die Bausteine, aus denen sich eine gelungene Museumstheater-Inszenierung zu-sammensetzt, hinreichend geklärt worden sind, ist es nun an der Zeit, auf bereits benannte Arten der Darstellung etwas genauer einzugehen, wie auch weitere zu benennen. Wie bereits erwähnt, kann der Darsteller dem Besucher auf bestimmte Arten gegenübertreten (Abb. 13). Begegnet er ihm in historischer Tracht als Person der Gegenwart, die über All-tagskultur und Sozialstrukturen berichtet oder ein Handwerk aus der Zeit vorführt oder er-

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Abb. 13. Darstellungsformen des Museumstheaters.

Abb. 14. Links: Darstellung in Dritter Person; rechts: Darstellung in Erster Person.

klärt, spricht man von einer Darstellung in der Dritten Person (third person interpretation). Eine so konzipierte Darbietung kann im Prinzip zur Vermittlung jedweder vergangenen Epo-che eingesetzt werden (Abb. 14, links).

Empfängt der Darsteller den Besucher allerdings als Per-son oder Persönlichkeit aus der Vergangenheit, sprich, spielt er ihm die Rolle eines Menschen aus der entspre-chenden Epoche vor, spricht man von einer Darstellung in Erster Person (first person interpretation). Hierbei muss er völlig frei und spontan auf sein Gegenüber reagieren (Abb. 14, rechts). Wichtig ist, dass er nicht aus der Rolle fallen darf, das heißt, unab-hängig von der Reaktion des Museumsgastes muss er den Schein eines Besuchers aus

der Vergangenheit aufrechterhalten. Aus diesem Grund stellt diese Form der Darstellung eine immense Anforderung an das Einfühlungsvermögen des Praktizierenden, um die historischen Inhalte auch an den Mann oder an die Frau zu bringen. Über diese Anforderungen an den Darsteller hinaus eignet sich, wie schon angedeutet, eine solche Vermittlungsform eher für Zeitstellungen, für die die Geschichtswissenschaften eine solide Quellenbasis bereitstellen können.

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Abb. 15. Theatervorführungen.

Bei einer anderen Art des Museumstheaters spielt der Darsteller zwar auch eine Person aus der Vergangenheit, allerdings tritt er nicht direkt in persönlichen Kontakt mit dem Besucher. Die Rede ist hier von moderierten Theatervorführungen (Abb. 15). Hierbei spielen die Dar-steller nach Drehbuch eine zuvor erarbeitete und geprobte Szene.

Zwischen Zuschauer und Akteure geschaltet kann ein so genannter Red T-Shirt (Modera-tor) sein, eine deutlich zum Museumsper-sonal gehörige Person, die zu der gespielten Szene hinführt, diese erläutert und auf an-schließende Fragen aus dem Publikum ein-geht. Da es sich hierbei um kurze gespielte Szenen handelt, die darüber hinaus noch erklärt werden, und so die Möglichkeit besteht, auf etwaige Ergänzungen hinzuwei-sen, eignet sich diese Form für nahezu alle Zeitstellungen, aber auch besonders für heikle Themen.

Innerhalb dieser drei bisher beschriebenen Formen gibt es eine Vielzahl von Unterarten und Überschneidungen. Schließlich sei hier noch auf zwei Formen des Museumstheaters hinge-wiesen, die sich in gewisser Weise von den bisher beschrieben unterscheiden. Weniger bekannt sind Ventures into History oder auch „Historische Spiele“. Dem Live Action Role Play nicht unähnlich, wird hierbei Kindern die Möglichkeit gegeben, für einen bestimmten Zeitraum ganz in eine eigens für sie konzipierte historische Lebenswelt einzutauchen. Dort übernehmen sie allgemeine Rollen des Alltags von der Magd oder dem Knecht bis hin zum Lehrling oder Händler. Angeleitet und unterstützt werden sie dabei durch ein Team von Historikern und Museumspädagogen sowie freiwilligen, geschichtsinteressierten, ehrenamt-lichen Mitarbeitern, die die Rollen der Haushaltsvorstände oder Lehrmeister übernehmen. Lediglich eine zuvor erarbeitete historische Rahmenhandlung wird festgelegt. Den Spielverlauf selbst beeinflussen die Teilnehmer durch ihr Handeln und Tun innerhalb ihrer Rolle. Selbstverständlich verkleiden sich auch die Teilnehmer. Die Ausstattung und Ausrüstung stehen zu keinem Zeitpunkt an erster Stelle, daher nimmt der Anspruch an ihre historische Korrektheit auch nur die zweite Stelle ein. Im Zentrum steht das Spielen und Erle-ben der Rolle in einer vergangenen Lebenswirklichkeit. Die Ausrüstung dient lediglich dazu, allen Beteiligten den Einstieg und das Verweilen in der anderen Zeit und Situation zu erleichtern. Ziel ist es, nicht nur zu versuchen, einen historischen Alltag nachzuempfinden und die damit verbundenen Anforderungen an die praktischen Fähigkeiten zu meistern, son-dern je nach Spielthema auch Spannungsfelder, seien sie sozialer, wirtschaftlicher, kultureller oder religiösen Natur, zu thematisieren. Diese ergeben sich jeweils aus den historischen Ereignissen, die zum Vorbild der Rahmenhandlung dienen21. Auch die Archäotechnik weicht in gewisser Weise ein wenig von den vorher genannten For-men des Museumstheaters ab (Abb. 16). So ist es hier keineswegs vonnöten, dass der Dar- 21 Röllke 2008.

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Abb. 16. Archäotechnik.

steller sich in historischer Tracht kleidet. Lediglich seine Werkzeuge und Mittel müssen sich an Vorbildern aus der Vergangenheit orientieren. Im Fokus der Archäotechnik steht vor allem die Vermittlung von Technikgeschichte, historischen Handwerks-, Jagd- und Landwirt-schaftstechniken sowie alltäglichen Praktiken. Diese werden vor den Augen des Publikums nicht nur demonstriert, sondern können in vielen Fällen von den Zuschauern selbst gleich ausprobiert werden. Das Ziel ist das interaktive, handlungsorientierte Lernen mit Repliken und das spiele-rische Aneignen von Fähig-keiten früher Gesellschaf-ten22. Typische archäotech-nische Vorführungen umfas-sen das Feuermachen mit Stein und Stahl, das Schlagen von Steinwerkzeugen, das Spinnen von Wolle, Holz-, Knochen- und Lederverar-beitung, aber auch das Her-stellen von Textilien, das Schmieden, die Herstellung von Glasperlen, das Brennen von Keramik, den Bronze-guss, die Eisenverhüttung im Rennfeuerofen und vieles mehr. Tatsächlich ist die Archäotech-nik eine der ältesten Formen des Museumstheaters und eine beliebte Vermittlungsmethode der Museumspädagogik, auch wenn der Begriff Archäotechnik erst Mitte der 1990er Jahre geprägt wurde. Zu den Vorreitern der Vermittlung von Geschichte mittels der Methoden des Museumsthea-ters in Deutschland gehören das Fränkische Freilandmuseum Bad Windsheim, das Freilicht-museum Kommern, das Freilichtmuseum am Kiekeberg, aber auch das Ruhrtalmuseum in Schwerte; kleinere Museen wie das Elztalmuseum in Waldkirch, das Oberpfälzer Freiland-museum Neusath-Perschen und das Hohenloher Freilandmuseum Wackershofen haben nach-gezogen. Ja, selbst altehrwürdige Häuser wie das Haus der Bayrischen Geschichte, das Germanische Nationalmuseum und die Archäologische Staatssammlung bereichern seit eini-ger Zeit unter anderem ihre Sonderausstellungen mit Begleitprogrammen, die Darstellungs-formen historischer Lebenswelten beinhalten. Schließlich dürfen bei dieser Aufzählung auch experimentelle Orte wie das Museumsdorf Düppel, das Oldenburger Wallmuseum, das Frei-lichtmuseum Groß Raden, die Historischen Werkstätten Torgelow, der Bajuwarenhof Kirch-heim, der Geschichtspark Bärnau-Tachov und ähnliche Einrichtungen nicht vergessen wer-den. Sie können quasi als Keimzellen und Hort der Weiterentwicklung des Museumstheaters

22 Lorentzen (ohne Jahr), 116.

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angesehen werden, gehört dieses doch in diesen Einrichtungen zum festen Bestandteil des Vermittlungskonzepts. Mittlerweile hat man erkannt, dass das Museum in unserer „Erlebnisgesellschaft“ nicht mehr nur ein Ort ist, an dem Wissen gewonnen, gesammelt, konserviert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sondern dass es sich auch in die Riege der Freizeitanbieter einzu-reihen hat, womit es in Konkurrenz mit Kinos, Freizeitparks und anderen Kultur- und Unter-haltungsangeboten steht23. Um seinen kulturellen Bildungsauftrag überhaupt erfüllen zu kön-nen, muss es sich erst einmal in dem so reichhaltigen Veranstaltungsangebot behaupten, indem es sich von der Didaktik des „erhobenen Zeigefingers“ verabschiedet und damit gleichzeitig von dem ungerechtfertigten Image der staubigen Verwahrstätten von Relikten aus vergangen Zeiten befreit. Wie oben belegt wurde, könnte das Museumstheater als wahrer Publikumsmagnet eines der Werkzeuge sein, mit dem sich eben nicht nur das Image in der breiten Öffentlichkeit verbes-sern ließe. Doch bei aller Euphorie ist das Museumstheater kein alleiniges Allheilmittel und man darf auch nicht die Gefahren außer Acht lassen, die diese Form der Vermittlung mit sich bringt, auf die Kritiker zu Recht hinweisen. Beispielsweise muss darauf geachtet werden, dass das unterhaltende Element dieser Vermittlungsform nicht in den Vordergrund tritt und so eine zu Anfang seriös gemeinte Darstellung zum Klamauk verkommt. Ebenso hüte man sich davor, in die Romantikfalle zu tappen – wie sehr ist man doch dazu geneigt, zu positivieren und Negatives zu marginalisieren, besonders bei Epochen wie dem Mittelalter, das in der breiten Öffentlichkeit noch immer den Ruf des dunklen Zeitalters hat. Des Weiteren soll jegliche Inszenierung als Geschichtsannäherung, oder vielleicht besser als Geschichtsinter-pretation, verstanden werden. Dies mag den Darstellern wie den Veranstaltern bewusst sein, doch kann sie vom Konsumenten, sprich Besucher, als unanfechtbare Wahrheit wahrge-nommen werden24. Schließlich muss der Darsteller sich seiner Positionen als Vertreter des Museums und seiner Rolle als Dienstleister am Besucher25 voll bewusst sein und darf daher nicht auf einem erfolgreichen Entwicklungsstand verharren. Aus diesen Gründen liegt es in der Verantwortung von Darsteller wie Veranstalter, regelmäßig ihre Darbietungen historischer Lebenswelten hinsichtlich dieser Kritikpunkte und der essentiellen Bausteine des Museums-theaters zu überprüfen. Ist man sich dieser Gefahren bewusst und stellt sich selbst und die Darstellungen immer wieder auf den Prüfstand, scheinen die Möglichkeiten, die eine Vermittlung von Geschichte mithilfe der Mittel des Museumstheaters in sich birgt, jedoch immens. So lässt sich auf kaum eine andere Weise so einfach die Vermittlung von histori-scher Alltagskultur mit geschichtlichen Zusammenhängen verknüpfen. Das auf solch spielerische und unterhaltsame Art angeeignete Wissen weckt wieder die Lust auf Geschichte, die so manchem in seiner Schulzeit ausgetrieben wurde. Darüber hinaus wird hier, mehr als bei allen anderen Medien der Geschichtsvermittlung, ein ganzheitlicher Bildungsansatz verfolgt und überdies die Möglichkeit eröffnet, Geschichte ein Stück weit emotional zu begreifen. Es liegt wohl auf der Hand, dass so angeeignetes Wissen sich wesentlich leichter

23 Lorentzen (ohne Jahr), 113. 24 Hochbruck 2009, 220 f. 25 Lorentzen (ohne Jahr), 117.

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memorieren lässt. Dies gibt dem Museum nicht nur die Möglichkeit, auf lebendige Art und Weise seinen Bildungsauftrag zu erfüllen, sondern sich darüber hinaus als kreativer Lernort zu präsentieren. Man darf das Fazit ziehen, dass die Geschichtswissenschaft mit dem Muse-umstheater-Darsteller einen einzigartigen Mittler gegenüber der Öffentlichkeit gewinnt, der ein umfangreiches Repertoire an Fähigkeiten, Fertigkeiten und Ausstattung besitzt, und in dessen ureigenstem Interesse es liegt, dem Laien neueste wissenschaftliche Erkenntnisse auf für ihn verständliche Art und Weise näher zu bringen. Nicht nur in Nordamerika und England, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern wird das Museumstheater erfolgreich als Methode der Geschichtsvermittlung eingesetzt. Mit der Beschreibung der essentiellen Bausteine und Formen des Museumstheaters, sowie der Erörterung der Gefahren und Möglichkeiten, wurde eine Lanze für das Darstellen historischer Lebenswelten in musealem Kontext in Deutschland gebrochen. Mit Hilfe des Museums-theaters lässt sich selbstverständlich nach wie vor nur ein begrenzter Personenkreis erreichen, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lockt es Menschen, die dem Museum vielleicht sonst einen anderen Ort vorgezogen hätten, in eine museale Umgebung. Damit erweitert es nicht nur seinen Einzugsbereich, sondern geht auch aktiv gegen die kommerziell initiierten und stereotypbeladenen Geschichtsbilder vor, die von Hollywood, Sat1 und Co. sowie den historischen Jahrmärkten geformt und geprägt werden. Was spricht also dagegen, diese Methode weiter zu verbessern, auszubauen und einzusetzen, wo sie sinnvoll erscheint? Oder soll man das Generieren von Geschichtsbildern kampflos der Unterhaltungsindustrie überlassen? Literatur

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Abbildungsnachweis

Abb. 1: Stefan Wolters; Abb. 2 links: Sonja Putzo; Abb. 2 rechts: Tobias Putzo; Abb. 3: Heike Schmid; Abb. 4: Heike Schmid (mit freundlicher Genehmigung von Evocatio Ratisbonensis 1470); Abb. 5 links: Thomas Ruppenstein; Abb. 5 rechts: Jensen Lars Sass; Abb. 6, Abb. 10 rechts unten: Tomasz Nowak (mit freundlicher Genehmigung von Evocatio Ratisbonensis 1470); Abb. 7, 11, 13: Verfasser; Abb. 8, 10 rechts oben, Abb. 12 unten: Martin Klöffler, Uwe Feuerbach (mit freundlicher Genehmigung von Facing the Past); Abb. 9, 10 links, 12 oben, 14 links: Nürnberger Aufgebot 1474; Abb. 14 rechts: Ingo R. Glückler; Abb. 15: Christian Buck (mit freundlicher Genehmigung der Evangelischen Stiftung Pflege Schönau, Heidelberg); Abb. 16: Geschichtspark Bärnau-Tachov.

Ibrahim Karabed M.A. Westendstr. 117 80339 München [email protected]

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Bamberger Kolloquien zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 2

Hauke KenzlerHans Losert(Hrsg.)

Ein Kolloquium zum 60. Geburtstag von Ingolf Ericsson

Die Rekonstruktion mittelalterlicher Lebenswelten

The Reconstruction of Medieval Lifeworlds

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