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Diplomarbeit
über das Thema
Die Präsentation der taubblinden Helen Keller
in den Medien
und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich
dem Prüfungsamt bei der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft
in Germersheim
vorgelegt von
Christina Voß
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_____________________________________________________________
Referent: Professor Dr. K.-H. Stoll
Prüfungstermin: Sommer 1998
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Inhaltsverzeichnis
0 Einleitung............................................................................ 4
1 Biographische Hintergründe............................................... 6
1.1 Das Beispiel Laura Bridgman................................... 11
1.2 Helen Keller vor Erlernen der Sprache.................... 13
1.3 Der Spracherwerb, nachvollzogen anhand von
Briefen ihrer Lehrerin Anne Sullivan........................... 17
2 Die Presselandschaft zur Zeit Helen Kellers.......................... 30
3 Emotiv überhöhtes Vokabular in Zeitungsartikeln................ 35
3.1 Wunderkind oder Betrug?........................................... 39
3.2 Der „Frost King“-Skandal........................................... 44
3.2.1 Ein photographisches Gedächtnis?.................. 46
3.2.2 Retusche des Falls: eine lückenhafte
deutsche Übersetzung.................................... 50
4 Helen Kellers Rhetorik........................................................ 69
4.1 Humor........................................................................ 70
4.2 Metaphern.................................................................. 72
4.3 Vergleiche.................................................................. 75
4.4 (Bibel)zitate................................................................ 77
4.5 Alliterationen, Personifikationen
und andere Stilfiguren................................................. 79
5 Helen Kellers literarisches Schaffen....................................... 56
5.1 Optimism (1903) und The Story of my Life (1903)...... 57
5.2 Meine Welt (1908) und Dunkelheit (1909).................. 61
5.3 Out of the Dark (1913)............................................... 64
5.4 My Religion (1927).................................................... 65
5.5 Midstream (1929) und Teacher (1955)....................... 66
6 Filme und Bühnenstücke mit / über Helen Keller................... 80
6.1 William Gibsons The Miracle Worker......................... 82
6.1.1 Kameraführung............................................. 86
6.1.2 Erzählsituation.............................................. 90
6.1.3 Symbolismus................................................. 93
6.1.4 Komik........................................................... 96
6.1.5 Dramatische Effekte...................................... 99
6.1.6 Werktreue und Literarizität........................... 103
6.2 Überbetonung des Sexuellen in der Fortsetzung
Monday after the Miracle.......................................... 333
7 Helen Keller Jokes im Internet............................................. 106
7.1 Sprachliche Analyse.................................................... 222
7.2 Rechtliche Analyse...................................................... 456
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8 Schluß................................................................................. 108
Illustrationen....................................................................... 112
Literaturverzeichnis..................................................................... 114
Primärliteratur...................................................................... 114
Sekundärliteratur.................................................................. 115
Eidesstattliche Erklärung............................................................. 117
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Einleitung
Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine komparative Analyse der literarischen Selbstdarstellung der
taubblinden amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller und ihrer Präsentation in den Medien.
Zur Untersuchung stehen hierbei einige ihrer Bücher sowie Presseartikel und Aussagen von
Zeitgenossen und William Gibsons Film The Miracle Worker, basierend auf seinem
gleichnamigen Theaterstück. Ebenso wird eine besondere Art der Darstellung in einem neueren
Medium, dem Internet, behandelt.
Um einen genauen Eindruck vom Leben und sozialen Wirken Helen Kellers zu erhalten, ist eine
Einführung in die biographischen Hintergründe notwendig. Die Situation der Taubblinden Mitte
des Neunzehnten Jahrhunderts schien immer noch aussichtslos; man befand es nicht für nötig,
spezielle Schulen für sie einzurichten, denn es galt immer noch die herkömmliche Auffassung,
die der Jurist Sir William Blackstone (1723-80) bereits ein Jahrhundert zuvor umrissen hat mit
den Worten:
Ein Mensch ist kein Idiot, wenn er auch nur einen Schimmer von Verstand besitzt, so daß
er seine Eltern, sein Alter und dergleichen angeben kann. Aber ein Mensch, welcher taub,
stumm und blind ist, wird vom Gesetz dem Idioten gleichgestellt, da man ihn für unfähig
halten muß, irgend etwas zu begreifen, weil ihm alle die Sinne fehlen, welche seine Seele
mit Ideen füllen können.1
Das Problem bestand nicht darin, daß die Seelen von Taubblinden keiner Ideen fähig waren,
sondern darin, wie ein geeigneter Lehrer sie mit Ideen füllen konnte. So formuliert ein deutscher
Wissenschaftler im Jahre 1905: „Endlich ist die bei Taubblindheit vorhandene
UNZUGÄNGLICHKEIT des Geistes mit primärer UNZULÄNGLICHKEIT des Geistes in den
äußeren Symptomen der Entwicklungshemmung so ähnlich, daß die Fehldiagnose auf Idiotie
sehr nahe liegt [...].“2
Die Meinung Blackstones wird durch Helen Kellers Wirken widerlegt. Bis es soweit war,
bedurfte es allerdings eines neuen Erziehungssystems, das von Dr. Howe initiiert und von Helen
Kellers Lehrerin, Anne Sullivan, vervollkommnet wurde. Im ersten Kapitel wird auf den
revolutionären Erfolg bei der Erziehung der taubblinden Laura Bridgman durch Dr. Howe
hingewiesen, der als Vorläufermodell für den noch größeren Erfolg bei Helen Keller aufzufassen
1 zitiert nach Jaedicke 1979, 14.
2 Stern 1905, 72.
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ist. Weitere Hauptthemen sind der geistige und kommunikative Zustand Helen Kellers in ihrer
„vorsprachlichen“ Zeit, ihr Spracherwerb, das geniale Erziehungssystem ihrer Lehrerin Anne
Sullivan, Helen Kellers schulische Ausbildung, ihre familiären Hintergründe sowie ihr soziales
Engagement und ihre Vorträge und Reisen zugunsten der Blinden.
Im zweiten Kapitel geht es um die Veränderung der Presselandschaft zu Helen Kellers
Zeiten, den Konkurrenzkampf der Monopolpresse, die effizientere Informationsvermittlung und
das Schüren der Massensentimentalität. Es soll gezeigt werden, wie verschiedene Zeitungen und
Zeitschriften Helen Keller ein Heiligen-Image aufdrängten und wie sie dieses durch ihre
sozialistischen Aktionen, ihren Einsatz für die farbige Bevölkerung, die Frauenfrage usw. immer
wieder erschütterte. Ebenso wird auf die Verbreitung von Klatsch und Tratsch über Helen
Kellers Privatleben hingewiesen, derer sie sich nur durch Gegendarstellungen wehren konnte.
Das dritte Kapitel demonstriert die übertriebene Darstellung der Erziehung der kleinen
Helen in der Presse, die aufgrund einer kritiklosen Fortschrittsgläubigkeit bzw. weltfremden
Sentimentalität ein Wunderkind schuf. Hier geht es vor allem um die sachliche Berichterstattung
ihrer Lehrerin Anne Sullivan im Vergleich zu den blumigen Reden des Direktors der Perkins
Institution for the Blind, Dr. Anagnos, dessen ungebremster Enthusiasmus die Journalisten zu
weiteren Übertreibungen anstachelte. Der Sensationsgier der Presse ist es zu verdanken, daß
viele Zeitgenossen aufgrund des emotiv überhöhten Vokabulars in den Artikeln ein völlig
falsches Bild von Helen Keller bekamen und sie verständlicher Weise als „Betrug“ hinstellten.
Als Aufhänger für die sprachliche Analyse ist hier der „Frost King“ gewählt worden, eine kleine
Geschichte, die die elfjährige Helen „gehört“, unbewußt im Gedächtnis behalten und dann einem
Freund gewidmet hatte, wofür man sie des Plagiats beschuldigte und vor einen
Prüfungsausschuß stellte.
Die Werküberblicke im vierten Kapitel sollen nicht nur die pädagogischen,
philosophischen, religiösen und ideologischen Inhalte ihrer Biographien zum Thema haben,
sondern auch auf Helen Kellers Rechtfertigung ihrer Ansichten, derer sie von Seiten der Presse
oft gerügt wurde, aufmerksam machen. Vor allem in Meine Welt und Wie ich Sozialistin wurde
greift sie gewisse Blätter und Einzelpersonen an und wehrt sich z.B. gegen die unsinnige
Auferlegung, sie dürfe nicht über Dinge schreiben, die sie nicht wahrnehmen könne, wie Farbe,
Licht und Töne.
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Das fünfte Kapitel ist einer Analyse der am häufigsten angewandten Stilfiguren in Helen
Kellers The Story of my Life gewidmet, welche die rhetorische Begabung der Autorin unter
Beweis stellt. Abgesehen von Alliterationen, Personifikationen, Chiasmus u.a. sind es vor allem
die Metaphern, Vergleiche und Zitate, welche ihr den Ruf gegeben haben, „All her knowledge is
hearsay knowledge“.3
Das sechste Kapitel wird mit Hinweisen auf verschiedene Filme über Helen Keller und
deren Rezensionen eingeleitet. Dann erfolgt ein Vergleich ihrer literarischen Selbstdarstellung
mit Gibsons Film The Miracle Worker; hierbei geht es darum, die Gemeinsamkeiten mit der
Vorlage, Anne Sullivans Briefen aus dem Anhang von The Story of my Life, herauszuarbeiten,
sowie auf die Unterschiede aufmerksam zu machen. In diesem Rahmen werden Kameraführung
und Erzählsituation, Symbolismus, Komik, dramatische Effekte und Werktreue / Literarizität
näher analysiert. Anschließend soll die Überbetonung des Sexuellen in Gibsons zweitem Teil der
Helen Keller-Story, Monday after the Miracle, herausgearbeitet werden.
Im siebten Kapitel wird nach Gesamtbetrachtungen über die Darstellung Helen Kellers
im WWW die Frage behandelt, inwieweit es ethisch vertretbar ist, Helen Keller-Witze im
Internet zu veröffentlichen. Nach einer sprachlichen Untersuchung geht es um rechtliche
Aspekte, so z.B. um das Medienrecht, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die
Veröffentlichung schädigender Inhalte im Online-Bereich und die international angestrebte
„Regelung des Internet“, welche allerdings noch in der Zukunft liegt.
Der Schluß bringt sprachwissenschaftliche Erklärungen des Phänomens Helen Keller und
legt die Unterschiede von ihrer Sprachauffassung zu unserer dar. Somit wird auch demonstriert,
warum sie für Wiederholungen von bereits Gesagtem „anfälliger“ war als andere Menschen
(siehe Plagiatsvorwurf). Zusammenfassend weden die Vor- und Nachteile von Presse, Film und
Internet in bezug auf die wahrheitsgemäße Darstellung Helen Kellers besprochen.
3 zitiert nach Braddy 1934, 201.
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1 Biographische Hintergründe
Helen Keller wurde am 27. Juni 1880 in der Kleinstadt Tuscumbia im Norden Alabamas
geboren. Ihr Vater, Captain Arthur H. Keller, hatte im Sezessionskrieg als Offizier auf der Seite
der Konföderierten gekämpft und war später der Herausgeber einer kleinen Lokalzeitschrift. Er
war „konventionell, höflich, eher bequem (er hielt es nicht für standesgemäß, körperliche Arbeit
zu leisten)“.4 Er war tief in den Wertmaßstäben der Südstaaten verankert und hegte auch
Rassenvorurteile. So soll er einmal gesagt haben: „Wir halten sie einfach nicht für menschliche
Wesen.“5 Tuscumbia hatte um 1880 ca. 3000 Einwohner, die Hälfte davon waren Farbige.
6
Seiner Familie gegenüber war der Vater eher nachgiebig; vor allem die arme kleine Helen durfte
mit seiner Zustimmung machen, was sie wollte, weil er sie nicht weinen sehen konnte. Dies
sollte später zu Schwierigkeiten ihrer Lehrerin führen, dem Kind Gehorsam beizubringen. Helen
Kellers Mutter, Kate Adams, war 20 Jahre jünger als ihr Gatte und ihm intellektuell überlegen.
Sie interessierte sich für Politik und setzte sich für das Frauenwahlrecht ein. Die Familie Keller
war alteingesessen und hatte ein schönes Haus mit Garten, Reitknechte, Hausangestellte wie die
farbige Köchin Viney und eine Plantage, die sich jedoch mit der Zeit als unwirtschaftlich
herausstellte -- aber sie war nicht besonders wohlhabend. Trotzdem ermöglichte sie der kleinen
Helen anfangs eine Ausbildung, die ihr im Vergleich zu vielen weniger begünstigten taubblinden
Kindern eine erfolgreiche Zukunft versprach. In dieser Zeit deponierte man solche Kinder
meistens in heruntergekommenen staatlichen Einrichtungen für geistig Behinderte. Helen Kellers
weitere Ausbildung wurde von Sponsoren wie Carnegie und Rogers übernommen.
Im Alter von 19 Monaten verlor Helen durch eine bis heute nicht identifizierte Krankheit,
wahrscheinlich Hirnhautentzündung, Gehör und Augenlicht. Von da an lebte das Kind in völliger
Dunkelheit und Stille, niemand fand Zugang zu seiner Seele, und es konnte sich lediglich durch
Zeichen verständigen. Helens Eltern gaben jedoch die Hoffnung auf eine Rettung nie auf; und als
ihre Mutter in den „American Notes“ von Charles Dickens über den Direktor der Perkins
Institution for the Blind in Boston, Dr. Samuel Gridley Howe, las, der mit Erfolg die taubblinde
Laura Bridgman die Sprache gelehrt hatte, war Helens Ausbildung eine beschlossene Sache. Dr.
Howe war zwar schon lange tot, aber Helens Vater wandte sich auf Empfehlung des berühmten
4 Vgl. Macdonald 1992, 12.
5 Ibd.
6 Vgl. Jaedicke 1979, 9.
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Augenarztes Dr. Chisholm in Baltimore an Dr. Alexander Graham Bell, Erfinder des Telefons
und Philanthrop, der sich dem Unterricht Gehörloser widmete. Dr. Bell lud Helen und ihren
Vater 1886 zu sich nach Washington ein und stellte sie Dr. Michael Anagnos, dem damaligen
Direktor der Perkins Institution, vor. Dieser schickte ein Jahr später die einundzwanzigjährige
Anne Sullivan, die sechs Jahre lang dort Schülerin und selbst einmal blind gewesen war, als
Privatlehrerin für Helen nach Tuscumbia.
Am dritten März 1887 traf Anne Sullivan bei der Familie Keller ein und begann ihre oft
mühsame, aber von Erfolg gekrönte Unterrichtsmethode. Helen lernte das Fingeralphabet, die
Brailleschrift, mit Bleistift auf einem vorgefertigten Rahmen sowie auf der Maschine zu
schreiben, und verfaßte ihre ersten Briefe, die später in Deutschland gesondert in Briefe meiner
Werdezeit herausgegeben wurden. Ein Jahr später zogen Anne Sullivan und Helen nach Boston
und besuchten Dr. Anagnos in der Perkins Institution for the Blind. In den darauffolgenden zwei
Jahren lernte Helen teils zuhause, teils in Boston. Ab dem 26. März 1890 nahm Helen Keller elf
Stunden im Sprechenlernen bei Miss Sarah Fuller, der Schulleiterin der Horace Mann School.
Danach übte sie mit ihrer Lehrerin weiter. Einer ihrer ersten, mühsam artikulierten Sätze war „I
am not dumb now.“ (The Story of my Life 61). Sie arbeitete besessen an der Verbesserung ihrer
Aussprache, aber für Personen, die nicht ständig mit ihr zu tun hatten, war sie ziemlich schwer
zu verstehen. Helen war inzwischen ein durch die Zeitungen bekanntes Wunderkind geworden.
Doch 1891 kam es zum „Frost König“-Skandal, in dem Helen des Plagiats beschuldigt wurde,
die Presse großes Aufheben um die Sache machte und Helen bzw. ihre Lehrerin als „Betrügerin“
dargestellt wurden. Es folgte ein Bruch zwischen ihrer Lehrerin Anne Sullivan und dem
verbitterten, enttäuschten Dr. Anagnos.
1894 zogen Anne Sullivan und Helen Keller nach New York. Dort besuchte Helen die
Wright Humason School for the Deaf. 1896 gingen die beiden nach Cambridge, wo sich Helen
an der School for Young Ladies unter Schulleiter Arthur Gilman auf die Aufnahmeprüfung für
das Radcliffe College vorbereitete. Anne Sullivan mußte während Helens gesamter Ausbildung
im Unterricht immer neben ihr sitzen und ihr die Worte der Lehrer in die Hand buchstabieren.
Ein Jahr später kam es zum Streit zwischen Anne Sullivan und Gilman, Helen verließ die Schule
und ging mit ihrer Lehrerin nach Wrentham, wo sie der Hauslehrer Merton S. Keith
unterrichtete. Im Jahr 1899 bestand Helen Keller die Aufnahmeprüfung und begann im Herbst
1900 ihr Studium am Radcliffe College. Zu dieser Zeit war das Frauenstudium noch
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ungewöhnlich und umstritten; in Nordamerika hatten die Frauen erst 1894 die Berechtigung
erlangt, an einer Universtität zu studieren, und zwar zunächst nur an jenem Radcliffe College.7
1901 sind zeitgeschichtlich zwei wichtige Ereignisse zu verzeichnen: Andrew Carnegie
wurde Philanthrop; später sollte er Helen Keller eine Rente ausstellen. Am 29.7. wurde die
Socialist Party gegründet. Im Jahr 1902 erschien The Story of my Life, und zwar zunächst als
Fortsetzungsbericht in der Familienzeitschrift Ladies Home Journal und dann in einer
Buchausgabe von John Macy, der einen Anhang mit Helen Kellers Briefen ihrer Kindheit sowie
Berichten und Briefen ihrer Lehrerin über deren Erziehungsmethode hinzufügte. 1905 heiratete
John Macy die elf Jahre ältere Anne Sullivan. In diesem Jahr wurde auch der IWW (Industrial
Workers of the World) gegründet, was später noch eine Bedeutung für Helen Kellers politisches
Engagement haben sollte. 1908 erschien Helen Kellers zweites Buch The World I Live in (Meine
Welt). Ein Jahr später trat sie in die Socialist Party ein. 1912 kam es zum Streik der 14 000
Textilarbeiter von Lawrence, Mass. unter der Führung des IWW; Helen Keller schloß sich der
Solidaritätsbewegung an. 1913 erschien Out of the Dark (Wie ich Sozialistin wurde), eine
Sammlung politisch progressiver Aufsätze und Briefe. Helen Keller und Anne Sullivan begannen
ihre Vortragsreisen und nahmen aufgrund finanzieller Engpässe die Carnegie-Rente an, die
Helen Keller zuvor aus Stolz zurückgewiesen hatte. 1913 verließ John Macy seine Ehefrau, da
er „nicht als Teil eines Dreigestirns leben“8 konnte: „[...] er hätte, als er Anne heiratete, wissen
müssen, daß er eine Institution heiratete. Anne könnte und wollte keine „richtige“ Ehefrau sein.
Immer müßte Helen an erster Stelle stehen [...].“9
1914 wurde die junge Schottin Polly Thomson von Anne Sullivan als Assistentin und
Haushälterin eingearbeitet. Ebenso wurde Peter Fagan, ein Sympathisant der Sozialisten, als
Sekretär eingestellt. 1916 verliebte sich der Neunundzwanzigjährige in die
sechsunddreißigjährige Helen Keller. Sie verlobten sich, obwohl Helen Keller immer Zweifel
gequält hatten, da sie sich nicht vorstellen konnte, daß ein Mann sie jemals lieben würde: “I
should think it would seem like marrying a statue.“ (Midstream 134) Sie beschlossen, zu
heiraten, aber als Helens Mutter davon erfuhr, verhinderten diese und Helens Schwester Mildred
die Heirat mit dem ungleich jüngeren, auch noch sozialistisch gesinnten Angestellten. Ein
Versuch durchzubrennen scheiterte. Anne Sullivan mußte ins Krankenhaus, der verprellte
7 Vgl. Schmitt 1954, 10.
8 Vgl. Macdonald 1992, 49.
9 Ibd.
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Liebhaber meldete sich nicht mehr, und schließlich gab Helen Keller ihrer konservativen Familie
nach: „Ich gelangte zu der Überzeugung, daß eine Ehe mir ebenso wie Musik und Sonnenschein
verwehrt sein sollte“.10
In den Jahren 1914/15 trat Helen Keller durch Veröffentlichungen und Vorträge für die
Neutralität der USA im Ersten Weltkrieg ein. 1917 befürwortete Helen Keller die
Oktoberrevolution, und im darauffolgenden Jahr bis 1923 kritisierte sie antisowjetische
Interventionen der USA sowie die Hungerblockade gegen Sowjetrußland, für dessen Regierung
sie eintrat, und setzte sich zur Linderung der dortigen Hungersnot ein. 1919 spielte Helen Keller
die Hauptrolle im Hollywoodfilm über ihr Leben, „Deliverance“, der ein großer Flop wurde. Im
Jahr 1920 vereinigte sich Helen Keller mit Clarence Darrow, Upton Sinclair (dem „muck-raker“,
der die marode Situation der Arbeiter in The Jungle beschrieben hat), Jane Addams, Norman
Thomas, Felix Frankfurter u.a. zur Gründung der ACLU (American Civil Liberties Union).
Von 1920 bis 1924 traten Helen Keller und Anne Sullivan in Variétés auf; sehr zum Verdruß der
letzteren, da diese die Zurschaustellung jeglicher Form von Behinderung auf der Bühne zutiefst
verachtete; vor allem in einer Zeit, wo mißgestaltete Tiere und Körperbehinderte bzw. „Launen
der Natur“ wie Siamesische Zwillinge, „bärtige Damen“ und „Gummimenschen“ eine bliebte
Attraktion für Zirkusse und Kuriositätenshows waren11
. Helen Keller hielt kurze Ansprachen
vor einem Publikum, das sie akustisch kaum verstehen konnte, aber eigentlich auch nur
gekommen war, um das „Wunder“ mit eigenen Augen zu sehen. Die beiden Frauen mußten
jedoch für ihren Lebensunterhalt sorgen, und Helen Keller wollte dem Publikum beweisen, daß
sie „darüber stand“ und trotz der erschwerten Lage imstande war, ihr Brot selbst zu verdienen.
Am 26. 8. 1920 wurde in den USA das Frauenwahlrecht eingeführt, wofür sich Helen
Keller wiederholt eingesetzt hatte. 1921 wurde die American Foundation for the Blind (AFB)
gegründet, deren ständige Mitarbeiterin Helen Keller ab 1924 war. Sie nahm an
Aufklärungskampagnen zur Verbesserung staatlicher Blindenfürsorge teil. 1927 wurde das
Todesurteil für Sacco und Vanzetti vollstreckt; Helen Keller hatte im Rahmen des weltweiten
Protests für ihre Freilassung gekämpft. Im selben Jahr veröffentlichte Helen Keller My Religion
(Licht in mein Dunkel) und Midstream: My Later Life (Mitten im Lebensstrom), in welchem sie
sich zu Lenins Werk bekannte. In den Folgejahren erhielten Helen Keller und Anne Sullivan
10
a.a.O. 52. 11
Vgl. Macdonald 1992, 6.
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Ehrentitel und Auszeichnungen. Im Jahre 1933 erfolgte in Berlin die Bücherverbrennung
„entarteter“ Schriften durch die Faschisten, der auch Wie ich Sozialistin wurde zum Opfer fiel.
1936 starb ihre Lehrerin Anne Sullivan, und Helen Keller unternahm Vortragsreisen mit
ihrer Sekretärin Polly Thomson, um über den Schmerz hinwegzukommen. Ein Jahr später fand
ihr erster Japanbesuch statt. 1943-46 besuchte Helen Keller die Kriegsversehrten in den
Lazaretten und Krankenhäusern von England, Frankreich, Italien, Griechenland und den USA,
um den Verletzten und Blindgeschossenen Hoffnung zu spenden. 1951 reisten Helen Keller und
Polly Thomson nach Südafrika, wo die Zulus Helen Keller den Namen „Homvuselo“ („Du hast
das Bewußtsein von vielen geweckt“) gaben.12
1952-57 reisten die beiden in den Nahen Osten,
Lateinamerika, Skandinavien, Indien und Japan. Sie besuchten die durch die Atombomben
zerstörten Städte Hiroshima und Nagasaki. Auf ihren Weltreisen warb Helen Keller für das
amerikanische Blindenbetreuungssystem durch private Stiftungen. 1955 erschien ihr Buch
Teacher: Anne Sullivan Macy (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan). Im Jahr 1960 starb
Helen Kellers langjährige Sekretärin Polly Thomson. 1962 erhielt Anne Bancroft ihren ersten
Oscar für die Darstellung der Anne Sullivan in William Gibsons Film „The Miracle Worker“,
dem zahlreiche Auszeichnungen verliehen wurden. 1961 war Helen Keller zum letzten Mal
öffentlich aufgetreten. In diesem Jahr erlitt sie einen leichten Schlaganfall, was ihre
Kommunikationsfähigkeit stark einschränkte. Helen Keller starb am ersten Juni 1968 im Alter
von 88 Jahren und wurde als eine der meistgeliebten und -geachteten Persönlichkeiten des 20.
Jahrhunderts in der National Cathedral in Washington beigesetzt.
1.1 Das Beispiel Laura Bridgman
Dr. Samuel Gridley Howe (1801-1876), dem Gründer der Perkins Institution for the Blind in
Boston, war der erste Versuch gelungen, einen taubblinden Menschen in die Gesellschaft
einzugliedern: Laura Bridgman.
12
Vgl. Macdonald 1992, 60.
Page 13
Rund 50 Jahre vor Helen Keller, am 21. Dezember 1829 in Hanover / New Hampshire,
kam sie als ebenfalls gesundes Kind auf die Welt und verlor im Alter von 26 Monaten nach einer
Scharlacherkrankung Gehör und Augenlicht. „The child of seven was dumb and blind and almost
without the sense of smell, with no plaything but an old boot which served for a doll, and with so
little education in affection that she had never been taught to kiss.“13
In diesem desolaten
Zustand war sie, als Dr. Howe von ihr erfuhr und sie am vierten Oktober 1837 in seinem Institut
aufnahm. Er lehrte Laura Bridgman die Sprache, indem er ihr zuerst das Lesen erhaben
gedruckter Buchstaben beibrachte, und ging dabei folgendermaßen vor:
He pasted raised labels on objects and made her fit the labels to the objects and the
objects to the labels. When she had learned in this way to associate raised words with
things, in much the same manner, he says, as a dog learns tricks, he began to resolve the
words into their letter elements and to teach her to put together „k-e-y,“ „c-a-p.“14
Später verwendete Dr. Howe als Hauptverständigungsmittel das Fingeralphabet, welches
ursprünglich für sehende Taube gedacht war. Blinde können es jedoch fühlen, indem sie ihre
Hand leicht über die des „Sprechenden“ legen. Dr. Howe faßte seine Arbeit als religiöses Werk
auf, und es ist nicht verwunderlich, daß auch seine Schülerin tiefgläubig war. Inwieweit sie dabei
jedoch manipuliert wurde, ist umstritten:
Laura’s nature was intensely moral, -- almost morbidly so, in fact [...]; but it does not
appear certain that such an idea would have come to her spontaneously. She was easily
converted into revivalistic evangelicism [...] through communications which her
biographers deplore as having perverted her originally optimistic faith.15
Laura Bridgman schien nicht viel eigenen Willen und Durchsetzungskraft besessen zu haben,
was auch den großen Unterschied zu Helen Keller ausmacht: „Laura was primarily regarded as a
phenomenon of conscience, almost a theological phenomenon. Helen is primarily a phenomenon
of vital exuberance.“16
Bis zu ihrem Tod am 24. April 1889 blieb Laura Bridgman in der Perkins
Institution for the Blind. Sie hat es nie geschafft, außerhalb dieser gewohnten, geschützten
Umgebung unter normalen Menschen zu leben. Von ihr kann man nur sagen, daß sie schöne
Handarbeiten verrichtete und sich salonfähig verhielt.
Her immediate life, once it was redeemed [...] from quasi-animality, was almost wholly
one of conduct toward other people. Her relations to „things,“ only tactile at best, were
13
James 1969, 453. 14
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 298/9. 15
James 1969, 455. 16
a.a.O. 454.
Page 14
for the most part remote and hearsay and symbolic. Personal relations had to be her
foreground, -- she had to think in terms almost exclusively social and spiritual.17
Ohne das Experiment Laura Bridgman wäre eine Erziehung Helen Kellers nicht dermaßen
erfolgreich ausgefallen, denn ihre Lehrerin Anne Sullivan war an der Perkins Institution for the
Blind ausgebildet und berief sich auf die Studien Dr. Howes. Sie ging beim Vermitteln der
Sprache ähnlich vor, infiltrierte jedoch keine religiösen oder politischen Ideen. Als Lehrerin hat
sie mit ihrem einzigartigen Erziehungssystem Dr. Howe übertrumpft. Helen Keller stand
entwicklungsmäßig unsagbar hoch über Laura Bridgman, was wohl vor allem auf die
unterschiedlichen Unterrichtsmethoden zurückzuführen ist. Helen lernte zuerst das
Fingeralphabet, wobei ihre Lehrerin ihr von Anfang an alles in die Hand buchstabierte, was um
sie her vorging, selbst wenn sie es noch nicht verstehen konnte. Auf diese Weise erfaßte sie die
Sprache wie ein gesundes Kleinkind, das schon einiges versteht, was ihm gesagt wird, auch
wenn es sich noch nicht selbst ausdrücken kann. Für Helen war es das Erlernen einer
„Muttersprache“, wogegen Laura die Sprache systematisch wie eine Fremdsprache erlernte:
zuerst gab man ihr isolierte Wörter in Hochdruck, die sie mit den Dingen assoziieren mußte, an
denen sie befestigt waren; dann brachte man ihr die Grammatik bei, noch bevor sie genug
Vokabular hatte, um diese sinnvoll anzuwenden. Dies hatte natürlich Verwirrung und Fehler zur
Folge.18
Im Gegensatz zu Anne Sullivan, die ihrer Schülerin auf jede Frage eine Antwort gab,
umging Dr. Howe schwierige Fragen seiner Schülerin (z.B. nach Gott) mit dem Hinweis: „Your
mind is young and weak, and cannot understand hard things“.19
Die beiden taubblinden Frauen unterschieden sich vor allem in der Art und Weise, wie sie
ihr Leben in Angriff nahmen. Dabei fällt Laura Bridgman die passive Rolle, Helen Keller die
aktive zu. In William James’ Collected Essays and Reviews ist dieser Unterschied sehr drastisch
durch den Vergleich mit den unsicheren ersten Gehversuchen eines Genesenden dargestellt
worden: „Life for her [Helen] is a series of adventures, rushed at with enthusiasm and fun. For
Laura it was more like a series of such careful indoor steps as a convalescent makes when the
17
a.a.O. 455/6. 18
Nella Braddy berichtet in ihrer Biographie Anne Sullivans: „Laura had infinite difficulty in learning the
peculiarities of language and never really mastered idiomatic English. [...] One evening [...] Dr. Howe had
spent some time explaining to her the difference between „full“ and „less,“ [...]. The following day she said
[...], „I am motherful and sisterful; you are brotherless,“ and further exemplified her learning by asking if it
was derivative to-day. [...] Dr. Howe had explained that rain was a primitive word, rainy, a derivative
word. The child, of course, thought she had asked, „Is it raining?“ (Braddy 1934, 108)
19
Vgl. Braddy 1934, 111.
Page 15
bed days are over.“20
Obwohl Laura Bridgman21
für ihre Zeit bereits als erstaunliches Phänomen
galt und Dr. Howes Ruhm bis nach Europa reichte, machte sie nicht in einer derartigen Weise
von sich reden wie fünfzig Jahre später Helen Keller. Dies hängt mit der Entwicklung der
Presselandschaft zusammen, denn die Informationsvermittlung hatte sich in diesem Zeitraum
rasant verstärkt und effizienter gestaltet.
Helen’s age is that of the scarehead and portrait bespattered newspaper. In Laura’s time
the papers were featureless, and the public found as much zest in exhibitions at
institutions for the deaf and dumb as it now [Helen’s age] finds in football games. [...] In
contrast with the recklessly sensational terms in which everything nowadays expresses
itself, there seems a sort of white veil of primness spread over this whole biography of
Laura.22
Im folgenden wird zu untersuchen sein, wie sich diese neuartige Informationsweitergabe auf
Helen Kellers Entwicklung ausgewirkt hat.
1.2 Helen Keller vor Erlernen der Sprache
„Bevor meine Lehrerin zu mir kam, wußte ich nicht, daß ich vorhanden war. Ich
lebte in einer Welt, die eine Nichtwelt war.“
(Meine Welt 77)
Nach ihrer Selbsteinschätzung war Helen Keller in ihrer vorsprachlichen Zeit ein „‘Phantom’,
wie ich das kleine, nur von tierischen Impulsen, und nicht immer denen eines fügsamen Tieres,
beherrschte Wesen zu bezeichnen vorziehe.“ (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan 33).
Dies ist eine bescheidene Untertreibung. Ihr vorsprachlicher Zustand entsprach weder einem
animalischen noch einem idiotischen, da sie durch Zeichen imstande war, mit ihrer Umwelt, die
20
a.a.O. 454/5. 21
Nella Braddy weist auf Lauras „quaint staccato thoughts in quaint staccato language“ hin. Eine Leseprobe
zeigt, wie Laura Bridgman sich als reife Frau auf dem Höchststand ihres Lernens ausdrückte: „I hate to go
without my most constant friend Wight. She kept weeping many times till she left me the 9th of November.
She gave me a very beautiful and pure breastpin, just before I parted with her. [...] I love her half as much
as if she was my wife. I did not know that my best teacher was to leave me so shortly until the day before
she left me. I shuddered so much and worried sadly.“ (Braddy 1934, 74.)
22
James 1969, 455.
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hauptsächlich aus ihren nächsten Familienangehörigen und den Kindern der Bediensteten
bestand, zu kommunizieren: „At the time when I became her teacher, she had made for herself
upward of sixty signs.“ Außerdem beweisen die Schilderungen ihrer Lehrerin über ihr Eintreffen
bei der Familie Keller, daß das Kind äußerst intelligent und gewitzt war:
She felt my face and dress and my bag, which she took out of my hand and tried to open.
It did not open easily, and she felt carefully to see if there was a key-hole. Finding that
there was, she turned to me, making the sign of turning a key and pointing to the bag.23
Helen wußte aus Erfahrung, daß auch diese Besucherin ihr etwas Süßes mitgebracht hatte. Sie
hatte genau „gespürt“, daß jemand erwartet wurde, und den ganzen Tag auf der Lauer gelegen.
Nach Aussage ihrer Mutter24
gehörte Helen vor ihrer Erkrankung zu den Kleinkindern, die sich
lieber durch Zeichen als durch Worte verständlich machten. Ein Zeichen, das Helen Keller aus
der Zeit vor ihrer Erblindung und Ertaubung noch beibehalten hatte, war das „Winke-winke-
Machen“25
. Es ist heute leider nicht mehr nachzuweisen, ob Helen Keller die Zeichen, die sie
nach ihrer Erkrankung gebrauchte, als neues Verständigungsmittel erfunden oder zum Teil
bereits vorher gebraucht hatte. Jedenfalls sind viele ihrer Zeichen auch für sprechfaule normale
Kinder gebräuchlich, wie z.B.: „A shake of the head meant ‘No’ and a nod, ‘Yes,’ a pull meant
‘Come’ and a push, ‘Go.’ “ (The Story of my Life 9) Nach Beobachtungen ihrer Lehrerin26
besaß
das Kind auch kompliziertere Zeichen wie die für „small“ und „large“:
If she wanted a small object and was given a large one, she would shake her head and
take up a tiny bit of the skin of one hand between the thumb and finger of the other. If she
wanted to indicate something large, she spread the fingers of both hands as wide as she
could, and brought them together, as if to clasp a big ball.
Helen Kellers Familienangehörige verstanden ihre Zeichen, durch die sie ihnen zum Beispiel
andeutete, daß sie etwas Bestimmtes zum Essen haben wollte: „Was it bread that I wanted? Then
I would imitate the acts of cutting the slices and buttering them.“ (The Story of my Life 9) Oder:
„If I wanted my mother to make ice-cream for dinner I made the sign for working the freezer and
shivered, indicating cold.“ (Ibd.) Ebenso versuchte das taubblinde Kind, mit seinen
Spielgefährten zu kommunizieren; so auch mit der kleinen Tochter ihrer farbigen Köchin: „I
could not tell Martha Washington when I wanted to go egg-hunting, but I would double my
23
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 304. 24
a.a.O. 383. 25
a.a.O. Chapter IV: „Speech“, 389. 26
a.a.O. Chapter III: „Education“, 319.
Page 17
hands and put them on the ground, which meant something round in the grass [...].“ (The Story of
my Life 11)
Waren Helens Zeichen einmal nicht von Erfolg gekrönt und verstand man nicht, was sie
wollte, konnte sie sich auf den Boden werfen, toben, schreien und mit den Füßen stampfen. Je
älter sie wurde, desto häufiger wurden solche Wutausbrüche. Das Kind war sich dessen bewußt,
daß die anderen „etwas mit ihren Lippen machten“, was ihr entging: „Sometimes I stood
between two persons who were conversing and touched their lips. I could not understand, and
was vexed. I moved my lips and gesticulated frantically without result. This made me so angry at
times that I kicked and screamed until I was exhausted.“ (The Story of my Life 10) Bisweilen
schlug sie den Sprechenden wütend auf den Mund.
Helen Kellers soziale Verhaltensweise war vom Nachahmungseffekt geprägt. Selbst
wenn es um für eine Blinde sinnlose Handlungen ging, wie zum Beispiel das „Sich-im-Spiegel-
Betrachten“ oder das „Brille-des-Vaters-Aufsetzen“, so imitierte das Kind dieses Verhalten, weil
es so sein wollte wie die anderen. Auf diese Weise wurden verschiedene Verhaltensmuster für
das taubblinde Kind alltäglich. Besonders amüsant ist die Episode, als sie das Eintreffen von
Gästen „spürt“ und sich für sie schick machen will:
Standing before the mirror, as I had seen others do, I anointed mine head with oil and
covered my face thickly with powder. Then I pinned a veil over my head so that it
covered my face and fell in folds down to my shoulders, and tied an enormous bustle
round my small waist, so that it dangled behind [...]. (The Story of my Life 10)
Auch hatte Helen im Alter von sechs Monaten bereits zu sprechen begonnen; sie verlor jedoch
ihre ersten Worte „How d’ye“ und „Tea, tea, tea“ (vgl. The Story of my Life 6) nach ihrer
Erkrankung, da sie sie nicht mehr hören konnte. Das einzig verbliebene Wortfragment war die
Bezeichnung für „Wasser“: „[...] I continued to make some sound for that word after all other
speech was lost. I ceased making the sound „wah-wah“ only when I learned to spell the word.“
(The Story of my Life 7) Dieses Wortfragment wird später bei ihrer Erkenntnis, daß allen Dingen
ein Begriff zugeordnet werden kann, noch eine Bedeutung haben in der berühmten
„Brunnenszene“.
Wenn man glaubt, Dinge, die mit Hören und Sehen zu tun hatten, wären unwesentlich für
die kleine Helen gewesen, so ist man im Irrtum. Für sie war es z.B. äußerst wichtig, daß Puppen
Augen hatten, sonst waren sie keine richtigen Puppen: als Helens Vater mit seiner kleinen
Page 18
Tochter nach Baltimore zum berühmten Augenarzt Dr. Chisholm fuhr, bastelte ihr ihre Tante im
Zug eine komische, formlose Puppe:
„Curiously enough, the absence of eyes struck me more than all the other defects [...]. I
tumbled off the seat and searched under it until I found my aunt’s cape, which was
trimmed with large beads. I pulled two beads off and indicated to her that I wanted her to
sew them on my doll.“ (The Story of my Life 18/19)
Diese Szene wird in leicht veränderter Form später im Theaterstück The Miracle Worker zum
Tragen kommen. Übrigens spielte Helen auch Streiche und hatte durchaus kein besseres
Benehmen als andere kleine Kinder. So sperrte sie z.B. gleich zu Anfang die arme Miss Sullivan
in ihrem Zimmer ein, versteckte den Schlüssel, rückte ihn nicht mehr heraus und freute sich
diebisch, als der Vater die neue Lehrerin mit einer Leiter durchs Fenster retten mußte. Dies ist
doch nicht die unintelligente Handlung eines „Tieres“.
1.3 Der Spracherwerb, nachvollzogen anhand von
Briefen ihrer Lehrerin Anne Sullivan
Anne Sullivan wurde 1866 in Feeding Hills, Massachusetts als Kind armer irischer Einwanderer
geboren. Ihre Mutter starb früh und ihr Vater war der Trunksucht verfallen, weshalb Annie und
ihr kleiner Bruder Jimmie, der mit einer Hüftgelenktuberkulose geboren war, 1876 ins
Armenhaus nach Tewksbury kamen. Dort vegetierten etwa 940 Männer, Frauen und Kinder vor
sich hin; die Sterberate war hoch, und die Gesunden waren mit Menschen, die ansteckende
Krankheiten hatten, Trinkern und Verrückten zusammengepfercht. Viele Frauen wurden
geschwängert oder kamen bereits als „fallen ladies“ an. Fast sechs Jahre lang mußte Anne
Sullivan, die durch ständige Bindehautentzündungen halbblind war, unter diesen
menschenunwürdigen Zuständen leben; ihr Bruder starb im Armenhaus. Mehrere
Augenoperationen erwiesen sich als nicht erfolgreich, und „[Annie] continued to be listed on the
public records as blind.“27
Sie hatte jedoch das aufbrausende, starrköpfige Temperament ihres
Vaters geerbt, und setzte sich in den Kopf, in die Schule zu gehen, als sie über Schulen für
27
Lash 1980, 9.
Page 19
Blinde hörte. Eine unerwartete Gelegenheit bot sich, als eine Untersuchungskommission unter
Frank B. Sanborn vom State Board of Charities das Armenhaus inspizierte. Die Herren standen
bereits am Tor, als Anne Sullivan allen Mut zusammen nahm: „[...] she flung herself into the
group, crying, „Mr. Sanborn, Mr. Sanborn, I want to go to school!“28
Nicht viel später, am
siebten Oktober 1880, wurde Anne Sullivan in der Perkins Institution for the Blind
aufgenommen. Nach sechs Jahren Unterricht überzeugte die junge Frau, die mit vierzehn nicht
einmal ihren Namen buchstabieren konnte, durch überdurchschnittliche Leistungen und eine
beeindruckende Abschlußrede vor einflußreichen Persönlichkeiten, so daß Dr. Anagnos’ Wahl
sofort auf sie fiel, als es darum ging, eine passende Erzieherin für die taubblinde Helen Keller zu
finden. Anne Sullivan hatte durch Operationen ihr Augenlicht zum Großteil wiedererlangt, aber
sie sollte ihr ganzes Leben lang Probleme damit haben und erblindete kurz vor ihrem Tod
wieder. Ihre eigenen Erfahrungen in der Welt der Blinden sowie das Erlernen des
Fingeralphabets, wodurch sie sich mit Laura Bridgman verständigt hatte, sollten ihr bei ihrer
Arbeit mit Helen Keller von Vorteil sein.
Die authentischste und wertvollste Quelle über Helen Kellers Lernfortschritte sind die
Briefe, die Anne Sullivan in ihren ersten Monaten bei der Familie Keller an ihre Freundin Mrs.
Sophia C. Hopkins schrieb, ihre einzige Vertrauensperson, die zwanzig Jahre als Hausmutter an
der Perkins Institution gearbeitet hatte und während Annes Schulzeit wie eine Mutter für sie
gewesen ist. Würde man sich beim Nachvollziehen von Helens Entwicklung allein auf die
Beschreibung Helen Kellers in The Story of my Life berufen, käme man in Gefahr, die
novellistisch aufgeputzten Schilderungen, die die Vergangenheit nicht selten beschönigen, für
die einzige Wahrheit zu halten. Auch konnte sich Helen Keller nicht mehr an alle Geschehnisse
ihrer frühen Kindheit erinnern und war beim Verfassen ihrer Lebensgeschichte auf Anekdoten
angewiesen, die ihre Eltern oder ihre Lehrerin über sie erzählten. Die tagebuchähnlichen
Berichte ihrer Lehrerin an Mrs. Hopkins stellen auch eine zuverlässigere Quelle dar als ihre
später veröffentlichten Aufsätze in Blindenzeitschriften, weil sie intimer sind und nicht nur die
wissenschaftlichen Auszüge enthalten, die für ein breites Publikum bestimmt waren.
Im folgenden liegen sieben Briefe Anne Sullivans in chronologischer Reihenfolge zur
Untersuchung vor, so daß man die erzieherischen Fortschritte sehen kann. Besondere
28
a.a.O. 12.
Page 20
Berücksichtigung finden solche Begebenheiten, die später im Vergleich mit dem Theaterstück
The Miracle Worker zur Debatte stehen. Anne Sullivans erster Brief stammt vom sechsten März
1887, drei Tage nach ihrem Eintreffen in Tuscumbia. Die Einundzwanzigjährige beschreibt darin
ihren Empfang bei der Familie Keller und charakterisiert die Familienmitglieder: „Mrs. Keller
[is] a very young-looking woman, not much older than myself [...].“29
Ihre Erwartung, in Helen
ein schwächliches Kind vorzufinden, werden angenehm enttäuscht: „[...] there’s nothing pale or
delicate about Helen. She is large, strong, and ruddy [...]. She is unresponsive and even impatient
of caresses from any one except her mother. She is very quick-tempered and wilful, and nobody,
except her brother James, has attempted to control her.“ (Ibd.) Wie bereits geschildert, macht
sich Helen gleich über den Koffer des Neuankömmlings her. Interessant ist Anne Sullivans
Beschreibung vom Gesichtsausdruck der kleinen Helen vor dem Erlernen der Sprache:
Her face is hard to describe. It is intelligent, but lacks mobility, or soul, or something. Her
mouth is large and finely shaped. You see at a glance that she is blind. One eye is larger
than the other, and protrudes noticeably. She rarely smiles [...]. (304/5)
Helen durchwühlt den Koffer der neuen Lehrerin, probiert deren Hut vor dem Spiegel auf und
findet die Puppe, ein Geschenk von den kleinen blinden Mädchen von der Perkins Institution.
Diese Gelegenheit nutzt Anne Sullivan, um ihr das erste Wort beizubringen: „I spelled „d-o-l-l“
slowly in her hand and pointed to the doll and nodded my head, which seems to be her sign for
possession.“ (305) Helen ist zunächst verwirrt und befühlt Annes Hand; Anne wiederholt die
Buchstaben, worauf Helen die Zeichen richtig nachmacht und auf die Puppe zeigt. Anne nimmt
die Puppe beiseite und will sie ihr erst wiedergeben, wenn sie nocheinmal richtig buchstabiert,
aber Helen mißversteht das als Gewaltakt, ihr die Puppe wegnehmen zu wollen. Sie wehrt sich
wild, aber die Lehrerin setzt sie rigoros auf einen Stuhl und versucht, sie mit einem anderen Wort
zu überreden:
I went downstairs and got some cake (she is very fond of sweets). I showed Helen the
cake and spelled „c-a-k-e“ in her hand, holding the cake toward her. Of course she
wanted it and tried to take it; but I spelled the word again and patted her hand. She made
the letters rapidly, and I gave her the cake, which she ate in a great hurry, thinking [...] I
might take it from her. (Ibd.)
Man erkennt, daß Anne Sullivan auf ein Lernen mit Belohnung hinarbeitet; wenn Helen richtig
buchstabiert hat, bekommt sie ein Stück Kuchen. Dann versucht die Lehrerin es noch einmal mit
29
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 303. Die folgenden in Klammern angegebenen
Seitenzahlen für dieses Kapitel beziehen sich ebenfalls auf den Anhang der Story of my Life.
Page 21
dem Wort „doll“, Helen macht „d-o-l“, Anne fügt noch ein „l“ hinzu und gibt ihr die Puppe,
worauf Helen davonflitzt und den ganzen Tag nicht mehr zu bewegen ist, auf Annes Zimmer zu
kommen. Anderntags beschäftigt Anne Sullivan ihre Schülerin, die sonst schlecht stillsitzen
kann, mit einer Handarbeit: „[...] I gave her a sewing-card to do. I made the first row of vertical
lines and let her feel it and notice that there were several rows of little holes. She began to work
delightedly and finished the card in a few minutes, and did it very neatly indeed.“ (306) Anne
buchstabiert „c-a-r-d“, was jedoch zur Folge hat, daß Helen es mißversteht und mit einem bereits
vorher gelernten Wort verwechselt: „She made the „c-a,“ then stopped and thought, and making
the sign for eating and pointing downward she pushed me toward the door [...]“ (ibid.) Somit
deutet sie ihrer Lehrerin an, sie solle ‘runtergehen und „c-a-k-e“ holen; und Anne Sullivan ist so
erfreut über das Wiedererkennen, daß sie das Wort Kuchen buchstabiert und dann dem
Kommando Folge leistet. Dann buchstabiert Anne Sullivan „doll“ und Helen deutet nach unten,
„meaning that the doll was downstairs.“ (306) Auch dieses Wort hatte das Kind wiedererkannt,
war aber zu bequem, die Puppe selbst zu holen: „She decided to send me instead.“ (306) Ihrer
Lehrerin bleibt nichts anderes übrig, als eine rabiate Maßnahme zu ergreifen: „She had not
finished the cake she was eating, and I took it away, indicating that if she brought the doll I
would give her back the cake.“ (306) Helen wurde rot, aber sie brachte die Puppe, nahm den
Kuchen und verdrückte ihn und sich hastig. An dem Tag, an dem Anne Sullivan diesen Brief
schreibt, kommt Helen von hinten, taucht ihre Hand ins Tintenfaß und patscht auf Annes
Briefpapier: „These blots are her handiwork.“ (306) An diesem Tag lernte Helen außerdem noch,
Holz- und Glasperlen in einer bestimmten Reihenfolge auf eine Schnur zu fädeln. Der Brief
endet damit, daß Anne Sullivan über ihre entzündeten Augen klagt und um Geheimhaltung der
Neuigkeiten bittet: „Please do not show my letter to any one.“ (307) Im vierten Kapitel über die
Presse wird klar werden, warum.
Der nächste Brief beinhaltet die berühmt gewordene Schlüsselszene aus The Miracle
Worker; Anne Sullivan berichtet, „I had a battle royal with Helen this morning.“ (307) Die
Familie Keller ist um den Frühstückstisch versammelt, und alle außer Miss Sullivan sind Helens
Tischmanieren schon so gewohnt, daß sie sie seelenruhig herumgehen und sich von den Tellern
der anderen bedienen lassen. Helen stopft sich alles mit den Fingern in den Mund, was sie mag,
doch von Annes Teller dürfen die dreckigen Händchen nichts nehmen. Anne läßt sich von ihr
nicht tyrannisieren wie die mitleidige Familie, sondern ist fest entschlossen, ihr den Unterschied
Page 22
von „erlaubt“ und „nicht erlaubt“ beizubringen. Helen bekommt einen Wutanfall und wirft sich
auf den Boden, worauf die Familie das Zimmer verläßt und Anne sich mit Helen einschließt.
Helen was lying on the floor, kicking and screaming and trying to pull my chair from
under me. She kept this up for half an hour, then she got up to see what I was doing. I let
her see that I was eating, but did not let her put her hand in the plate. She pinched me, and
I slapped her every time she did it. (307)
Daraufhin setzt sich Helen ebenfalls, um zu essen, aber mit den Fingern. Anne drückt ihr einen
Löffel in die Hand, „which she threw on the floor“. (307) Anne zwang sie, den Löffel wieder
aufzuheben, und nach einigen Minuten gab Helen nach, „and finished her breakfast peaceably“.
(308) Darauf folgte ein Kampf um das Zusammenlegen der Serviette: „When she had finished,
she threw it on the floor and ran toward the door. Finding it locked, she began to kick and scream
all over again. It was another hour before I succeeded in getting her napkin folded.“ (308) Der
erste Schritt zur Erziehung zu Benehmen und Gehorsam war getan.
Am elften März berichtet Anne Sullivan, sie sei mit Helen in das kleine Gartenhaus eine
halbe Meile vom Kellerschen Wohnsitz entfernt gezogen; dort kann Helen ihre
Familienangehörigen und Bediensteten nicht mehr tyrannisieren, und Anne kann in aller Ruhe
mit der Erziehung beginnen, ohne daß sich die wohlmeinenden Eltern mit ihrer Laissez-faire-
Methode einmischen: „[...]the more I think, the more certain I am that obedience is the gateway
through which knowledge, yes, and love, too, enter the mind of the child.“ (309) Zuerst führt
sich Helen widerspenstig auf und hat Heimweh, aber später fügt sie sich in die neue Situation.
Aber zur Schlafenszeit gibt es einen erneuten Kampf:
[...] when she felt me get into the bed with her, she jumped out on the other side, and
nothing that I could do would induce her to get in again. [...] We had a terrific tussle, I
can tell you. The struggle lasted for nearly two hours. [...] But fortunately for us both, I
am a little stronger, and quite as obstinate when I set out. [...] [S]he lay curled up as near
the edge of the bed as possible. (310)
Anne Sullivan fährt fort, in Helens Hand zu buchstabieren, doch sie weiß, daß Helen noch keinen
Zusammenhang zwischen Wort und Ding erkennt: „Helen knows several words now, but has no
idea how to use them, or that everything has a name.“ (310) Trotzdem gibt sie sich zuverlässig.
Am zwanzigsten März 1887 schreibt die junge Lehrerin enthusiastisch: „My heart is
singing for joy this morning. A miracle has happened! [...] The wild creature of two weeks ago
has been transformed into a gentle child.“ (311) Helen hat eine lange rote Wurst gehäkelt, und
als diese durch das ganze Zimmer reicht, tätschelt sie sich lobend den Arm und hält die Wolle an
Page 23
ihre Wange. Alle können die Veränderung an dem Kind bemerken; ihr Vater ruft aus: „How
quiet she is!“ (312) In dieser Woche hat Helen einige Substantive gelernt, aber sie erkennt immer
noch nicht deren Bedeutung. Auch verwechselt sie einige Schlüsselwörter, die später am
Brunnen zur „Erleuchtung“ beitragen:
„M-u-g“ and „m-i-l-k,“ have given her more trouble than other words. When she spells
„milk,“ she points to the mug, and when she spells „mug,“ she makes the sign for pouring
or drinking [...]. She has no idea yet that everything has a name. (312)
Um Helens Lust am Lernen zu vergrößern, hat Anne Sullivan Konkurrenz eingeladen: der kleine
farbige Percy lernt Helens Zeichen, um mit ihr zu wetteifern. Für die Kinder ist es ein Spiel.
„She was delighted if he made a mistake, and made him form the letter over several times. When
he succeeded [...] she patted him on his woolly head so vigorously that I thought some of his
slips were intentional.“ (312) Aber nicht nur dem kleinen Jungen will Helen ihre neuen
„Zeichen“ beibringen, auch dem gemütlichen alten Setter Belle buchstabiert sie „d-o-l-l“ in die
Pfote.
Am achtundzwanzigsten März sind Anne und Helen schon wieder im Kellerschen Haus
untergebracht; der Vater hatte nur eine zweiwöchige Abwesenheit seiner Tochter gestattet. Bei
Tisch testet Helen die Reaktion ihrer Familie, als sie abermals ihre Serviette auf den Boden wirft
und gegen den Tisch tritt. Anne Sullivan nimmt ihr den Teller weg und will sie aus dem Raum
führen, aber der Vater besteht darauf, daß keines seiner Kinder ohne Essen vom Tisch geht.
Am dritten April schreibt Anne Sullivan, sie verbrächten fast ihre ganze Zeit im Garten.
Helen hat ihre Puppe in die Erde gepflanzt und ihrer Lehrerin angedeutet, daß sie erwartet, die
Puppe würde wachsen und so groß werden wie sie. Häkeln und Stricken kann sie inzwischen,
und sie macht einen Waschlappen für ihre Mutter. Sie hat auch ein Schürzchen für ihre Puppe
gemacht, und Anne stellt stolz fest, „[...] it was done as well as any child of her age could do it.“
(314) Die Zeit von zwölf bis eins hat Anne Sullivan für das Erlernen neuer Wörter reserviert,
doch sie offenbart ihrer Brieffreundin ihre wahre Methode:
But you mustn’t think this is the only time I spell to Helen; for I spell in her hand
everything we do all day long, although she has no idea as yet what the spelling means.
(315; die wichtigsten Angaben zu ihrem Erziehungssystem hat John Macy kursiv gesetzt)
Sie behandelt Helen wie ein normales zweijähriges Kind, das die Sprache ja auch lernt, indem es
sie täglich hört und unbewußt Worte aufnimmt, die es noch nicht versteht. Diesen revolutionären
Gedanken hatte Anne Sullivan sich nicht bereits zurechtgelegt, als sie bei der Familie Keller
Page 24
eintraf, sondern sie ist erst einige Zeit später darauf gekommen, als sie erkannte, daß es unsinnig
ist, ein Kind, das noch keine sprachlichen Voraussetzungen mitbringt, zu geregelten
Unterrichtsstunden an einen Stuhl zu fesseln und mit vorgeformtem Unterrichtsmaterial zu
überhäufen. Dieser freie, nicht an feste Zeiten gebundene Unterricht vollzog sich meistens
draußen in der Natur, wodurch auch gleich eine Menge Anschauungsmaterial zur Verfügung
stand. Die kleine Schülerin selbst faßte diese Art von „Unterricht“ als Spiel auf und lernte
unbewußt. Anne Sullivan steht mit dieser Methode nicht allein da; auch Maria Montessori, zehn
Jahre älter als Helen Keller, befürwortet ein „Lernen durch Spielen“. Zur damaligen Zeit war
dieses System allerdings revolutionär, und das war es auch, was Anne Sullivans
Erziehungsmethode von der ihres Vorgängers, Dr. Howe, unterschied und sie deshalb effizienter
gestaltete.
Helen Keller kannte am 31. März achtzehn Substantive und drei Verben; ihre Lehrerin
schickte ihrer Korrespondentin Mrs. Hopkins eine Liste davon. Die Kreuze in Klammern
bezeichnen Worte, nach denen Helen selbst gefragt hatte: „Doll, mug, pin, key, dog, hat, cup,
box, water, milk, candy, eye (x), finger (x), toe (x), head (x), cake, baby, mother, sit, stand, walk.“
(315) Am ersten April kamen noch knife, fork, spoon, saucer, tea, papa, bed, und run hinzu.
(vgl. 315)
Am fünften April endlich berichtet Anne Sullivan von dem „Wunder“: „She has learned
that everything has a name, and that the manual alphabet is the key to everything she wants to
know.“ (315) Die Ausgangssituation war, daß Helen die Substantive „mug“ und „milk“ mit dem
Verb „drink“ verwechselte. Beim morgendlichen Waschen fragte sie nun nach dem Wort
„Wasser“ (obwohl sie es laut der Liste schon gekannt haben mußte!). Anne Sullivan kam die
Idee, ihr nach dem Frühstück praktisch zu veranschaulichen, was der Unterschied zwischen den
Begriffen der Flüssigkeiten und der Handlung des Trinkens waren:
We went out to the pump-house, and I made Helen hold her mug under the spout while I
pumped. As the cold water gushed forth, filling the mug, I spelled „w-a-t-e-r“ in Helen’s
free hand. The word coming so close upon the sensation of cold water rushing over her
hand seemed to startle her. She dropped the mug and stood as one transfixed. (316)
Und hier liefert Anne Sullivan eine Beschreibung von Helens Gesicht, nachdem sie von der
Erkenntnis des Zusammenhangs von Wort und Ding durchdrungen war: „A new light came into
her face.“ (316) Das vorher beschriebene „lack of soul, or something“ ist verschwunden. Helen
buchstabiert einige Male „water“, dann zeigt sie auf den Boden und lernt das Wort für „ground“.
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In ihrem Rausch fragt sie auch, wer Anne Sullivan ist, und diese buchstabiert „Teacher“, was
fortan immer ihre Bezeichnung sein sollte. Auf dem Weg vom Brunnen zum Haus lernte Helen
dreißig neue Wörter: „Here are some of them: Door, open, shut, give, go, come, and a great
many more.“ (316) Helens soziales Verhalten hat sich durchschlagend geändert; vom nächsten
Morgen berichtet ihre Lehrerin:
Helen got up [...] like a radiant fairy. She has flitted from object to object, asking the
name of everything and kissing me for very gladness. Last night when I got in bed, she
stole into my arms of her own accord and kissed me for the first time, and I thought my
heart would burst [...]. (316)
Wenn man an die Szenen zurückdenkt, die Helen machte, wenn sie neben ihrer Lehrerin im Bett
liegen mußte, wird deutlich, daß sie jetzt ihr gegenüber eine tiefe Dankbarkeit und sogar
Zärtlichkeit empfindet, weil sie ihr das Tor zur Sprache geöffnet hat. Der Film The Miracle
Worker hört mit seiner chronologischen Berichterstattung über Helens Fortschritte bei dieser
Szene auf, während die folgenden Briefe Anne Sullivans noch darüber berichten, wie Helen
abstrakte Begriffe lernte, etc.
2 Die Presselandschaft zur Zeit Helen Kellers
Über Laura Bridgman hatten lediglich Charles Dickens in seinen „American Notes“ und die
Töchter Dr. Howes der Öffentlichkeit berichtet; ein halbes Jahrhundert später schrieb die
aufkommende Monopolpresse in spektakulärer Weise über Helen Keller. Die schlagartige
Entwicklung der Presse hängt mit dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der USA
zusammen, die als „Golden Country“ eine so starke Einwanderungswelle zu verzeichnen hatten,
daß die Bevölkerungszahl in den Jahren 1890 bis 1910 von 63 auf 94 Millionen anstieg.30
Noch
1860 genoß der New York Herald den Ruhm, die „größte Zeitung der Welt“ zu sein; er wurde
jedoch keine dreißig Jahre später von der World und dem Journal eingeholt. Die
Monopolisierung der Presse erfolgte durch Leute wie Pulitzer, Hearst und McCormick, und
damit waren auch erste Wege zur Manipulation der Öffentlichkeit geebnet worden. So soll
30
Vgl. Jaedicke 1979, 81.
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Randolph Hearst, der nach 1895 sein Presseimperium mit dreißig Massenblättern aufbaute, im
New York Journal gesagt haben: „Die Macht einer Zeitung ist die größte Kraft der Zivilisation!
Die Zeitungen bestimmen und überwachen die Gesetzgebung! Sie erklären Kriege! Die
Zeitungen kontrollieren die Nation, weil sie das Volk repräsentieren!“31
Unglaubliches ist auch
über den Konkurrenzkampf der Monopolkönige zu berichten; hierbei muß allerdings darauf
hingewiesen werden, daß die Jaedicke-Quelle aus der Ex-DDR stammt, was durch die Hetze
gegen den Kapitalismus augenfällig wird. Dafür entschädigt sie allerdings durch eine erstaunlich
kritische und zynische Berichterstattung und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die
„Kriminalität“ der kapitalistischen Presse geht:
Die „Pressezivilisation“ wies indes starke kriminelle Züge auf, das begann mit dem
Fabrizieren gefälschter Nachrichten und montierter Photos, führte über Interviews, die
das Gegenteil von dem enthielten, was gesagt worden war, bis zum bewaffneten Kampf
um den Vertrieb. Zwar konnten sich Hearst und McCormick nicht wie die Ölhaie
gegenseitig Pipelines, Schiffe und Lager sprengen, dafür ließen sie Gangsterbanden auf
den Straßenvertrieb der Konkurrenz los, wobei dann Zeitungsjungen und zufällige
Passanten auf dem Asphalt blieben.32
Die „gefälschten“ oder zumindest übertriebenen Nachrichten sollen auch bei Berichten über das
„Wunderkind“ Helen Keller noch eine große Rolle spielen. Helen Keller erfüllte alle Kriterien,
um die Sentimentalität der Massen zu schüren: sie stammte aus guter Familie, war hübsch und
bedauernswerter Weise taub und blind, hatte reiche Freunde wie Carnegie und berühmte wie
Mark Twain, und war so fleißig, daß sie mit Hilfe ihrer genialen Lehrerin eine beachtliche
Bildung erlangt hatte.
Die Boulevard-Presse pflegte jedoch neben Nachrichten über Verbrechen, neben
Enthüllungen und Indiskretionen eine Berichtsform, die sie die „menschlich interessante
Mitteilung“ nannte. Derartige Berichte waren durch ihre eigentliche Thematik kaum
neuigkeitsträchtig, warfen aber ein friedliches Licht auf bestimmte Seiten der
menschlichen Natur, dessen Schein der Leser liebte, weil es seinen Glauben an das
Menschliche wiederherstellte, den die anderen Spalten erschüttert hatten.33
Somit verpaßte die Presse der Taubblinden ein Image von „schön, strebsam, fromm und
gebildet“, mit anderen Worten „passiv und gefällig“, was sie mit zunehmendem Alter durch ihre
politischen Anschauungen und Aktionen aufs tiefste erschüttert haben muß. Nach Macys Bericht
31
a.a.O. 82. 32
Ibd. 33
a.a.O. 82/3.
Page 27
schrieb Charles Dudley Warner 1896 im Harper’s Magazine in idealisierter Weise über die
jugendliche Helen Keller:
I believe she is the purest-minded human being ever in existence. [...] The world to her is
what her own mind is. She has not even learned that exhibition on which so many pride
themselves, of ‘righteous indignation.’ [...] Her mind has neither been made effeminate
by the weak and silly literature, nor has it been vitiated by that which is suggestive of
baseness. In consequence her mind is not only vigorous, but it is pure. She is in love with
noble things, with noble thoughts, and with the characters of noble men and women.34
Auch und gerade Dr. Anagnos von der Perkins Institution erging sich in enthusiastischen
Lobpreisungen über die kleine Helen: „[...] sie ist die personifizierte Güte und Freude [...]. Von
Sünde und Übel, von Bösartigkeit und Gemeinheit, von Niedertracht und Perversion weiß sie
überhaupt nichts. Sie ist rein wie die Lilie, unschuldig wie die Vögel in der Luft oder die
Lämmer auf der Weide[...].“35
Dieses „purest-minded human being“, diese „reine Lilie“ erkannte
jedoch bald die politischen und sozialen Mißstände und begann sich dagegen zu wehren. Ihre
Reaktionen machten Furore. Besonders Helen Kellers sozialistischer „Sinneswandel“ muß ihr
Publikum schockiert haben; vor allem in einer Zeit, in der die paranoiden Säuberungsaktionen
McCarthys die USA überrollten. Wie Helen Keller Jahre später selbst beschreibt, teilte sie sich
mit dem Fußball, Mr. Roosevelt und dem New-Yorker Polizeiskandal die erste Seite der Zeitung:
„Diese Zusammenstellung macht mich durchaus nicht glücklich [...].“ (Wie ich Sozialistin wurde
5) Man kann verfolgen, wie die verschiedenen Blätter sich bekämpfen: die sozialistische Zeitung
Call kündigte an, Helen Keller würde vor dem Labor Forum an der Washington Irving High
School in New York eine Rede halten, in der sie für einen Generalstreik zur schnellsten
Beendigung des Krieges eintrete. „This was too much for the Sun, which deplored the use of a
school auditorium for such advocacy.“36
Zweitausend begeisterte Zuhörer hatten sich
eingefunden, und tags darauf konnte man in der Zeitung einen verständnisvollen Bericht lesen,
der Helen Kellers Aktion rechtfertigte:
Nobody can have the heart to criticize poor little Helen Keller [said the New York Herald
the following morning] for talking when opportunity offers. Talking is to her a newly
discovered art, and it matters not if she does talk of things concerning which she knows
nothing, could not possibly know anything. [sic!]
But why should the so-called Labor Forum be permitted to use the pathos of her
personality to promote a propaganda of disloyalty and anarchy?
34
The Story of my Life. Part III. Chapter II: „Personality“, 294. 35
Macdonald 1992, 28. 36
Lash 1980, 413.
Page 28
And what right has the Board of Education to turn over one of this city’s school
buildings for the purposes of such propaganda?37
Hier wird „poor little Helen Keller“ total entmündigt als Opfer einer politischen
Propagandakampagne dargestellt, die das Pathos ihrer Persönlichkeit für ihre anarchistischen
Zwecke ausnutzt. Die Zeitung behandelt sie wie ein kleines Kind (sie hatte die Dreißig bereits
überschritten!), das um des reinen Sprechakts willen eine Rede hält („talking is to her a newly
discovered art“), und das nicht weiß, wovon es redet. Sie ist ja auch eine Frau, zudem noch eine
taubblinde, wie soll sie da Ahnung vom politischen Geschehen haben, oder gar eine
eigenständige politische Meinung. Damit drückt die Zeitung eine zu der Zeit weit verbreitete
Meinung aus.
Auch ihre Beziehungen zu großen Industriemagnaten wurden von der Presse
ausgeschlachtet, besonders, wenn es um Pazifismus ging; so z.B. als Henry Ford an die hundert
führende amerikanische Persönlichkeiten auf sein „peace ship“ Oscar II einlud, damit sie sich
mit führenden Europäern treffen und über ein Friedensabkommen beraten konnten. Trotz der
Gegendarstellung der Presse ging Helen Keller nicht mit auf den „Ford Peace Trip“38
, und
dennoch fand sich im Life magazine eine herabwürdigende Äußerung über sie:
Perhaps as a blind leader of the blind Helen belonged with Henry’s crew. Peace-making
is a blind business; so is war-making. Helen and Henry are two very kind hearts,
imperfectly equipped to see the whole of life. Henry called his expedition a crusade, and
there was one crusade in which ten thousand virgins were enlisted, but they did not get to
the Holy City.39
Auch das Life magazine nimmt falsche Rücksicht auf Helen Keller („[she’s a] very kind heart“),
und sieht ihre Blindheit als Entschuldigung für ihre „fehlgeleitete“ politische Haltung. Sie sei
nicht mit genügend Sinnen ausgestattet, um das ganze Leben wahrzunehmen. Deshalb seien ihre
Friedensbemühungen idealistisch und vergebens, und das Life magazine drückt mittles einer
Allusion auf die Bibel herablassend aus, sie gleiche einer törichten Jungfrau.
Helen Keller kam noch im Zuge einer anderen prekären Streitfrage in die Zeitung: der
Situation der Farbigen in den Südstaaten. Inmitten ihrer konservativ eingestellten Familie konnte
sie dieses Thema nicht anschneiden, doch im Jahre 1916 schickte sie einen Hundertdollarscheck
an den Vizepräsidenten der National Association for the Advancement of Colored People mit
37
Lash 1980, 413/4. 38
a.a.O. 412. 39
a.a.O. 418.
Page 29
einem Begleitbrief, der ihre Gesinnung deutlich zu verstehen gab. Sie schrieb darin, „[...] The
outrages against the colored people are a denial of Christ. The central fire of His teaching is
equality. [...] the souls of all men are alike before God. [...]“40
Sie lobt die Association für ihre
Arbeit gegen „the unfair treatment of the colored people“, und drückt ihre Scham aus, daß ihr
geliebter Süden ökonomisch profitiert von „those who must bring up their sons and daughters in
bondage to be servants, because others have their fields and vineyards, and on the side of the
oppressor is power“.41
DuBois ließ ihren Brief in The Crisis drucken, die für den NAACP
herausgegeben wurde, und sofort erfolgte ein Angriff auf Helen Kellers humanitäre Darstellung:
[...] someone signing himself „Alabamian“ paid to have the article reprinted in The Selma
Journal. [...] „Alabamian“ charged Helen with advocacy of social equality of whites and
Negroes, of defamation of her own people, and charged her teacher with having
indoctrinated her with such disloyal notions: „The people who did such wonderful work
in training Miss Keller must have belonged to the old Abolition Gang for they seem to
have thoroughly poisoned her mind against her own people.“ The Selma Journal
sympathized with „Alabamian“ editorially and described Helen’s letter as „full of
untruths, full of fawning and bootlicking phrases.“42
Der Vorwurf, Helen Kellers Erzieher hätten der armen, hilflosen Schülerin ihre politischen
Ideologien einfiltriert, ist bei gewissen Zeitungen verbreitet gewesen. In diesem Fall nun wurde
Helen Keller von ihrer Mutter bestürmt, ihre Position zu erklären und gegebenenfalls zu
mäßigen. Sie schrieb ihrer Mutter, sie sähe keine Rechtfertigung für die Beschuldigung des
Herausgebers, sie hätte die Gleichheit von Farbigen und Weißen propagiert: „The equality I
advocated in my letter is the equality of all men before the law. [...]“43
, und ihre Mutter leitete
den Brief an die Zeitung weiter. Helen Keller fand einen Verteidiger, der sich „Justice“ nannte
und in The Selma Journal eine Gegendarstellung veröffentlichte:
[„Justice“ defended her] as an „Alabama woman honored all over the world“ who was
wrongfully being charged with „statements of disloyalty to the South and to the integrity
of Southern institutions. [...] The junta who have sought to make capital against woman’s
suffrage by making an heroic stand for white supremacy, alleging that Miss Keller, or
somebody else wants to break down racial differences, will not be able to get off with the
‘goods.’“44
40
Lash 1980, 444. 41
Ibd. 42
Ibd. 43
Lash 1980, 444. 44
a.a.O. 445.
Page 30
Dieses ganze Hin und Her mit Leserbrief und Gegendarstellung beweist, daß Helen Keller für
ihre Zeit eine sehr fortschrittliche und radikale Meinung hatte, die den konservativen
Auffassungen vieler Leser und Zeitungen / Zeitschriften widersprach. Nicht nur ihr Engagement
für die Arbeiter, die Frauen und die Farbigen, sondern ebenso ihr Einsatz für Geburtenkontrolle
dürfte für manchen Leser ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Ebenso machte Helen Keller
Schlagzeilen, als sie sich über ein „Tabuthema“ echauffiert: die medizinische Wissenschaft war
darauf gestoßen, daß viele Neugeborene mit einer Augeninfektion (ophthalmia neonatorum) zur
Welt kamen, die durch Geschlechtsverkehr übertragen wurde und unbehandelt zur Erblindung
führt. Dies könnte verhindert werden durch ein Einreiben der Augen der Neugeborenen mit
Silbernitrat, aber die Ärzte machten diese Möglichkeit nicht publik, da man ungern zugab, daß
„anständige“ Mütter Krankheiten haben könnten, die durch Geschlechtsverkehr übertragen
werden. Helen Keller verurteilte dieses falsche Schamgefühl so oft in hohen Kreisen, ihren
Büchern und in der Öffentlichkeit, bis sie Anhörung fand. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt ein
Artikel, den sie im Kansas City Star über dieses Thema veröffentlichte; der Herausgeber soll zu
ihr gesagt haben: „We felt it was the most interesting thing we had in the paper today and so we
printed it on the first page“.45
Durch solche Aktionen wehrte sie sich gegen das ihr von der
Presse verpaßte Label -- paradoxerweise war es hier wieder eine Zeitung, die durch das
progressive, revolutionäre Bild, das sie von Helen Keller vermittelte, ihrem verklärten Image
entgegenwirkte.
Abgesehen von dem Presserummel um Helen Kellers soziale und politische Ansichten
gab es natürlich auch genügend Klatsch über ihr Privatleben. Soweit aus den insgesamt hier
vorliegenden Quellen ersichtlich, hat sie sich nur einmal eine Liebesaffäre geleistet. Dies muß
auf die Öffentlichkeit einen ähnlich sensationellen Reiz ausgeübt haben wie Skandale um das
Englische Königshaus oder den Amerikanischen Präsidenten. Bereits als ihre Lehrerin John
Macy heiratete, lauteten die Schlagzeilen:
„Helen Keller ALMOST Married!“46
Das rhetorisch geschickte „almost“ ist keine Lüge der Presse, denn es drückt ja nur eine nicht
eingetroffene Möglichkeit und keine Tatsache aus. Es fällt dem Leser sofort ins Auge (nicht nur
durch die Großbuchstaben), da er sich fragen muß, wer denn beinahe die berühmte Taubblinde
45
a.a.O. 398. 46
Vgl. Lash 1980, 317.
Page 31
geheiratet hätte, eine Tatsache, die an sich schon vielen ungeheuerlich erscheinen mag. Der
Artikel endete mit Bezug auf das Gerücht einer Romanze zwischen John Macy und Helen Keller:
„Persons who saw his indefatigable attentions to the twain believed that they saw the budding of
a romance for the blind girl. And it is her romance, a happier romance than that of Nydia, the
blind girl in The Last Days of Pompeii.“47
Die zentrale Aussage entkräftet jedoch jeglichen
Verdacht: „It is not given to any one else to be so important a third, to be as nearly engaged and
married as Helen Keller.“48
Nach dieser Irreführung nun verliebte sich Helen Keller 1916 wirklich in ihren jungen
Sekretär Peter Fagan: „[...] a story appeared in that morning’s Boston Globe reporting that Peter
Fagan had indeed applied for a license to wed Miss Keller. It emanated from the office of the
City Registrar [...].“49
Ihre Mutter war entsetzt und stellte ihre sechsunddreißigjährige Tochter
zur Rede: „What have you been doing with that creature? The papers are full of a dreadful story
about you and him.“ (Midstream 180) Um des lieben Friedens willen stritt Helen Keller alles ab;
ebenso ihr Freund: „The papers were filled with denials. Peter Fagan denied he had ever been to
City Hall, not to mention applying for a license. He was engaged to another girl, he insisted,
whom he refused to name. [...]“50
Anne Sullivans Anwalt fand, man bräuchte noch eine
schriftliche Widerlegung von Helen Keller persönlich, die diese dann auch schrieb, und ihre
Lehrerin (die erkrankt war und vor der die Geschichte geheimgehalten worden war, so daß sie sie
ohnehin nicht glaubte) unterstützte sie: „Annie in a formal statement to the press called the story
„an abominable falsehood.“51
Leider war die Presse nicht so leicht zu überlisten, denn die
standesamtlich geleisteten Unterschriften der beiden konnten nicht mehr rückgängig gemacht
werden. So konnte die New York Times ihrer die Sache atemlos verfolgenden Leserschaft
triumphierend berichten: „One part of the document [...] was filled in with a peculiar print-like
writing, resembling that of a blind person. Mr. Fagan’s name was signed to the paper.“52
Das
Schlimmste aber war, daß die Presse durch ihre durchsickernden Vermutungen ein dramatisches
„Kidnapping“ Helens durch Peter Fagan verhinderte -- die Times berichtet weiter, ein anonymer
Informant wüßte bescheid, daß Fagan seine Heiratsabsichten nicht aufgegeben hätte: „‘Fagan
47
Ibd. 48
Ibd. 49
a.a.O. 432. 50
Lash 1980, 432.. 51
a.a.O. 433. 52
Lash 1980, 433.
Page 32
told me all his troubles,’ said the anonymous informant. ‘He told me that denials were necessary
in order to soothe Mrs. Macy’s feelings. Fagan told me he was going to marry Miss Keller, and I
know that he consulted a lawyer about the marriage laws in the Southern States through which
they were to travel.’“53
Helen Keller und ihre Mutter hatten vor, mit dem Schiff bis Savannah zu
fahren und von dort den Zug nach Montgomery zu nehmen, um nach Alabama zurückzukehren.
Gewarnt durch die Gerüchte änderte ihre Mutter jedoch die Reiseroute, und Peter Fagan befand
sich allein auf dem Schiff. Er und Helen hatten geplant, daß er sie auf dem Weg vom Hafen zum
Zug entführen und nach Florida bringen sollte, wo ein befreundeter Pfarrer sie vermählen würde.
An diesem Fall kann man sehen, wie die Presse mit Geheimnissen aus dem Privatleben
berühmter Leute umspringt. Aus Rücksicht auf ihre Familienangehörigen gab Helen Keller den
Gedanken an eine Heirat auf, und mehr als zehn Jahre später schreibt sie in einer traurigen
Metapher: „The brief love will remain in my life, a little island of joy surrounded by dark
waters.“ (Midstream 182)
Auch Helen Kellers Bekannschaft mit literarischen Persönlichkeiten wurde von der
Presse weidlich ausgenutzt. Als George Bernard Shaw Helen Keller bei Lady Astor in Cliveden,
England, kennenlernte, stachelte die Presse die Empörung der Öffentlichkeit an durch die
Behauptung, er habe Helen beleidigt. Prompt erschien am 20.4.1933 ein Interview im The Daily
Herald mit seiner Gegendarstellung:
„They accused me of having insulted Helen Keller. How absurd,“ and Shaw leaned
forward in his evident distress. “I remember meeting her in London [...]. Conversation
was difficult, as you would suppose, considering that she is both blind and deaf and
everything has to be spelt out by someone else on her fingers. She “sees“ you by feeling
your face. It was rather embarrassing. It would have been in the worst possible taste to
ignore her condition. I remarked, by way of a compliment, that she was wonderful, and
added, jokingly, that she could see and hear better that her countrymen, who could neither
see nor hear.“
[...]“Someone takes a joking remark meant in all kindness and says I insulted Helen
Keller by saying, “Oh, all Americans are deaf and blind and dumb anyway“. I tell you I
have been misquoted everywhere, and the inaccuracies are chasing me round the
world.“54
Von G. B. Shaw ist bekannt, daß er die Presse nach Möglichkeit floh, denn „[t]he press coverage
trailing behind his world pilgrimage had been growing chaotic. [...] The country [America] was a
53
Ibd. 54
Ervine 1956, 531/2.
Page 33
vast Hot Air Volcano spouting superlatives -- or so it looked to Shaw [...].“55
Helen Keller
schien seinen Ausspruch übrigens nicht allzu persönlich genommen haben, denn sie hatte im
Gespräch bereits ein „Bild“ von ihm gewonnen: „Mrs. Macy’s hand gave me the inflection of his
voice, which implied that Americans could never rise to the level of his contempt.“56
Als Lady
Astor vermittelnd eingreifen wollte und ihr versicherte, Shaw sei einer der freundlichsten Herren
überhaupt, konterte sie: „I am glad to believe as you do that Mr. Shaw ‘is one of the kindest men
that ever lived.’ I know he is one of the greatest, but in all fairness I think you will grant that he
was not particularly gracious to me that afternoon.“57
Vom Tode Helen Kellers im Jahr 1968 nahm die amerikanische Presse übrigens kaum
Notiz: „Die Nachricht wurde mit geringer Sorgfalt redigiert, was man daraus ersehen kann, daß
die Presseagenturen drei verschiedene Todestage angaben: den 31. Mai, den 1. und den 3. Juni.
Die Korrektur erfolgte stillschweigend auf den 1. Juni.“58
Das offenkundige Desinteresse hängt
mit den Zeitumständen zusammen; die Zeitungen hatten Wichtigeres zu berichten. Am fünften
Juni erfolgte der Todesschuß auf Senator Robert Kennedy durch den Jordanier Sirhan B. Sirhan.
Hauptthema waren außerdem der Vietnamkrieg und der immer größer werdende
Massenwiderstand, der zur Brutalisierung des öffentlichen Lebens beitrug. Präsident Lyndon B.
Johnson wurde in Massenpetitionen aufgerufen, den privaten Waffenbesitz zu kontrollieren und
den freien Verkauf einzustellen. Solcher Art waren die Berichte, mit denen der USA-Bürger
konfrontiert wurde. Helen Keller stand nicht mehr im Rampenlicht.
Die Nekrologe in den großen Zeitungen und Zeitschriften hielten sich im 30-Zeilen-
Rahmen und berichteten das, was im Gedächtnis der Nation über Helen Keller
haftengeblieben war -- die Kindheit, Anne Sullivan, die Hochschulbildung, danach als
buchstäblich letzte Zeile ihre Mitarbeit in der Amerikanischen Stiftung für die Blinden.
Trotz lebenslanger Bemühungen und intensiven Einsatzes auf mehreren Gebieten war sie
ein amerikanisches Wunderkind und die erste graduierte Taubblinde der Welt
geblieben.59
55
Holroyd 1991, 308. 56
Lash 1980, 597. 57
a.a.O. 598. 58
Jaedicke 1979, 218. 59
a.a.O. 218.
Page 34
3 Emotiv überhöhtes Vokabular in Zeitungsartikeln
Im folgenden soll untersucht werden, wie die Presse durch ihren emotionsgefärbten Sprachstil
die Tatsachen, die Helen Kellers Erziehung und Ausbildung betreffen, verfälscht hat. Dabei
handelt es sich um indirekte Zitate, d.h. um bereits von Helen Kellers Lehrerin oder ihren
Freunden kommentierte Zeitungsausschnitte, da die Originale heute nur sehr schwer aufzutreiben
sind. Auf diese Weise lassen sich allerdings auch sehr gut die Reaktionen der Betroffenen sowie
deren Gegendarstellungen demonstrieren. Vor allem die rhetorisch meisterhaften Gegenangriffe
Anne Sullivans sind hier von Bedeutung.
Die Probleme mit der Sensationsgier der Presse setzten bereits wenige Wochen nach
dem Beginn des Unterrichts durch Anne Sullivan ein; dabei ist zu beobachten, daß sich das
„Wunder“ für die Journalisten offensichtlich nicht schnell genug vollzog und sie durch
aufgebauschte Berichte ihr Publikum in Atem zu halten versuchten. Helen Kellers Lehrerin
bemühte sich mit aller Kraft, eine solche Publicity zu vermeiden, ihre Berichte und Briefe über
Helen geheimzuhalten60
und sich in ihren öffentlichen Stellungnahmen so sachlich wie möglich
auszudrücken. Trotzdem schafften verschiedene Zeitungen und Zeitschriften es immer wieder,
ihre Worte zu verdrehen und die Leserschaft mit Wundermeldungen zu überschütten. Dazu
beigetragen hat vor allem Michael Anagnos, der Direktor der Perkins Institution for the Blind,
der sich so blumig und wortreich ausdrückte, daß sich die Presse begeistert auf seine Aussprüche
stürzte. Seine Rhetorik verdient eine genauere Untersuchung. Schlichtheit war nicht seine Sache.
In einem Brief an Anne Sullivan schreibt er:
Dear Annie, I am aware of the many difficulties of your position and of the thorns which
are scattered on your pathway [...]. [...] Look steady at the polar star of your work, and I
have not the slightest doubt but that you will weather all storms and reach the port of
success. [...] Then the crown will be yours as the prize of victory.61
Trotz ihres beschwerlichen Weges, auf den „Dornen gesät sind“, soll Anne den „Polarstern“
ihres Unterfangens ständig vor Augen behalten. Die Sterne galten nicht nur bei den Seefahrern
60
So findet man in einem ihrer Briefe an Mrs. Hopkins die Bemerkung: „She is no ordinary child, and
people’s interest in her education will be no ordinary interest. Therefore let us be exceedingly careful what
we say and write about her. I shall write freely to you and tell you everything, on one condition. It is this:
you must promise never to show my letters to anyone. My beautiful Helen shall not be transformed into a
prodigy if I can help it.“ (Braddy 1934, 140.)
61
Braddy 1934, 133.
Page 35
und in der Bibel als Wegweiser, und Anagnos will mit diesem Symbol ausdrücken, daß die junge
Lehrerin, wenn sie ihrer Berufung treu bliebe, den „Hafen des Erfolges“ erreichen würde. Der
Hafen ist ein Symbol des Ziels, der Sicherheit und der Geborgenheit. Die Substantivierung
„weather all storms“ schildert lebhaft Dr. Anagnos’ Vertrauen in die Durchsetzungskraft Anne
Sullivans, die allen Stürmen trotzen wird. Am Ende wird ihr die Siegeskrone aufgesetzt. Dieses
Herrschaftssymbol steht für Erfolg. Es wird erkenntlich, daß der Direktor der Blindenanstalt sich
nicht nur in veröffentlichten Berichten, sondern auch in privaten Briefen so geschwollen
ausdrückte.
In seinem Jahresbericht, der im September 1889 erschien, informierte Dr. Anagnos die
Öffentlichkeit nicht nur über Helens Fortschritte, sondern auch über die Hintergründe ihrer
Lehrerin. Er war zu taktvoll, um ihre Kindheit im Armenhaus von Tewksbury zu verraten;
deshalb verschleierte er ihre Vergangenheit in einem mitleidheischenden Erguß von Metaphern.
„The circumstances of her early life were very inauspicious,“ he wrote. „She was neither
rocked in a cradle lined with satin and supplied with down cushions, nor brought up on
the lap of luxury. [...]“ But, he declared, the furnace of hardships through which she had
passed had freed the pure gold of her nature from all dross. He spoke of her „iron will
hammered out upon the anvil of misfortune,“ of the depth, steadfastness, and beauty of
her character, and of her industry, perseverance, and resolution. „And now she stands by
his [Dr. Howe’s] side as his worthy successor in one of the most cherished branches of
his work ... in breadth of intellect, in opulence of mental power, in fertility of resource, in
originality of device and practical sagacity she stands in the front rank.“62
Um ihre Armut zu verdeutlichen, verwendet Dr. Anagnos ein Bild, wie reiche Kinder
aufgezogen werden („rocked in a cradle lined with satin and supplied with down cushions“).
Anne Sullivan hat weder mütterliche Zärtlichkeit („rocked“) noch ein feines Leben gekannt, was
die Alliteration „lap of luxury“ unterstreicht. „Lap of luxury“ ist gleichzeitig eine Metapher, die
an den Schoß der Mutter erinnert und Gefühle von Umsorgtsein und Geborgenheit vermittelt.
Die folgende interessante Metapher ist aus dem technischen Bereich genommen und verwendet
Vokabular über Hochöfen und Schmelze. „The furnace63
of hardships through which she had
passed had freed the pure gold of her nature from all dross64
“ soll bedeuten, daß Anne Sullivans
62
Braddy 1934, 141/2. 63
„furnace“: an enclosed structure in which heat is produced (as for [...] reducing ore). (Merriam-Webster’s
Collegiate Dictionary. Tenth Edition. Springfield, Massachusetts, U.S.A.: Merriam-Webster, Incorporated,
1996. 474.)
64
„dross“: the scum that forms on the surface of molten metal. (a.a.O. 355.)
Page 36
hartes Leben wie ein Schmelzvorgang war, durch den das reine Gold ihres Charakters von der
Schlacke gereinigt wurde. In der Tat ist aus Nella Braddys Biographie ersichtlich, daß die junge
Irin, als sie vom Armenhaus zur Perkins Institution kam, äußerst unbeherrscht sowie
gefühlsmäßig, intellektuell und materiell vernachlässigt war. Sie ist jedoch durch ihre
unglückliche Vergangenheit „geläutert“ worden, und ihr goldenes Herz kam durch ihre Arbeit
mit Helen Keller zum Vorschein.
Die Metapher „her iron will was hammered out upon the anvil65
of misfortune“
veranschaulicht, daß auf dem Amboß des Unglücks ihr eiserner Wille herausgehämmert worden
ist, d.h. daß Anne Sullivan nach vielen Leiden einen festen Charakter und klare
Zielvorstellungen entwickelt hat. Das Verb „to hammer out“ impliziert, daß Gewalt und Kraft
angewandt worden sind und die Zeitgenossen nicht gerade sanft und rücksichtsvoll mit Anne
umgegangen sind. Die Symbole der Metalle „Gold“ und „Eisen“ stehen für die Adjektive „edel“
und „fest“.
Nach einer hochtrabenden Aufzählung von Anne Sullivans Charaktereigenschaften folgt
eine weitere in Form eines Parallelismus’: „in breadth of intellect, in opulence of mental power,
in fertility of resource, in originality of device and practical sagacity“. Sie beschreibt Anne
Sullivans geistige Eigenschaften, wobei mindestens einige der überschwenglichen Begriffe
redundant, da synonym sind. Auch diese Aufzählung ist, wie die meisten Äußerungen Dr.
Anagnos’, eine Hyperbel. Nachdem im ersten Teil des Zitats die Sentimentalität und das
Mitgefühl der Leser angesprochen wurden, wird im Schlußsatz Anne Sullivans Position
gewertet: als „worthy successor“ Dr. Howes nimmt Anne den Platz an seiner Seite ein. Die
Klimax „one of the most cherished branches of his work“ ist eine Übertreibung, da zu jener Zeit
noch relativ wenig für die Erziehung Taubblinder getan wurde und Dr. Howes Erziehungssystem
noch in den Kinderschuhen steckte.
Dr. Anagnos schien keine allzu klare Vorstellung von der Art und Weise gehabt zu
haben, wie Helen die Sprache erlernte. Anstatt auf die mühsame Arbeit der Lehrerin
hinzuweisen, tut er so, als hätte Helen aus eigener Kraft dieses Wunder vollbracht:
So far as he was concerned, she had instinctively snatched the key to the treasury of the
English language from the fingers of her teacher and unlocked its doors practically by
herself. „As soon as a slight crevice was opened in the outer wall of their twofold
imprisonment, her mental faculties emerged full-armed from their living tomb as Pallas
65
„anvil“: a heavy usu. steel-faced iron block on which metal is shaped (as by hand hammering). (a.a.O. 53.)
Page 37
Athene sprang from the head of Zeus.“ [...] „It is no hyperbole,“ he declared, „to say that
she is an intellectual phenomenon.“66
Sein ganzer Stolz drückt sich in der Metapher aus, daß Helen ihrer Lehrerin aus eigenem Instinkt
den Schlüssel zur „Schatzgrube der englischen Sprache“ entrissen und sich praktisch aus eigener
Kraft Eintritt verschafft habe. Durch das Verb „snatched from“ spricht Anagnos Helen mehr
Eigenantrieb zu, als ihr in Wirklichkeit zusteht, denn wie bereits gesehen mußte sie oft
gezwungen werden, die Zeichen des Fingeralphabets zu machen, und nicht selten schlug sie nach
ihrer Lehrerin.
Im folgenden verwendet Anagnos eine Metapher aus dem Bereich Gefängnis und Flucht:
sobald sich ein kleiner Spalt in der doppelten Kerkermauer aufgetan habe, sei ihr Geist
vollausgebildet aus seinem lebendigen Grabe entwichen. Eigentlich hätte es „threefold“ heißen
müssen, denn Helen Keller war zu der Zeit noch „deaf, blind, and dumb“. Die Hyperbel „full-
armed“ widerspricht Helen Kellers eigener Darstellung, sie sei ein „Phantom“ gewesen und habe
außer einigen Tasteindrücken nichts von der Außenwelt gewußt.
Schließlich führt Anagnos einen Vergleich aus der griechischen Mythologie an (derer er
sich häufiger bedient; er ist ja selbst Grieche und stolz auf seine ruhmreiche Geschichte): „as
Pallas Athene sprang from the head of Zeus“. Die Übertragung der Geburt der griechischen
Göttin der Weisheit auf Helen Kellers geistiges Erwachen muß für die Zeitungsleute sensationell
gewirkt haben. Durch Anagnos’ ausschweifende Metaphorik ist in den Zeitungen viel
Verwirrung angestiftet worden, da die Fakten über Helen Keller erst die Verschönerung von
Seiten des Direktors und dann noch die Aufmöbelung durch die Journalisten durchmachen
mußten, bis sie gar nicht mehr zu erkennen waren, wenn sie an die Öffentlichkeit gelangten.
Wenn Anagnos sagt, „it is no hyperbole to say that she is an intellectual phenomenon“, so ist
dies ein Paradoxon, denn seine Worte sind genau das -- eine Übertreibung.
Auch im folgenden Zitat wird deutlich, daß er Helens Errungenschaft als ihre eigene
Leistung betrachtet:
[...] Helen’s mind seems almost to have created itself, springing up under every
disadvantage, and working its solitary but resistless way through a thousand obstacles.“
She is a marvel, an intellectual prodigy, in every sense a remarkable person, „the finest
illustration of concentrated, unselfish, whole-souled devotion that childhood has ever
66
Braddy 1934, 142.
Page 38
offered to the vision of men or that of the gods,“ her life is „as perfect as a poem, as pure
and sweet as a strain of music.“67
„Helen’s mind“ wird hierbei personifiziert und bekommt extraordinäre Handlungen
zugeschrieben („created itself, springing up under every disadvantage, working its solitary
way“). Man kann dagegenhalten, daß Helens Weg nie „solitary“ gewesen ist, denn ihre Lehrerin
war von 1887 bis zu ihrem Tod 1936, d.h. ca. fünfzig Jahre lang praktisch ununterbrochen bei
ihr. Die von der Presse vielfach aufgegriffenen enthusiastischen Bezeichnungen für Helen,
„marvel“, „intellectual prodigy“ usw. haben viel zur Skepsis mancher Zeitgenossen beigetragen.
Der Superlativ „finest illustration“ soll Helens Ausnahmestellung kennzeichnen. Emotiv
überladen ist auch Helens „whole-souled“68
devotion, die wohl am ehesten mit natürlicher
kindlicher Anghänglichkeit wiedergegeben werden kann. Eine Klimax („ever offered to the
vision of men or that of the gods“) soll darstellen, daß selbst die Götter sprachlos sind vor
Staunen. Schließlich verwendet Anagnos Vergleiche aus den Bereichen Dichtung und Musik: ihr
Leben sei „as perfect as a poem“ und „as pure and sweet as a strain of music“. Hier ging ihm
endgültig der Realitätssinn verloren.
In einer weiteren Hyperbel über Helen Kellers Intelligenz und Wortgewandtheit
vergleicht Anagnos sein kleines Wunderkind mit den berühmten englischen Dichtern
Wordsworth und Keats; er steigert sich noch, indem er Helen ein „Emersonisches Wesen“
zuschreibt und sie mit Aristoteles vergleicht. Ja, er nennt sie sogar die wahre Tochter einer
Göttin, die die Mutter der Musen ist.
“She is the queen of precocious and brilliant children, Emersonian in temper, most
exquisitely organized, with intellectual sight of unsurpassed sharpness and infinite reach,
a true daughter of Mnemosyne69
.“ She is like Wordsworth, like Keats, like Galen70
, like
Aristotle -- „Reason is her sun.“71
67
Braddy 1934, 160. 68
„whole-souled“: (1834): moved by ardent enthusiasm or single-minded devotion (Merriam-Webster’s
Collegiate Dictionary. Tenth edition. Springfield, Massachusetts, U.S.A.: Merriam-Webster, Incorporated,
1996. 1351)
69
„Mnemosyne“: the Greek goddess of memory and mother of the Muses by Zeus. (Merriam-Bebster’s
Collegiate Dictionary. Tenth edition. Springfield, Massachusetts, U.S.A.: Merriam-Webster, Incorporated,
1996. 746.)
70
Galen: Greek physician and writer. 71
Braddy 1934, 160.
Page 39
In seiner emotionsgeladenen Charakterisierung stellt Dr. Anagnos Helen als die „Königin“ der
frühreifen Kinder dar. Durch die höchste Steigerungsform des Verbs („most exquisitely“) bzw.
durch die Präfixe der Adjektive „unsurpassed“ und „infinite“ wird ebenfalls sein unangebrachter
Enthusiasmus deutlich. Als Helen mühsam die Lautsprache lernte, schwärmte der Direktor der
Perkins Institution:
As for her speech, „verily her articulation is well-nigh perfect. She unloosed her tongue ...
and angels “forgot their hymns to hear her speak.“ [...] As for her writings, they “sparkle
with perfect crystallizations of fancy’s blossoms, which are sometimes huddled in
clusters upon the blazing page.“72
Die Beurteilung von Helens Sprache als „perfekt“ ist eine glatte Lüge; sie selbst und Anne
Sullivan waren Zeit ihres Lebens nicht zufrieden mit dem Erreichten.73
Auch das „well-nigh“
schwächt seine Einschätzung kaum ab. Dr. Anagnos konnte sich einer weiteren Metapher aus der
Götterwelt, diesmal aus dem christlichen Glauben, nicht enthalten: Engel vergäßen ihre Hymnen,
um Helen Keller sprechen zu hören. Eine Hyperbel ist auch die folgende Metapher: „Her
writings sparkle with perfect crystallizations of fancy’s blossoms, which are sometimes huddled
in clusters upon the blazing page“, die schon fast unübersetzbar ist: Ihr Geschriebenes sprüht vor
vollkommener Herauskristallisierung der Blüten des Verstandes, die manchmal dichtgedrängt
wie Trauben die lodernden Seiten füllen. „Huddled in clusters“ ist eine quantitative
Übertreibung, denn so vieler geistreicher Bemerkungen oder Stilfiguren auf einer Seite war die
damals Elfjährige noch gar nicht fähig. Die Wortwahl „blazing“ und „sparkle“ ist ebenfalls
emotional gefärbt; das Symbol des Feuers soll ausdrücken, daß Helen vor Verstand förmlich
sprühte.
Als Helen und ihre Lehrerin einen Empfang im Blindenkindergarten gaben, auf dem sie
ihren Gästen den kleinen Tommy Stringer, ein taubblindes Kind, für dessen Erziehung Helen
72
Braddy 1934, 160. 73
So berichtet Nella Braddy: „It was her [Anne Sullivan’s] aim and Helen’s to have Helen talk like a normal
person, and this is the only one of their many heroic undertakings in which they have confessed defeat. It is
no secret that Helen’s voice is the great disappointment of her life. She and her teacher have laboured with
it incessantly for more than forty years, but they have never made it normal. To those who are accustomed
to it, it is easy to understand and not unpleasant to hear, rather like listening to someone with a queer
foreign accent. But strangers, as a rule, do not find it easy to follow.“ (Braddy 1934, 151)
Die Übertreibung wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß Dr. Anagnos bereits über den
Perfektionismus der Sprache des Kindes redet, während Braddy die immer noch vorherrschende
Unzulänglichkeit der Sprache der reifen Frau Helen Keller betont.
Page 40
Sponsoren gefunden hatte, vorstellten, konnte man kurz darauf einen enthusiastischen Bericht
lesen.
Helen spoke in Tommy’s behalf -- „with unsurpassed fluency and fervour,“ wrote Mr.
Anagnos, „and her listeners were entranced and moved to tears ... It is hardly possible to
describe adequately the tremendous effect of Helen’s appeal. It was as though some
wizard of the olden time had cast his spell over the assembly.“74
Daß das Publikum zu Tränen gerührt war, geschah häufig bei Ansprachen Helen Kellers, aber
eher aus Mitleid und Schockierung über ihr mühevolles Artikulieren als vor Staunen über ihr
„fließendes“ Sprechen. Der Vergleich „als ob ein Zauberer aus alten Zeiten die Versammelten
verhext hätte“ soll die Entrücktheit und Faszination der Zuhörer darstellen.
Es ist nicht verwunderlich, daß die Presse Dr. Anagnos’ Aussprüche begeistert aufnahm.
Die daraus entstehende ununterbrochene Verbreitung von Halbwahrheiten und Unwahrheiten
über ihre Schülerin veranlaßte Anne Sullivan, über Helen Keller keinen wissenschaftlichen,
tagebuchgenauen Bericht anzufertigen, wie er über Laura Bridgman existierte; eine bedauerliche
Reaktion für Sprachforscher und Psychologen. Dies kann unterlegt werden mit einer Bestätigung
John Macys: „... she was early discouraged from publishing data by the inaccurate use made of
what she at first supplied.“75
Als Anne Sullivan ihren ersten Bericht über ihre Arbeit mit Helen
Keller an Anagnos gesendet hatte, veröffentlichte der Boston Herald eine haushoch übertriebene
Schilderung des Falles. Am zehnten April 1887, nur fünf Wochen nachdem sie angefangen hatte,
Helen Keller zu unterrichten, beklagte sich Anne Sullivan in einem persönlichen Brief:
--- sent me a Boston Herald containing a stupid article about Helen. How perfectly
absurd to say that Helen is „already talking fluently!“ Why, one might just as well
say that a two-year-old child converses fluently when he says „apple give,“ or „baby
walk go.“ I suppose if you included his screaming, crowing, whimpering, grunting,
squalling, with occasional kicks, in his conversation, it might be regarded as fluent --
even eloquent. Then it is amusing to read of the elaborate preparation I underwent to
fit me for the great task my friends entrusted to me. I am sorry that preparation didn’t
include spelling, it would have saved me such a lot of trouble.“ (ibid. 299)
Anhand dieser Stellungnahme kann man sehr schön Anne Sullivans stilistische Gewandtheit
erkennen, vor allem ihren Sarkasmus, der besonders in der Steigerung von „fluent“ zu
„eloquent“ hervorsticht. Ironisch ist auch ihre Aufzählung „screaming, crowing, whimpering,...
74
Braddy 1934, 164. 75
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 299.
Page 41
with occasional kicks“; in der Tat hatte es vieler Anläufe bedurft, die wilde ungezügelte Helen,
die bei Wutausbrüchen um sich schlug, zu bändigen. Die maßlose Übertreibung der Presse
„already talking fluently“ wird durch einen geschickten Vergleich mit einem zweijährigen Kind
widerlegt, dessen Sprachfertigkeit sich auf Satzbrocken wie „apple give“ beschränkt und dessen
Situation sich kaum von der Helen Kellers beim Erlernen der Sprache unterscheidet.
Desweiteren korrigiert Anne Sullivan voller Hohn die Behauptung, sie wäre in besonderer Weise
für ihre Aufgabe ausgebildet und geeignet gewesen. In der Realität beschränkte sich ihre
Vorbereitungszeit von August 1886, als Helens Vater die Perkins Institution um eine Lehrkraft
ersuchte, bis Februar 1887. In dieser Zeitspanne studierte sie die Berichte von Dr. Howe über
Laura Bridgman, mit welcher sie während ihrer sechsjährigen Ausbildung in einem Haus
gewohnt hatte. Dies waren die einzigen Vorteile, die ihr bei ihrer großen Aufgabe zuteil wurden.
In einem Brief vom Januar 1888 an ihre Freundin Mrs. Hopkins gesteht sie ihre wahren Motive
äußerst kalt und pragmatisch:
I appreciate the kind things Mr. Anagnos has said about Helen and me; but his
extravagant way of saying them rubs me the wrong way. The simple facts would be so
much more convincing! [...] How ridiculous it is to say I had drunk so copiously of the
noble spirit of Dr. Howe that I was fired with the desire to rescue from darkness and
obscurity the little Alabamian! I came here simply because circumstances made it
necessary for me to earn my living, and I seized upon the first opportunity that offered
itself, although I did not suspect, nor did he, that I had any special fitness for the work.
(ibid. 344)
Diese Richtigstellung weist explizit auf den rhetorischen Überschwang der Rede des
griechischen Direktors hin. Der Ausdruck „drunk so copiously of the noble spirit“ entspricht
ungefähr der Metapher „die Milch der frommen Denkungsart trinken“ und sollte ausdrücken, wie
sehr Anne Sullivan von Dr. Howe inspiriert gewesen ist. Dr. Anagnos stellt es so dar, als hätte
Anne Sullivan die Lehren ihres Vorgängers buchstäblich in sich aufgesogen, was jedoch gar
nicht der Fall war, da sie ihr eigenes Erziehungssystem entwickelte. In der Metapher „fired with
the desire“ drückt das Element Feuer ihren Elan aus, an die große Aufgabe heranzugehen. In
Wirklichkeit war die junge Lehrerin unsicher, oft verzweifelt und kurz vor dem Aufgeben. Die
Metapher, Helen aus „darkness and obscurity“ zu retten, kommt auch häufig in Helens eigenen
Werken vor; sie selbst sieht ihre Entwicklung als einen Übergang vom Dunkel ins Licht. Einen
harten Kontrast zu Dr. Anagnos’ Lobhudeleien bietet Anne Sullivans eigene Darstellung, sie
habe diese Arbeit nur aus Selbsterhaltungstrieb angenommen, ohne eine besondere Berufung zu
Page 42
erkennen. Natürlich stellen Äußerungen wie die des Herrn Direktors ein „gefundenes Fressen“
für die Presse dar, weil sie die Leserschaft weitaus mehr beeindrucken als die sparsamen,
sachlichen, gefühlskalten Fakten einer einfachen Lehrerin.
Über den ersten Bericht des Direktors der Perkins Institution über Helen Keller im
Dezember 1887 schreibt Anne Sullivan in einem persönlichen Brief: „[...] He says Helen’s
progress has been ‘a triumphal march from the beginning [...]’ .“76
Sie fühlte sich nicht
geschmeichelt durch die Lobpreisung Mr. Anagnos’, sondern erkennt klar: „I think he is inclined
to exaggerate; [...] his language is too glowing, and simple facts are set forth in such a manner
that they bewilder one.“ (Ibd.) Sie äußert ihr Verständnis dafür, daß Helens rasante Entwicklung
ihm in der Tat wie ein „Triumphmarsch“ vorgekommen sein muß, weist aber ausdrücklich
darauf hin, daß die Zeitgenossen vor lauter Erfolg nicht mehr die mühsamen kleinen Schritte
sehen, die zum Ziel geführt haben.
Am vierten März 1888 moniert Anne Sullivan erneut mit beißendem Sarkasmus die
emotional gefärbten und merklich von den Tatsachen abweichenden Wunderberichte aus der
Presse:
Indeed, I am heartily glad that I don’t know all that is being said and written about Helen
and myself. I assure you I know quite enough. Nearly every mail brings some absurd
statement, printed or written. The truth is not wonderful enough to suit the newspapers;
so they enlarge upon it and invent ridiculous embellishments. One paper has Helen
demonstrating problems in geometry by means of her playing blocks. I expect to hear
next that she has written a treatise on the origin and future of the planets!“77
In seiner zweiten Ausgabe vom Helen Keller Souvenir setzte sich das Volta Bureau zum Ziel,
entgegen der Wundermeldungen aus den Zeitungen Fakten über Helens Schulbildung zu
veröffentlichen: „The scepticism [...] is no doubt in large measure due to the many exaggerated
and erroneous statements which from time to time have appeared in the public press“78
, heißt es
da in der Einleitung. Anne Sullivan trug mit einigen Briefen zum neuen Heft bei, blieb aber
trotzdem skeptisch, ob es ratsam sei, die Öffentlichkeit einzuweihen:
I said then, and I repeat now, I do not believe our affairs concern the public [...]. Helen
and I have suffered more than you or anyone else in the world can ever understand,
through the publicity that has been given her education. ... I cannot think the new
76
a.a.O. 299/300. 77
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 299. 78
Braddy 1934, 191/2.
Page 43
Souvenir will unravel the tangled web of truth and falsehood that overzealous friends and
enemies have drawn about us.79
Die Metapher des „tangled web of truth and falsehood drawn about us“ veranschaulicht die
Verflechtung von Wahrheit und Übertreibung. Es sind im wahrsten Sinne des Wortes so viele
Lügennetze um Helen Keller gesponnen worden, daß es unmöglich war, diese zu entwirren.
Auch die europäische Presse veröffentlichte zahlreiche Märchen über das Wunderkind. In
Midstream nimmt Helen Keller amüsiert einen französischen Artikel auseinander, der durch sein
emotiv überhöhtes Vokabular ihren bescheidenen Wohnort Wrentham in eine Luxusresidenz
verwandelt:
Boston, la ville la plus intellectuelle [sic!] l’Athens des Etats Unis, a, au lendemain de ses
examens offert cette maison en hommage à la jeune fille qui a remporte [sic!] une victoire
sans pareille de l’esprit sur la matière, de l’âme immortelle sur les sens. (Midstream 27)
Durch den Superlativ „la plus intellectuelle“ sowie den Vergleich mit der griechischen
Metropole Athen wird Boston eine einzigartige Stellung in Amerika zugeschrieben. Angeblich
sei das Anwesen Helen Keller überschrieben worden von der Stadt Boston -- „who wished to
honour me as the ancients did when they bestowed upon a victorious general an estate where he
could live and enjoy his laurels“. (Midstream 27) Durch diesen Vergleich mit dem Alterssitz
eines sich verdient gemacht habenden Generals zeigt Helen Keller humorvoll, was sie der Stadt
wert gewesen sei. Helen Keller geht auch leicht ironisierend auf die Beschreibung der Residenz
ein: „Others [...] have added an extensive park and a wonderful garden. No such pomp and
circumstance marked my triumphal entrance into the village of Wrentham.“ (Midstream 27) Das
„village Wrentham“ steht dem „Athen der USA“ antithetisch gegenüber. In ihren Worten habe es
sich um ein „small, old farmhouse, long and narrow, decidedly Puritanical“ (Midstream 27)
gehandelt, das sie und Anne Sullivan gekauft hatten, und der Park sei eher „a neglected field of
seven acres“ (Midstream 27) gewesen. Eine andere euphorische Beschreibung liefert der Artikel
von ihrem Arbeitszimmer:
Helen Keller passe la plupart de ses journées dans son elegant [sic!] cabine de travail,
orné [sic!] de bronzes et d’objets d’art offerts pars [sic!] ses adorateurs, et dont les murs
disparaissent du haut en bas sous des centaines et des centaines de gros volumes au pages
blanches couvertes de points en relief -- ses chers livres en Braille. (Midstream 28)
79
Braddy 1934, 192.
Page 44
Das Adjektiv „élégant“, das einen Hauch von Luxus vermitteln soll, ist nicht nur eine Hyperbel,
sondern auch eine Unwahrheit: „As a matter of fact, the study was very simple.“ (Midstream 28)
Auch die geschmackvolle Ausstattung mit Kunstwerken ist eine Übertreibung: „The only ‘works
of art’ were a plaster Venus di Milo [...], a bas-relief medallion of Homer [...], and some curios“.
(Midstream 28) Schon der Begriff „objet d’art“ ist für eine Gipsfigur zu hochgestochen. Der
Begriff „Anbeter“ ist ebenfalls eine Hyperbel, denn ihre „adorateurs“ waren u.a. ihr sogenannter
„foster-father“ John Hitz (der ihr die Venus gab), ein Professor von der University of Wisconsin
(von dem das Medaillon stammte), und Freunde, die ihr Kleinigkeiten von Reisen mitgebracht
hatten. Ein Mißverständnis wird deutlich durch die Hyperbel „... disparaissent du haut en bas
sous des centaines et des centaines ...“: Braillebücher nehmen nämlich weitaus mehr Platz ein als
normale, und Helen Keller hat nur eine kleine Anzahl von ihnen besessen (sie waren zu ihrer
Zeit auch noch schwer zu bekommen). So schreibt sie: „Only one wall ‘disappeared’ behind
large volumes of braille, and that did not mean hundreds of books. In most cases there were
three, four, or five big volumes to a book.“ (Midstream 28)
Derselbe französische Artikel läßt sich in Jubeltönen über die Abschlußfeier ihres
Jahrganges aus, bei der Helen Keller ihren Bachelor of Arts verliehen bekam:
Une foule immense emplissait ce jour-là le théâtre où avait lieu la fête du Collège.
Plusieurs autres étudiants allaient aussi recevoir des diplômes, mais toutes les attentions,
tous les regards, tous les coeurs étaient fixés sur la gracieuse jeune fille [...]. Miss
Sullivan, assise à coté d’elle, partageait naturellement l’heure de son triomphe [...]. [...]
Au milieu de tonnerres d’applaudissements frénétiques qu’elle ne pouvait entendre, mais
dont elle sentait résonner les échos, la jeune fille reut le précieux diplôme [...].
(Midstream 24/5)
Die „foule immense“ ist eine Hyperbel und wird widerlegt durch Helen Kellers enttäuschte
Feststellung: „There were no huge crowds filling the hall [...]. Only a few friends came [...]. My
mother was prevented by illness [...].“ (Midstream 25) Der Parallelismus „toutes les attentions,
tous les regards, tous les coeurs“ soll verdeutlichen, daß Helen Keller der Mittelpunkt des
Geschehens gewesen ist -- was aber gar nicht der Fall war. Auch die Bemerkung, daß Anne
Sullivan ihren Triumph teilte, entspricht nicht der Wahrheit: „Dean Briggs delivered the usual
commencement address, but he did not mention Miss Sullivan. In fact, none of the faculty spoke
either to her or to me.“ (Midstream 25) Helen Keller berichtet, daß mehrere Anwesende entrüstet
waren, und daß eine Studentin sogar verlauten ließ, Miss Sullivan hätte auch eine Auszeichnung
verdient. Die Metapher „tonnerres d’applaudissements“, noch unterstrichen durch das wertende
Page 45
Adjektiv „frénétique“, zusammen ein Hendiadioyn, soll die Begeisterung des Publikums
vermitteln. Laut Helen Keller sei von tosendem Applaus allerdings nichts zu spüren gewesen:
„When I received my diploma, I felt no ‘thunder of wild applause.’ “ (Midstream 25) Alles in
allem war an der ganzen Veranstaltung für Helen Keller nichts Weltbewegendes, und sie zog
sich so bald wie möglich zurück: „We had come in to our seats quietly that afternoon, and we
went out as soon as we could, caught a street car and hastened away to the fragrant peace of the
lovely New England village [...].“ (Midstream 26)
3.1 Wunderkind oder Betrug?
Die maßlosen Übertreibungen von seiten der Presse hatten zwei Folgen: entweder sahen sowohl
Experten als auch die breite Masse die Lehrerin als Betrügerin an, oder sie bezeichneten die
Schülerin als „Wunderkind“. Vor allem in Europa betrachteten viele Leute Helen Keller als
amerikanische Übertreibung; neben skeptischen wissenschaftlichen Berichten erfolgten
zahlreiche Gegendarstellungen. In Deutschland hat es u.a. Dr. jur. Julius Gensel übernommen, in
Die Wahrheit über Helen Keller anhand des „von ihm gesammelten authentischen
Beweismaterials“ aufzuzeigen, daß Helen Keller „nicht nur ‘wirklich existiert’, sondern auch,
trotz ihrer Gebrechen, über die großen geistigen Eigenschaften verfügt, denen wir ihre herrlichen
Bücher zu verdanken haben“.80
Im Juli 1894 schrieb Anne Sullivan einen Bericht für die American Association to
Promote the Teaching of Speech to the Deaf, in dem sie davor warnt, emotiv übersteigerten
Wundermeldungen Glauben zu schenken:
You must not imagine that as soon as Helen grasped the idea that everything had a name
she at once became mistress of the treasury of the English language, or that „her mental
faculties emerged, full armed, from their then living tomb, as Pallas Athene from the head
of Zeus,“ as one of her enthusiastic admirers would have us believe.81
Helen Kellers „mental faculties“ waren alles andere als „full armed“, worauf ihre Lehrerin stets
unermüdlich hinwies. Helen bediente sich in ihren Anfängen ebenso einer „Babysprache“ wie
jedes gesunde Kind. Die Metapher aus der griechischen Götterwelt und das Bild der
80
Vgl. Keller, Helen. Dunkelheit. Stuttgart: Verlag von Robert Lutz, 1910. Anhang. Ohne Seitenangabe. 81
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 374/5.
Page 46
Wiederauferstehung mögen zwar sehr poetisch klingen und den Lesern imponieren, beschönigen
jedoch die Realität.
Es ist erstaunlich, daß selbst eine in der Öffentlichkeit zu beobachtende Verhaltensweise
wie die Kommunikation mittels Fingeralphabet für Taubstumme durch die Presse als
„geheimnisvolle telegraphische Verständigung“ interpretiert werden konnte:
Miss Keller’s reading of the manual alphabet by her sense of touch seems to cause some
perplexity. Even people who know her fairly well have written in the magazines about
Miss Sullivan’s „mysterious telegraphic communications“ with her pupil.82
Noch haarsträubender sind okkulte Erklärungsversuche des unverstandenen Phänomens Helen
Keller, gegen die sich John Macy im Anhang der Story of my Life heftig zur Wehr setzt:
The question of a special „sixth sense,“ such as people have ascribed to Miss Keller, is a
delicate one. This much is certain, she cannot have any sense that other people may not
have [...]. Miss Keller is distinctly not a singular proof of occult and mysterious theories,
and any attempt to explain her in that way fails to reckon with her normality. She is no
more mysterious and complex than any other person. [...] She does not [...] prove the
existence of spirit without matter, or of innate ideas, or of immortality, or anything else
[...]. Philosophers have tried to find out what was her conception of abstract ideas before
she learned language. If she had any conception, there is no way of discovering it [...].
She had no conception of God before she heard the word „God [...].“83
Wissenschaftler haben verschiedene Tests mit Helen Keller ausgeführt. So hat z.B. Dr. William
Stern
„When a psychologist asked her if Miss Keller spelled on her fingers in her sleep, Miss Sullivan
replied that she did not think it worth while to sit up and watch [...].“84
82
a.a.O. Chapter II: „Personality“, 291. 83
The Story of my Life. Part III. Chapter II: „Personality“, 293/4. 84
The Story of my Life. Part III. Chapter II: „Personality“, 288.
Page 47
3.2 Der „Frost King“-Skandal
“The winter of 1892 was darkened by the one cloud in my childhood’s bright sky.“ (The Story of
my Life 63) Mit dieser Metapher leitet Helen Keller das vierzehnte Kapitel ihrer ersten
Autobiographie ein. Die dunklen Wolken am ungetrübten Himmel ihrer Kindheit waren durch
eine kleine Geschichte heraufbeschworen worden, die die Elfjährige Dr. Anagnos zu seinem
Geburtstag gewidmet hatte. Voller Stolz ließ dieser sie gleich zusammen mit seinem Bericht
drucken. Nur leider sollte sich herausstellen, daß die Geschichte Birdie and his Fairie Friends
hieß, von Margaret Canby stammte und Helen im Jahr 1888 von Mrs. Laurence Hutton in die
Hand buchstabiert worden war. Daran konnte sich Helen aber nicht mehr erinnern, und als sie
vier Jahre später vom rot- und goldgefärbten Herbstlaub beeindruckt war, schrieb sie spontan
ihre Geschichte „Autumn Leaves“, die sie auf Rat ihrer Familie in „The Frost King“
umbenannte. Rückblickend sagt sie in The Story of my Life: “I thought I was “making up a
story,“ as children say, and I eagerly sat down to write it before the ideas should slip from me.
My thoughts flowed easily [...]. Words and images came tripping to my finger ends [...].“ (63)
3.2.1 Ein photographisches Gedächtnis?
Der „Frost King“ ist keineswegs die erste Geschichte, die Helen Keller in ihrer Kindheit
nacherzählt und anderen Leuten „gewidmet“ hat. Wenn man die Briefe ihrer Werdezeit
durchsucht, findet man Stellen, an denen sie geschichtliche Ereignisse, über die sie im Unterricht
gehört hat, sowie Märchen ziemlich wortgetreu wiedergibt. Diese Briefe an ihre Freunde und
Gönner sind ein wertvoller Beweis dafür, daß das Lernen ihr großen Spaß bereitet hat und sie
freudig wiederholte, was sie gelesen hatte - nicht, um „geistigen Diebstahl“ zu begehen, sondern
um ihren Korrespondenten mitzuteilen, was sie im Innersten bewegte und sie nachdenklich
stimmte, oder auch einfach, um diesen eine Freude zu bereiten. Dies ist eine ganz natürliche
Page 48
kindliche Haltung. Dabei sind ihre Erzählung kein Abklatsch von bereits Gehörtem, sondern
durchaus mit eigenen Ausdrücken und Inhalten gefärbte Schilderungen. Helen Keller selbst sagt
dazu in The Story of my Life:
This habit of assimilating what pleased me and giving it out again as my own appears
in much of my early correspondence and my first attempts at writing. In a
composition which I wrote about the old cities of Greece and Italy, I borrowed my
glowing descriptions, with variations, from sources I have forgotten. I knew Mr.
Anagnos’s great love of antiquity [...]. I therefore gathered from all the books I read
every bit of poetry or of history that I thought would give him pleasure. Mr. Anagnos
[...] has said, „These ideas are poetic in their essence.“ But I do not understand how
he ever thought a blind and deaf child of eleven could have invented them. (69)
Helen Keller drückt mittels einer Metapher aus, was für sie eine solche Assimilation bedeutet:
„Those early compositions were mental gymnastics.“ (The Story of my Life 69)
[...] What a wonderful active and retentive mind that gifted child must have! If she
had remembered and written down accurately, a short story, and that soon after
hearing it, it would have been a marvel; but to have heard the story once, three years
ago, and in such a way that neither her parents nor teacher could ever allude to it or
refresh her memory about it, and then to have been able to reproduce it so vividly,
even adding some touches of her own in perfect keeping with the rest, which really
improve the original, is something that very few girls of riper age, and with every
advantage of sight, hearing, and even great talents for composition, could have done
as well, if at all. [...]
(The Story of my Life. Part III, Chapter V: „Literary Style“, 402)
„Under the circumstances, I do not see how any one can be so unkind as to call it a plagiarism; it
is a wonderful feat of memory, and stands alone [...]“ (ibid.).
„She is indeed a „Wonder-Child.“ (ibid. 403)
Mark Twain las erst einige Jahre später in The Story of my Life über diese
Plagiatsgeschichte und zeigt in einem Brief an Helen Keller deutlich seine Verärgerung darüber,
daß man sie so hat leiden lassen. Er breitet eine Theorie aus, nach der alle Gedanken aus zweiter
Hand sind; d.h. alles, was wir schreiben, haben wir vorher schon einmal irgendwo gehört. Er
Page 49
gesteht, selber „geistigen Diebstahl“ begangen zu haben, und ergeht sich in einer Flut von
Schimpfwörtern über die Menschen, die die kleine Helen damals so verunsichert haben:
Oh, dear me, how unspeakably funny and owlishly idiotic and grotesque was that
‘plagiarism’ farce! As if there was much of anything in any human utterance, oral or
written, except plagiarism! The kernel, the soul -- let us go further and say the substance,
the bulk, the actual and valuable material of all human utterances -- is plagiarism. For
substantially all ideas are second-hand [...]. [...] To think of those solemn donkeys
breaking a little child’s heart with their ignorant damned rubbish about plagiarism!85
3.2.2 Retusche des Falls:
Eine lückenhafte deutsche86
Übersetzung
Im vierzehnten Kapitel ihrer Lebensgeschichte berichtet Helen Keller, wie sie die Situation
während des Skandals empfunden hat. Interessanterweise ist das Kapitel 14 aus Helen Kellers
The Story of my Life, so wie sie von John Macy veröffentlicht wurde, in der Fassung87
, wie man
sie heute im deutschen Buchhandel erhält, herausgeschnitten worden. Ebenso fehlt der Übergang
zum fünfzehnten Kapitel, in dem Helen Keller von ihren Ängsten beim Erstellen ihrer
Lebenslaufskizze für The Youth’s Companion berichtet, da sie fürchtete, ihre Gedanken könnten
nicht ihre eigenen sein. Der deutsche Text leitet das fünfzehnte Kapitel mit Helen Kellers Arbeit
an dieser Skizze ein, und zwar zu einer Zeit, „[a]ls der Boden sich mit herbstlichen Blättern
bedeckte und die würzig duftenden Trauben, die die Laube am anderen Ende des Gartens
bedeckten, unter dem Einfluß der Sonnenwärme zur Reife kamen [...]“ (71) Hier wird das
riskante Bild einer Naturbeschreibung ähnlich der aus dem „Frost King“ verwendet, ohne den
Leser näher über die Umstände aufzuklären. Dabei ist Helen Kellers Ausgangssatz verkürzt und
um die Allusion auf die bedeutungsträchtigen Adjektive „gold“ und „crimson“ beraubt worden.
Die deutsche Übersetzung berichtet sachlich von der literarischen Beschäftigung der
85
Braddy 1934, 162/3. 86
In der französischen Übersetzung sind Kapitel 14 und 15 vollständig wiedergegeben. (Helen Keller. Sourde,
muette, aveugle. Histoire de ma vie. Traduit de l’anglais par A. Huzard. Paris: Editions Payot, 1991.)
87
Mein Weg aus dem Dunkel. Blind und gehörlos -- das Leben einer mutigen Frau, die ihre Behinderung
besiegte. München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., 1997.
Page 50
zwölfjährigen Helen Keller und erwähnt mit keinem Wort die Skrupel des Kindes, die im
amerikanischen Original noch auf anderthalb Seiten des fünfzehnten Kapitels emotiv dargelegt
werden:
When the ground was strewn with the crimson and golden leaves of autumn [...] I
began to write a sketch of my life -- a year after I had written „The Frost King.“
I was still excessively scrupulous about everything I wrote. The thought that what I
wrote might not be absolutely my own tormented me. No one knew of my fears except
my teacher. A strange sensitiveness prevented me from referring to the „Frost King“; and
often when an idea flashed out in the course of conversation I would spell softly to her, „I
am not sure it is mine.“ At other times, in the midst of a paragraph I was writing, I said to
myself, „Suppose it should be found that all this was written by some one long ago!“ An
impish fear clutched my hand, so that I could not write any more [...].
(The Story of my Life 73)
Vor allem die Personifikation der Angst, „impish fear“, die ihre Hand umklammerte und am
Schreiben hinderte, verdeutlicht die Auswirkungen des Skandals auf die Psyche des Kindes --
mit fast neurotischen Folgen. Da dies die umfangsreichste Kürzung der deutschen Übersetzung
von The Story of my Life ist, die statt der 23 nur 22 Kapitel aufweist, kann vermutet werden, daß
die übersetzte Fassung einen verklärteren Eindruck von Helen Keller übermitteln soll. Das
positive Gesamtbild, das der Leser von der „mutigen Frau, die ihre Behinderung besiegte“ erhält,
soll offenbar nicht durch einen Plagiatskandal aus ihrer Kindheit gestört werden -- der übrigens
im Sande verlief. Da das Knaur Taschenbuch von 1997 problemloser erhältlich ist als das
vergilbte Original aus einem Magazin, könnte beim Leser leicht ein idealisierter Eindruck
entstehen.
Alfred Schmitt sagt bereits 1954 dazu in Helen Keller und die Sprache: “Die ganze
Episode ist aus H. K.’s Leben wegretuschiert, als ob sie einen Flecken in ihm bedeutet hätte.“88
Da ab einer bestimmten deutschen Auflage der zweite und dritte Teil der Originalausgabe von
John Macy bis auf ihre Hälfte geschrumpft sind, obwohl sie Helen Kellers Briefe sowie wichtige
Briefe und Berichte ihrer Lehrerin enthalten, kann Alfred Schmitt mit Recht sagen:
Die Kürzung ist mit einer derartigen Verständnislosigkeit durchgeführt, daß man
manchmal fast den Eindruck haben kann, als wollte der Bearbeiter absichtlich dem
Leser gerade solche Züge vorenthalten, die für die wichtigste Frage, nämlich die
nach dem Beginn und dem Fortschreiten dieser einzigartigen Geistesentwicklung,
von besonderer Bedeutung sind. [...] H. K.’s Lebensgeschichte in der Ausgabe von
88
Schmitt, Alfred. Helen Keller und die Sprache. Münstersche Forschungen, herausgegeben von Jost Trier und
Herbert Grundmann. Heft 8. Münster/Köln: Böhlau-Verlag, 1954. Seite 17.
Page 51
Macy gehört meiner Ansicht nach zu den Werken der Weltliteratur; sie in dieser
Weise zu verstümmeln, war einfach eine Barbarei.89
Dabei ist es wichtig zu erfahren, wie die angehende Schriftstellerin unter ihrem ersten
Gerichtsprozeß, von der Presse aufgebauscht, gelitten hatte. Nach Helen Kellers eigenen Worten
hätte diese Demütigung ein Ende ihrer Karriere bedeuten können. Mittels einer schönen
Metapher („angel of forgetfulness“) versichert die junge Schriftstellerin jedoch, daß sie nicht
nachtragend ist:
I think if this sorrow had come to me when I was older, it would have broken my spirit
beyond repairing. But the angel of forgetfulness has gathered up and carried away much
of the misery and all the bitterness of those sad days. (The Story of my Life 67)
4 Helen Kellers Rhetorik
Eine Untersuchung von Helen Kellers Gesamtwerk würde den hier gegebenen Rahmen sprengen.
Deshalb soll als Gegenstand der stilistischen Analyse The Story of my Life dienen, da die
Studentin den ihr eigenen Stil hier entwickelte. Er unterscheidet sich durch seine rhetorischen
Feinheiten wesentlich von demjenigen in den Abschnitten, die sie bereits als Zwölfjährige im
Youth’s Companion veröffentlicht hatte und die sie für ihre Lebensgeschichte aufpolierte; vor
allem eine Unmenge Metaphern sind zur Auflockerung und Veranschaulichung hinzugekommen.
Dadurch wirkt Helen Kellers Prosa allerdings beizeiten etwas überladen; Kritiker haben ihr einen
„phrasenhaften Stil“ vorgeworfen. Als ihre rhetorischen Spielereien wieder einmal überhand
nehmen, weist sie sich selbst zurecht:
It comes over me that in the last two or three pages of this chapter I have used figures
which will turn the laugh against me. Ah, here they are -- the mixed metaphors mocking
and strutting about before me, pointing to the bull in the china shop assailed by hailstones
and the bugbears with pale looks, an unanalyzed species! Let them mock on. The words
describe so exactly the atmosphere of jostling, tumbling ideas I live in that I will wink at
them for once, and put on a deliberate air to say that my ideas of college have changed.
(The Story of my Life 103)
89
Schmitt 1954, 17/18.
Page 52
4.1 Humor
Ein Charakterzug, den man Helen Keller nicht absprechen kann, ist ihr Humor. Er findet sich
sowohl in ihrem literarischen Werk als auch in täglichen Begebenheiten wieder. John Macy
bezeichnet ihn als „that deeper kind of humour which is courage“90
, und liefert einige Beispiele
aus Helen Kellers täglichem Sprachgebrauch:
Some one asked her if she liked to study. „Yes,“ she replied, „but I like to play also,
and I feel sometimes as if I were a music box with all the play shut up inside me.“
When she met Dr. Furness, the Shakespearean scholar, he warned her not to let the
college professors tell her too many assumed facts about the life of Shakespeare; all we
know, he said, is that Shakespeare was baptized, married, and died. „Well,“ she replied,
„he seems to have done all the essential things.“
Once a friend who was learning the manual alphabet kept making „g,“ which is like the
hand of a sign-post, for „h,“ which is made with two fingers extended. Finally Miss
Keller told him to „fire both barrels.“91
Man kann hier sehr schön die Schlagfertigkeit und Sprachgewandtheit der jungen Helen Keller
ausmachen. Besonders der Vergleich „as if I were a music box with all the play shut up inside
me“, der verdeutlicht, daß der Spieldrang nur in ihr ruht und auf Kommando abrufbar ist, sowie
die Metapher aus dem Bereich der Militärsprache, „to fire both barrels“ als Synonym für „streck
beide Finger aus“ zeigen ihre rhetorische Begabung.
Helen Keller zeigte bereits in jungen Jahren ein Flair für solche stilistische Feinheiten, was z.B.
aus ihren Briefen ersichtlich ist. In The Story of my Life finden sich ebenfalls humorvolle Stellen.
4.2 Metaphern
The Story of my Life ist von zahlreichen Metaphern durchwoben. Dieser stilistische Kunstgriff
bringt das Bezeichnete durch ein Bild zum Ausdruck, das eigentlich gar keine reale Beziehung
zum Bezeichneten hat. Es lockert den Text auf und regt die Phantasie an. Durch diese bildhafte
Übertragung wird der Leser in besonderer Weise angesprochen, und der Text erscheint nicht so
90
The Story of my Life. Part III, Chapter II: „Personality“, 287. 91
Ibd.
Page 53
trocken. Helen Keller konnte es sich in ihrem Erstlingswerk leisten, solche rhetorischen
Feinheiten einzubauen, da ihr Buch keine wissenschaftlichen Ansprüche hegt wie zum Beispiel
die rein sachlichen Berichte ihrer Lehrerin. Man kann ihre Metaphern der Verwendung nach in
verschiedene Kategorien einordnen:
Helen Keller leitet ihre Lebensgeschichte mit der Metapher des „Geheimnisaufdeckens“
ein; sie gesteht, nur ungern den Schleier zu lüften, der wie ein Nebel über ihrer Kindheit liegt. „I
have, as it were, a superstitious
hesitation in lifting the veil that clings about my childhood like a golden mist.“ (The Story of my
Life 3) Somit stellt sie eindrucksvoll und zugleich rhetorisch geschickt ihre Hemmungen dar, der
Öffentlichkeit ihr Privatleben preiszugeben.
Desweiteren findet man zahlreiche „Lichtmetaphern“, anhand derer sie den Unterschied
von ihrer vorsprachlichen Zeit (Dunkel) zu ihrer Erweckung durch ihre Lehrerin (Licht)
symbolisiert. Von ihrem Besuch bei Dr. Bell schreibt sie: „But I did not dream that that interview
would be the door through which I should pass from darkness into light [...].“ (19) Ihrer
Verzweiflung vor Erlernen der Sprache gibt sie folgendermaßen Ausdruck: „‘Light! give me
light!’ was the wordless cry of my soul, and the light of love shone on me in that very hour.“ (22)
Eine weitere auffällige Metapher verwendet sie mit Bezug auf „tie“, „bond“ und
„chain“, alles Ausdrücke des Gefesselt- und Gebundenseins. Zum Beispiel wußte Helen in ihrer
vorsprachlichen Zeit noch nichts von den „Banden der Liebe“; als sie ihre kleine Schwester
Mildred friedlich schlummernd in der Wiege ihrer Lieblingspuppe entdeckt, macht sie sich
kurzerhand daran, den Eindringling auszukippen: „At this presumption on the part of one to
whom as yet no tie of love bound me I grew angry.“ (16)
Anhand eines sportlichen Ereignisses schreibt Helen Keller enthusiastisch davon, wie sie sich
von der Erde „losgelöst“ empfand: „For one wild, glad moment we snapped the chain that binds
us to earth, and joining hands with the winds we felt ourselves divine!“ (57)
Sehr häufig sind auch bildhafte Umschreibungen, die „Distanz“ und „schwer begehbare
Wege“ ausdrücken sollen. Angesichts ihrer mühevollen Schrittchen vom Erlernen der ersten
Silben bis zum Begreifen einer Shakespeare-Zeile schreibt sie: „Gradually from naming an
object we advance step by step until we have traversed the vast distance between our first
stammered syllable and the sweep of thought in a line of Shakespeare.“ (29) Noch krasser ist
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ihre Formulierung von „Umwegen“, die sie zu gehen hat, da sie sich von ihren Mitschülerinnen
zu sehr unterscheidet, um auf direktem Wege ans Ziel zu gelangen:
„Debarred from the great highways of knowledge, I was compelled to make the journey
across country by unfrequented roads [...]; and I knew that in college there were many
bypaths where I could touch hands with girls who were [...] struggling like me.“ (96)
Der größte Teil der Metaphern stammt aus der Natur. Als sie sich endlich durch das
Fingeralphabet mit ihren Mitmenschen verständigen kann, „blüht“ sie im wahrsten Sinne des
Wortes auf: „The barren places between my mind and the minds of others blossomed like the
rose.“ (50) Ihre Probleme in Arithmetik beschreibt sie humorvoll: „I hung about the dangerous
frontier of „guess,“ avoiding [...] the broad valley of reason.“ (81) Ihr Eindringen in das
„Wunderland des Verstandes“, wo sie sich trotz ihrer Behinderung ebenso frei bewegen kann
wie alle anderen auch, drückt sie folgendermaßen aus: „In the wonderland of Mind I should be as
free as another.“ (96)
Eine bemerkenswerte metaphernreiche Beschreibung gibt Helen Keller uns von den
„bleichen Schreckgespenstern“ ihrer Schulzeit, die sie so oft überwunden und niedergeschmettert
hat, die aber immer wieder wie Stehaufmännchen vor ihr erscheinen -- die Prüfungen. Diese
Schilderung kann nicht ganz ernst gemeint sein, aber indem Helen Keller die Schule ins
Lächerliche zieht, obwohl sie für sie und ihre Lehrerin, die ständig als Dolmetscherin dabeisein
mußte, eine riesige Anstrengung bedeutete, beweist sie den Lesern, daß sie darüber steht und wie
gesunde Mädchen darüber lästern kann:
But the examinations are the chief bugbears of my college life. Although I have
faced them many times and cast them down and made them bite the dust, yet they
rise again and menace me with pale looks, until [...] I feel my courage oozing out at
my finger ends. (102)
Dies sind zum größten Teil alles Metaphern, die sie selbst gebildet hat, doch es finden sich auch
welche aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, die nicht auf ihre Ausnahmesituation als
Taubblinde gemünzt sind, wie z.B.: „I knew my own mind well enough and always had my own
way, even if I had to fight tooth and nail for it.“ (11)
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4.3 Vergleiche
Die zahlreichen Vergleiche in The Story of my Life dienen vor allem dazu, dem Leser ihre
vorsprachliche Zeit zu veranschaulichen. Die konkreten Begriffe würden hier lauten
„Dunkelheit, Stille, Isolation“, aber Helen Keller wollte es ausführlicher und bildhafter schildern,
um mehr Betonung auf ihr Leid zu legen. Herausstechend ist der Vergleich mit einem Schiff im
Nebel, das ohne Kompaß und Lotsen die Zielgerichtetheit verliert. Hier redet sie den Leser direkt
an („Have you ever been“). Dieser Vergleich beinhaltet noch eine Steigerung ins Negative („I
was like that ..., only I was without ...“):
Have you ever been at sea in a dense fog, when it seemed as if a tangible white darkness
shut you in, and the great ship, tense and anxious, groped her way toward the shore with
plummet and sounding-line, and you waited with beating heart for something to happen?
I was like that ship before my education began, only I was without compass or sounding-
line, and had no way of knowing how near the harbour was. (The Story of my Life 22)
Viele Vergleiche sind, ähnlich wie die Metaphern, aus der Natur gegriffen. Der folgende
Vergleich ist von ihrer Lehrerin inspiriert worden, die ihr die ersten Stunden über die Urtiere aus
dem Meer gibt und ihr The Chambered Nautilus vorgelesen hatte. Helen Keller zieht eine
Parallele zu dem Aufbau menschlichen Wissens:
Just as the wonder-working mantle of the Nautilus changes the material it absorbs from
the water and makes it a part of itself, so the bits of knowledge one gathers undergo a
similar change and become pearls of thought.“ (37)
Eine lebhafte Naturschilderung fließt ein in ihre Beschreibung, wie Anne Sullivan beim
Unterrichterteilen vorging. Hier setzt Helen Keller den Verstand eines Kindes mit einem seichten
Bach gleich, der sich munter seinen Weg bahnt, und der nicht sofort in ein breites Bett mündet,
sondern gespeist werden muß von verborgenen Quellen. Dies soll verdeutlichen, daß Anne
Sullivan ihrer Schülerin durchaus ihren eigenen Weg ließ, Schritt für Schritt vorging und sie
nicht zum Lernen zwang, auf äußere Stimulationen wartend („fed by mountain streams“), das
große Ziel („deep river“) jedoch ständig vor Augen.
She realized that a child’s mind is like a shallow brook which ripples and dances merrily
over the stony course of its education and reflects here a flower, there a bush, yonder a
fleecy cloud; and she attempted to guide my mind on its way, knowing that like a brook it
should be fed by mountain streams and hidden springs, until it broadened out into a deep
river [...]. (39)
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Ein weiterer Vergleich mit einem Bild aus der Natur ist die Darstellung ihrer Gedanken als
„Vögel“: sie hat gerade Sprechen gelernt und wendet dies lieber an als das Fingeralphabet,
obwohl einige Freunde ihr abraten wollen, da sie die Grenzen ihrer bisherigen
Kommunikationsmittel erkannt hat und sich eingeschränkt fühlt. „My thoughts would often rise
and beat up like birds against the wind [...].“ (59) Sprechen geht nämlich viel schneller. So ist
auch der folgende Vergleich aus dem „Jagdbereich“ zu verstehen: häufig entkommt ihr als Jäger
die Beute, was eine figurative Aussage dafür ist, daß sie im College nicht jedes Wort der
Vorlesungen mitbekommt: somit will sie dem Leser ihre Situation bildhaft vor Augen halten --
ihre Lehrerin buchstabierte ihr die Worte der Dozenten in die Hand, und natürlich konnte Anne
Sullivan nicht jedes Wort dolmetschen, wenn sie zeitlich noch mitkommen wollte: „The words
rush through my hand like hounds in pursuit of a hare which they often miss.“ (98)
Zuletzt sind noch die Anspielungen auf die griechische Mythologie zu nennen, die Helen
Kellers Leser davon überzeugen, daß sie auch über das Altertum gut bescheid weiß. Diese
Vergleiche wirken vielleicht etwas angeberisch oder hochgestochen in der einfachen
Lebensgeschichte einer Studentin, zeigen jedoch, daß das alte Griechenland ein Steckenpferd der
jungen Autorin war. Sie betonen den intellektuellen Aspekt, wären im Text aber nicht unbedingt
vonnöten.
„In the electrical building we examined the telephones [...] and other inventions, and he
[Dr. Bell] made me understand how it is possible to send a message on wires that mock
space and outrun time, and, like Prometheus, to draw fire from the sky.“ (77)
„I was like little Ascanius, who followed with unequal steps the heroic strides of Aeneas
on his march toward mighty destinies.“ (139)
4.4 (Bibel)zitate
Der Leser von Helen Kellers Werken kann nicht umhin, die zahlreichen Zitate aus der Bibel oder
die von Stevenson zu bemerken, mit denen ihre Prosa gespickt ist. Bevor man versucht, Helen
Kellers häufigen Gebrauch von Zitaten zu erklären, muß man sich zuerst fragen, was ein Zitat
eigentlich bezweckt:
Zu einem Zitat kann man greifen, weil der Dichter etwas, was wir sagen möchten, so
treffend und eindrucksvoll ausgesprochen hat, wie es uns mit eigenen Worten nicht
Page 57
möglich wäre. Aber statt des zutreffendsten AUSDRUCKS unseres eigenen Gedankens
kann ein Zitat auch die QUELLE des eigenen Gedankens sein; wir sprechen etwas aus,
worauf wir nicht von selbst gekommen wären, sondern was wir nur aus der Lektüre
entnommen haben. So ist es häufig bei H. K. der Fall [...].92
Dies ist auch nicht erstaunlich, da Helen Keller aufgrund ihrer doppelten Behinderung vor allem
auf das Lesen angewiesen war, um daraus ihre Lebensweisheiten zu schöpfen, und genauer als
gesunde Menschen den Lesestoff im Gedächtnis behielt. Worte anderer, die auf sie großen
Eindruck gemacht haben, mischten sich unter ihre Schriften. So hat sich auch Caesar gleich zu
Beginn in ihrer Lebensgeschichte verewigt: „I came, I saw, I conquered, as the first baby in the
family always does.“ (The Story of my Life 6)
Im Gegensatz zu ihrer Lehrerin war sie von einer tiefen Religiosität. Sie formuliert selbst,
was die Bibel für sie bedeutet: „But how shall I speak of the glories I have since discovered in
the Bible? For years I have read it with an ever-broadening sense of joy and inspiration; and I
love it as I love no other book.“ (112) Dabei glaubt sie nicht blindlings alles, was gedruckt steht,
sondern bewahrt sich ihre Kritikfähigkeit: „Still there is much in the Bible against which every
instinct of my being rebels [...].“ (Ibd.)
Helen Keller benutzt die Bibel, um ihre eigene Situation besser akzeptieren und anderen
verständlich darlegen zu können: „The Bible gives me a deep, comforting sense that ‘things seen
are temporal, and things unseen are eternal.’“ (113) Einige der von ihr zitierten Stellen weisen
auf Blindheit und die „Es-werde-Licht-und-es-ward-Licht“-Situation hin, die in ihrem Leben
figurativ gesehen ja eine große Rolle gespielt hat bei ihrer „Befreiung“ durch Anne Sullivan:
Thus I came up out of Egypt and stood before Sinai, and a power divine touched my
spirit and gave it sight, so that I beheld many wonders. And from the sacred mountain I
heard a voice which said, ‘Knowledge is love and light and vision.’ “ (20)
Ihren Jubel über die schwerst erworbene Fähigkeit, mit dem Mund sprechen zu können, drückt
Helen Keller ebenfalls durch einen frommen Passus aus: „It was as if Isaiah’s prophecy had been
fulfilled in me, ‘The mountains and the hills shall break forth before you into singing, and all the
trees of the field shall clap their hands!’ “ (62) Desweiteren findet man Anspielungen auf Engel,
so z.B. als sie die eindrucksvollen Bronzestatuen, die sie auf der Weltausstellung von Chicago
berühren durfte, beschreibt: „They [the French bronzes] were so lifelike, I thought they were
angel visions which the artist had caught and bound in earthly forms.“ (76) Dieses Engelsbild
92
Schmitt 1954, 22.
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tritt noch einmal auf gegen Ende ihrer Lebensgeschichte, als sie darlegt, weshalb sie über
bestimmte Freunde und Gönner trotz aller Dankbarkeit nicht reden will: „[...] there are things
about them hidden behind the wings of cherubim, things too sacred to set forth in cold print.“
(140) Auch ihre Naturbeschreibungen werden vielfach mit der Bibel assoziiert; so z.B. in dem
schönen Vergleich, mit dem sie beschreibt, welches die ersten Wörter waren, die sie erlernte: „I
do not remember what they all were; but I do know that mother, father, sister, teacher were
among them -- words that were to make the world blossom for me, ‘like Aaron’s rod, with
flowers.’“ (24) Auch die negativen Seiten der Natur beschreibt sie mit einem Zitat; hier handelt
es sich um eine Episode, als sie auf einem Baum saß, während ein Gewitter nahte, und sich
fürchtete: „I had learned a new lesson -- that nature ‘wages open war against her children, and
under softest touch hides treacherous claws.’“ (27) Die friedliche Situation im Garten ihrer
Familie beschreibt sie mit einer Allusion and den Garten Eden: „After that I spent many happy
hours in my tree of paradise, thinking fair thoughts and dreaming bright dreams.“ (28)
4.5 Alliterationen, Personifikationen und andere
Stilfiguren
Neben den bereits genannten wichtigsten stilistischen Kunstgriffen treten noch zahlreiche andere
in The Story of my Life auf, wie z.B. Alliterationen: „[...] the wind sent forth a blast that would
have knocked me off had I not clung to the branch with might and main.“ (26) Oder: „It was
great fun [...] go let them slip and slide between my fingers.“ (38)
Ihre Beschreibung Mark Twains, „I feel the twinkle of his eye in his hand-shake“ (139), ist
ein Paradoxon, mit dem die Blinde zeigt, daß sie den Charakter und die Stimmung des
berühmten Dichters am Händedruck ablesen kann, wenn sie schon den Gesichtsausdruck nicht
sehen kann wie andere Leute. Für sie bedeutet eine besondere Art von Handschlag Gewitztheit,
Herzlichkeit und Humor und entspricht einem Augenzwinkern.
Auch ein Chiasmus läßt sich finden: „[...] it is true that there is no king who has not
had a slave among his ancestors, and no slave who has not had a king among his.“ (4) Ebenso
Page 59
verwendet Helen Keller Sprichwörter wie den „Elefanten im Porzellanladen“ und Neologismen;
so bildet sie z.B. „theme-goblins“ und „college nixies“:
Whenever I enter the region that was the kingdom of my mind I feel like the
proverbial bull in the china shop. A thousand odds and ends of knowledge come
crashing about my head like hailstones, and when I try to escape them, theme-goblins
and college nixies of all sorts pursue me, until I wish [...] that I might smash the idols
I came to worship. (102)
Ein weiterer Effekt ist, daß Helen Keller am Ende von The Story of my Life den Titel wieder
aufgreift: „Thus it is that my friends have made the story of my life.“ (140) Ihr letzter Satz
schließt mit einer Metapher: „[...] they [...] enabled me to walk serene and happy in the shadow
cast by my deprivation.“ (140) Alle diese sprachlichen Feinheiten beweisen ihre meisterhafte
Bewältigung der Muttersprache und eine umfangreiche Allgemeinbildung. Im Unterschied zu
ihren früheren Veröffentlichungen, oder auch zu ihren Jugendbriefen läßt sich dadurch erkennen,
daß sie sich als Schriftstellerin berufen fühlte und mit der Sprache experimentieren wollte.
5 Helen Kellers literarisches Schaffen
In dieser Werkanalyse geht es darum, den Stil Helen Kellers über die Jahre hinweg zu
vergleichen. Es fällt auf, daß ihre frühesten Werke von einer Naivität und dem Wunsch zeugen,
es allen recht zu machen. Voller Begeisterung wirft Helen Keller mit Metaphern nur so um sich
und sprüht vor Lebensfreude. In ihren späteren Werken tritt ihr rebellischer Charakterzug zutage;
sie entwickelt das Bedürfnis, sich direkt an den Leser zu wenden, um sich zu rechtfertigen für
das, was sie schreibt -- denn ihre Thematik hat sich von purer Selbstdarstellung zu Politik,
Religion und Philosophie hin verschoben. Je reifer sie wird, desto stärker kritisiert sie ihre
früheren Werke, wobei sie die Schwachstellen aufzeigt, die ihrem judendlichen Leichtsinn
entsprungen sind. Ihre ausschweifende Metaphorik legt sie dabei nie ab.
Es sind nur die inhaltlich hervorstechenden Werke analysiert worden. Nebenher hat
Helen Keller noch einige „Trostpflästerchen“ fabriziert, die für den normalen Leser nicht
besonders interessant sind; das Bändchen Three Days to See z.B. ist nämlich nur eine Flucht in
Page 60
die Phantasie, was Helen Keller tun würde, wenn sie drei Tage lang sehen könnte, wobei der
Leser gemahnt wird, seine Sinne dankbar und voll zu nutzen; und Peace at Eventide ist lediglich
ein Sammelsurium von Anekdötchen, die besonders Lesern, die den Tod eines geliebten
Menschen verwinden müssen, Hoffnung spenden sollen.
5.1 Optimism (1903) und The Story of my Life (1903)
1903 war das erste Buch Helen Kellers erschienen, ein kleiner Essay mit dem Titel Optimism,
der später von den Herausgebern in My Key of Life umbenannt wurde. Kernthema dieser kurzen
Schrift ist Helen Kellers unumwundenes Bekenntnis, eine Optimistin zu sein: „If I am happy in
spite of my deprivations, if my happiness is so deep that it is a faith, so thoughtful that it
becomes a philosophy of life, -- if, in short, I am an optimist, my testimony to the creed of
optimism is worth hearing.“ (The Practice of Optimism 4) Ihre Definition des Begriffes
Optimismus ist sehr einfach, ihre Weltanschauung wirkt naiv: „If I should try to say anew the
creed of the optimist, I should say something like this: ‘I believe in God, I believe in man, I
believe in the power of the spirit. I believe it is a sacred duty to encourage ourselves and others
[...].“ (The Practice of Optimism 61)
Dieses Traktätchen war noch während ihres letzten Studienjahres 1903 erschienen und
von dem Erfolgserlebnis getragen, das sich beim Gelingen jedes großen Vorhabens
einstellt. Sie wollte alle Menschen zur Zuversicht aufrufen, wofür sie einige Gründe
darlegte, deren logische Anerkennung den Leser dann zum Empfinden seines eigenen
Glücks führen sollte; sie war überzeugt davon, daß die Menschen Herren ihres Schicksals
wären und ihr Leben nach ihrem eigenen Willen gestalten könnten.93
Auf dieses Essay trifft derselbe Vorwurf zu, der auch in Bezug auf ihre Autobiographie erhoben
wurde -- daß sie die Tatsachen „unwillkürlich durch die Brille ihrer hohen Bildungsstufe und
ihres logischen Bedürfnisses“ heraus betrachtet habe.94
Sie räsonniert munter drauflos und
verbreitet eine grenzenlose Glückseligkeit und Selbstzufriedenheit. Sie scheint die Welt in einem
viel zu positiven Licht zu sehen.
It was immature, as one might expect of a college girl, and full of the „cocksureness“ for
which she still chides herself when she finds that she has written in a way which seems to
imply that she has the last word of knowledge on the subject, but it was bursting with
93
Jaedicke 1979, 84. 94
Briefe meiner Werdezeit. Einleitung II.
Page 61
vigour and defiance. She was tired of being pitied. She was proving and ready to prove
again that she could make something out of the broken pieces of her life.95
Die berühmt gewordene erste Autobiographie Helen Kellers, The Story of my Life, entstand 1902
während ihres Studiums, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war, und zwar zunächst als Aufsätze
in ihrer Klasse „composition“ bei Mr. Charles Copeland. Ihre Schilderungen erregten auch
außerhalb der Schule Aufsehen, und schließlich bat Mr. William Alexander von The Ladies’
Home Journal Helen Keller um eine Erzählung in einzelnen Abschnitten. Seine recht
erfolgreiche Monatszeitschrift, die 1903 die Traumgrenze von einer Million Exemplaren erreicht
hatte, bot neben unterhaltsamen Beiträgen über Familie, Haushalt und Mode eine
autobiographische Fortsetzungsreihe über Berühmtheiten wie William Dean Howells, Mark
Twain, Rudyard Kipling, Conan Doyle, Bret Harte und Hamlin Garland.96
Da durfte auch das
taubblinde Wunderkind nicht fehlen. Als Helen Keller beim Liefern der Beiträge in Zeitnot
geriet, nahm sich John Macy ihrer an. Schließlich veröffentlichte er die Artikel am 21.3.1903 als
zusammenhängende Geschichte The Story of my Life, versehen mit einem Anhang, der die
wichtigsten Briefe ihrer Kindheit enthielt sowie Angaben über Helen Kellers Person, ihre
Erziehung, ihre Sprachfertigkeit im Kontrast zu Anzweifelungen von seiten ihrer Zeitgenossen
(inklusive Frost King-Skandal) und ihren Schreibstil. Briefe ihrer Lehrerin informierten den
Leser über ihre Erziehungsmethoden.
Helen Keller äußert sich in späteren Jahren, als sie an Erfahrung dazugewonnen und
bereits mehrere Bücher veröffentlicht hatte, kritisch über die Naivität ihrer ersten
Autobiographie:
In The Story of My Life, which I wrote with the carelessness of a happy, positive young
girl, I failed to stress sufficiently the obstacles and hardships which confronted my
Teacher -- and there are other defects in the book which my mature sense of her sacrifice
will not permit to go uncorrected. (Teacher 39)
Sie gibt zu, durch ihren euphorischen, vereinfachenden Stil dazu beigetragen zu haben, daß so
abnorme „Wundermeldungen“ über sie entstehen konnten, wie die Presse sie verbreitete:
Exceedingly I regret that in The Story of My Life I was careless in what I wrote about the
progress Helen made in language and in learning to speak. The narrative was so
telescoped that it seemed to ordinary readers as if Helen in a single moment had „grasped
the whole mystery of language.“ What misunderstandings I must have created by my
95
Braddy 1934, 197/8. 96
Vgl Jaedicke 1979, 84.
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artless account of what I am sure a critical, mature person would have presented with a
proper sense of perspective. (Teacher 41)
Ihre Lebensgeschichte einen „kunstlosen Bericht“ zu nennen ist jedoch eine Untertreibung, da er
rhetorisch sicherlich auf sehr hoher Stufe anzusiedeln ist. Im Nachhinein beklagt Helen Keller
auch, ihren vorsprachlichen Zustand nicht korrekt dargestellt zu haben; dies versucht sie später
wiederholt in The World I live in und in Teacher, wo sie auf die „Nichtwelt“ des „Phantoms“
eingeht. „[...] [I]n The Story of My Life [...] I did not properly analyze the child’s state before she
was taught, or the successive phases by which she learned language, or the naturalness of
Teacher’s method.“ (Teacher 48)
Das Erscheinen ihrer Biographie hatte vielzählige Reaktionen der Öffentlichkeit zur
Folge, positive wie negative. Helen Keller wurde mit einer Flut von Briefen und Reviews
überschüttet. Mark Twain war einer derjenigen, der auch den Beitrag ihrer Lehrerin zu dem Buch
würdigte:
I am charmed with your book -- enchanted. You are a wonderful creature, the most
wonderful in the world -- you and your other half together -- Miss Sullivan, I mean -- for
it took the pair of you to make a complete & perfect whole. How she stands out in her
letters! her brilliancy, penetration, originality, wisdom, character, & the fine literary
competencies of her pen -- they are all there.97
Eine anonyme Review aus der New York Nation, auch in der New York Post veröffentlicht, ist
die härteste Kritik, die über The Story of my Life gedruckt wurde. Der Verfasser äußert zwar
Mitleid aufgrund von Helens Schicksal sowie Bewunderung für das von ihr Erreichte, spricht ihr
aber jegliche „literary sincerity“ ab. Er verurteilt ihren Sprachgebrauch, da eine Taubblinde
seiner Meinung nach auf ein bestimmtes Vokabular zu verzichten habe, und behauptet, sie maße
sich an, über Dinge zu schreiben, von denen sie aufgrund ihrer Behinderung gar keine genaue
Vorstellung haben könnte -- und wenn, dann nur, weil andere sie ihr beschrieben haben. So
verhält es sich angeblich mit dem Wort „Schönheit“, das für Helen Keller nichtssagend sei,
solange es ihr nicht gedeutet werde: „When she defines beauty as a form of goodness, she is
merely repeating one of those mystical sayings that have truth only for those who do not think
for themselves.“98
Damit kommt er dem Plagiatsvorwurf verdächtig nahe. Er zweifelt an, daß
vieles, worüber Helen Keller schreibt, auch ihr Eigenes ist.
97
Paine 1980, 1199. 98
Braddy 1934, 202.
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All her knowledge is hearsay knowledge, her very sensations are for the most part
vicarious, and yet she writes of things beyond her power of perception with the assurance
of one who has verified every word.
It seems cruel to criticize this unfortunate girl who has made so much of nothing, whose
life has been one long courageous effort to overcome her terrible disadvantages. No one
can help feeling the utmost sympathy for her deprivations, the greatest admiration for her
pluck. And yet the criticism must be expressed, not so much for her own sake as because
her writing exemplifies in a wonderful way the disregard of a principle for which writers
who have the true vocation would lay down their lives. Literary sincerity is so entirely
absent from it that the subject spills over from the domain of literature into that of ethics.
If she were to be judged like less afflicted mortals, we should have to call a great deal of
Miss Keller’s autobiography unconscientious.99
Hier erhebt sich der Verfasser des Artikels zum Schöpfer eines „Prinzips, für das Schriftsteller
mit einer wahren Berufung ihr Leben lassen würden“, welches er als allgemeingültig hinstellt. Er
vermißt in Helen Kellers Werk die „literarische Aufrichtigkeit“. Anhand einer Metapher aus
dem Bereich der Flüssigkeiten „the subject spills over from...“ will er zeigen, daß der Fall einen
fließenden Übergang vom literarischen zum ethischen Bereich aufweist. Helens Ausdrucksweise
ist für ihn unethisch, da sie dieselbe ist wie diejenige gesunder Menschen. Er zählt mehrere
Beispiele von Vokabeln auf, die sie zu vermeiden habe, und zitiert Textstellen aus ihrem Werk.
So kritisiert er zum Beispiel die folgende:
The glorious bay lay calm and beautiful in the October sunshine, and the ships came and
went by like idle dreams; those seaward going slowly disappeared like clouds that change
from gold to grey; those homeward coming sped more quickly, like birds that seek their
mother’s nest. ...100
Nach seiner Theorie hat Helen Keller kein Recht, das Wort „beautiful“, die Farbadjektive „gold“
und „grey“ sowie die Vergleiche „like idle dreams“, „like clouds that change“ und „like birds
that seek their mother’s nest“ zu verwenden, da sie weder Farben, Wolken noch Vögel mit den
Augen bzw. Ohren wahrnehmen kann. Viele bezweifelten, ob sie überhaupt träumen könne, da
sie ja keine Bilder im Traum sehen kann. Wie würden jedoch ihre Bücher ohne die zahlreichen
Anspielungen auf Farbe, Licht und Ton aussehen? Die künstliche Restriktion auf ein begrenztes
Vokabular für Blinde war übrigens zu jener Zeit in Amerika und Europa eine weit verbreitete
Methode. Eine soziale Folge ihrer Behinderung war, daß Blinde nicht für ihren eigenen
99
Ibd. 100
zitiert nach Braddy 1934, 202.
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Lebensunterhalt sorgen und deshalb auch kaum heiraten konnten. Aus diesem Grund strichen
die Lehrpläne vieler Blindenschulen sämtliche Anspielungen auf das Thema „Liebe“, weil man
diesen armen Wesen ihre innere Ruhe nicht zerstören wollte, indem man ihnen Leidenschaften
präsentierte, die sie selber nicht leben konnten. Im Deutschen Reich geriet z.B. Schillers Don
Carlos auf den Index, und vor 1914 sangen die blinden Kinder im Schulchor statt „Du, du, nur
du allein, sollst mein Schatz und Liebster sein“, das harmlosere „sollst mein Freund und Bruder
sein“.101
Der Verfasser dieser Review aus der New York Nation war nicht der einzige, der Helen
Keller einen illegitimen Sprachgebrauch102
zuschrieb. In den zwei folgenden ausgewählten
Werken soll gezeigt werden, wie die Schriftstellerin sich dieser Herausforderung stellte.
5.3 Meine Welt (1908) und Dunkelheit (1909)103
Der Vergleich dieser beiden Bändchen bietet sich geradezu an, da Helen Keller in Dunkelheit
einen Rückzieher vor der öffentlichen Meinung macht und das schreibt, worum sie gebeten wird,
während sie in Meine Welt diejenigen verhöhnt, die ihr vorschreiben wollen, wo die Grenzen
ihrer Themenwahl und ihres Sprachgebrauchs zu liegen haben.
Dunkelheit leitet sie mit einer ironischen Danksagung an ihren Herausgeber ein, die
eigentlich ein Vorwurf dafür ist, daß er ihr das Wort verbietet: „[...] ich danke ihm für seine
freundliche Teilnahme [...]. Dafür kommt ihm aber nicht nur mein Dank, sondern auch die
Verantwortlichkeit zu. Denn auf seinen und anderer Herausgeber Wunsch geschieht es, daß ich
soviel von mir selber spreche.“ (Dunkelheit 7) Helen Keller bemerkt ganz richtig, daß sich
101
Vgl. Jaedicke 1979, 104. 102
John Macy verteidigt Helen Keller: „There is no reason why she should strike from her vocabulary all
words of sound and vision. Writing for other people, she should in many cases be true to outer fact rather
than to her own experience. So long as she uses words correctly, she should be granted the privilege of
using them freely [...]. [...] In her style, [...] we must concede to the artist what we deny to the
autobiographer. It should be explained, too, that look and see are used by the blind, and hear by the deaf,
for perceive; they are simple and more convenient words. Only a literal person could think of holding the
blind to perception or apperception, when seeing and looking are so much easier [...]. (The Story of my Life.
Part III. Chapter V: „Literary Style“, 424. 103
Leider konnten im zeitlich gesteckten Rahmen diese beiden Werke nur in der deutschen Übersetzung
beschafft werden.
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niemand etwas daraus macht, was sie über den Zolltarif oder die Dreyfusaffaire zu sagen hat.
Der Presse geht es lediglich um die immer gleiche Darstellung des „Wunders“ ihres
Spracherwerbs und um Kuriositäten, z.B. ob sie im Schlaf mit den Fingern buchstabiert.
Wenn ich mich erbiete, das Erziehungssystem der Welt zu reformieren, sagen meine
Freunde, die Zeitschriften-Herausgeber: Das ist interessant. Aber wollen Sie uns doch
bitte sagen, welche Begriffe Sie von Güte und Schönheit hatten, als Sie sechs Jahre alt
waren? -- Zuerst ersuchen sie mich, das Leben des Kindes zu schildern, das des Weibes
Mutter ist. Dann machen sie mich zu meiner eigenen Tochter und verlangen einen Bericht
über die Empfindungen einer Erwachsenen. Schließlich werde ich ersucht, über meine
Träume zu schreiben, und werde auf diese Weise zu einer anachronistischen Großmutter
[...] (Dunkelheit 8)
Anstatt zu rebellieren, gibt sie den Herausgebern scheinbar recht und beschränkt sich auf das ihr
zugestandene Thema der Autobiographie. Ihre Ironie ist jedoch nicht zu verkennen, als sie
bedauert, daß die Welt noch so lange im Dunkeln gelassen werden müsse, bis es ihr erlaubt sei,
über wichtigere Dinge zu schreiben:
Die Herausgeber sind so freundlich zu mir, daß sie ohne Zweifel recht haben, wenn sie
meinen, nichts von dem, was ich über die Weltangelegenheiten zu sagen hätte, würde
interessant sein. Bis sie mir nun Gelegenheit geben, über Themata zu schreiben, die
außerhalb meines Ichs liegen, muß die Welt unbelehrt und unverbessert ihren Gang
weitergehen, und ich kann weiter nichts tun, als daß ich so gut, wie es in meinen Kräften
steht, über das einzige kleine Thema schreibe, das man mir zu behandeln erlaubt.
(Dunkelheit 9)
Im Gegensatz dazu ist Meine Welt eine einzige Sammlung von Beweisen, wessen sie alles fähig
und weshalb sie berechtigt ist, die Sprache ebenso zu gebrauchen wie nicht behinderte
Menschen. So kommentiert sie einen Zeitungsartikel, der den Blinden ein bestimmtes Vokabular
verbieten will:
Vor einigen Monaten erschien in einer Zeitung, die die Veröffentlichung des „Mathilda-
Ziegler Magazine for the Blind“ ankündigte, folgende Bemerkung: „Manche Gedichte
und Geschichten müssen ausgelassen werden, weil sie von Sehen handeln. Anspielungen
auf Mondstrahlen, Regenbogen, Sternenlicht, Wolken und schöne Landschaften dürfen
nicht gedruckt werden, weil sie dem Blinden sein trauriges Schicksal besonders bitter
zum Bewußtsein bringen würden.“ (Meine Welt 5)
Helen Keller wehrt sich in einem rhetorisch raffinierten Gegenzug mit der Schlußfolgerung:
„Das heißt also: Ich darf nicht von schönen Häusern und Gärten sprechen, weil ich arm bin. Ich
darf nicht von Paris und Westindien lesen, weil ich diese Gegenden nicht [...] aufsuchen kann.
Ich darf nicht vom Himmel träumen, weil ich vielleicht niemals hineinkommen werde.“ (Meine
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Welt 5/6) Diese Folgerung ist zwar logisch (ganz nach der Logik der „Kritiker“) aufgebaut,
ergibt aber nur Unsinn. „Die Kritiker haben ihr Vergnügen daran, uns zu sagen, was wir nicht
können [...], und folgern nun daraus, wir haben kein moralisches Recht, von Schönheit,
Himmelserscheinungen, Bergen, Vogelsang und Farben zu reden.“ (Meine Welt 6) Helen Keller
mokiert sich darüber, daß manche Kritiker auch den Tastsinn nur als „stellvertretend“
empfänden: „Sie leugnen a priori, was sie nicht gesehen haben und was ich doch gefühlt habe.“
(Meine Welt 7) Mit beißendem Sarkasmus verhöhnt sie die Ungläubigen:
Einige wackere Zweifler gehen sogar so weit, meine Existenz zu leugnen. Um nun
wenigstens selber zu wissen, daß ich existiere, nehme ich meine Zuflucht zu Descartes’
Methode: Ich denke, also bin ich. So steht denn metaphysisch meine Existenz fest, und
ich schiebe den Zweiflern die Mühe zu, meine Nichtexistenz zu beweisen. (Meine Welt 7)
Sie läßt ihre Argumentation in einer rhetorischen Frage auslaufen: „[...] ist es [...] nicht
erstaunlich, daß ein Mensch sich herausnimmt, festzustellen, was einer wissen kann oder nicht
wissen kann?“ (Meine Welt 7) Zugleich hält sie dem Hinweis, sie könne von vielen Dingen gar
keine Ahnung haben, triumphierend entgegen: „Desgleichen aber, mein selbstbewußter Kritikus,
gibt es Myriaden von Empfindungen, die ich wahrnehme, und von denen du dir nicht träumen
lässest.“ (Meine Welt 7) Man erkennt deutlich den trotzigen Grundton dieses Büchleins; die auf
diese Einleitung folgende Kapitel sind eine einzige Rechtfertigung. Sie gehen konkret auf „ihre
Welt“ ein und liefern Beschreibungen ihrer Sinneswahrnehmungen. Dabei muß sich der Leser
häufig den Vorwurf gefallen lassen, daß er selbst den Taubblinden gegenüber in mancherlei
Beziehung benachteiligt und höchstwahrscheinlich „geruchsblind und -taub“ ist (vgl. Meine Welt
42). So kann Helen Keller z.B. Personen an ihrem Geruch oder an ihrem Händedruck erkennen
und durch Erschütterung des Bodens fühlen, wer oder was sich ihr nähert. Auch Musik kann sie
durch Vibrationen spüren. Des weiteren spricht sie von Analogien in Sinneswahrnehmungen:
„Ich begreife, daß Scharlachrot sich von Purpurrot unterscheiden kann, weil ich weiß, daß der
Duft einer Orange nicht der Duft einer Pomeranze ist.“ (Meine Welt 69) Solche Analogien helfen
ihr zu verstehen, daß es Farbabtönungen gibt. Sie beharrt auf ihrem Recht zu sagen „ich sehe“:
Wenn ich sage: „Oh, ich sehe meinen Irrtum!“ oder „Wie dunkel, freudlos ist sein
Leben“, so ist das nicht eine herkömmliche Redensart, sondern ein zwingendes Gefühl
für Wirklichkeit [...]. Ich weiß, diese Ausdrücke sind Gleichnisse. Aber ich muß es mit
ihnen versuchen, weil es in unserer Sprache nichts gibt, was sie ersetzen könnte.
Entsprechende bildliche Ausdrücke für Taub-Blinde sind nicht vorhanden und auch nicht
notwendig. Weil ich das Wort „reflektieren“ bildlich verstehen kann, ist ein Spiegel für
mich niemals etwas Rätselhaftes gewesen. (Meine Welt 91)
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Sie spricht von „Ideenverbindungen und Korrespondenzen“, womit sie sagen will, daß sie von
den Wahrnehmungen der ihr verbliebenen Sinne „Gefühl“ und „Geruch“ Analogien zieht zu
Eindrücken und Erfahrungen. Helen Keller zeigt dem Leser die katastrophale Folge auf, wenn
man ihr solche „Korrespondenzen“ verweigern würde: „beschränkt mich auf die
fragmentarische, zusammenhanglose Welt, die man berühren kann, und seht, ich flattere ratlos
umher wie eine Fledermaus.“ (Meine Welt 91) Müßte sie sich auf ein bestimmtes Vokabular
beschränken, würden ihre Wißbegierde, neue Kenntnisse zu erwerben, schrumpfen und ihre
seelischen Empfindungen abstumpfen. Voller Trotz stellt sie den Leser vor eine ganze Reihe
rhetorischer Fragen:
Ist etwa irgendwie bewiesen worden, daß diese Korrespondenz kein angemessenes Mittel
ist? Ist jemals im Gehirn eines Blinden eine Kammer geöffnet und leer gefunden worden?
Hat jemals ein Psychologe den Geist eines Blinden untersucht und sagen können: „Es ist
keine Empfindung vorhanden“? (Meine Welt 92)
In einem rhetorisch meisterhaften Gegenzug beschwert sich Helen Keller halb humorvoll, halb
ärgerlich über den „Geistesvandalen“, den Skeptiker, er ihr die Ideenverbindungen streitig
machen will:
Aus diesen Materialien schmiedet die Phantasie [...] ein Bild, das der Skeptiker mir
abstreiten möchte, weil ich nicht mit meinen körperlichen Augen das wechselnde
liebliche Antlitz meines Gedankenkindes sehen kann. Er möchte den Spiegel des Geistes
zerschlagen. Dieser Geistesvandale möchte meine Seele demütigen und mich zwingen,
den Staub der Materie zu schlucken. Während ich an dem Bissen des Umstandes kaue,
geißelt und spornt er mich mit dem Stachel der Tatsache. Wenn ich auf ihn achten wollte,
würde das schöne Antlitz der Erde in Nichts verschwinden [...]. (Meine Welt 93)
Die Metapher „Gedankenkinder“ verdeutlicht, wie lieb und teuer ihr manche Vorstellungen sind,
die sie sich nicht nehmen lassen will. Die Metapher der Unterwerfung „den Staub der Materie
schlucken“ soll zeigen, daß der Skeptiker sie zu Boden zwingen will. Sie hat an dem „harten
Bissen“ ihrer Behinderung „zu kauen“, d.h. sie versucht, aus ihrem eingeschränkten Leben das
Beste zu machen. Die Metapher der Folter „geißelt und spornt mich mit dem Stachel der
Tatsache“ veranschaulicht bildlich, daß der Skeptiker immer wieder „stichelt“, daß sie ja taub
und blind ist, was ihr auch nicht weiter hilft.
Sie wiederholt mehrfach, daß geistige Wahrnehmung durch Blindheit nicht beschränkt
wird, und wirft dem Leser erneut einen Wust rhetorischer Fragen an den Kopf, die so lächerlich
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sind, daß man ihre Position als richtig ansehen muß. Hier wird wieder ihre „cocksureness“
deutlich, derer sie sich im Nachhinein selbst einmal rügte; sie behält wie immer das letzte Wort:
Mein geistiger Horizont ist unendlich weit. [...] Würden jene, die mich in den engen
Grenzen meiner kümmerlichen Sinne bleiben heißen, von Herschel verlangen, er solle
seiner Sternenwelt ein Dach aufsetzen und uns Platos festes Firmament von gläsernen
Halbkugeln zurückgeben? Würden sie Darwin aus dem Grabe entbieten und ihm
befehlen, seine geologischen Zeiträume auszustreichen und uns dafür ein paar armselige
Jahrtausende zurückzugeben? Oh, die hochmütigen Zweifler! Sie sind immer bemüht,
dem aufwärts strebenden Geist die Flügel zu stutzen. (Meine Welt 94)
Mit diesen Allusionen an berühmte Forscher und Wissenschaftler zeigt sie, daß ihre Skeptiker
von gesunden Personen auch keine Rückschrittlichkeit erwarten. Analog folgert sie, daß man ihr
auch keine krampfhafte Einengung der Sprache abverlangen kann, um sie auf diese Weise in
ihrer Entwicklung zu hemmen. Durch die Metapher „dem aufwärts strebenden Geist die Flügel
stutzen“ verdeutlicht Helen Keller, daß sie eine geistige Kastration nicht hinnehmen wird.
Helen Keller geht erwartungsgemäß davon aus, daß der Leser einige ihrer Schilderungen
anzweifeln wird. So schreibt sie z.B., daß ihre Vorstellung von Dingen auf der Verbindung von
Gefühlswahrnehmungen mit Ideen und erworbenen Kenntnissen beruht. Sie vergleicht Gerüche,
die nicht mit Dingen, die sie kennt (Jahreszeiten, Häuser, Personen) in Verbindung gebracht
werden können, mit dem Stimmen eines Instrumentes, was ja auch keine Melodie, geschweige
denn eine Symphonie ergäbe. Da Helen Keller befürchten muß, daß ihre Leser ihr den
musikalischen Vergleich eben aufgrund ihrer Behinderung nicht abnehmen werden, fügt sie
angriffslustig hinzu:
(Für solche, die stets einer Beruhigung bedürfen, will ich sagen, daß ich einen Musiker
befühlt habe, der seine Geige stimmte, daß ich von einer Symphonie gelesen habe und
daher eine vollauf genügende geistige Vorstellung des von mir gebrauchten Gleichnisses
besitze.) (Meine Welt 59/60)
Viele Jahre später gesteht Helen Keller in ihrer zweiten großen Autobiographie: „I do not
remember writing anything in such a happy mood as The World I Live In. I poured into it
everything that interested me at one of the happiest periods of my life -- my newly discovered
wealth of philosophy [...].“ (Midstream 34) Man merkt, daß ihr das Argumentieren Spaß macht.
Auch in Teacher blickt sie, bereits als ältere Dame, genüßlich auf dieses Werk zurück: „[...] I
wrote The World I Live In with glee, laughing at the critics [...]. It was a genuine pleasure for me
to show how I could get fun out of playing with words whose meaning I could guess only from
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analogy and imagination.“ (Teacher 199) A propos Plagiat -- ihr wäre beinahe wieder ein faux
pas unterlaufen, denn sie hatte für ihr Buch The World I Live In, das zunächst in Form von
einzelnen Essays im Century erschienen war, einen Titel gewählt, den bereits Jane Austen einem
ihrer Werke gegeben hatte: „The essays appeared in the magazine under the title, ‘Sense and
Sensibility [...]’.“ (Midstream 34) Diese Antithese hätte gerade gut zu ihren Ausführungen über
die „Sinne“ bzw. die „Ideenverbindungen“ gepaßt.
In keinem ihrer anderen Werke, außer vielleicht in Wie ich Sozialistin wurde, nimmt
Helen Keller ihren Widersachern gegenüber eine derart bissige Haltung ein.
5.3 Out of the Dark (1913)
Interessanter Weise trägt Out of the Dark mit dem Untertitel Essays, Letters, and Addresses on
Physical and Social Vision die Widmung: „To My Mother“ -- abgesehen von humanitären
Kapiteln wie „What to Do for the Blind“ und „The Education of the Deaf“ enthält diese
Sammlung nämlich größtenteils revolutionäre und weltanschauliche Kapitel wie „How I Became
a Socialist“, „A Letter to an English Woman-Suffragist“ und „The Message of Swedenborg“, die
absolut nicht den Ansichten von Helen Kellers anti-sozialistisch eingestellter Mutter, die
Anhängerin der Episcopalian Church war, entsprachen.
Das Kapitel „How I Became a Socialist“, zuerst veröffentlicht im New Yorker Call, einer
sozialistischen Zeitung, verdient eine genauere Analyse, weil sich Helen Keller hier mit
unwahren Presseaussagen über ihre politischen Aktivitäten auseinandersetzt. Zuerst berichtet sie,
daß sie durch das Lesen sozialistischer Werke zur Sozialistin geworden sei -- sie hat sich ihre
Auffassung also selbst angeeignet. Dann liefert sie eine Richtigstellung der Anschuldigungen
eines Artikels aus The Common Cause, der auch im Life Issue erschienen ist (in zwei anti-
sozialistischen Publikationen):
For twenty-five years Miss Keller’s teacher and constant companion has been Mrs. John
Macy, formerly of Wrentham, Mass. Both Mr. and Mrs. Macy are enthusiastic Marxist
propagandists, and it is scarely surprising that Miss Keller, depending upon this lifelong
friend for her most intimate knowledge of life, should have imbibed such opinions. (Out
of the Dark 22)
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Sie betont, daß ihre Lehrerin Anne Sullivan Macy überhaupt keine Marxistin gewesen sei, und
daß Mr. Macy sich weniger über Sozialismus mit ihr unterhalten habe, als sie es gewünscht hätte.
Ein anderer Abschnitt dieses Artikels trug die Überschrift: „Schenectady Reds Are Advertising;
Using Helen Keller, the Blind Girl, to Receive Publicity“. (Out of the Dark 22) Die Leser sollten
Mitleid mit Helen Keller empfinden (das „blinde Mädchen“ war schon 33 Jahre alt!), die
angeblich von den Kommunisten zu Werbezwecken geködert worden sei:
It would be difficult to imagine anything more pathetic than the present exploitation of
poor Helen Keller by the Socialists of Schenectady. For weeks the party’s press agencies
have heralded the fact that she is a Socialist, and is about to become a member of
Schenectady’s new Board of Public Welfare. (Out of the Dark 22/23)
Hierauf hätte Helen Keller gerne eine satirische Antwort gegeben, aber sie beschränkt sich
darauf, ihre Verachtung für das Blatt auszudrücken:
There is a chance for satirical comment on the phrase, „the exploitation of poor Helen
Keller.“ But I will refrain, simply saying that I do not like the hypocritical sympathy of
such a paper as the Common Cause, but I am glad if it knows what the word
„exploitation“ means. (Out of the Dark 23)
Man kann nicht umhin, den ärgerlichen Grundton in „How I became a Socialist“ zu bemerken.
Auf solches Mitleid kann Helen Keller verzichten. Als sie plante, auf Einladung der Sozialisten
nach Schenectady zu übersiedeln, woraus letzten Endes dann doch nichts wurde, erschienen in
der kapitalistischen Presse wieder Falschmeldungen.
But the reporters of the capitalist press got wind of the plan, and one day [...] the
Knickerbocker Press from Albany made the announcement. It was telegraphed all over
the country, and then began the real newspaper exploitation. By the Socialist press? No,
by the capitalist press. The Socialist papers printed the news, and some of them wrote
editorials of welcome. [...] [T]he Citizen [...] preserved silence and did not mention my
name during all the weeks when the reporters were telephoning and thelegraphing and
asking for interviews. It was the capitalist press that did the exploiting. Why? Because
ordinary newspapers care anything about Socialism? No, of course not; they hate it. But
because I, alas, am a subject for newspaper gossip. (Out of the Dark 23/24)
Im folgenden kritisiert Helen Keller die finanziellen Drahtzieher, die hinter der kapitalistischen
Presse stehen; mittels der Metapher „obedient to the hand that feeds them“ stellt sie dar, wie
vorprogrammiert der Kampf gegen den Sozialismus ist:
I like newspaper men. I have known many, and two or three editors have been among my
most intimate friends. Moreover, the newspapers have been of great assistance in my
work which we have been trying to do for the blind. [...] But Socialism -- ah, that is a
different matter! [...] The money power behind the newspapers is against Socialism, and
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the editors, obedient to the hand that feeds them, will go to any length to put down
Socialism [...]. (Out of the Dark 26/7)
Im nächsten Abschnitt verhöhnt Helen Keller einen Zeitungsmann, der sie bei einer
Versammlung im Interesse der Blinden kennengelernt und ihr zahlreiche Komplimente gemacht
hatte. Kaum interessierte sich die Kämpferin für die Sache der Blinden jedoch für den
Sozialismus, schien die Meinung des Zeitungemannes umgeschlagen zu sein -- er sah sie als
defekten Menschen mit eingeschränkter Urteilsfähigkeit:
The Brooklyn Eagle says, apropos of me and Socialism, that Helen Keller’s „mistakes
spring out of the manifest limitations of her development.“ Some years ago I met a
gentleman who was introduced to me as Mr. McKelway, editor of the Brooklyn Eagle. It
was after a meeting that we had in New York in behalf of the blind. At that time the
compliments he paid me were so generous that I blush to remember them. But now that I
have come out for Socialism he reminds me and the public that I am blind and deaf and
especially liable to error. I must have shrunk in intelligence [...]. Surely it is his turn to
blush. (Out of the Dark 27/8)
Ihre Ironie wird immer schneidender, was vor allem an dem Einschub zu erkennen ist, ihr
Verstand müsse in der Zwischenzeit sehr zurückgegangen sein. Im folgenden verdeutlicht sie
anhand einer Personifizierung der Zeitschrift, was für ein „kühner Vogel“ der lächerliche
Brooklyn Eagle sei. Desweiteren wird die industrielle Tyrannei personifiziert, die dem „Adler“
die Ohren verstopfe und die Sicht trübe.
Oh, ridiculous Brooklyn Eagle! What an ungallant bird it is! Socially blind and deaf, it
defends an intolerable system [...]. The Eagle is willing to help us prevent misery,
provided, always provided, that we do not attack the industrial tyranny which supports it,
and stops its ears, and clouds its vision. The Eagle and I are at war. [...] It is not fair
fighting or good argument to remind me [...] that I cannot see or hear. I can read. I can
read all the Socialist books I have time for, in English, German, and French. If the editor
of the Brooklyn Eagle should read some of them he might be a wiser man and make a
better newspaper. (28/9)
Wie auch in Meine Welt muß sich Helen Keller rechtfertigen -- sie sei zwar taub und blind,
könne aber lesen, und das sogar in mehreren Sprachen; sie sei also durchaus in der Lage, sich
eine eigene politische Weltanschauung zurechtzulegen. Nach der Betrachtung eines Werkes
Helen Kellers über Politik soll nun ein Band über Religion analysiert werden. Auch in My
Religion muß sich Helen Keller gegen die Vermutung durchsetzen, ihre intimsten Vertrauten
hätten ihr ihre religiösen Überzeugungen eingetrichtert.
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5.4 My Religion (1927)104
Als dieses Bändchen 1927 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, erschien ein Begleitwort: „My
Religion is not a literary production prepared for publication; it is a public profession of faith, a
spontaneaous utterance of the heart, a grateful tribute to Swedenborg.“ (Preface XIII) Helen
Kellers Verleger bei Doubleday hatte wenig Interesse für ein so religiöses Werk, ganz zu
schweigen von Anne Sullivan Macy, die zum Bedauern ihrer Schülerin gar keine Beziehung zu
irgendeiner Form von Religion hatte. Deshalb war Helen Keller bei der Organisation ihres
Werkes ziemlich auf sich alleine gestellt, was eine etwas chaotische Anordung ihrer Kapitel zur
Folge hatte. Ihre Schwierigkeiten, ohne einen fähigen „editor“ auskommen zu müssen, werden in
einem Brief an Rev. Paul Sperry, Anhänger der New Church Swedenborgs, deutlich -- hier zeigt
sie durch die Metapher „Valley of Despond“, wie hoffnungs- und aussichtslos ihr Unterfangen
schien:
I am wandering forlornly in the Valley of Despond. There is something weighing me
down to earth. It should be a book, but it is not. It is only the faintest resemblance of a
book. Indeed, the resemblance is so slight that I doubt it would occur to anybody but
myself to notice it. Mrs. Macy keeps insisting that I should send this undisciplined
offspring of my brain to you as it is, “without one plea.“ But I am fearful that you would
not see anything in it. (Preface XII)
Helen Keller hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn My Religion wurde ein
Verkaufsschlager. Dieses „undisziplinierte Gedankenkind“ kommt auch gleich zur Sache -- der
Leser wird direkt angeredet, denn ähnlich wie in Meine Welt muß sich Helen Keller zunächst
einmal gegen die Stimmen rechtfertigen, die behaupten, ihr wäre ihre religiöse Weltanschauung
aufgezwungen worden: „Do I hear someone say, ‘But is not deaf and blind Helen Keller liable to
be imposed upon by those whose opinions or dogmas or political ideals are confined to a small
minority?’ “ (53)
Wenngleich sie in schwärmerischen Tönen über Swedenborg philosophiert, so
unterstreicht sie doch immer wieder, daß eventuelle Irrtümer nicht auf ihrer Behinderung
beruhen. Sie verlangt, daß man sie wie einen normalen Menschen behandelt, der auch Fehler
machen kann, und der sich zu seinem Glauben bekennt: „Any defect there may be in my own
judgment of him is evidently not due to my physical limitations.“ (55)
104
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die überarbeitete Fassung Light in My Darkness.
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Inhaltlich beginnt sie, wie in fast allen ihrer Werke, bei ihrer vorsprachlichen Zeit.
Hingegen vieler Thesen, ob sie nicht doch irgendwelche „Vorstellungen“ gehabt habe, sagt sie
klipp und klar, sie hätte keinerlei Vorstellung vom Tod oder von Gott gehabt:
For nearly six years I had no concepts whatever of nature or mind or death or God. I
literally thought with my body. Without a single exception my memories of that time are
tactile. [...] I know I was impelled like an animal to seek food and warmth. I remember
crying, but not the grief that caused the tears; I kicked, and because I recall it physically, I
know I was angry. [...] I was like an unconscious clod of earth. (Kapitel 1:„My Mental
Awakening“, n.p.)
Sie bezeichnet sich in einem Vergleich als einen „Klumpen Erde“ ohne Bewußtsein. Nachdem
sie ihre Situation ausreichend geschildert hat, beschreibt sie die „Brunnenszene“; doch im
Gegensatz zu ihren anderen Werken, wo die Betonung auf ihrer Errettung durch Anne Sullivan
liegt, wird die „Erleuchtung“ hier religiös gedeutet:
Now I see it was my mental awakening. I think it was an experience in the nature of
revelation. [...] When the sun of consciousness first shone upon me, behold a miracle!
The stock of my young life that had perished, now steeped in the waters of knowledge,
grew again, budded again, was sweet again with the blossoms of childhood. [...] That
word “water“ dropped into my mind like the sun in a frozen winter world. (21)
Ihre Errettung erscheint ihr als „Wunder“ (was später in Gibsons Film The Miracle Worker
wiederaufgegriffen wird), und in metaphernreicher Sprache beschreibt sie, wie die „Sonne des
Bewußtseins“ plötzlich auf sie herniederschien. In Allusion an ihr erstes Wort „w-a-t-e-r“
verwendet sie die Metapher „waters of knowledge“: bildreich drückt sie aus, wie das Pflänzlein
ihrer Jugend, das bereits dahingewelkt war, mit dem Wasser des Wissens getränkt wurde und
wieder wuchs und blühte und die süßen Knospen der Kindheit entfaltete.
Im folgenden beschreibt sie durch eine Metaphorik von Licht und Wasser, was
Swedenborg, den sie mit 16 Jahren zum erstenmal las und für sich entdeckte, für sie bedeutete:
The doctrines set forth by Swedenborg bring us by a wondrous path to God’s City of
Light. I have walked through its sunlit ways of truth; I have drunk of its sweet waters of
knowledge; and the eyes of my spirit have been opened [...]. (156)
Auch die häufige Metapher des Weges („wondrous path“; „sunlit ways of truth“) wird
angewandt. Ihre Blindheit bringt sie ins Spiel durch die Metapher der geöffneten „eyes of my
spirit“, die eine Antithese zu ihren blinden Augen darstellen. Helen Keller geht auf ein Werk
Swedenborgs ein, das großen Eindruck bei ihr hinterlassen hat:
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His Divine Love and Wisdom is a fountain of life that I am always happy to be near. [...] I
bury my fingers in this great river of light that is higher than all the stars, deeper than the
silence that enfolds me. [...] I plunge my hands deep into my large Braille volumes
containing Swedenborg’s teachings, and withdraw them full of the secrets of the spiritual
world. (156/7)
Durch die Metapher „fountain of life“ beschreibt Helen Keller, daß die Lehren Swedenborgs für
sie zu einer Lebensquelle geworden sind. Weiterhin symbolisieren die Verben „bury my
fingers“, „plunge my hands deep into“ und „withdraw them full of“ die spirituelle
Reichhaltigkeit, aus der sie im wahrsten Sinne des Wortes „schöpft“. Durch die parallelistisch
angeordnete Antithese „higher than the stars -- deeper than the silence“ wird auf ihre Taubheit
angespielt.
Helen Keller kann sich ein Leben ohne Religion nicht vorstellen. Doch auch in My
Religion muß sie stilistisch wieder gegen die berühmt-berüchtigten „Kritiker“ zu Felde ziehen,
die ihr nicht einmal ihre Philosophie gönnen wollen:
I cannot imagine myself living without religion. I could as easily fancy a living body
without a heart. [...] I am aware that some learned critics will break me on the wheel of
their disdain. They will try to mend my poor philosophy on the anvil of their keen mirth
with the hammer of reasons culled from science. (150)
Der Vergleich mit einem „lebenden Organismus ohne Herz“ verdeutlicht, wie unmöglich ihr ein
Leben ohne Religion erscheint. Die Metapher „wheel of disdain“, also eine Art Folterinstrument,
auf dem die Kritiker sie brechen wollen, veranschaulicht Helen Kellers Schwierigkeit, ihre
eigene Meinung in Sachen Religion und Philosophie kundzutun gegenüber der verächtlichen
Reaktion der Kritiker. Noch anschaulicher ist die Metapher „mend my philosophy on the anvil of
their keen mirth“: die Kritiker schlagen ihre Philosophie auf dem „Amboß ihrer großen
Heiterkeit“ zurecht, d.h. sie nehmen Helen Keller nicht ernst. Als Werkzeug dient ihnen ein
„hammer of reasons culled from science“ -- d.h. sie hämmern mit wissenschaftlichen
Argumenten auf sie ein.
Wie in Meine Welt betont Helen Keller, daß sie Dinge „sieht“, von denen ihre
Mitmenschen keine Ahnung haben, weil sie die nackten Tatsachen den Visionen vorziehen:
I am often conscious of beautiful flowers and birds and laughing children where to my
seeing associates there is nothing. They sceptically declare that I see “light that never was
on sea or land.“ But I know that their mystic sense is dormant, and that is why there are
so many barren places in their lives. They prefer “facts“ to vision. They want a scientific
demonstration, and they can have it. (150)
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Die Quintessenz auch dieses Bändchens ist, daß Helen Keller wie ein normaler Mensch
behandelt werden möchte, der ein Recht auf eine eigene Glaubensauffassung hat, und dem man
nicht nachsagt, ihm seien seine ideologischen Vorstellungen aufgezwungen worden.
5.5 Midstream (1929) und Teacher (1955)
Nachdem Helen Keller bereits eine Reihe von Büchern veröffentlicht hatte, stand sie vor dem
Problem, daß ihr der Stoff ausging -- und zwar über das leidige Thema, über das alle Leute hören
wollten: sie selbst.
The editors of the magazines said, “Do not meddle with those matters not related to your
personal experience.“ I found myself utterly confined to one subject -- myself, and it was
not long before I had exhausted it. (Midstream 139)
Sie beginnt mit ihrer zweiten großen Autobiographie Midstream: My Later Life da, wo The
Story of my Life endete -- bei ihrer College-Zeit. Dann fügt sie eine Reihe von Kapiteln ein, die
sich mit ihren späteren Erfahrungen beschäftigen. Darunter fallen z.B. die zahlreichen
Experimente, die neugierige Wissenschaftler an ihr vorgenommen haben. Stilistisch
hervorstechend ist die Passage, in der sie auf humorvolle Art berichtet, daß sie fast alles über
sich habe ergehen lassen müssen -- außer einer Vivisektion:
I wonder if any other individual has been so minutely investigated as I have been by
physicians, psychologists, physiologists, and neurologists. I can think of only two kinds
of tests I have not undergone. So far I have not been vivisected of psychoanalyzed. To
scientists I am something to be examined like an aerolite or a sunspot or an atom! I
suppose I owe it to a merciful Providence that I have not been separated -- actually
separated into ions and electrons. I suppose it is only a matter of time until they will turn
an alpha particle of charged helium into the dull substance of my body, and knock the
nucleus into a million particles. The only consolation there is in such a possibility is that
it will be very hard for a taxicab to hit those miniature me’s. (Midstream 257)
Um die Lächerlichkeit der Experimentierfreudigkeit einiger Wissenschaftler hervorzuheben,
vergleicht sich Helen Keller mit den Forschungsobjekten „aerolit / sunspot / atom“ und witzelt
darüber, daß sie noch nicht in Ionen und Elektronen aufgespalten worden ist. Sehr bildreich und
mit gespieltem Ernst macht sie die Prognose, daß irgendwann ein heliumgeladenes Alphateilchen
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in die Gestalt ihres Körpers verwandelt werden und anschließend einer Kernspaltung zum Opfer
fallen wird. Sie setzt dem ganzen noch eine Pointe auf mit der witzigen Bemerkung, daß es
immerhin einen Vorteil hätte, da die Miniatur-Helens nämlich nicht mehr von einem Taxi
angefahren werden könnten.
Einen ganz anderen Ton schlägt Helen Keller an, als sie von ihrer tragischen ersten Rede
während ihrer Vortragsreisen mit Anne Sullivan berichtet. Nach all den Märchen über ihre
„fließende Redensweise“ gesteht sie mit größter Aufrichtigkeit, wie unzulänglich ihre Stimme
war, und daß sie bei ihrem ersten Auftritt in Montclair, New Jersey, einem
Nervenzusammenbruch nahe gewesen ist:
Until my dying day I shall think of that stage as a pillory where I stood cold, riveted,
trembling, voiceless. Words thronged my lips, but no syllable could I utter. At last I
forced a sound. It felt to me like a cannon going off, but they told me afterwards it was a
mere whisper. (Midstream 97)
Sie vergleicht die Bühne mit einem „Pranger“, an dem sie bloßgestellt ist. Antithetisch stellt sie
die Aussagen gegenüber, daß sich Worte an ihre Lippen drängten, sie aber keinen Ton
herausbekam. Die Antithese „cannon“ und „whisper“ verdeutlicht, wie unfähig sie war, ihre
eigene Lautstärke selbst einzuschätzen.
I was constantly between Charybdis and Scylla; sometimes I felt my voice soaring and I
knew that meant falsetto; frantically I dragged it down till my words fell about me like
loose bricks. Oh, if that kindly custom of Athens, that of accompanying an orator with a
flute, could have prevailed [...]. (Midstream 97)
Die Allusion auf die Ungeheuer aus der griechischen Mythologie zeigt, daß sie ständig zwischen
zwei Extremen hin- und herschwankt. Die Metapher „like loose bricks“ symbolisiert ihre
holpernde und polternde Aussprache. In ihrer Verzweiflung wünscht sie, der alte Brauch von
Athen, Redner mit Flötenspiel zu begleiten, wäre auch in New Jersey an diesem Tag üblich
gewesen, denn sie wäre gern im allgemeinen Lärm untergegangen. Trotz aller Unzulänglichkeit
ist sie froh, durch ihre Stimme mit den anderen kommunizieren zu können, und der Paragraph
endet mit der hoffnungsvollen Metapher: „It is not a pleasant voice, I am afraid, but I have
clothed its broken wings in the unfading hues of my dreams [...].“ (Midstream 98)
In Midstream berichtet Helen Keller u.a. auch von ihren Vaudevilleauftritten mit Anne
Sullivan und den daraus resultierenden Problemen. Hauptanliegen war ja in erster Linie, ihren
Lebensunterhalt damit zu verdienen, daß sie zwischen Musikeinlagen dem Publikum vorführte,
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wie ihre Lehrerin ihr die Sprache beigebracht hatte, wonach sie zahlreiche Fragen beantworten
mußte. Manche Veranstalter wollten sich nach solchen Vorführungen um die Bezahlung
drücken, und wenn Helen Keller darauf bestand, gab es skandalöse Schlagzeilen, die ihren
Charakter in ganz falschem Licht darstellten:
Once when we did demand payment and refused to appear when it was not made, the
audience became indignant, and the next morning the newspapers came out with a great
headline, “Helen Keller refused to speak unless she held the money in her hand.“
(Midstream 212)
Das Publikum schien nicht zu verstehen, daß Helen Keller schließlich von irgendetwas leben
mußte und nicht gratis als Verkünderin des „Wunders“ herumreisen konnte. Midstream ist
übrigens das einzige Werk, in dem sie über ihr Intimleben berichtet und ihre Affaire mit ihrem
Sekretär Peter Fagan beschreibt -- die 1982 in Gibsons Theaterstück Monday after the Miracle
viel zu herzlos dargestellt und zu abrupt beendet wird.
The young man who was still acting as my secretary in the absence of Miss Thomson,
came in and sat down beside me. For a long time he held my hand in silence, then he
began talking to me tenderly. I was surprised that he cared so much about me. [...] He
said if I would marry him, he would always be near to help me in the difficulties of life.
[...] His love was a bright sun that shone upon my helplessness and isolation. [...] For a
brief space I danced in and out of the gates of Heaven, wrapped up in a web of bright
imaginings. (Midstream 178/9)
Daß Helen sich im siebten Himmel befunden hat, fällt in Monday after the Miracle gänzlich
unter den Tisch; hier ist die Situation nach ihrer Aufdeckung nur noch „peinlich“. In Gibsons
Theaterstück schleust John Macy seinen Freund Pete sozusagen als Ersatz für Helen ein, da er
sich kein Verhältnis mit ihr leisten kann; in Midstream dagegen erwähnt Helen Keller, Peter und
Polly seien als Hilfen angestellt worden, als John seine Frau Anne verlassen habe. In Monday
after the Miracle macht sich Pete, der ein ziemlicher Frauenheld zu sein scheint, an Helen Keller
heran, während in Midstream seine Feinfühligkeit und ernste Absicht deutlich werden.
Auch in Midstream muß sich Helen Keller Kritikern gegenüber zur Wehr setzen, die ihr
das ewig gleiche Thema der Autobiographie vorschreiben wollen: „I have already said that
people are not interested in what I think of things outside myself, but there are certain subjects
about which I feel very deeply, and this book would not be an honest record of my life if I
avoided them.“ (329) Mit dieser Rechtfertigung legitimiert sie z.B. ihre Ausführungen über die
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Politik. Ein Gedanke, der Helen Keller bewegt, wovon aber niemand hören will, ist die russische
Revolution.
When we look back upon these mighty disturbances which seem to leap so suddenly out
of the troubled depths we find that they were fed by little streams of discontent and
oppression. These little streams which have their source deep down in the miseries of the
common people all flow together at last in a retributive flood. (Midstream 334)
Mittels einer Metapher zeigt sie, daß die große Flut des Widerstandes sich aus zahlreichen
kleinen Zuflüssen zusammensetzt, die von der Unzufriedenheit und Unterdrückung der Massen
herrühren, und erklärt somit die Ursprünge des Sozialismus.
Men vanish from earth leaving behind them the furrows they have ploughed. I see the
furrow Lenin left sown with the unshatterable seed of a new life for mankind, and cast
deep below the rolling tides of storm and lightning, mighty crops for the ages to reap.
(Midstream 335)
Durch die Metapher vom Ackermann beschreibt Helen Keller anschaulich, wie führende
geschichtliche Persönlichkeiten vor ihrem Tod (im Beispiel Lenin) eine Furche gezogen und die
Saat für ein neues Zeitalter ausgestreut haben, der auch die schlimmsten Stürme nichts anhaben
können. Den zukünftigen Geschlechtern stehe eine reiche Ernte bevor. Dies alles drückt die
Hoffnung aus, die Helen Keller in die russische Revolution setzt. Weiterhin zählt sie Personen
auf, die die Welt verändert haben, wie Sacco und Vanzetti, Juarès, Liebknecht, Rolland, Lenin
und Tolstoi, und die dazu beigetragen haben, die Massen für eine kurze Zeit aus ihrer Ignoranz
zu befreien.
The veil of the temple is for a moment rent in twain; Truth, piercing as lightning, reveals
the hideous thing we have made of our humanity. Then the veil is drawn, and the world
sleeps again, sometimes for centuries, but never as comfortably as it did before.
(Midstream 336/7)
Mit diesem biblischen Bild vom Vorhang im Tempel, der entzweireißt, will sie darstellen, daß
die Massen durch revolutionäre Persönlichkeiten aus ihrer Gleichgültigkeit wachgerüttelt werden
und sozusagen kurzzeitig hinter die Kulissen blicken können. Durch die Personifizierung der
Wahrheit wird deutlich, daß die Menschen erkennen, was sie angerichtet haben. Dann aber
schließt sich der Vorhang wieder (mit dem Tod der Revolutionäre), und die Welt schläft erneut.
Abgesehen von ihrer sozialistischen Einstellung wird auch ihre Glaubenshaltung deutlich.
Helen Keller fügt geradezu ein richtiges Glaubensbekenntnis ein, das sich durch die Anapher „I
believe“ auszeichnet:
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I believe that we can live on earth according to the teachings of Jesus [...]. I believe that
every question between man and man is a religious question [...]. I believe that we can
live on earth according to the fulfilment of God’s will [...]. I believe that life is given us
so we may grow in love [...]. I believe that only in broken gleams has the Sun of Truth yet
shone upon men. [...] I believe that no good shall be lost [...]. I believe in the immortality
of the soul [...]. I believe that in the life to come I shall have the senses I have not had
here [...].
(Midstream 340/1 Kursivdruck hinzugefügt)
Mittels einer Metapher über Licht und der Antithese zur Dunkelheit zeigt Helen Keller, daß ihr
Glauben ihr Kraft gibt und sie furchtlos auf ihrem Weg zum Paradies geht.
I carry a magic light in my heart. Faith, the spiritual strong searchlight, illumines the way,
and although sinister doubts lurk in the shadow, I walk unafraid towards the Enchanted
Wood where the foliage is always green [...]. (Midstream 341)
Midstream endet mit einer dunklen Vorahnung, daß der Tod ihrer Lehrerin Anne Sullivan Macy
nicht mehr fern ist. (Sie starb neun Jahre später.) Ihre Furcht, von ihr verlassen zu werden, drückt
Helen Keller durch eine Personifikation aus -- die Hoffnung hat ihr Gesicht verschleiert, und
Ängste streifen und schlagen sie bei ihrem Flug durch die Dunkelheit (wie Fledermäuse):
„Hope’s face is veiled, troubling fears awake and bruise me as they wing through the dark.“
(Midstream 344) Der letzte Absatz ihres Buches ist eine Hommage an ihre Lehrerin; in
metaphernreicher Sprache wird noch einmal beschrieben, wie sie Helen aus der Dunkelheit
rettete.
Out of the orb of darkness she led me into golden hours and regions of beautiful thought,
bright-spun of love and dreams. Thought-buds opened softly in the walled garden of my
mind. Love flowered sweetly in my heart. Spring sang joyously in all the silent, hidden
nooks of childhood, and the dark night of blindness shone with the glory of stars unseen.
As she opened the locked gates of my being my heart leapt with gladness and my feet felt
the thrill of the chanting sea. (347)
Teacher: Anne Sullivan Macy mit dem Untertitel A Tribute by the Foster-child of Her Mind ist
Helen Kellers letztes großes Werk. Endlich, nach dem Tod ihrer Lehrerin, konnte sie einmal ein
Buch schreiben, das nicht nur von ihr selber handelte. Es hatte bereits einen Vorläufer gehabt,
doch der Entwurf dieses Buches war bei einem Brand ihres Hauses in Arcan Ridge, Connecticut
zerstört worden. Helen Keller bedauerte den Verlust ihres Manuskripts zunächst sehr, wobei sie
mit der Feuer-Metaphorik spielt:
With anguish I thought of the „Teacher“ manuscript, three-fourths written, on which I
had worked in spare moments during twenty years. I said to Polly that the loss of that
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manuscript seemed to me like mutilation. Just as I said that, a fire leaped up in me, not to
burn down and blacken, but to illumine my mind and point it to a purpose. (Teacher 31)
Vielleicht ist es gut, daß der erste Entwurf verbrannt ist, denn zu Lebzeiten Anne Sullivans stand
Helen Keller ja ständig unter deren Einfluß, und sie hatte ihr noch in Midstream verboten, allzu
persönliche Details über sie zu veröffentlichen -- was eine Biographie unweigerlich mager hätte
ausfallen lassen. Helen Keller fährt fort mit der Feuer-Thematik:
[...] I perceived the shaping fire of Teacher’s spirit, and in that perspective I gained a
fresh appreciation of how the sparkle of her personality and the shadows of her blindness
[...] had been part and parcel of my life for fifty years. (Teacher 36)
Das Ziel dieses Buches formuliert sie folgendermaßen, wobei sie beim Bild des Feuers bleibt: „I
fervently hope that I may convey to my readers some gleams from the opal fires in the nature of
a woman with a heart for glorious living“. (Teacher 36) Die Überleitung zum antithetischen
Kapitel „w-a-t-e-r“ ist ebenfalls auf dieser Metaphorik fundiert: „It was a bright, clear spark from
Teacher’s soul that beat back the sooty flames of thwarted desire and temper in little Helen’s no-
world. That spark was the word ‘water.’ “ (Teacher 36) Dieses Paradoxon ist der Stichpunkt für
eine ausführliche Schilderung des vorsprachlichen Zustandes von „Phantom“ sowie ihrer
Errettung durch Anne Sullivan. Dabei verbessert Helen Keller ihre Darstellung in The Story of
my Life, die ihr zu unreif erscheint.
Sie stellt Anne Sullivans revolutionäres Erziehungssystem dar: „It was into this dense
mass of ignorance that Teacher flashed her beacon. She treated me exactly like a seeing and
hearing child“. (198) Allerdings sieht sie ihre Lehrerin dabei nicht in einem verklärten Licht,
sondern beschreibt auch ihre Determination, ja fast schon Besessenheit, etwas aus Helen zu
machen. Oftmals uferte ihr übergroßer Ehrgeiz in irreale Forderungen aus; so z.B. als sie von
Helen erwartete, sie würde ein ungeahntes Talent für Bildhauerei entwickeln. „There was music
to her in the thought that if I could only cultivate an extra sensitiveness in my touch, I might
create beautiful and significant plastic art.“ (Teacher 67) Helen mußte mit Ton üben, und ihre
Lehrerin konnte die Enttäuschung nur schwer verkraften, daß sich ihr Vorzeigekind nicht als
begnadete Künstlerin entpuppte. Helen Keller litt sehr darunter, den Idealvorstellungen ihrer
Lehrerin nicht entsprechen zu können: „There is nothing I have lived through on earth sadder
than to have lagged so far behind her desire as teacher and artist in one.“ (Teacher 63)
Gleichzeitig wehrte sich ihr Körper gegen die unsinnigen Anstrengungen: „Oh no, Teacher, you
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must not!“ cried the child, but Teacher could not curb her longing for perfection. By nature she
was a conceiver, a trail-breaker, a pilgrim of life’s wholeness.“ (Teacher 62) Um den
Anforderungen so gut wie möglich nachzukommen, arbeitete das Kind bis zur Erschöpfung: „I
wanted her to be happy, and I worked until my hands were exhausted. She read me biographies
of sculptors [...].“ (Teacher 68) Im Rückblick schildert Helen Keller in einer Mischung aus
Komik und Tragik, wie sie als Künstlerin scheiterte:
But I came to grief with a big, artificial, uninteresting fern; it did not resemble the
graceful ferns I had felt in the woods. [...] No satisfactory results appeared, and one
morning her anger flared up and she slapped my cheek with the cold wet clay. (Teacher
68)
Nach diesem Zornesausbruch bat Anne Sullivan sogleich reumütig um Verzeihung und erkannte,
daß sie ihren Liebling überfordert hatte. Ihr schrankenloser Ehrgeiz und Perfektionismus jedoch
sind ein negativer Charakterzug, den niemand außer Helen Keller, die ihn ja hautnah erlebt hat,
so treffend darzustellen wußte. Die Charakterstudie Teacher ist ihr einziges Werk, in dem sie
etwas Negatives über die „Retterin“ und „Wundertäterin“ sagt.
6 Filme und Bühnenstücke mit / über Helen Keller
Nicht nur die Presse benutzte Helen Keller, um ihre Auflagen zu steigern, sondern auch die
Filmindustrie versuchte sie zu vermarkten und aus ihrer Lebensgeschichte Kapital zu schlagen.
Eine günstige Gelegenheit bot sich, als Helen Keller in einer mißlichen finanziellen Lage war.
Sie wußte, daß mit ihrem Tod die Carnegie-Rente enden würde, und sie wollte ihre kränkelnde
Lehrerin versorgt wissen. Im Sommer 1918 trat der Hollywoodmanager Dr. Francis Trevelyan
Miller mit dem Vorschlag an Helen Keller heran, einen Film mit dem Titel „Deliverance“
(„Befreiung“) zu drehen, und sie sagte aus Geldgründen zu. Auch hoffte sie, der Sache der
Tauben und Blinden zu dienen. Der Titel „Deliverance“ geht auf Helen Kellers Wunsch zurück,
in diesem Film darzustellen, wie sie durch ihre Lehrerin vor ihrem grausamen Schicksal gerettet
worden war; außerdem wollte sie zeigen, wie die mit „geistiger Taubheit und Blindheit“
geschlagenen Kriegsmächte geheilt werden könnten. Der Film drehte Szenen nach ihrem Buch
The Story of my Life, und Helen Keller, Anne Sullivan Macy und ihre Sekretärin Polly Thomson
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trafen in Hollywood ein, „und zwar mitten in der Hauptepoche des Stummfilms, wo es dort nur
um nackte Sensationen ging und sonst nichts.“105
Helen Keller äußert sich folgendermaßen über den Produktionsassistenten Dr. Liebfreed,
dem die Finanzen unterstanden: „Er wollte einen kommerziellen „Schlager“, meine Lehrerin und
ich forderten jedoch ein historisches Dokument, und diese beiden Bestrebungen schienen
unvereinbar.“ (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan 125). Sie und ihre Lehrerin waren
von diesem Projekt zutiefst enttäuscht, und einzig die Bekanntschaft mit Charlie Chaplin, der
wie Anne Sullivan Armut kennengelernt und um sozialen Aufstieg gekämpft hatte, entschädigte
sie für die vergebliche Mühe. Als Darstellerin schien Helen Keller nicht sonderlich überzeugend
gewesen zu sein: „Die Dreharbeiten litten unter den Hemmungen der Heldin, die sich angesichts
der grazilen Filmstars als zu groß und zu ungeschickt empfand [...].“106
Das Thema selbst war
völlig undramatisch, und man mußte doch auf die Erwartungen des Publikums eingehen, die
früher wie heute wohl mit der Formel „sex, violence, and action“ umschreibbar sind, weshalb
sich die Produzenten gezwungen sahen, beinahe lachhafte Szenen zu erdichten:
A fierce battle was staged before the cave of Father Time between Knowledge and
Ignorance for control of Helen’s mind. Instead of an undergraduate love affair, and
because of her passion for the Greek myths, she was given a love affair with the mythical
Ulysses that included a realistic shipwreck on the Isle of Circe. In the final part of the
picture, to show her triumph over physical limitations, she took her first flight in helmet
and goggles in an aeroplane, over the protests of Teacher [...]. A penultimate scene with
hundreds of extras, the blind, the maimed, [...] showed Helen as the Mother of Sorrows
touching the kneeling petitioners with her torch of hope. The grand finale was to be a
scene in which Helen was ushered into a meeting of the Big Four to urge them to bring
the war to a close; and the final spectacle, so dearly beloved of Hollywood, presented
Helen on a large white charger, blowing a trumpet and leading thousands of shipyard and
factory workers, people of all nations, toward „deliverance.“107
Helen Keller protestierte gegen eine derartige Darstellung ihrer selbst; in einem Brief an ihre
Nachbarn aus Pittsburgh, Mr. und Mrs. Schwab, schrieb sie: „[...] there is a scene called „The
Council-Chamber,“ where all the great generals, kings and statesmen are assembled in a sort of
peace conference. I enter in a queer medieval costume and proclaim the Rights of Man rather
feebly [...].“108
Sie erreichte die Streichung dieser Szene. Aber der Siegeszug auf dem Schimmel
blieb bestehen, über den sie geschrieben hatte: „It is altogether too hilarious to typify the
105
Pause 1955, 396. 106
Jaedicke 1979, 157. 107
Lash 1980, 469/470. 108
Lash 1980, 472.
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struggles of mankind for liberty.“109
Die gefühlsduselige Symbolik, mit der „Deliverance“
überladen war, war typisch für Hollywood. Die Christusmetaphern (Segnung der Armen) sowie
die Kriegsmetaphern (Schimmel, Trompete, Führerin einer Völkerschar) und ebenso ihr
wallendes Gewand machten aus Helen Keller eher eine Jeanne d’Arc als eine Behinderte, die für
die Rechte ihrer Leidensgenossen eintritt. Helen Keller berichtet in Midstream: My Later Life
über ihre Illusionen und die mißlungene filmtechnische Umsetzung, aber sie äußert sich in keiner
Weise über die Uraufführung am 18. August 1919. An diesem Tag hatte die
Berufsgenossenschaft der Schauspieler, Actors Equity, einen Streik ausgerufen, dem sich Helen
Keller anschloß und ganz radikal nicht zur Erstaufführung erschien110
. Der Film, „nach Helen
Kellers eigenen Worten eine einzige Geschmacklosigkeit“111
, wurde kein Kassenerfolg, sondern
ein totaler Mißerfolg und brachte nicht die erträumte finanzielle Unabhängigkeit. Helen Keller
konnte noch von Glück reden, keine Schulden gemacht zu haben.
Der Film sollte ein realistisches Werk sein, wurde aber so stark ausgeschmückt, daß er zu
einer wilden symbolistischen Spielerei entartete, für die der einzige passende Titel
„Befreiung“ zu sein schien. (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan. Einführung
von Nella Braddy Henney, 17)
Immerhin wurden die lebensechtesten Szenen daraus in Nancy Hamiltons gelungenem
Dokumentarfilm von 1954, „The Unconquered“, übernommen, bei dem sich eine weitaus
positivere Rezension feststellen läßt. Ein Beispiel hierfür ist die Wertung von Walter Pause, der
in metaphernreicher Sprache vom „stummem Heroismus“ der Taubblinden spricht, welcher „den
Tageslärm übertönt“, was in sich ein Paradox ist. Somit hebt er die Einzigartigkeit des Filmes
sowie der dargestellten Heldin hervor.
[1954] stellte die Filmstadt Hollywood abseits ihrer üblichen Massenerzeugung den
zweiten Helen-Keller-Film „Die Unbesiegte“ her, der die traurig-erhebende
Lebensgeschichte der taubblinden Dichterin erzählt. Katherine Cornell, die ansonsten
filmfeindliche „First Lady“ des amerikanischen Theaters, spricht die Rolle Helen Kellers.
Der Film faßt seine Symbolik in einem Satz zusammen: „Ich weinte, als ich keine Schuhe
hatte -- bis ich einen Mann traf, der ohne Füße war.“ Millionen Menschen werden diesen
Film sehen. In ihm triumphiert ein großer Mensch in einem stummen Heroismus, dessen
Stimme den Tageslärm für alle Zeiten übertönt.112
109
Ibd. 110
Vgl. Jaedicke 1979, 157/8. 111
Pause 1955, 397. 112
Pause 1955, 405.
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1955 erhielt diese verfilmte Biographie unter dem neuen Titel „Helen Keller und ihre
Geschichte“ den Akademiepreis für den besten abendfüllenden Dokumentarfilm.
Den unzweifelhaft größten Erfolg hatte jedoch die Adaption von William Gibson, der
dieses Thema auf der Bühne und im Film umsetzte. Sein Ausgangstext waren die Briefe Anne
Sullivans aus dem Anhang von The Story of my Life, und als Background zu Anne Sullivans
Kindheit verweist er auf Nella Braddys Biographie Anne Sullivan Macy (vgl. Gibson, „Author’s
Note“). Im Jahre 1953 war „The Miracle Worker“ von William Gibson ein unproduziertes
Ballet; 1957 kam „The Miracle Worker“ bei „Playhouse 90“ (CBS) im Fernsehn, und im
Oktober 1959 wurde das Theaterstück unter der Regie von Arthur Penn am Broadway
uraufgeführt. Mit denselben Hauptdarstellerinnen (Anne Bancroft als Anne Sullivan und Patty
Duke als Helen Keller) wurde 1962 der Film „The Miracle Worker“ gedreht, der beiden
Schauspielerinnen Oscars einbrachte (Anne Bancroft: Best Actress Academy Award und Best
Foreign Actress, British Academy; Patty Duke: Best Supporting Actress). Sowohl im
Theaterstück wie auch im Film ist die Hauptperson Anne Sullivan (wie der Titel „miracle
worker“ schon sagt); also die „Wundertäterin“ und einmal nicht das „Wunderkind“. Es wird
lediglich eine kurze Zeitspanne aus Helen Kellers Leben behandelt, nämlich die ersten
Unterrichtstage nach Eintreffen ihrer Lehrerin; die Schlüsselszene ist ihre Erleuchtung am
Brunnen, als sie durch das Wort „Wasser“ erfaßt, daß jedes Ding seinen Namen hat:
At the dinner table one night, Duke tips over the water pitcher and Bancroft drags her
outside to the water pump and forces her to refill it. And that’s where the revelation
occurs; [...] [t]he connection has been made and the audience is magnetized by the scene
as the film ends. Everyone is to be congratulated for their work on this film. Penn and
cinematographer Caparros use short dissolves to great advantage and the score, by
Rosenthal, heightens every nuance of the drama.113
Der Regisseur Arthur Penn, dessen Spezialitäten Kriminal- und Westernfilme waren (z.B.
Bonnie and Clyde) übertrug die Dreharbeitsmethoden von Actionfilmen auf dieses subtile
pädagogische Sujet. Berühmt geworden ist der Film infolgedessen für die Szene, in der Anne
Sullivan der widerspenstigen Helen Tischmanieren beibringen will, und die mit drei Kameras
gefilmt wurde: „The eight-minute sequence that featured a physical fight between Bancroft and
Duke [...] will long be remembered as one of the most electrifying ever staged or filmed.“114
113
Nash 1986, 1967. 114
Nash 1986, 1967.
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Ein weiteres Bühnenstück nach einer Vorlage von William Gibson erwies sich als
kommerzieller Fehlschlag, sowohl wegen der ungeeigneten Darstellerin der Helen Keller als
auch wegen inhaltlicher Überbetonung gewisser Themen. Im Motion Picture Guide findet sich
eine zynische Kritik:
Years later, Gibson wrote a sequel which Penn directed for the stage. It was callled
„Monday After the Miracle“ and starred Jane Alexander as Annie and Karen Allen as
Helen. The play was a dismal flop. In it, Allen spoke the lines the way she must have
thought a deaf person would speak but she was in and out of vocal character. There was a
sexual overlay placed on the story with an affair between Keller and ... never mind. It
failed deservedly and lost several hundred thousand for producers Ray Katz and Sandy
Gallin, two show business managers [...] who thought they knew theater. The sequel took
place many years hence and had none of the fire and drama of the original. Some things
are better left unsequelized.115
6.1 William Gibsons The Miracle Worker116
Die schriftliche Version von Gibsons Film trägt im Vorspann die Widmung
„To the memory of
Anne Sullivan Macy
humbly“,
d.h. The Miracle Worker ist eine Hommage an die Lehrerin und nicht, wie die früheren Filme
(besonders Deliverance) eine Verherrlichung des Wunderkindes. Auch die Tatsache, daß Gibson
Anne Sullivan in seinen Regieanweisungen vertraulich als „ANNIE“ bezeichnet, zeigt seine
Sympathie. Dies ist der erste große Unterschied, der beim Aufgreifen des Falls Helen Keller von
den Medien zu beobachten ist. Helen Keller wird sich darüber sehr gefreut haben, denn sie
erwähnt in zahlreichen ihrer Werke immer wieder, daß ihre Lehrerin zu kurz kommt. Gibsons
Film hat lobende Kritiken erhalten; im folgenden soll analysiert werden, was ihn zu einem guten
Film macht. Bei dem Vergleich mit der Vorlage kommt es auf Form und Inhalt an. The Miracle
Worker ist keine klassische Literaturverfilmung, da er nicht auf einer Romanvorlage beruht,
115
Ibd. 116
Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die in Klammern stehenden Seitenzahlen auf Gibson,
William. The Miracle Worker. A Play for Television. New York: Alfred A. Knopf, 1969.
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sondern Gibson sich an den Briefen Anne Sullivans orientiert hat. Daraus resultiert
unvermeidlich, daß der Film nicht viel Handlung aufweist. Wenn man den Rahmen außer acht
läßt (Krankenzimmer Helens; Kinderszenen mit der Taubblinden; Suche nach einer Erzieherin;
Verabschiedung Annes in der Perkins Institution; Anreise nach Alabama), so bleibt für die
eigentliche literarische Vorlage nicht mehr viel Handlung übrig. In Anne Sullivans Briefen ging
es ja meistens um Worte und nicht um Ereignisse; außerdem umreißen sie nur eine kurze
Zeitspanne aus dem Leben Helen Kellers, die lediglich in häuslicher Atmosphäre spielt, und
Gibson hat, um die Historizität zu bewahren, fast wortwörtlich mehrere Textstellen aus dem
Anhang von The Story of my Life übernommen; daher bleibt es zu untersuchen, wie Gibson mit
wenig Inhalt und einer hohen Literarizität einen erfolgreichen Film drehen konnte.
Dies war ihm zum einen möglich durch die Brisanz des Themas an sich; zum anderen
durch die Dramatik der aus den Briefen ausgewählten handlungsreicheren Szenen, hauptsächlich
physische Kämpfe zwischen Anne Sullivan und Helen Keller. Die Kernaussage des Miracle
Workers ist, wie eine junge, unerfahrene, augenkranke Lehrerin einem taubblinden Kind mittels
Fingeralphabet klar macht, daß jedes Ding einen Namen hat. Abgesehen von den physischen
Kämpfen spielt auch die Psyche in dem Film eine große Rolle; dies wird vor allem deutlich in
dem Verhalten von Anne (dramatische Alpträume). Es ist ein zweiter roter Faden zu beobachten,
der sich durch den ganzen Film zieht: Annes Suche nach Liebe. So wiederholt sie mehrere Male,
sie könne seit dem Tod ihres Bruders Jimmie nicht mehr lieben, und es ist ein langer und
beschwerlicher Weg, gezeichnet von Helens hartnäckiger Abweisung jeglicher Zärtlichkeit von
seiten ihrer Lehrerin, bis diese am Ende in ihre Hand buchstabiert: „I, love, Helen“. Natürlich hat
die Starbesetzung dazu beigetragen, daß der Film so ein Erfolg wurde. Über Anne Bancroft
schreiben die Kritiken: „Another Bancroft trademark is the intensely physical nature of her
performances. Her scraps in The Miracle Worker and The Pumpkin Eater represent two of the
screen’s most celebrated catfights.“117
Beziehungsweise:
It was Arthur Penn’s film [...] that brought her back to movies and to a working of raw
emotion [...]. The Oscar for that part was irrelevant to its frightening complexity. As well
as nursing the performance of Patty Duke, she so dramatized the struggle between liberty
and discipline that she probably helped reveal Penn’s own talent to himself.118
117
Vinson 1986, 45. 118
Thomson 1994, 41.
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Der schriftlichen Version, an die wir uns im folgenden halten, hat William Gibson eine
Erklärung vorangestellt, in der er seine Quellen nennt und auf Werktreue bzw. Abweichungen
von den Originalbriefen Anne Sullivans hinweist:
The present text is meant for reading, and differs from the telecast version in that I have
restored some passages that read better than they play and others omitted in performance
for simple lack of time. [...] The main incidents in the play are factual; I have invented
almost nothing [...], though often I have brought together incidents separated in time. My
chief source has been Annie’s own letters [...].119
Das Stück besteht aus drei Akten. Inhaltlich sind folgende Szenen zu unterscheiden (ausgelassen
sind die zahlreichen Überblendungen, die inhaltlich nichts Neues bringen, sondern nur
Einstellungen und Symbole aufgreifen; Reihen von Szenen im Zeitraffer sind als eine Szene
zusammengefaßt):
Erster Akt: 1. Krankenbett der kleinen Helen und Entdeckung, daß sie taub und blind ist, 2. die
sechsjährige Helen spielt mit farbigen Kindern der Bediensteten und schneidet Martha die
Korkenzieherlocken ab aus Zorn, weil sie nicht wie die anderen sprechen kann, 3. Familie Keller
unterhält sich im Wohnzimmer darüber, was aus Helen werden soll, und Helen reißt zwei
Knöpfe vom Kleid der Tante, um sie als Augen an ihre Puppe genäht zu bekommen; dann leert
Helen die Wiege ihrer Puppe aus, in der Schwesterchen Mildred liegt, 4. Augenarzt Dr.
Chisholm wird angeschrieben, 5. Dr. Bell wird besucht, 6. Dr. Anagnos wird kontaktiert; er
bespricht sich mit Anne Sullivan; Anne verabschiedet sich von blinden Kindern und erhält
getönte Brille als Geschenk und Puppe für Helen, 7. Anne fährt mit dem Zug nach Tuscumbia,
8. Anne wird von James und Mrs. Keller vom Bahnhof abgeholt, 9. sie fahren mit der Kutsche
nach Hause, 10. Helen steht im Hof, begutachtet Anne und macht sich über ihren Koffer her, 11.
Familie Keller debattiert im Hof über Annes Eignung, 12. Anne und Helen sind auf Annes
Zimmer; Helen probiert ihren Hut, ihren Schal und ihre Brille vor dem Spiegel an; Anne bringt
ihr die Zeichen für „d-o-l-l“ bei; James kommentiert spöttisch; James geht; Anne buchstabiert
„c-a-k-e“; Helen schlägt ihr die Puppe ins Gesicht, sperrt sie im Zimmer ein und rennt weg, 13.
Mr. Keller holt Anne mit der Leiter aus dem Fenster, während Helen selbstzufrieden an der
Pumpe sitzt und den Schlüssel im Kleid der neuen Puppe versteckt.
Zweiter Akt: 1. auf ihrem Zimmer schreibt Anne den ersten Brief an Anagnos; Helen
versaut ihn mit Tinte; Anne lehrt Helen Holz- und Glasperlen auffädeln; Anne zeigt ihr, daß man
119
Gibson 1969. „Author’s Note“. N.p.
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Puppe nicht auf Boden schlagen darf, sondern zärtlich sein muß; 3. Helen lernt mit der Nähkarte
umzugehen; Anne buchstabiert „c-a-r-d“; Mrs. Keller kommentiert, 4. Kampf Helen-Anne am
Frühstückstisch; Familie Keller wird hinausgeschickt; Anne zwingt Helen, vom eigenen Teller
und mit Besteck zu essen und ihre Serviette zusammenzufalten; Martha schaut durchs
Schlüsselloch, Mrs. Keller vertreibt sie; Martha und Percy schauen von draußen durchs Fenster,
Köchin Viney verscheucht sie; Viney schaut von außen durchs Fenster; Anne erzählt Mrs. Keller
von ihrem Erfolg, 5. Anne weint auf ihrem Zimmer; Mrs. Keller sucht sie auf; Anne bittet sie,
mit Helen ins Gartenhaus ziehen zu dürfen, 6. Mr. Keller gestattet dies, 7. Umzug ins
Gartenhaus, 8. Zweiwöchige Geschehnisse im Gartenhaus werden im Zeitraffer dargestellt
(Anne streicht Kalendertage aus): Anne zwingt Helen, mit Löffel und umgebundener Serviette
zu essen; Helen will nicht mit Anne ins Bett und kämpft; Bett bricht zusammen; Anne sitzt im
Schaukelstuhl und singt Wiegenlied für Helens Puppe, während James durchs Fenster schaut und
sich dafür schämt; Helen will sich nicht anziehen; Anne, Helen und Percy buchstabieren
gemeinsam; Helen lernt häkeln; Helen beobachtet schlüpfendes Küken; Einblende: Dr. Anagnos
liest erneuten Bericht von Anne vor; Helen bekommt drei Tauben; Anne und Helen sitzen auf
Baum, Anne buchstabiert in ihre Hand; Helen häkelt ein endlos langes Band und ist stolz; Anne
wäscht sie und buchstabiert „w-a-t-e-r“; Mr. Keller bringt den Hund Belle vorbei und erinnert sie
daran, daß sie am nächsten Morgen wieder ins Haus umziehen müssen; Anne hat einen Alptraum
und erwacht mit dem Schrei „Jimmie“; James hat wieder gelauscht und fühlt sich angesprochen;
Anne erzählt James von dem Tod ihres Bruders im Armenhaus.
Dritter Akt: 1. Umzug ins Haus, 2. Helen sitzt auf Veranda und packt Geschenke aus, 3.
Anne auf ihrem Zimmer; sie erhält erste Gehaltszahlung von Mr. Keller, 4. Tischszene; Helen
benimmt sich wieder daneben, um die Familie zu testen; Mr. Keller ist wütend über Annes
resolutes Eingreifen, doch James tritt für sie ein; Helen wirft den Wasserkrug um, Anne zerrt sie
nach draußen zur Pumpe, um ihn aufzufüllen, 5. Helen hat die Erleuchtung am Brunnen, lernt
„w-a-t-e-r“ buchstabieren, verbindet es mit ihrem Wortfragment „wah wah“; lernt „Teacher“ und
viele andere Wörter; Familie Keller buchstabiert mit ihr und ist überglücklich, 6. Anagnos liest
Annes Bericht, 7. Annie sitzt auf Veranda, Helen kommt und küßt sie zum ersten Mal; Anne
buchstabiert „I, love, Helen“, 8. im Zeitraffer geht Weihnachten vorbei; Helen macht Fortschritte
im Buchstabieren; es wird Frühling; Helen pflanzt ihre Puppe in die Erde und erwartet, daß sie
wächst; Helen schreibt mit Bleistift an Anagnos, 9. Anagnos liest ihren Brief an die „little blind
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girls“ von der Perkins Institution vor, 10. Mrs. Keller, Anne und Helen besuchen die Perkins
Institution; Anne berichtet, wie sie versucht hat, Helen zu erklären, was „soul“ ist, und daß Helen
geantwortet hat: „But if I write what my soul thinks, it will be visible, and the words will be its
body.“ (130; dies ist eine Anspielung auf ihre spätere Schriftstellertätigkeit); Anne macht
Anagnos klar, daß sie und Helen nicht in der Perkins Institution bleiben werden; Helen spielt mit
blinden Mädchen, womit der Film endet.
Soweit zum Inhalt. Im Unterkapitel „Werktreue“ wird behandelt werden, welche Szenen
Gibson verändert hat (indem er z.B. Personen einbaut, die gar nicht dabeigewesen sind). Was die
Form betrifft, so sollen in den folgenden Unterkapiteln die filmischen und kinematographischen
Elemente des Miracle Workers näher untersucht werden. Filmische Elemente sind all jene, die
nicht allein das Medium Film kennt: Sprache, Geräusche, Musik. Sie bilden den Diskurs des
Films. Im Gegensatz dazu ist das kinematographische Element das gattungsbestimmende
Element des Films: das Bild. Der Film könnte auf seine nicht-kinematographischen Elemente
verzichten (wie im konkreten Fall der Stummfilm), nicht aber auf sein kinematographisches.120
Im Rahmen der filmischen Elemente sollen Symbolismus, Komik, dramatische Effekte,
Werktreue und Literarizität des Miracle Workers näher betrachtet werden; in bezug auf das
kinematographische Element werden die Kameraführung und die damit zusammenhängende
Erzählsituation analysiert.
6.1.1 Kameraführung
The Miracle Worker zeichnet sich durch ein hohes filmisches Ausdruckspotential aus, das vor
allem auf seiner extraordinären Kameraführung beruht; die „short dissolves“, für die der Film
gelobt wurde, sind zahlreiche Überblendungen aus verschiedenen Blickwinkeln. Der
Blickwinkel der Kamera und damit auch der des Zuschauers ist äußerst wichtig, denn dadurch
kann sich der Rezipient leichter in die Protagonisten hineinversetzen (z.B. durch Großaufnahmen
der Gesichter) oder sich von diesen distanzieren (durch Totale, Halbtotale oder suchende
Kamerafahrten, bis sich die Kamera auf ein Objekt fest einstellt). So wird der Zuschauer einmal
120
Hurst 1996, 79.
Page 90
zum Erlebenden, ein anderes Mal zum Beobachtenden. Die Regieanweisungen für The Miracle
Worker beginnen mit der Beschreibung einer Einstellung mit subjektiver Kamera, d.h. der
Zuschauer sieht mit den Augen der Protagonistin, in diesem Fall Helen Keller. Man kann diese
Einstellung auch Point of View-shot 121
nennen.
In der Regel bestehen diese Situationen aus zwei Einstellungen: Als erste Einstellung
wird dabei zunächst der Blick der Person, z.B. in Form einer Großaufnahme ihres
Gesichts, gezeigt, um zu signalisieren, daß nun als zweite Einstellung der eigentliche
Point of View-shot folgt, also das, was diese Person erblickt.122
Hier erfolgt aber lediglich die zweite Einstellung, was einen dramatischen Effekt erzeugt: der
Zuschauer weiß zunächst nicht, in wen er sich gerade hineinversetzt, und ist vom Unheimlichen
der Situation gebannt. Er fühlt sich gleich der Protagonistin hilflos daliegend, während andere
auf sie herunterblicken und über sie urteilen:
[It is night, and we are in a child’s crib, looking up: what we see are the crib railings and
three faces in lamplight, looking down. They have been through a long vigil, it shows in
their tired eyes and disarranged clothing. One is a gentlewoman in her twenties with a
kindly and forbearing face, KATE KELLER; the second is a dry elderly DOCTOR,
stethoscope at neck, thermometer in fingers; the third is a dignified gentleman in his
forties with chin whiskers, CAPTAIN ARTHUR KELLER. Their dress is that of 1880, and
their voices are southern. The KELLERS’ faces are drawn and worried, until the
DOCTOR speaks.]123
(3)
Durch diese Einstellung hat der Zuschauer bereits wesentliche Dinge erfahren: er sieht mit den
Augen der an Hirnhautentzündung erkrankten, neunzehn Monate alten Helen Keller; ihre
besorgten Eltern werden vorgestellt, sowie der Arzt und Ort und Zeit, in der sie leben. Dieser
Point of View-shot erzeugt beim Zuschauer ein unangenehmes Gefühl und wird in der
Filmgeschichte häufig verwendet, um die Spannung zu erhöhen; er gleicht z.B. der Situation,
wenn man auf dem OP-Tisch liegt und auf die Brillen und den Mundschutz der grüngewandeten
Chirurgen und OP-Schwestern hochstarrt. Hier gibt es nun keinen Grund zur Besorgnis, denn die
ersten gesprochenen Worte sind die des DOCTORS: „She’ll live.“ (3) Der Arzt beglückwünscht
die erleichterten Eltern, „[...] we see only KATE’S tearfully happy face hovering over us“ (4),
aber kaum wähnt sich der Zuschauer in einer wiederhergestellten Familienidylle, wird durch eine
121
Vgl Hurst 1996, 145. 122
Hurst 1996, 145. 123
Die Regieanweisungen sind wie im Original kursiv in eckigen Klammern angegeben und im Fließtext zur
leichteren Unterscheidung kursiv gedruckt.
Page 91
geniale Kameraführung alles zunichte gemacht: nicht der Arzt sagt, „aber sie ist taub und blind“,
sondern der Zuschauer erlebt es am eigenen Leib, wie es plötzlich dunkel und still wird ringsum:
[But throughout, their voices have been dying out of focus, and the image of KATE’S face
has begun to swim. Music steals in; we hear the music without distortion, but light and
sound otherwise are failing. KATE’S serene face smiles down with love, blurring in a
halo of light, then is a spot, then is gone. Darkness.] (5)
Der Zuschauer weiß also viel früher als die Eltern und der Arzt, was ihm, d.h. der kleinen Helen
Keller, passiert ist. Auch diese Einstellungen hat zahlreiche Parallelen in der Filmwelt; z.B. bei
Krimis, wenn der Zuschauer mit immer verschwommener werdendem Blick sieht wie der gerade
Vergiftete, bei dem die Wirkung einsetzt. Oder wenn das Bild unter Tränen verschwimmt. Jetzt
müssen nur noch Helen Kellers Eltern dahinterkommen. Dies erfolgt indirekt: der Arzt ist gerade
am Abfahren, „[...] we hear the clop of hoofs and roll of wheels. KELLER’S eyes follow the
unseen buggy out of sight, then lift to the stars, thanking them too. Suddenly from the house
behind him comes a knifing scream; music out.] (5) Durch diese Einstellung spart sich der
Regisseur eine unnötige Szene und Material; er braucht keine Pferdekutsche auffahren zu lassen,
das erübrigt sich durch die Tontechnik.
Im folgenden sehen wir also nicht mehr aus dem Point of View der kleinen Helen, denn
sie kann ja nicht mehr sehen, sondern es erfolgt ein Wechsel von subjektiver zu objektiver
Kamera. Der Blick des Zuschauers ruht jetzt auf Großaufnahmen vom Gesicht ihrer Mutter. Er
sieht nicht mit den Augen der Mutter, sondern er betrachtet sie eingehend. Diese Art von
Kameraführung kann man als attached camera 124
bezeichnen:
Attached camera -- eine gebundene Kameraführung -- bedeutet, daß die Kamera als
Aufnahmegerät sich ganz den abzubildenden Personen [...] unterordnet, sich gleichsam an
sie bindet, Nähe und Teilnahme am Geschehen suggerierend. [...] Gebundene
Kameraführung [...] in Form von Nah- und Großaufnahmen [...] bedeutet eine
Konzentration auf das Wesentliche [...].125
Das Wesentliche ist hier die Verzweiflung, während Kate Keller einen Test mit einer Lampe
macht, die Helen nicht sieht, und mit einem Ruf, den Helen nicht hört: „Cut to KATE’S face
again, not from the baby’s eyes, but across the crib, and her look is terrible [...]“ (6). Und:
124
Vgl. Hurst 1996, 138. 125
Hurst 1996, 139.
Page 92
[Her face has something like fury in it, crying the child’s name; KATE almost fainting
takes up the baby’s hand, pressing it to her mouth to stop her own cry. We go close to her
lips, kissing the baby hand. Dissolve on lips and hand.] (7)
Die Hände und Lippen sind symbolträchtig; schließlich wird Helen mittels des Fingeralphabets
die Sprache lernen, die die anderen mit ihren Lippen bilden. Kaum hat der Zuschauer diese
Tragik verkraftet, erfolgt ein brillianter Übergang, der das Symbol der Lippen aufgreift -- doch
es ist inzwischen vier Jahre später; Helen spielt mit den beiden farbigen Kindern der
Bediensteten. Man nennt diese Art von Überblendung match cut: Ein match cut ist ein Schnitt,
„der zwei verschiedene Szenen durch die Wiederholung einer Handlung oder einer Form oder
die Verdoppelung von Faktoren aus der Mise en Scène verbindet“.126
[Cut to the lips of a Negro boy, PERCY, laughing, but also in perfect silence. The white
child’s right hand comes up swiftly to finger over them. PERCY’S teeth playfully bite at
it, and the hand jerks away.] (7)
Hier sieht der Zuschauer zwar nicht mehr aus Helens Blickwinkel, aber er hört mit ihren Ohren,
d.h. er hört nicht, wie Percy lacht. Das kann natürlich nicht ewig so weitergehen, sonst wären wir
in einem Stummfilm, weshalb sich plötzlich die Kameraeinstellung von Nahaufnahme zur
Totalen erweitert: „The silence shatters when we cut to a fuller view, PERCY’S laughter and
other rural sounds at once audible. We are in leaf-dappled sunlight in the yard of the Keller
homestead [...].“ (8) Diese Art von objektiver Kameraführung kann man detached camera 127
nennen; die gelöste Kamera ist eine Form der Kameraführung, in der sich die Kamera vom
Protagonisten und dessen Wahrnehmung löst und sich frei im szenischen Raum bewegt. Sie dient
als unabhängiges Beobachtungsinstrument und bleibt häufig auf Distanz, Totale und Halbtotale
bevorzugend.128
In den Regieanweisungen erfolgt nun eine Beschreibung der drei Kinder, die auf den
Verandastufen sitzen und Papierpuppen ausschneiden, man hört „chickens clucking, leaves
stirring“ (8); nachdem die Totale den Überblick über die Situation gegeben hat, wechselt die
Kamera wieder zu einer gebundenen (attached) Kameraführung. Dabei wird filmisch die
Beschreibung von Helens Gesicht realisiert, wie Anne Sullivan sie in ihrem ersten Brief gegeben
hat: „[...] her face alone lacks lightness, never smiles.“ (8) Eine Großaufnahme von Helens
Gesicht zeigt, daß sie mit ihren Lippen geräuschlose Bewegungen macht, während Percy
126
Vgl. Hurst 1996, 141. 127
Vgl. Hurst 1996, 160. 128
Vgl. Hurst 1996, 139.
Page 93
kommentiert: „She tryin’ talk. She gonna get mad. Looka her tryin’ talk.“ (8) Das Ziel der
Großaufnahmen ist es, intensivierend auf die Emotionen der Zuschauer zu wirken, während die
Totale den Überblick über den Handlungsablauf verschafft.
Gibson verwendet in seinem Stück noch eine besondere Art von Überblendung: er läßt
die Kamera auf addressierten Briefen ruhen. Somit erfährt der Zuschauer, daß eine fremde
Person eingeschaltet wird, die sich in größerer Entfernung befindet und für Helen Kellers
Schicksal maßgeblich ist. Laut Regieanweisung ist die erste kontaktierte Person Dr. Chisholm,
der berühmte Augenarzt in Baltimore, der Captain Keller zu Dr. Alexander Graham Bell schickt.
Eigentlich hätte Helens Vater laut The Story of my Life (18/19) mit seiner Tochter einen Zug
nehmen und Dr. Chisholm besuchen fahren müssen, um sich Rat zu holen. Doch Gibson spart
sich diese Reiseszene und unnützen Materialaufwand, indem er Dr. Chisholm das Bittgesuch des
Vaters erhalten und vorlesen läßt:
[Close-up of an envelope, stamped and canceled, addressed to „Dr. John Chisholm, 11
Maiden Lane, Baltimore, Md.“ A hand turns it over, the return address on back is „Capt.
Arthur Keller, Tuscumbia, Ala.,“ and a letter-knife begins to open it.
Dissolve to CHISHOLM’S face; he shakes his head.] (17)
Der Zuschauer weiß somit, daß sich Captain Keller an Dr. Chisholm gewand hat, und dieser sagt
in dem ganzen Stück nur zwei Sätze: „I can’t do anything for her. But you might take her to
Alexander Graham Bell in Washington --“ (18), begleitet von einem Kopfschütteln. Dann folgt
eine Überblendung und die Kamera fixiert in Großaufnahme einen Terminkalender -- doch
Vorsicht, wir befinden uns bereits im Bureau von Dr. Bell:
[Dissolve to close-up of an appointment book on a desk, with stamped letters: „Dr.
Alexander Graham Bell.“ A hand opens it and with a quill begins writing an entry
opposite a date and hour: „Captain Arthur Keller, with daughter Helen --“
Dissolve to BELL’S face.] (18)
Der Zuschauer versteht, daß Helen und ihr Vater bei dem berühmten Philanthropen eine Audienz
hatten. Aber auch Dr. Bell ist kurz angebunden: „I cannot see any way in to her, Captain Keller. I
can suggest only that you write to Michael Anagnos at the Perkins Institution in Boston --“ (18)
Der Zuschauer bekommt langsam den Eindruck, daß Helens Vater immer nur abgespeist und an
andere Zuständige weitergereicht wird. Die Überblendungen machen den beschwerlichen Weg
deutlich, bis endlich ein Helfer gefunden ist. Dies ist der Direktor der Perkins Institution, und im
Gegensatz zu den beiden vorherigen kontaktierten Personen wird er in voller Statur gezeigt, nicht
Page 94
nur eine Großaufnahme von seinem Gesicht. Er charakterisiert sich selbst durch sein Aussehen,
seinen Akzent und seine Redensweise. Ebenso erhält der Zuschauer einen Eindruck von der
Einrichtung der Perkins Institution:
[Dissolve to close-up of another envelope in KELLER’S handwriting, stamped, canceled,
opened, addressed to „Mr. Michael Anagnos, Director, Perkins Institution for the Blind,
South Boston, Mass.“ This envelope is being lightly slapped in a man’s palm, while we
begin to hear his voice; when we draw back for a fuller view we find ourselves in a room
of the Perkins Institution, listening to ANAGNOS as he wanders about, a middle-aged,
stocky, bearded man with a Greek accent. The room contains equipment for teaching the
blind by touch -- a skeleton, seashells, stuffed animals models of flowers and plants,
embossed books lying open -- which ANAGNOS touches as he walks. [...]] (18/19)
Der Text beginnt mitten im Satz: „-- child’s name is Helen Keller. I then wrote her father saying
a governess, Miss Annie Sullivan, has been found. Well. It will be difficult for you there,
Annie.“ (19) Jetzt weiß der Zuschauer auch, wem Dr. Anagnos von dem Brief erzählt, denn die
zweite Person im Raum wird in der Regieanweisung nur geheimnisvoll angerissen: „The other
person in the room is a young woman far in the background, seated beside a desk; we see only
her back.“ (19) Bisher hat die Kamera Anne nur in der Totalen als Bestandteil des Raumes
gezeigt, und sie wird lediglich durch die neckischen Worte und Anspielereien von Anagnos
vorgestellt („Gratifying, yes, when you came to us and could not spell your name, to accomplish
so much here in a few years, yes. But not easy, always an Irish battle.“ (19) Eine suchende
Kameraführung bewegt sich zeitgleich mit Anagnos auf Annie zu: „We are moving with him
around in profile to ANNIE.“ (19) Die Kameraführung wechselt von detached zu attached, und
die folgende Großaufnahme charakterisiert die Protagonistin des Stücks und läßt sie dem
Zuschauer nah und sympathisch erscheinen. Sie hat die Augen geschlossen:
[Now we have come full on ANNIE SULLIVAN, twenty-one, with a face which in repose
is grave and rather obstinate, and when active is impudent, combative, twinkling with all
the life that is lacking in HELEN’S, and handsome, as long as her eyes are closed; there
is a certain crude vitality to her.] (19)
Der Schock kommt für den Zuschauer, wenn sie die Augen öffnet (Augen sowie Brille haben
Symbolcharakter, was später noch behandelt wird): „And now she has opened her eyes: they are
inflamed, vague, clouded by the granular growth of trachoma, and she often keeps them closed
to shut out the pain of light.“ (20) Der Zuschauer weiß nun, es ist eine Lehrerin für die kleine
Helen gefunden, und sie ist eine tragische Person.
Page 95
Eine weitere beachtenswerte Art der Kameraführung ist die Gerichtetheit auf Objekte
anstatt auf Personen. Sehr schön wird dies deutlich an Anne Sullivans Reise zur Familie Keller
von Boston nach Alabama. Die Kamera begleitet ihren Koffer, so daß sich der Zuschauer
praktisch als Annie selber fühlt; manchmal sind ihre aufgestützte Hand oder ihr Rocksaum noch
zu sehen, ansonsten ruht unser Blick immer auf dem Label ihres Gepäckstücks. Annie wird dabei
stark entpersonalifiziert; die Kamera hat lediglich noch ihre Hand im Blickfeld, die den Koffer
hält. Diese Art von attached camera läßt dem Zuschauer die Reise wie eigenes Erleben
erscheinen. Eine starke Betonung liegt auf den Banalitäten dieser wie jeder anderen Zugreise:
Umsteigen, Bahnhöfe, Wartehallen, Koffer, Lärm, Musik usw. Plötzlich wechselt das Motiv
Koffer mit dem Motiv vorbeifliegende Namen der Stationen, welches wiederum vom Motiv
Gesicht der schlafenden Anne abgelöst wird. Diese alternierende Einstellung wiederholt sich, so
daß Zeit und Raum durch die Kameraführung überbrückt werden, wobei immer die Erschöpfung
der Reisenden im Auge behalten wird.
Eine weitere Technik ermöglicht dem Zuschauer, trotz Ablauf von Szenen über Anne
Sullivan inzwischen nicht die desolate Situation der kleinen Helen zu vergessen: der match cut.
Wie bereits in dem vorangegangenen Beispiel mit der Wiederaufnahme des Bildes der Lippen
erfolgt im ersten Akt eine wiederholte Einblendung des Kopfes Helen Kellers: der Zuschauer
wird zuanfangs Zeuge eines Wutausbruchs von Helen, sie schlägt ihre Mutter auf die Lippen,
kämpft mit ihr und will dann plötzlich in den Arm genommen werden: „Dissolve on HELEN’S
head, hanging down on KATE’S arm.“ (17) Danach folgen die Briefe an die verschiedenen
Doktoren und die Verabschiedung Annes in der Perkins Institution. Annie hat gerade das kleinste
blinde Mädchen, das nicht will, daß sie fortgeht, dazu gebracht, für sie zu lächeln („Dissolve on
her smile.“ 27), als das krasse Gegenteil eingeblendet wird: „And in on the earlier contrasting
view of HELEN’S head, hanging down on KATE’S arm.“ (27) Diese kontrastive Überblendung
hat einen hohen dramatischen Effekt und verdeutlicht dem Zuschauer, daß Anne Sullivan zwar
nicht leichten Herzens Abschied nimmt, aber die Erziehung der armen Helen im Vordergrund für
sie steht.
Page 96
6.1.2 Erzählsituation
Die Erzählsituation (ES) hängt eng mit der Kameraführung zusammen. Im Film kann man
zwischen drei Arten von Erzählsituation unterscheiden: der Ich-ES, der auktorialen ES und der
personalen ES 129
, wobei eine gelöste Kameraführung (detached camera) die auktoriale, und
eine gebundene Kameraführung (attached camera) die personale Erzählsituation herbeiführt.
Die erste Art der Erzählsituation (Ich-ES) ist relativ selten im Film, denn sie würde bedeuten,
daß der Ich-Erzähler selbst vor der Kamera nicht zu sehen ist, sondern quasi die Kamera selbst
ist. Dies ist sehr problematisch, da der Zuschauer einen Eindruck vom Erzähler haben muß. Wie
kann er das aber, wenn er ihn nie sieht? Es gibt solche Filme, doch sie sahen sich teils genötigt,
den Ich-Erzähler in einer Rahmenhandlung vor der Kamera sitzen und direkt in sie
hineinsprechen zu lassen, damit der Zuschauer ihn als Ich-Erzähler outen konnte.130
Im Miracle Worker kommen die beiden letztgenannten Erzählsituationen zum tragen, die
personale und die auktoriale. Die Bezeichnungen personal und auktorial sind leicht zu erklären;
jeder literarische Text hat eine Erzählfigur, entweder einen Ich-Erzähler oder einen allwissenden
(omniscient third person narrator). Im Film kann nun auf die Dauer kein Ich-Erzähler auftreten,
aber es gibt eine personale Erzählfigur, die als Reflektor fungiert. Der Reflektor erzählt
eigentlich nicht die Vorgänge, sondern scheint sie gerade selbst zu durchleben, d.h. der
Zuschauer sieht die Vorgänge aus dem Point of View des Reflektors, meist des Protagonisten des
Films. Im Film The Miracle Worker wird dies z.B. sehr eindrucksvoll in der Eingangsszene mit
subjektiver Kameraführung gezeigt, wenn der Zuschauer praktisch mit den Augen Helen Kellers
die Umwelt aus dem Kinderbettchen heraus wahrnimmt. Bei der auktorialen Erzählsituation ist
die Berichterstattung objektiv, d.h. der Zuschauer sieht vor allem Totalen und Halbtotalen und
bekommt einen distanzierten Überblick über die Vorgänge -- ohne Reflektor, so daß er sich nicht
in einen Protagonisten hineinversetzen muß, sondern mit seinen eigenen Augen beobachtet, was
vorgeht.
Wie bereits festgestellt, alternieren im Miracle Worker die Kameraführungen attached
und detached, so daß man auch von einem ständigen Wechsel der Erzählsituationen sprechen
kann; diese Variation trägt sowohl zur Spannungserhöhung als auch zur Dramatik bei. In anderen
Worten, manchmal betrachtet der Zuschauer die Situation übersichtlich aus der Ferne, ein
129
Vgl. Hurst 1996, 25. 130
Vgl. Hurst 1996, 110.
Page 97
anderes mal „reist er mit“ und hat Annies Koffer und die vorbeisausenden Stationsschilder vor
Augen. Zuanfangs wurde bereits gesagt, es könne in einem Film keinen Ich-Erzähler geben; es
ist jedoch möglich, einen „Erzähler“ auftreten zu lassen, der ein anderer ist als eine
Reflektorfigur. Diesen Erzähler sieht der Zuschauer nicht im Bild, sondern er hört lediglich
dessen Stimme zur Begleitung anderer Bilder. Dies nennt man voice-over oder Off-Stimme.131
Im Miracle Worker kann man diese Technik einige Male beobachten; Dr. Anagnos ist hierbei die
Off-Stimme; er liest Briefe Anne Sullivans oder Helen Kellers vor, während der Zuschauer
jedoch nicht ihn, sondern die Schreibenden sieht. Diese Handlung ist in sich unlogisch, denn
theoretisch kann Dr. Anagnos den Brief während des Schreibvorgangs noch gar nicht empfangen
haben und lesen; sie ist jedoch notwendig, um dem Zuschauer den Inhalt des Briefes zu
vermitteln und weitaus ästhetischer, als Anne oder Helen selbst ihren eigenen Brief während des
Schreibens mitlesen zu lassen. An dieser Stelle hätte der Kameramann als Alternative auch nur
eine Großaufnahme vom Brief zeigen können, wie es in manchen Filmen getan wird (besonders,
wenn der Brief kurz ist). Dabei hat der Zuschauer aber dann zwei Probleme: erstens muß er die
Handschrift des Schreibenden entziffern, und zweitens muß er sich beeilen, denn es ist wie bei
längeren Untertiteln, sie verschwinden meist zum Ärger des Zuschauers, bevor er sie ganz
durchgelesen hat. Im Miracle Worker bestehen die Briefe ja meist nur aus drei Zeilen; trotzdem
wurde das voice-over gewählt. Dies hat den Vorteil, daß der Regisseur eine Deutung in die
Aufnahme des Briefes legen kann; so könnte Dr. Anagnos den Bericht über Helens Fortschritte
z.B. mit stolzgeschwellter Stimme lesen.
Hier werden also zwei Szenen überblendet; auf der einen Seite das Schreiben des
Briefes und auf der anderen das Erhalten. Diese Technik dient somit als Zeitraffer. Das Hauptziel
der Off-Stimme ist es jedoch, die Literarizität des Films herzustellen, d.h. eine möglichst
wortgetreue Einhaltung der Vorlage (hier Annes Briefe aus The Story of my Life). Die Off-
Stimme ist also ein „episierendes Gestaltungsmittel“.132
Dies kann man an einem konkreten
Beispiel betrachten. Im zweiten Akt des Miracle Workers wiederholt sich die Großaufnahme
eines Briefes:
[Close-up of ANNIE’S hand writing a letter, her smoked glasses lying near by. There is
also an envelope addressed to MICHAEL ANAGNOS, and it is his voice we hear off-
camera, reading the letter.] (51)
131
Vgl. Hurst 1996, 110. 132
Vgl. Hurst 1996, 107.
Page 98
Was Dr. Anagnos sagt, ist die ungefähre Wiedergabe von Annies Äußerungen in ihrem ersten
Brief an ihre Freundin Mrs. Sophia Hopkins (und nicht an Dr. Anagnos). Im Original heißt es:
„[...] nobody, except her brother James, has attempted to control her. The greatest problem I shall
have to solve is how to discipline and control her without breaking her spirit.“133
Im Miracle
Worker wird daraus:
ANAGNOS: „... and nobody here has attempted to control her. the greatest problem I
have is how to discipline her without breaking her spirit.“ (51)
Trotz der Vereinfachungen ist eine hohe Literarizität gegeben. Dies läßt den Film nicht nur
einfach als Spielfilm, sondern fast als Dokumentarfilm erscheinen und erhöht somit die
Werktreue. Dasselbe ist im dritten Akt zu beobachten, wo die Regieanweisung lautet:
[[...] and we dissolve to a letter in a square script, HELEN’S hand writing with pencil on
paper laid upon a board with sunken ruled lines. We hear ANAGNOS reading it.] (128)
Die Stimme Anagnos’ liest dem Zuschauer jetzt einen der ersten mit dem Bleistift geschriebenen
Briefe der kleinen Helen vor (Tuscumbia, September 1887), ungefähr so, wie wir ihn im Anhang
von The Story of my Life finden:
„Helen will write little blind girls a letter
Helen and teacher will come to see little blind girls
Helen and teacher will go in steam car to Boston
Helen and blind girls will have fun
Blind girls can talk on fingers
Helen will go to school with blind girls
Helen can read and count and spell and write like blind girls
Helen is blind
Helen will put letter in envelope
Good-bye
Helen Keller“ (128)
Im Original sind diese Sätze wortwörtlich gleich und ebenfalls ohne Interpunktion (was im Film
natürlich nicht sichtbar ist, doch durch monotones Sprechen verdeutlicht werden kann); Gibson
hat jedoch einige Sätze weggelassen. Es fehlen:
Helen will see Mr anagnos
Mr anagnos will love and kiss Helen
mildred will not go to boston
Mildred does cry
133
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 305.
Page 99
prince and jumbo will go to boston
papa does shoot ducks with gun and ducks do fall in water and jumbo and mamie do
swim in water and bring ducks out in mouth to papa
Helen does play with dogs
Helen does ride on horseback with teacher
Helen does give handee grass in hand
teacher does whip handee to go fast
Helen will put letter in envelope for blind girls134
Durch diese Auslassungen wird zum einen der Aspekt der Zärtlichkeit nicht angesprochen, der
zwischen Helen und Dr. Anagnos stets eine Rolle spielte; auch dann noch, als er mit Anne
Sullivan zerstritten war (nach der Frost King-Episode). Zum anderen wird nichts über Helens
Freizeitaktivitäten ausgesagt; Gibson hätte zu dem voice-over Bilder von der kleinen Helen mit
ihren Tieren in der Natur einblenden können. Doch darauf kam es ihm nicht an; seine Betonung
liegt auf dem „Miracle“ des Spracherwerbs. Wichtig für die nächste Szene ist nur, daß Helen die
blinden Mädchen von der Perkins Institution besuchen kommt.
Interessant ist es, daß der Film kein voice-over benutzt, wo der Zuschauer unbedingt eine
Erklärung braucht (es sei denn, er kennt sich mit der Gebärdensprache für Taubstumme aus):
während Anne in Helens Hand buchstabiert. Gibson hätte ein voice-over mit Annes Stimme
eingeben lassen können, während Anne ihre Lippen nicht bewegt, sondern nur die Zeichen
macht. Auf diese Art stellt man im Film auch innere Monologe dar. Er läßt Anne aber stattdessen
aussprechen, welche Buchstaben sie gerade macht; z.B. „[...] ANNIE spelling something back,
just what we do not know until we are in close-up on the two hands, and hear ANNIE’S voice,
unsteady, whispering.“ (127) ANNIE: „I, love, Helen.“ (128) Man erkennt auch gleich, warum:
ihre Stimme soll „unsteady“ sein und „whispering“. Die Off-Stimme eines „Erzählers“ ist
normalerweise neutral.
Eine besondere Funktion hat die Unterbrechung der Off-Stimme durch den Dialogtext;
z.B. in einer Szene, in der der Zuschauer abwechselnd eine Einblendung von der verzweifelnden
Anne Sullivan und eine Einblendung vom lesenden Dr. Anagnos sieht: „Dissolve to an envelope
in a man’s hands, addressed to MICHAEL ANAGNOS, and again we hear his voice, reading;
meanwhile we dissolve back to the room, where we see ANNIE standing, weary and disheartened
[...].“ (94) Schließlich sieht der Zuschauer nur noch Anne und hört Anagnos’ Off-Stimme:
134
The Story of my Life. Part II: „Letters“, 146/7.
Page 100
ANAGNOS [off-camera]: „-- I feel every day more and more inadequate. My mind is
undisciplined, full of skips and jumps, and a lot of things huddled together in dark
corners. If only there were someone to help me! I need a teacher as much as Helen. I need
--“ (94)
Anne läßt den „Erzähler“ jedoch nicht zuende sprechen: „But his voice ends when ANNIE breaks
into it, crying at HELEN across the room.“ (94) Sie fällt sich praktisch selbst ins Wort, indem sie
ihren passiven Bericht, von Anagnos vorgelesen, aktiv unterbricht und die letzte Zeile
theatralisch ausruft -- somit erscheint dem Zuschauer die Situation noch wirklichkeitsnaher,
erlebter und verzweifelter. ANNIE: „I need help too!“ (94)
6.1.3 Symbolismus
Im Gegensatz zum Film Deliverance findet sich im Miracle Worker keine Überhäufung an
Symbolen. Die hier angewandten Symbole sind handfest und weder Personifikationen
mythischer Figuren noch ausladende Metaphern für Heldentum (vgl. Schimmel und Trompete) --
hier kämpfen nicht „Knowledge“ und „Ignorance“ um die Seele der kleinen Helen, sondern eine
ganz realistische Anne Sullivan, die als Symbol ihrer einstigen Blindheit eine schwarzgetönte
Brille135
trägt. Die feierliche Überreichung dieser Brille als Abschiedsgeschenk erfolgt durch die
kleinen blinden Mädchen der Perkins Institution: „A settling of silence while ANNIE unwraps it.
The present is a pair of smoked glasses, and she stands still.“ (25) Die Worte der Kinder erklären
dem Zuschauer gleichzeitig die Situation: Anne hat eine Augenoperation hinter sich, und ihre
Freundin Mrs. Hopkins (die spätere Adressatin ihrer Briefe) macht sich Sorgen, weil Anne zu
Helen nach Alabama gehen wird: „It’s for your eyes, Annie. Put them on, Annie! ‘Cause Mrs.
Hopkins said your eyes hurt since the operation. And she said you’re going where the sun is
fierce.“ (25) Diese Brille taucht noch häufig im Film auf, ebenso wie Anspielungen auf Anne
Sullivans schmerzende Augen. Auch Mr. Keller wird in einer Einleitungsszene durch sein
Brilleputzen in Großaufnahme dargestellt: „In on a close-up of spectacles being deliberately
135
Die rührende Szene der Geschenküberreichung in Gibsons Film beruht auf einer gänzlich unsentimentalen
Tatsache. Am 22. Mai 1897 schrieb Anne an Mrs. Hopkins: „My eyes are still much inflamed and swollen
[...]. [...] The smoked glasses you sent me are fine. I wear them all the time and find they help me,
especially out of doors.“ (Braddy 1934, 135)
Page 101
polished. We draw back enough to see it is CAPTAIN KELLER’S [...].“ (34) Sehen bedeutet ja
auch immer Einsehen und Verstehen -- was Mr. Keller allerdings noch fehlt.
Neben der getönten Brille erhält Anne Sullivan ein weiteres symbolhaftes Geschenk von
Dr. Anagnos: „ANNIE opens the small box he extends, and sees a garnet ring. She looks up,
blinking, and down.“ (22) Der Ring136
als Symbol immerwährender Freundschaft ist allerdings
weniger auf Annes Verbundenheit mit der Perkins Institution zu beziehen; er stellt vielmehr ihre
lebenslange Bindung an Helen Keller dar. Als das Kind seine neue Lehrerin „ertastet“, fühlt es
auch den Ring. In dieser Szene wird das Symbol der Hände besonders eingehend von der
Kamera studiert:
[Cut instantly to a close-up of their two hands. These hands will be together for the next
fifty years, and all of HELEN’S knowledge will flow to her through this other hand;
something of this should be intimated in this close-up.] (38)
Ein weiteres Symbol ist die Wasserpumpe, an der Helen später anhand des Wortes „w-a-t-e-r“
die Sprache verstehen lernt. Im Laufe des Films ruht die Kamera mehrere Male auf der Pumpe
(„In on a water-pump in the yard. We hear voices, off-camera.“ 48), damit der Zuschauer durch
dieses déjà-vu-Erlebnis einen Vorgeschmack davon bekommt, daß sich dort bald etwas
Großartiges ereignen wird. Als Helen ihre Lehrerin eingeschlossen hat, finden wir den kleinen
Unschuldsengel bezeichnenderweise genau dort: „Now, we move back around the water-pump,
until at its base we see HELEN seated, a picture of innocent contentment [...].“ (50) Als Anne
und Helen das Gartenhaus verlassen müssen, ziehen sie mit ihrer Habe in einer Schubkarre an
der Pumpe vorbei Richtung Haus: „Cut to a long view from the water-pump in the Keller yard;
the pump is huge in the foreground, and beyond it we see the wheel-barrow approaching [...].“
(109) Aber nicht nur im Bild, auch im Dialog wird das Symbol „Wasser“ gebraucht: als Anne zu
Mr. Keller von ihrer Hoffnung spricht, Helen könnte vielleicht doch die Sprache erlernen, drückt
sie sich folgendermaßen aus: „All I know is to go on, keep doing what I’ve done, and have --
some faith that inside she’s -- That inside it’s waiting. Like water, underground. [...].“ (112)
Ebenso wird der Akt des Waschens mehrfach in Nahaufnahme gezeigt; der Zuschauer
soll Anne Sullivans angestrengte Bemühungen mitverfolgen, Helen das Wort „Wasser“
beizubringen: „Cut to a basin of water. ANNIE drags HELEN to it, and with a face-cloth
136
Auch der Ring, der bei Gibson in einer ausgeschmückten, sentimentalen Szene vorkommt, wird bei Braddy
nur kurz erwähnt: „Mr. Anagnos loaned her money for her railroad fare and gave her a garnet ring.“
(Braddy 1934, 116)
Page 102
vigorously scrubs her face. In the middle she stops to spell, grimly.“ (99) Ein match-cut zeigt,
daß die Zeit für das „miracle“ noch nicht gekommen ist; Helen macht sich nur darüber lustig,
indem sie Annes unverständliche Zeichen imitiert: „Dissolve to a duplicate basin of water.
HELEN drags her doll to it, and with a face-cloth vigorously scrubs its face. And then pokes her
fingers insistently at its palm, in an impish mockery of ANNIE.“ (99) Somit wird Spannung
aufgebaut. Kurz bevor sich das „miracle“ ereignet, versetzt sich der Zuschauer in die Köchin
Viney, die den verhängnisvollen Wasserkrug trägt, den Helen später umstoßen und an der Pumpe
auffüllen soll. „Close-up of a water pitcher being carried by a Negro hand; we follow it along
the hall, through the doorway, to the dining-room table.“ (114) Diese Überblendung ist so
entpersonifizierend, daß Viney bis auf ihre Hand nicht mehr dargestellt wird, sondern der
Zuschauer sich ganz auf das Symbol des Wasserkrugs konzentriert. Bei der Tischzene weicht
Gibson dann von Inhalt und Chronologie der Briefe Anne Sullivans ab; dort wurde erstens kein
Wasserkrug umgeworfen; auch folgte das „miracle“ (5. April 1887) nicht unmittelbar auf die
Tischzene -- diese fand bereits in den ersten Tagen nach Annes Ankunft statt (erste Märzwoche
1887). Im Film folgen diese Szenen direkt aufeinander, werden dramatisiert und symbolisch
verdichtet:
[[...] ANNIE moves in, to grasp her wrist, and HELEN, flinging out her other hand,
encounters the water pitcher; she swings with it at ANNIE; ANNIE, falling back, blocks it
with an elbow, but the water flies over her and the pitcher tumbles to the floor. [...]] (120)
Während Anne Helen nun zwingt, Wasser zu pumpen, und ihr dabei in die freie Hand „w-a-t-e-
r“ buchstabiert, sieht der Zuschauer in einer Nahaufnahme den Wandel im Gesicht des Kindes,
der in den Briefen in gleicher Weise beschrieben wird: „And now the miracle happens. We have
moved around close to HELEN’S face, and we see it change, startled, some light coming into it
we have never seen there, some struggle in the depths behind it [...].“ (123) Helen spricht dabei
ihr Wortrudiment „Wah.Wah.“ (123) aus; nach den Briefen ihrer Lehrerin hat sie dies nicht
getan. Auch in Helen Kellers eigener Schilderung heißt es nur simplifiziert: „Suddenly I felt a
misty consciousness as of something forgotten -- a thrill of returning thought; and somehow the
mystery of language was revealed to me.“ (The Story of my Life 23) Der Zuschauer muß sich
nämlich erklären können, warum Helen gerade hier begreift, was Sprache ist; daß „water“ das
einzige Wort war, für das sie nach ihrer Erkrankung noch eine Lautbezeichnung verwendete,
könnte ein Grund sein. Im Miracle Worker fällt ihr der Wasserkrug aus der Hand und zerbricht.
Page 103
In ihren Briefen schreibt Anne Sullivan nur von einem Becher: „She dropped the mug and stood
as one transfixed.“137
Der Krug hat als Symbol sicherlich einen höheren Ausdruckswert, schon
von der Ästhetik her; außerdem ist er ihr Alibi, daß sie Wasser pumpen muß, denn wäre ihr bei
Tisch nur ihr Becher umgekippt, hätte sie ja vom Krug nachgießen können.
Ein weiters Symbol ist das Vorkommen des Wortes „miracle“ selbst. Der Zuschauer soll
den mühevollen Weg des „miracle workers“ mitverfolgen. Bereits in der Anfangsszene schickt
Dr. Anagnos Anne Sullivan in ihre neue Position mit den nicht gerade ermutigenden Worten: „If
that child can be taught. No one expects you to work miracles, even for twenty-five dollars a
month.“ (22) Ähnlich skeptisch äußert sich später Mr. Keller: „I consent to the garden-house.
We’ll give them two weeks. Be a miracle if she lasts that long.“ (79) Anne Sullivan stimmt zu:
„Fourteen days. Maybe it’s enough. For only one miracle.“ (80) Und in der Tat hat sie in dieser
Zeitspanne nur ein Wunder vollbracht -- sie hat aus dem Wildfang ein artiges Kind gemacht, ihm
aber noch nicht die Sprache vermitteln können. Als Helen in der Endszene Dr. Anagnos
vorgestellt wird, lobt er die Lehrerin: „Annie, you have made, what, a wonder, hm?“, und Anne
erwidert bescheiden: „Oh, she’s a wonder. I didn’t make her.“ (130) Einer der letzten Sätze des
Films ist Dr. Anagnos’ Bemerkung: „Together you have made a wonder“ (130), was die
Handlung des Films noch einmal auf einen Punkt bringt.
Symbolismus findet sich nicht zuletzt im Bereich „Kostüme“. Zwar trägt Helen Keller
hier kein wallendes, mittelalterliches Gewand wie in Deliverance, aber in der Endszene des
Miracle Workers unterscheidet sie sich farblich von den kleinen Schülerinnen an der Perkins
Institution for the Blind. Auch der Tanz und Gesang haben etwas Rituelles an sich; zum einen
wird das Happy End betont, zum anderen die herausragende Gestalt Helen Kellers:
[Draw back; we are on the children, and the camera lifts, slowly, to a high and full view
of them in the room, in their dark clothes, HELEN in her light dress, all holding hands
and moving in a circle around the smallest child, chanting. Fade out.] (131)
Der „circle“ ist ein Symbol ähnlich dem Ring Annies. Und hier wird der Kreis wirklich
geschlossen. Zum Glück steht Helen nicht in der Mitte in ihrem weißen Kleid, denn sonst wäre
die Szene an Symbolismus überladen. Dem Regisseur wurde übrigens der Vorwurf einer
137
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 316.
Page 104
„demagogischen Ästhetik“138
gemacht, mit der er jede Szene sentimental auslaufen läßt. Damit
hat er jedoch sicherlich den Geschmack des Publikums getroffen.
6.1.4 Komik
Obwohl der Film an sich dramatisch ist, spricht er den Zuschauer auch durch seine Komik an.
Diese äußert sich meistens in Wortspielen und schlagfertigen Antworten Anne Sullivans. So z.B.
in der Szene, in der ihr Dr. Anagnos viele wohlgemeinte Ratschläge mit auf den Weg gibt („This
is my last time to counsel you, Annie, and you do lack some -- by some I mean all -- what, tact
or talent to bend. To others. [...]“ 19). Kaum unterbricht er sich mitfühlend „Your eyes hurt?“,
entgegnet ANNIE [wickedly]: „My ears, Mr. Anagnos.“ (20)
Später beklagt sich Anne bei Mrs. Keller, daß sie so oft umsteigen mußte („I changed
trains every time it stopped, the man who sold me that ticket ought to be tied to the tracks --“
30).139
Auf Mr. Kellers höfliche Frage „You had an agreeable journey?“ antwortet sie sarkastisch
„Yes, several!“ (35)
Eine andere humorvolle Szene, die Gibsons Phantasie entsprungen sein muß (Anne
Sullivan berichtet jedenfalls nicht davon), findet auf Annes Zimmer statt, als Helen sich
daranmacht, ihren Koffer auszupacken: „HELEN comes back to the suitcase, gropes, lifts out a
pair of bloomers.“ ANNIE: „Oh, no. No you don’t--“ (41) In dieser Minute steckt Helens großer
Stiefbruder James seine Nase ins Zimmer: „[...] ANNIE in one hurried move gets the bloomers
swiftly back into the suitcase, the lid banged shut [...].“ (42/3)
Als Anne in Helens Hand buchstabiert, die ihr gerade einen Kinnhaken versetzt, macht
James dümmliche Kommentare („Doesn’t like that alphabet, Miss Sullivan. You invent it?“
138
Vgl. Jaedicke 1979, 215.
139
Laut Braddys Biographie hat Anne Sullivan an Mrs. Hopkins geschrieben: „The man who sold us that ticket
ought to be hanged, and I’d be willing to act as hangman.“ (Braddy 119) Anne Sullivan hatte einen sehr
humorvollen Stil, und Gibson konnte teilweise die Komik aus ihren Briefen übernehmen.
Page 105
(44/5), worauf Anne schlagfertig entgegnet: „Spanish monks under a -- vow of silence.140
Which
I wish you’d take.“ (45)
Als Helen Miss Sullivan in ihrem Zimmer eingeschlossen hat und Mr. Keller sie durchs
Fenster retten muß, trägt er Annie gegen ihren Willen (sie meint, sie könne das auch alleine) die
Leiter herunter, wobei er ihr großzügig anbietet: „Simply hold onto my neck.“ (48) Doch:
„KELLER wobbles, and ANNIE grabs at his whiskers.“ KELLER: „My neck, Miss Sullivan.“
(48/9)
Nach dieser sensationellen Befreiungsaktion läßt James, der sich zuvor über Annes
Buchstabieren von „d-o-l-l“ lustig gemacht hatte, Anne gegenüber folgenden Kommentar los:
„Might as well leave the l, a, d, d, e, r, hm?“ (50)
Während der berühmten Tischszene streiten sich der bornierte Mr. Keller und sein Sohn
James darüber, warum die Südstaaten im Krieg mit den Nordstaaten Vicksburg verloren haben,
und Mr. Keller ist dabei sehr taktlos, da Anne Sullivan ja auch ein „Yankee“ ist. Für ihn war der
Nordstaatengeneral Grant einfach nur „drunk“, für James „obstinate“. Als sich Anne nun bei
Tisch nicht alles von Helen gefallen läßt und partout keinen frischen Teller annehmen will,
während Helen in ihrem herumgrabscht, sagt James: „Ha. You see why they took Vicksburg?“
Als Anne schließlich die ganze Familie hinausschickt, um mit der Widerspenstigen allein fertig
zu werden, dreht sich James noch einmal um: „If it takes all summer, general.“ (64)
Einen komischen Effekt hat auch das heimliche Lauschen der kleinen Martha
Washington vor dem Schlüsselloch, bis Helens Mutter sie erwischt. Sie findet jedoch schnell
einen anderen Weg:
[In on an outside window of the house, where MARTHA and the boy PERCY are rolling a
log up; they mount it, glue their noses to the window-pane, and VINEY comes along with
a broom.] (68/9)
Kaum hat die Köchin jedoch ihre Kinder vertrieben („Shoo, shoo, never you mind what’s goin’
on inside there. You tend your own bizness, you hear me?“ 69), klebt sie selbst mit ihrer Nase
an der Fensterscheibe: „VINEY mounts the log, and peers in. [...]“ (69)
140
Hier ist eine Erklärung vonnöten. In Braddys Biographie heißt es: „This alphabet, which is now standard
throughout the world where Latin letters are used, was first employed in the teaching of the deaf in France
in the early part of the 18th century. It was brought from Spain, where it is said to have been invented by a
group of monks who had taken a vow of silence; by using it they were able to converse without breaking
the vow.“ (Braddy 1934, 73)
Page 106
Im folgenden hört man nur beängstigende Laute aus dem Eßzimmer bzw. heftige Tritte
an der Tür. Das Ergebnis der Schlacht bei Tisch ist, daß Helen von ihrem eigenen Teller
gegessen hat, und sogar mit einem Löffel. Während Helen aus dem Raum stürzt, ihrer Mutter vor
die Knie rennt und sich rettungssuchend daran festklammert, kommentiert Anne kühl und mit
siegesbewußter Miene die Lage: „The room’s a wreck, but her napkin is folded.“ (71) Kaum ist
nun dieser Kampf überstanden (das Frühstück hat Stunden gedauert), „when we hear VINEY’S
voice, cheery“: „Don’t be long, Miss Annie. Lunch be ready right away!“ (72) Das ist zuviel für
Annie: „ANNIE shuts her eyes as at a death sentence, takes a deep breath, and passes on. [...]“
(72)
Anne bleibt auch Mr. Keller keine Antwort schuldig, als er daran zweifelt, daß sie im
Gartenhaus allein mit Helen zurechtkommen kann: „Do you know what it’s like to take care of a
child, single-handed, day and night?“ ANNIE: „I can use both hands, Captain Keller.“ (79)
Auf Kate Kellers Besorgnis „You’re not to overwork your eyes, Miss Annie“ entgegnet
sie lakonisch: „Well, I wouldn’t if I didn’t have such an underworked brain!“ (96), und als Mrs.
Keller das Fingeralphabet lernen will, buchstabiert Anne ihr etwas in die Hand, das sie noch
nicht versteht: „I said this is the only way women can get writer’s cramp talking too much!“ (97)
Auf James’ taktloses Kompliment hin „You’d be quite a handsome girl if it weren’t for
your eyes.141
No one’s told you?“ antwortet Anne schlagfertig: „Everyone. You’d be quite a
gentleman if it wasn’t for your manners!“ (106)
Durch diese humorvollen Dialoge und amüsanten Bilder garantiert Gibson, daß der Film
nicht zu theatralisch und rührselig wird. Außerdem wird die Protagonistin Anne Sullivan so im
rechten Licht gezeigt: frech, selbstbewußt und reaktionsschnell. Ohne Komik könnte der Film in
Gefahr geraten, aus Anne mit ihrer schwarzen Brille am Ende noch eine Leidensfigur zu machen.
141
Nella Braddy schreibt in ihrer Biographie: „She would be so pretty if it were not for her eyes. [...] Out of the
vagueness that enwraps the beginnings of Annie Sullivan those are the first words that she can remember.
The words are completely disembodied, and all her efforts to attach them to a person have failed.“ (Braddy
1934, 1)
Page 107
6.1.5 Dramatische Effekte
Abgesehen von der Handlung entstehen dramatische Effekte zum einen durch die Kostüme und
Accessoires (getönte Brille, weißes Kleid Helens usw.), zum anderen werden sie durch den Ton
erzeugt (z.B. in der ersten Szene des ersten Aktes, in der Helens Ertaubung durch das Abnehmen
der Lautstärke verdeutlicht wird, oder in der Kinderszene mit Helen, Percy und Martha auf den
Verandastufen, in der der Ton gänzlich fehlt und der Zuschauer nur die Gestik sieht). Zweimal
wird im Film an einem Glockenstrang gezogen, was auf den Zuschauer ebenfalls einen
aufmerksamkeitserregenden Effekt hat. Beim ersten Mal ruft Percy auf diese Weise Mrs. Keller
herbei, als Helen der kleinen Martha die Haare abschneidet: „PERCY darts to the bell string on
the porch, yanks it, and the bell rings.“ (9) Beim zweiten Mal ist der Effekt ungleich größer,
denn Helen hat gerade das Wort „water“ begriffen und läutet nicht nur ihre Eltern herbei,
sondern die Glocken des ganzen Dorfes fallen symbolisch in das Freudengeläut ein:
[HELEN scrambles onto the porch, groping, and finds the bell string, tugs it; the bell
rings, all the bells in the town seem to break into speech while she reaches out and
ANNIE spells feverishly into her hand. [...] HELEN, still ringing the bell, with her other
hand touches her mother’s skirt [...].] (125)
Abgesehen von der chaotischen Szene bei Tisch hat Gibson noch einige andere tragische Szenen
eingebaut, die das Spannungspotential des Films, der an sich ja nicht viel Handlung aufweist,
erhöhen. So verläuft z.B. ein Kampf zwischen Helen und Annie nicht unblutig:
[[...] HELEN swings the doll with a furious energy, it hits ANNIE squarely in the face,
and she falls back with a cry of pain, her knuckles up to her mouth. [...] When ANNIE
lowers her knuckles, there is blood on them; she works her lips, gets to her feet, coughs,
spits something into her palm, finds the mirror, and bares her teeth at herself. Now she is
furious herself.] (46)
Die Kamera geht sogar noch ins Detail (Helen hat Anne inzwischen eingeschlossen), es wird
etwas blutrünstig: „[S]he catches sight of herself in the mirror, her cheek scratched, her hair
disheveled, her handkerchief bloody, her eyes disgusted with herself. [...]“ (47)
[She turns to a pitcher and basin on a stand, puts down what is in her hand, pours some
water, dips the handkerchief, and commences to wash her face. We go close to what she
has put down: it is a broken tooth. Dissolve.] (47)
Diese etwas eklige Nahaufnahme verdeutlicht dem Zuschauer, daß Helens Erziehung gar keine
einfache Sache ist. Anne Sullivan berichtet in ihren Briefen nichts darüber. Dabei hat Gibson
Page 108
diese dramatische Szene keinesfalls erfunden, wie man zunächst annehmen könnte. Nach Helen
Kellers eigener Schilderung in der Biographie ihrer Lehrerin waren es sogar zwei Zähne, die
daran glauben mußten, nur in einer anderen Situation; Gibson hat (wie in der Author’s Note
angekündigt) zwei zeitlich verschobene Ereignisse zusammengezogen:
One morning Phantom would not sit down to learn words which meant nothing to her,
and kicked over the table. When Annie put the table back in its place and insisted on
continuing the lesson, Phantom’s fist flew like lightning and knocked out two of Annie’s
teeth. (Teacher 38)
Eine andere dramatische Szene erscheint dagegen etwas unglaubhafter (siehe Kapitel
„Werktreue“); nach dem verzweifelten Kampf ums Bett ist Helen endlich eingeschlafen und
Anne muß im Schaukelstuhl übernachten -- doch was James durchs Fenster sieht, läßt ihn vor
Scham die Augen senken. Der Zuschauer macht dieselbe Erfahrung, denn es wird eine subjektive
Kamera benutzt: „We look in the window with him, the camera panning slowly around.“ (Gibson
85) Anne verhält sich ziemlich gestört:
[ANNIE is in a rocker near by, crooning, but not to HELEN: it is to Helen’s doll142
,
which she is rocking against her breast, patting its diminutive behind, and she herself in
her voluminous nightgown looking like a small girl, playing momma. [...]] (85)
Es kommt noch stärker, denn einige Nächte später hat Anne denselben Alptraum wie auf ihrer
Anreise im Zug (was den Zuschauer die ganze Zeit über gespannt hält, ob das Geheimnis noch
gelüftet wird):
[In on ANNIE’S sleeping face in moonlight. It is disturbed by some dream of growing
terror, the dream we have seen once before on her face, in the train; but this time it lifts
her up in a nightmare sweat, her face blind and terrified. She gropes with a hand, touches
HELEN’S body under the blanket, and the scream breaks from her throat.] (103)
James, der zufällig (!) gerade wieder einmal ums Gartenhaus schleicht, kommt auf den Schrei
„Jimmie!“ herbei, und er bringt Anne soweit, daß sie ihm wie betäubt ihren immer
wiederkehrenden Traum erzählt:
He had a bunch on his hip the size of a tea-cup, a tubercular hip, they said. It kept
growing. [...] He kept saying about his hip over and over, It hurts, it hurts. Then he
couldn’t walk, even with the crutch. I was asleep when it happened, I didn’t hear them
142
In anderem Zusammenhang läßt sich dieses neurotische Verhalten Annes auch in Braddys Biographie
finden: „She was with Helen all day, and in the evening she used to sit in her bedroom [...] crooning to one
of Helen’s dolls („All of my life I have played with dolls,“ she confesses) [...].“ (Braddy 1934, 129) Ich
würde es als eine Art Leerlaufhandlung bezeichnen, die ausdrückt, daß sie sich nach Zärtlichkeit sehnt.
Page 109
roll his bed out, but I woke up and felt it wasn’t there. So I went to the dead house in the
middle of the night [...]. When I screamed it woke everyone, they dragged me off him.
[...] (105)
Ein Hinweis auf ihre Alpträume ist weder in Anne Sullivans Briefen noch in Nella Braddys
Biographie enthalten.143
Gibsons Alptraumszene ist besonders ergreifend für den Zuschauer,
denn durch diese feinere Charakterzeichnung Anne Sullivans wird noch deutlicher, daß die
Hauptperson hier nicht Helen Keller ist. Sogar das „Innenleben“ der Protagonistin wird dem
Zuschauer offengelegt.
6.1.6 Werktreue und Literarizität
In einem Punkt widerspricht Gibson sich selbst. Zuerst läßt er Mrs. Keller ihrem Mann
gegenüber die Verschwiegenheit Annes, die nicht gerne über ihre Vergangenheit redet, betonen
(„She’s very close-mouthed about some things.“ 39), dann erzählt Anne Mrs. Keller
vertrauensvoll ihre Leidensgeschichte im Armenhaus, um sie endgültig von dem Gedanken
abzubringen, Helen in ein „asylum“ zu geben:
Mrs. Keller. I grew up in such an asylum. Rats, why, my brother Jimmie and I used to
play with the rats! You’re as innocent as a lamb to me, and Captain Keller too. Maybe
he’d like to hear what it will be for Helen to live with street-walkers and people queer in
the head, with fits, or D.T.’s, and the babies born with no family, the first year we had
eighty, seventy died, and the room we played in was the dead house, where they kept the
bodies till they could dig the -- (77)
Bereits in der Einleitungsszene, in der Anne die getönte Brille überreicht bekommt, gesteht sie
Dr. Anagnos: „I thought I died when Jimmie died, that I’d never again -- Well, it’s true, you say
love, and I haven’t loved a soul since and I never will, but this place gave me more than my eyes
back.“ (23) An dieser Stelle wird besonders deutlich, warum Gibson Annes Vergangenheit im
Armenhaus ins Spiel bringt: der zweite rote Faden des Films ist, wie die starrköpfige Anne nach
vielen vergeblichen Versuchen am Ende doch noch die Liebe der ebenfalls starrköpfigen Helen
143
Nella Braddy sagt über die Zugreise: „She cried so much that the conductor on the train from Chattanooga
asked her if „any of her folks was dead“ and tried to soothe her with sandwiches and peppermints [...]. The
further details of the journey are lost.“ (Braddy 1934, 118) Bei Gibson wird Anne Sullivan weniger
weinerlich und kindlich dargestellt, dafür aber mit einem Trauma aus ihrer Zeit im Armenhaus.
Page 110
gewinnt und dieses Kind auch lieben kann. Der Zuschauer zweifelt mehrere Male daran, ob
daraus jemals etwas wird, da Anne oft betont, für Helen oder sonst jemanden keine Liebe
empfinden zu können: „I didn’t come here for love. [She lifts the tea-cup, as in a toast.] I came
for money!“ (78) Und: „And I don’t even love her, she’s not my child!“ (113)
Später erzählt Anne dann wie in Trance ausgerechnet James, zu dem sie nach eigenen
Berichten gar keine besondere Beziehung hatte, von ihrem Alptraum. Zudem sieht es im Film
fast so aus, als wolle sich James an sie heranmachen, was an ihrer Unfähigkeit zu lieben
scheitert. Dies ist wohl nur als zusätzlicher „thrill“ für den Zuschauer zu betrachten, der in dem
Film auf eine Love Story verzichten muß (bis auf die erst relativ spät eintretende „Eroberung“
Helens durch Anne). In der Realität hat Anne Sullivan allen Menschen gegenüber Stillschweigen
bewahrt, und Helen Keller selbst hat sie erst in deren fünfzigsten Lebensjahr von ihrer Kindheit
im Armenhaus erzählt, als sie selbst vierundsechzig Jahre alt war. Diese unrealistische
Vertrauensseligkeit mußte Gibson wohl oder übel in seinen Film einfließen lassen, da die
Protagonistin sonst nicht so stark als eine tragische Figur herausgekommen wäre. Auch wäre
ohne die Alptraumszene ein dramatischer Effekt verlorengegangen, der die Spannung der
Zuschauer erhöht und deren Identifikationsmöglichkeiten mit der Protagonistin aufgrund von
Sympathie verstärkt. Helen Keller, die doch die absolute, lebenslange Vertrauensperson Anne
Sullivans war, berichtet davon, wie sie nach Jahren des Schweigens endlich in die Geheimnisse
der Vergangenheit ihrer Lehrerin eingeweiht wurde, da diese für die Biographie, die Nella
Braddy über sie zu schreiben gedachte, ohnehin die Wahrheit ans Licht bringen mußte:
In twenty-five years, after most of my books were written and my work for the American
Foundation for the Blind was well-established, I learned the truth about Teacher’s life in
the almshouse at Tewksbury. Nella was writing a book about her [...]. [...] Before telling
me her story, Teacher asked the maid to go out for the afternoon and even tucked her
Shetland collie [...] off in an out-of-the-way corner [...]. Then we sat side by side and the
terrifying drama of her early years began to unfold in my palm. (Teacher 113)
Helen Keller verstand, daß die Erinnerung an den Tod ihres kleinen Bruders Anne Sullivan nie
mehr losgelassen hat, und sie konnte sich im Nachhinein so manches merkwürdige Verhalten
ihrer Lehrerin, die sich plötzlich aus aller Gesellschaft zurückziehen konnte und sehr launisch
war, erklären.
I put myself into the exploring spirit of the half-blind, lonely child who lived in that
hideous environment and I nearly went distracted at the dreadful sobbing with which,
Page 111
after the silence of half a century, she spoke of her brother Jimmie’s death in the
almshouse. (Teacher 113/4)
Nicht einmal, als Helen Keller 1929 ihre zweite große Autobiographie Midstream: My Later Life
schrieb, durfte sie in einem ihrer Lehrerin gewidmeten Kapitel Anspielungen auf deren
schmähliche Vergangenheit machen:
However, I thought Teacher grew less reasonable as I approached the end of Midstream.
She compelled me to use an unnatural constraint in the chapter I called „My Guardian
Angel.“ She did not permit any reference to her humble birth or the almshouse, her
sufferings and disappointments. Actually I felt humiliated, as if I had almost lied to God
Himself, and I never spoke of Midstream to her after an experience that caused aversion
to myself. For I loved Teacher and not myself in her. (Teacher 180)
Die Freizügigkeit Anne Sullivans Vergangenheit betreffend ist der größte Verstoß gegen
Authentizität im Miracle Worker. Er schadet jedoch dem Film nicht, sondern erhöht das
Interesse der Zuschauer. Es gibt noch einige andere Unterschiede (abgesehen vom Auftreten von
Personen in gewissen Szenen, die in Wirklichkeit gar nicht dabeigewesen sind; wie z.B. die
lauschenden Kinder und Viney bei der Frühstücksszene); so wird Helen Keller wilder und
ungeschickter dargestellt, als sie eigentlich war. Als Anne ihr die Arbeit mit der Nähkarte
beibringt, lauten die Regieanweisungen im Miracle Worker: „[...] HELEN’S hand is threading
the card in a haphazard maze from hole to hole. ANNIE’S hand tries to instruct hers; HELEN’S
is impatient, and presently gets rid of ANNIE’S simply by jabbing it with the needle [...].“ (55).
Im Original heißt es da: „[...] [S]he finished the card in a few minutes, and did it very neatly
indeed.“144
Ebenso wird Helen ungeduldig und rachsüchtig dargestellt, als ihr beim Auffädeln
einer Perlenkette ein Malheur passiert: „Cut to HELEN, hanging the competed string of beads
around her neck, whereupon they all slide off the unknotted end. HELEN sits darkly. Then with
venteful resolve she seizes her doll, and is about to dash its brains out on the floor [...].“ (52/3)
In Annes Briefen war Helen nicht so dumm, keinen Knoten zu machen, sondern es war Annes
Fehler, und Helen wird sogar noch für ihre Cleverness gelobt: „I did not make the knot large
enough [...], and the beads came off as fast as she put them on; but she solved the difficulty
herself by putting the string through a bead and tying it. I thought this very clever.“145
Im
Miracle Worker zeigt sich Helen an einer Stelle besonders aggressiv; sie rächt sich an der
kleinen Martha, weil diese sprechen kann: „[...] instantly HELEN has MARTHA on her back,
144
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 306. 145
The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 307.
Page 112
knees pinning her shoulders down, and MARTHA’S tied bunchlets of wiry hair are flying off in
snips of the scissors. [...] MARTHA is running off in tears, and HELEN is fiercely snipping the
shorn bunchlets into smaller fragments.“ (9) Gerade diese nachträgliche Zerstückelung zeigt
Helen in einem viel negativeren Licht. Nach Helen Kellers eigener Schilderung war dies
offenbar ein Akt gegenseitigen Frisierens: „Martha Washington had as great a love of mischief
as I. [...] I turned my attention to Martha’s corkscrews. [...] Thinking that turn and turn about is
fair play, she seized the scissors and cut off one of my curls [...].“ (The Story of my Life 12/13)
Die Darstellung einer verwildeten Helen im Miracle Worker war für den Film anscheinend
notwendig, um den Kontrast zu ihrem Verhalten nach dem Spracherwerb stark genug
hervorheben zu können.
Etwas vermißt man jedoch im Film: die berühmt-berüchtigte Eloquenz von Dr. Anagnos.
Bei Gibson liest er hauptsächlich Annes Briefe vor, und wenn er selbst etwas formuliert, so
geschieht dies in abgebrochenen, hintereinandergefügten kurzen Hauptsätzen, ohne
ausschmückende Stilfiguren. Man findet nur eine Metapher: „Deaf, blind, mute -- no one knows.
She is like a little safe, locked, that no one can open. Perhaps it is empty.“ (20/21) Ansonsten
scheint die Betonung eher auf der Tatsache zu liegen, daß Anagnos Ausländer ist (die
Regieanweisung betont seinen „Greek accent“, vgl. 18). Seine Sätze sind abgehackt: „Now, in
this envelope, a loan for the railroad [...].“ (22) „In this box, a gift.“ (22) „A small girl, such a
large question.“ (130; als Reaktion auf Helens Frage „What is a soul?“). Oder: „And will you
stay with us, here, now? Both?“ (131) Auch scheint Dr. Anagnos häufig unsicher, welches Wort
er verwenden soll, weshalb er ein ständiges „what“ oder „hm“ einflechten muß: „[...] you do lack
some -- by some I mean all -- what, tact or talent [...]“ (19). Beziehungsweise: „Annie, you have
made, what, a wonder, hm?“ (130) Daraus wird ersichtlich, daß Anagnos, abgesehen von der
Tatsache, daß er Helen eine Lehrerin schickte, im Film nur eine untergeordnete Rolle spielt als
Vermittler der Briefe.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß aufgrund der hohen Literarizität auch eine
bemerkenswerte Werktreue gegeben ist; wenngleich manche Charaktere des Miracle Workers
etwas überzeichnet erscheinen. Die negative Darstellung Mr. Kellers ist verständlich, da er auch
in Anne Sullivans Briefen als borniert und starrköpfig charakterisiert wird. Aber James, der in
den Briefen gar keine, wenn nicht nur eine belanglose Nebenrolle annimmt, bekommt hier ein
stärkeres Gewicht zubemessen, als ihm eigentlich zusteht. Er nimmt Helen gegenüber eine harte
Page 113
Haltung ein: „You really ought to put her away, Father. [...] Some asylum. It’s the kindest thing.“
(13) In der Realität war dies der Vorschlag eines Onkels146
von Helen gewesen. Auch seine
„Annäherungsversuche“ an Anne sind vielleicht etwas übertrieben: „And you’ve had no one to
dream about since?“ ANNIE [grimly]: „No. One’s enough.“ JAMES: „[...]giving up. Sooner or
later, we do. Then maybe you’ll have some pity on -- all the Jimmies. And Helen, for being what
she is. And even yourself.“ (105) Anne wird hier beinahe als Männerhasserin147
dargestellt. Und
vor allem als eine Person, die im Uneins ist mit sich selbst. Diesen Charakterzug hat Gibson aber
keinesfalls aus der Luft gegriffen. Er stellt seine Protagonistin nicht als Heilige (denn sie ist ja
eine „Wundertäterin“) dar, sondern als einen Menschen mit Fehlern und Schwächen, was sie laut
Helen Kellers Biographie auch war:
Teacher was twenty-nine [...] before I could form an idea of her personality apart from
her vocation as devotee of loveliness. As I grew more mature, she let loose upon me all
her varied moods, and because of this I was not taken unawares by the storms of destiny.
(Teacher 69)
Teacher also suffered [...] from a melancholy which bred a wretched incapacity to
respond even to the kindest approaches of her intimate friends. She would fly from them
to the woods [...]. But then she would come back to her friends asking forgiveness.
(Teacher 70)
Teacher was not logical. Yet she was the only woman I have known intimately who could
engage in the rough and tumble of argument and come off victorious. (Teacher 71)
Sein Hauptziel hat der Film erreicht: ein gelungenes Portrait Anne Sullivans mit Betonung auf
der Schwierigkeit ihrer Arbeit und ihrer genialen Erziehungsmethode.
6.2 Überbetonung des Sexuellen im Folgestück
Monday after the Miracle148
146
„‘You really ought to put that child away, Kate,’ said one of Mrs. Keller’s brothers. ‘She is mentally
defective and it is not pleasant to see her about.’ “ (Braddy 1934, 104)
147
Nella Braddy erklärt Anne Sullivans merkwürdiges Verhalten als eine Störung, die von ihrer Zeit aus dem
Armenhaus herrührt: „The result [...] was an outlandish impression of what life was like and a queer
fascinated antagonism for men.“ (Braddy 1934, 45) 148
Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf Gibson, William. Monday after the Miracle.
A play in three acts. New York: Dramatists Play Service Inc., 1983.
Page 114
Trotz der schlechten Kritiken ist es interessant, gewisse Aspekte in Gibsons „Teil Zwei“ der
Helen-Keller-Story, Monday after the Miracle, zu betrachten. Das Stück wurde im Mai 1982
beim Spoleto Festival in Charleston/South Carolina unter der Regie von Arthur Penn
uraufgeführt.
Der Dreiakter verfolgt ausschließlich die Dreiecksbeziehung Anne Sullivan - Helen Keller - John
Macy, und zwar von ihrem Beginn bis zu ihrem Scheitern. Dabei werden Helen Kellers
literarisches und soziales Wirken kaum gewürdigt; es geht lediglich um die Psychologie der
Figurenkonstellation. Der sexuelle Aspekt wird dabei überbetont. Eine große Rolle spielt die
Verbesserung von Helens Aussprache; am Anfang wird sie nicht verstanden, gegen Ende hält sie
„lectures“. Die Schauspielerin (Karen Allen) scheint dies jedoch nicht überzeugend
herübergebracht zu haben. Vom Titel her könnte man erwarten, Monday beziehe sich auf den
ersten Montag nach dem Ereignis am Brunnen, und Gibson würde jetzt fortfahren zu erklären,
wie Helen eine Vorstellung von abstrakten Begriffen bekam und Fortschritte beim Erlernen der
Sprache machte, so wie es in den Briefen Anne Sullivans beschrieben wird. Aber die Fortsetzung
setzt nicht da ein, wo The Miracle Worker aufgehört hat, sondern es sind inzwischen Jahre
vergangen. Die Personen werden folgendermaßen beschrieben: „At the clothesline, Annie -- her
hair unkempt, an attractive slattern in her late thirties [...]. [...] Helen, in her early twenties, is
seated working at the Braille writer. John, 25, tweedy, books in pocket, and a sprig of lilac in
hand [...]“ (5)
Der erste Akt beginnt damit, daß John, ein junger Dandy auf Arbeitssuche, den Kopf zur
Tür hereinsteckt und ein paarmal „hello“ zur braillelesenden Helen sagt, worauf er natürlich
keine Antwort bekommt. Dann wird er Annies gewahr und begibt sich in den Garten, wo Anne
Sullivan Wäsche aufhängt. Er erkennt seinen Irrtum und wird gleich seinen ersten Kommentar
über Helen Keller los: „She’s lovely“ (6), während Anne ihn wie einen Vertreter abzuwimmeln
versucht: „Nothing today, thank you.“ (6) John Macys Auftreten ist von Anfang an dreist und
unverschämt, zumal er Anne für die Bedienstete hält und sie, nachdem er sie von oben bis unten
begutachtet hat, herablassend mit einem typischen Hausmädchennamen anredet: „Well, you’re
not bad yourself, Maisie, why didn’t you answer the door?“ (6) Als Anne erwidert, sie heiße
nicht Maisie, sagt er, „A generic appellative, sweet“ (6), und stellt sich folgendermaßen vor: „A
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friend to all downtrodden domestic help.“ (6) Im folgenden belehrt er Anne Sullivan, die ihn
verulkt und sagt, sie hieße Bridget, daß sie sich keineswegs in diesem Hause ausnützen lassen
müsse, und daß Karl Marx eine Antwort für alle geknechteten Hausangestellten habe -- die
Revolution. Anne Sullivan spielt das Spiel mit und antwortet wahrheitsgetreu auf die Frage:
„Aren’t you underpaid?“ -- „Indeed I am.“ -- „And overworked.“ -- „I work like a slave.“ (6) So
wird gleich die momentane Situation Helen Kellers und Anne Sullivans beschrieben, die von
finanziellen Engpässen gekennzeichnet war und davon, daß Anne ihre Augen überanstrengen
mußte, um mit Helens Arbeit fürs College mithalten zu können.
John reicht Anne einen Band von Marx, wobei er eingebildet so tut, als wäre Marx ein
alter Bekannter: „Old Karl analyzes all the reasons and gives the answer“ (6), doch sie gibt ihn
zurück mit dem Kommentar: „It has no pictures“ (7) -- Anne foppt John, indem sie sich wie eine
hoffnungslos ungebildete und unbelehrbare Hausangestellte verhält. Als sie ihn Helen vorstellt,
erkennt er jedoch seinen Irrtum. Helen („her voice thick, uninflected“ 7) sagt höflich, „It’s a
gracious offer“ (7), doch er versteht sie nicht, und Anne muß dolmetschen. Im folgenden hat
Gibson die Technik des voice over für die Entschlüsselung des Fingeralphabets benutzt, was er
im Miracle Worker nicht angewandt hat; dort sprach Anne für den Zuschauer ihre Sätze zu den
Zeichen. Hier jedoch sieht der Zuschauer Anne die Zeichen für Helen machen, während ein
voice over sie interpretiert; Helen dagegen spricht durchweg selbst, und zwar mit den Pausen an
den falschen Stellen, auch mitten im Wort.149
Es fällt auf, daß Anne Helen äußerst
verniedlichend und aus einer überlegenen Pose heraus anredet: „I’m not sure he’s suitable,
baby.“ (7)
Die Szene versucht krampfhaft, komisch zu sein; erst durch das Verwirrspiel, dann durch
Helens Charakterisierung des neuen Sekretärs, als sie ihn betastet: „He is talented.“ -- „Thank
you.“ -- „And, knows it.“ (7) John Macy wird eingestellt, indem Anne ihm die Arbeit für den
nächsten Monat präsentiert. John: „It’s, ah -- bumpy going --“ (8), er kann nämlich kein Braille
lesen. Auch ist die Situation für ihn so verwirrend, daß er Helen anredet und ganz vergißt, daß
sie ihn ja nicht hören kann. Helen erleichtert es ihm, indem sie mit den Fingern von seinen
Lippen liest. John erzählt den Frauen, daß er eigentlich Schriftsteller ist und gerne ein Buch über
„American letters“ schreiben würde, aber seinen Lebensunterhalt auf andere Weise verdienen
müsse. Seine marxistische Grundhaltung ist bereits deutlich geworden. Als Anne Sullivan ihn
149
Deshalb stehen auch die Kommata in den Zitaten an den falschen Stellen.
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damit aufzieht, macht er die Anspielung: „I’m afraid you’re -- something of a witch.“ -- „Oh?“ -
- „Bewitching.“ (9) Dann fragt er die beiden Frauen, ob sie Maggie, A Girl of the Streets kennen,
und Helen fragt harmlos: „Do we?“, während Anne sich belesener zeigt: „I think she’s a book.“
(9) John verspricht, den Band von Stephen Crane mitzubringen; hier soll verdeutlicht werden,
daß John Macy beginnt, marxistische Vorstellungen und Werke der Muck-raker in den Haushalt
Keller-Sullivan einzuführen. Zugleich wird deutlich, daß Anne nichts davon hält. Helen wird
sich später begeistert zeigen.
John erzählt weiter, „There’s a new man Dreiser worth watching, also interested in fallen
women. It’s the buried life in this country, the unpriviliged, struggling for speech.“ (9) Anne
wirft ein, daß sie beide seine Hilfe gut gebrauchen könnten, wenn er Helen in ihrem „struggle for
speech“ unterstützen wolle, aber sie betont: „But she’s a risen woman.“ (10) Die
Ausgangssituation wird klar umrissen: Helen ist die Unberührbare, und Anne ist an sie
gebunden: „But aren’t you in a kind of bondage? [...] To her?“ (10) Diese Konstellation gerät im
Folgenden etwas aus den Fugen.
Anne bindet John gleich beim „Einstellungsgespräch“ auf die Nase, daß sie ein Kind
armer irischer Einwanderer und nur durch Helen gesellschaftlich aufgestiegen ist: „Low life. In
the raw. We rose together, a -- mutual levitation --“. (10) Wie bereits zum Miracle Worker
angemerkt, widerspricht dies ihrer Verschlossenheit, wenn es um ihre Vergangenheit geht.
Andererseits kommt in Monday after the Miracle ein Charakterzug Annes zum Ausdruck, der
vielen Zeitgenossen Sorgen um Helen bereitet hat -- ihre Sklaventreiberei. Eine kleine Szene
zeigt, daß Anne Helen nicht zu Bett gehen lassen will, bevor diese ihre Aufgaben erledigt hat:
HELEN. (Sitting.) Carving out, one diagram, takes me all, night. Do you, care?
ANNIE. (Laying out rods.) Of course not.
HELEN. (Working with the stiletto.) Jab, jab, jab -- (Annie comes with the book, spells.)
ANNIE. (Voice over.) Am I slave-driver?
HELEN. Yes.
ANNIE. (Voice over.) You forgive me?
HELEN. Can I, go to bed?
ANNIE. (Voice over.) No.
HELEN. No. (11)150
150
Nella Braddy berichtet häufig von Annes Determinismus und Ehrgeiz, Helen zum Arbeiten anzustacheln.
Ihr ewiges Antreiben sei auch der Grund gewesen, weshalb sie sich mit dem Schulleiter Gilman zerstritten
habe, der Anne aus falscher Rücksicht von Helen trennen wollte, worauf Mrs. Keller Helen von seiner
Schule nahm und sie gänzlich Annes Gutdünken unterstellte: „Mr. Gilman wrote Mrs. Keller that Annie
was treating Helen cruelly, making her life a perfect grind, and that the child’s health was in very
precarious condition.“ (Braddy 1934, 183)
Page 117
Die psychische Problematik wird deutlich, als Helen halb im Scherz sagt: „My youth is,
withering on the, vine“ (12), und Anne selbstverloren murmelt: „Is it. Is it indeed.“ (12).
In der folgenden Szene tritt Johns Freund Pete auf. Die jungen Männer stehen vor der
Wäscheleine, und Pete sagt überwältigt: „Helen Keller’s underwear?“, worauf John entgegnet,
„She has all the usual plumbing.“ (12) Pete wird später noch öfters auftauchen, sozusagen als
Ersatzmann für Helen, wenn John sich in Anne verliebt. Zuerst geht es aber darum, daß John
Macy Helens Story of my Life als Buch herausgeben will. Annes Äußerungen sind ziemlich
authentisch wiedergegeben, denn sie war in der Tat nicht begeistert davon, daß ihre Briefe im
Anhang erscheinen sollten: „You know how we suffered with publicity“ und „[...] I don’t believe
our affairs concern the public“ (14). Wie bereits im Miracle Worker wird Annes schroffes,
abruptes Benehmen verdeutlicht: „I said I will not discuss this further! (She bangs her plate
down, jumps up, and marches Off [...]“. (15) John wagt es, auch noch einen Witz zu reißen: „My,
you’re a contrary type; if you ever drown I’ll look for you upstream.“ (15) Es wird auch
verständlich, warum Anne es nicht ertragen kann, wenn man sie rühmt, z.B. wegen ihrer
pädagogisch wertvollen Briefe: „I’m just not delighted with people who look at me, and see
Helen’s faithful crutch, and prattle of her genius.“ (15) Sie hat ja schließlich kein eigenes Leben,
sondern lebt und wirkt hingebungsvoll für Helen Keller. Ein anderer Aspekt, den Gibson
wahrheitsgetreu übernommen hat, ist die Tatsache, daß Helens Vater151
sein Kind für Geld
„ausstellen“ wollte:
I was nothing, till I found Helen. And that -- love flooded me, what more could the world
offer? Well, it offered all the grief of success. They couldn’t keep their hands off her, do
you know her father wanted to exhibit her for money? [...] Publicity. Do you know the
Perkins teachers were so jealous of me they tried her for plagiarism? - and the Cambridge
School thought she was such a feather in their cap they threw me out? (Gibson 15)
In diesen Zeilen findet man sogar eine Anspielung auf den „Frost King“. Nach diesen der
literarischen Vorlage getreuen Äußerungen fügt Gibson ein paar wilde Szenen ein:
ANNIE. I was never a child. You want my secret with Helen? -- I grew up in a garbage-
pail called the state poorhouse, with lunatics and syphilitic whores, and battled
my way out, and I didn’t teach Helen, I played with her, games, games, games,
151
„Mr. Gilman [...] showed Annie a telegram from Mrs. Keller authorizing him to take complete charge of
Helen, and reminded her that before his death Captain Keller had wished them to be separated. This was
true. Captain Keller had wished to exhibit Helen so as to recoup his fortunes, but Annie and her mother
were determined that Helen should go on with her education.“ (Braddy 1934, 184)
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her childhood was mine. A -- garden. And all the time I knew that to bring her
into the light would make my life.
JOHN. And it isn’t enough.
ANNIE. No. Not -- enough -- (She suddenly scrambles up to escape, John catches her by
the ankle; she goes down, kicking.) Let go.
Es entwickelt sich ein kleiner Kampf zwischen Anne und John:„He pins her striking hands,
kneels over her -- [...] „What would be enough? -- a man who --“ (-- and she knees him in the
groin; he rolls over in pain. She kneels.)“ (16/17) Sie küßt ihn, worauf er fragt, wo sie das
gelernt habe, im Armenhaus etwa? Sie sagt, von niemandem. Dann küßt er sie: „she comes out of
it wide-eyed“ (17) und fragt: „Is that sanitary?“ (17)
Dann vergeht ein gewisser Zeitraum (was Gibson darstellen läßt, indem das Licht
heruntergedimmt wird, Musik spielt, und es langsam wieder heller wird). Es folgt eine
Anspielung auf den Shakespeare-Bacon-Disput: John ist gerade dabei, Helen zu belehren, daß
Bacon die berühmten Shakespearewerke geschrieben hat („and kisses her brow“ 18), als Anne
hinzukommt und sich die erste Eifersuchtsszene entwickelt: „Am I interrupting?“ (18) Anne
schickt Helen zu Bett („Off to bed, baby.“ 19) und verheimlicht Helen, daß John über Nacht
bleibt. Nicht nur Anne, auch John behandelt Helen wie ein Kind: „Good night, sleep tight, don’t
let the --“ (19), aber als Helen beleidigt ruft, „I’m a, grown woman“, zieht er sich gekonnt aus
der Affaire: „-- flights of angels sing thee to thy rest“. (19) Jetzt erfährt der Zuschauer etwas
Erschreckendes -- Helen hat Glasaugen: „My eye, hurts.“ -- „Oh. Perhaps a crack in the glass;
we may need a new eye. We’ll visit the lab.“152
(19)
Im Miracle Worker war Annes getönte Brille ein Symbol; hier sind es Helens Glasaugen: „Lights
up a point on Helen’s bed as she works her artificial eyes out and sets them in a glass of fluid.“
(20) Während John und Anne im Bett liegen, schleicht Helen die Treppen hinunter und
schnüffelt, da sie ahnt, daß John noch da ist. Sie findet auch seine Jacke und „lauscht“ an Annes
Zimmertür, bevor sie in ihr Schlafzimmer zurückgeht. Anne gesteht John, „I feel like a thief.“
(20) Voller Ernst drückt sie die Problematik ihrer Lage aus: „And ashamed to -- be so --“ --
„Human.“ -- „Osculatory. From Helen’s geometry, touching at three points. I think of nothing
but you now; I don’t like you for it.“ (20) John hat sofort eine sexistische Anspielung auf Lager:
152
Es fragt sich, wo Gibson hier recherchiert hat. In den mir vorliegenden Quellen war nichts über ihre
„Glasaugen“ zu entdecken; schon längst nicht im Alter von 23 Jahren, und auch auf den Fotos sieht es nicht
danach aus.
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„Come touch me at three points.“ (20) Anne nimmt die Situation viel ernster und bittet ihn, sie
zu verlassen, da macht er ihr einen Heiratsantrag. Nach einigem Hin und Her ruft Anne aus: „I’m
married to Helen!“ (22), worauf John kontert: „How many children are you planning on?“ (22)
Damit hat er ins Schwarze getroffen, denn Kinder hat sich Anne immer gewünscht, und sie ist
jetzt in einem Alter, wo es noch nicht ganz zu spät ist. Für dieses Mal zieht sich John zurück und
läßt Anne mit ihrem Gewissen allein: „Annie sits still; but her thoughts move, her hand comes
down to her abdomen.“ (22)
In der folgenden Szene bringt John Pete zum Essen mit nach Hause; er hat auch eine
Flasche Bourbon dabei. Die Alkoholflasche als Symbol wird bald zum unabtrünnigen Attribut
Johns werden, das seinen psychischen und körperlichen Niedergang verdeutlicht. Anne sitzt auf
Helens Bettrand und gesteht ihre Liebe zu John: “Do you, kiss?“ -- “Yes“ -- “What else?“ --
“Touch.“ -- “You do, everything?“ -- “No.“ -- “Why not?“-- “It’s not a - promise I’m ready to
make--“ -- “I thought he, liked me.“ -- “Ohhh - baby--“. (vgl. 23) Anne ist den Tränen nahe als
sie erfährt, daß Helen sich Hoffnungen gemacht hatte. In diese Tragik baut Gibson Komik ein,
denn inzwischen warten die jungen Männer unten auf Anne und Helen; John hat seinen Freund
schon neugierig gemacht: „One’s a tiger, one’s a flower, you’ll like them“ (vgl. 23). Als Anne
herunterkommt und John seinen Freund vorstellt: “This is Pete“, antwortet sie brüsk: “Goodbye,
Pete“ (24), schaufelt sich von dem Essen, das die beiden mitgebracht haben, auf einen Teller,
nimmt sich Besteck und trägt alles hoch zu Helen. Pete sarkastisch: “I like them.“ (24) Als Anne
verschwunden ist, fragt er John: „Was that the flower?“ (24), und ist erleichtert, als dies verneint
wird. John versucht, mit Helen reden, aber sie ist verletzt und will nichts von ihm wissen.
Stattdessen stolpert sie die Treppe hinunter, wo Pete sie sieht: “You are the flower.“ (25) John
diskutiert mit Anne: „It’s ridiculous, I came here to woo you and have to woo her first? [...]
Women! Marry them both?“ (25). Anne und Helen streiten darüber, ob Anne einen Bewunderer
haben darf oder nicht, und darüber, daß sie Helen belogen hat. Die beiden Männer haben sie in
die Flucht geschlagen.
In der folgenden Szene besichtigen John, Anne und Helen das Landhaus in Wrentham,
das sie kaufen wollen. Hier eröffnet John Helen, daß er ihre Lehrerin heiraten möchte, und sie
reagiert so verzweifelt, daß John nicht mehr weiß, was er sagt: „I withdraw my proposal to you, I
do make it to her.“ (30) Anne hingegen kommt mit einem guten Argument: „And when I --
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retire, at a hundred and eight, I’ll be leaving you in good hands.153
I won’t live forever.“ (30)
Endlich kann Anne ihre Schülerin davon überzeugen, daß sich nichts großartig ändern wird,
wenn sie John heiratet, und daß Helen nicht nach Alabama zurückgeschickt wird. Sie darf auch
erst in Ruhe ihre Schule beenden. Der erste Akt hat ein Happy End und schließt mit einer
symbolischen Dreierkonstellation: „John puts his arms around both, binding them in a
threesome“. (31)
Mehrere Jahre sind vergangen; die drei wohnen im neuen Haus in Wrentham. Zu Beginn
des zweiten Aktes liegen Anne und John im Bett; John ist genervt, daß er auch am Sonntag um
sieben aufstehen muß, da Helen eine „deadline“ hat. John verlangt zuviel von Anne: “Let’s.“ --
“I haven’t the strength.“ -- “Never said that the first year.“ -- [...]“Open, sesame!“ -- “No, I’m --
sore--“. (32/33) In diesem Akt wird übrigens auch das Symbol aus dem Miracle Worker wieder
relevant: „Annie, below, finds her dark glasses amid the correspondence; contemplates it all
heavily [...].“ (33) Es wird deutlich, daß sie mit zunehmendem Alter wieder Probleme mit ihren
Augen bekommt. Am Frühstückstisch machen Anne und Helen ein kleines Spielchen, das an den
berühmten „catfight“ im Miracle Worker erinnert, womit dargestellt werden soll, daß John Macy
sich ausgestoßen fühlt, denn bei der intimen Vergangenheit Annes und Helens hat er nichts
mitzureden:
([...] Helen’s plate is not empty, but she mischievously sneaks a hand out to Annie’s -- [...]
-- and Annie slaps it; they giggle; then Annie holding Helen’s hand looks up to see John
standing with coffeepot and mugs.)
ANNIE. Oh, John, don’t look like that.
JOHN. How?
ANNIE. Glum. It’s an old joke, the first time I ate with Helen --
JOHN. I got the joke, I edited the spelling in those letters. (34)
John berichtet, daß er einen Titel für sein Buch gefunden hat: „The Spirit of American
Literature“. Dann informiert er seine Frau: „I invited Pete. For Helen.“ (35) Sein Plan war,
picknicken zu gehen, doch Anne widerspricht, da noch so viel Arbeit zu tun ist. John braucht
inzwischen schon Whiskey, und auf Annes entsetzte Frage, „For breakfast?“ entgegnet er, „For
company“. (36) Anne erkundigt sich zwar, ob sie ihm helfen kann, doch als er sie bittet, nur von
153
Diese Passage hat Gibson aus Nella Braddys Biographie entlehnt; sie stammt aus einem Brief von Mrs.
Macy an Helen: „You are never out of my thoughts. They keep me awake at night, and daylight brings no
satisfactory answers to them. When I married John I thought I had solved the greatest of them. He promised
me that in case of my death, which in the natural course would come before his, he would be a brother to
you, look after your happiness, and take charge of your affairs.“ (Braddy 1934, 253)
Page 121
Zeit zu Zeit auch mal seine Hand zu halten, fragt sie: „The one with the drink?“ (36) Die
Antwort „The one that’s cold“ (36) zeigt deutlich, wie verloren John in diesem Dreierhaushalt
bereits ist. Dasselbe drücken auch die Regieanweisungen aus: „He lays it on her bosom; she
takes it to kiss, and goes in to Helen with the encyclopedia; John remains on the steps.) (36)
Anne hilft Helen mit ihrem Artikel über Silbernitrat, dem Heilmittel gegen die Augenkrankheit
von Neugeborenen. Anne macht sich inzwischen Gedanken, ob sie nicht einen Arzt aufsuchen
soll, weil sie immer noch nicht schwanger ist, aber John meint: „If the womb doesn’t want
another child? -- maybe it thinks Helen -- [...] is enough.“ (37)
John versucht mehrere Male, Annes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: “It gets lonely.“
[...] “I need mouth-to-mouth resuscitation.“ (38), doch Anne kann sich nicht von ihrer Arbeit mit
Helen losreißen und sagt nur, „ sie wartet“. Ihr Versuch, John zu trösten (“I’m downstairs in
body, upstairs in spirit“ (38)) schlägt fehl, und schließlich will sie ihre Ruhe: „Go up to work!
I’ll buy a padlock for that door --“ (38) Pete ist inwischen eingetroffen, und wie aus heiterem
Himmel entschließt sich Anne doch, picknicken zu gehen. Helen ist begeistert und freut sich
darauf, daß John ihr Swedenborg vorlesen wird (er hält Swedenborg für einen Verrückten). Jetzt
wird auch klar, daß mit Anne gesundheitlich etwas nicht stimmt: „But not make love in the
rowboat -- [...] because it hurts.“ -- „What hurts?“ -- „Some -- inflammation --“ (39) John rennt
hinter Anne die Treppe hoch: „Swedenborg. I want her.“ (40) Pete ist derweil mit Helen allein,
die maßlos glücklich ist, daß er mehr als seinen Namen in ihre Hand buchstabieren kann. Er gibt
ihr gleich eine Kostprobe: „Helen, thy beauty is to me/Like those Nicean barks of yore --[...]--
That gently o’er a perfumed sea/The weary, wayworn wanderer bore --“. (40)
Inzwischen ist wieder Zeit vergangen; Anne ist jetzt zweiundvierzig. Dr. Ed hat sie
untersucht und einen „muscle-fibre tumor“ festgestellt. Das könnte der Grund sein, weshalb sie
immer noch nicht schwanger ist. Außerdem macht er sich Sorgen wegen ihrer Augen.
Währenddessen sitzen John und Helen zusammen und lesen kommunistische Schriften, wobei
sie über Teacher lachen: „She’s a stiff-necked lady.“ (42) Helen will nicht undankbar sein und
vergleicht Teacher mit einem Steinmetz, der sie Stück für Stück wie ein Gesicht aus dem Stein
gehauen hat: „It seems, ungrateful for the, face to complain of, the chisel.“ (42) John fragt sie
neckisch, „But are you stone?“ (42) Helen erwidert, daß sie viele für eine Statue halten, und John
macht ihr das Kompliment, für eine Statue mit Flügeln. John sagt zu Helen, „she’s an artist;
you’re her art“ (42), und er gesteht, daß er wartet. “For her?“ -- “For her art.“ (43) Daraufhin
Page 122
wird John anzüglich: “Don’t hide; why are we here at the fire together?“ (43) Als Helen erzählt,
sie habe ein Mausenest auf dem Dachboden gefunden und John sich erkundigt, „What other wild
life is in the house?“ (43), antwortet sie: “You.“ (43) Schließlich bekennt sie, daß sie auch
Gefühle für ein männliches Wesen empfinden kann, und daß sie seine geheimnisvolle
Anwesenheit im Haus von Anfang an gespürt hat: “The house is alive with a, mystery. What is,
man?“ (43) John ist bereit, es ihr zu zeigen. Während sie sich küssen, buchstabieren sie mit den
Fingern, die Zuschauer hören ihre Unterhaltung als voice over, und die Regieanweisung ist
besonders interessant: „we hear Helen’s mind-voice, which is normal“. (44) Damit soll suggeriert
werden, daß Helen in Sachen Liebe durchaus normal ist, und daß ihre Behinderung sie in keiner
Weise unattraktiver macht. Diese Szene ist vielleicht die bedeutendste in Monday after the
Miracle. Helen will nicht mehr zu John sprechen, weil sie ihre Stimme häßlich findet, aber John
überzeugt sie vom Gegenteil. Es wird immer brisanter: “His hand goes down her; she tenses.“
(45) Weiter kommen sie aber nicht, da in dem Moment Anne und Pete den Raum betreten und
sich wundern, warum es bis auf das Feuer so dunkel ist. Pete ist gerade von seinem „great white
editor“ entlassen worden. Anne sieht, daß Helen weint und fragt, “What happened, baby?“ (47)
Zu ihrem Schrecken muß sie feststellen, daß ihr „baby“ gar nicht so unschuldig ist und sogar die
Aktive war: “I’m a, terrible person -- [...] I, made love to, John. [...] God gave me a, body and I,
can’t prevent what it feels.“ (47) Anne wird rasend eifersüchtig und schubst Helen in Johns
Arme: “you want her? [...] Take her.“ (48) Anne hat festgestellt, daß drei einer zuviel sind, und
will das Haus verlassen. Helen stolpert „Teacher Teacher Teacher“ schreiend umher und wirft
dabei eine Lampe um, so daß der Tisch Feuer fängt. Die Szene endet beinahe in einer Tragödie.
Während John mit einem Kissen das Feuer erstickt, erkundigt sich Anne, die sich krampfhaft um
Fassung bemüht, nach dem Verbleib ihres Drinks, und es bleibt sogar noch Zeit für einen
komischen Effekt: „Where’s my brandy?“ -- „On the -- inside the pillow“. (50)
Im folgenden wird eine Lösung gesucht, die Dreierkonstellation zu beenden. John trifft
die Situation am härtesten: „Because I’m married to a pair of Siamese twins, every time I reach
for you she’s in the way!“ (52) Er hätte jedoch nie vorgehabt, eine taubblinde Jungfrau zu
verführen. Helen macht den Vorschlag, ihre Mutter kommen zu lassen, doch John will nicht auch
noch eine „Schwiegermutter“. Während John und Anne streiten und sich gegenseitig die Schuld
an ihrer Kinderlosigkeit zuschieben, sitzen Helen und Pete auf der Terrasse, und Pete erklärt
Helen, daß nur jemand sie ausschließlich lieben könne, der ganz frei sei: „Teacher won’t be with
Page 123
you always. I can.“ (54) Helen hat Angst, geht aber Arm in Arm mit ihm ins Haus.
Währenddessen haben sich Anne und John versöhnt, und Anne macht John überglücklich mit der
Eröffnung, daß sie Helen für einige Zeit bei Dr. Ed und seiner Frau Ida abliefern will, um mit
John zu verreisen. Der zweite Akt endet mit Annes paradoxer Bitte an John: „Will you love me
as I am if I change enough?“ (56)
Der dritte Akt beginnt mit der Rückkehr Annes und Johns von ihrer Reise; Ed ist auch
eingetroffen, und Helen steht vor der schwierigen Aufgabe, Teacher zu erzählen, was sich
während ihrer Abwesenheit ereignet hat. Kaum betritt Anne den Raum, fliegt Helen ihr in die
Arme, während John murmelt: „Thought that was Pete’s job now.“ (58) In Monday after the
Miracle wird es so dargestellt, als habe John seinen Freund wohlweislich eingeführt, um ihn mit
Helen zu verkuppeln, damit die Dreiecksbeziehung ein Ende hat. Ed muß sich von Anne
Vorwürfe anhören, daß er nicht besser auf Helen aufgepaßt hat. Er hat es nämlich erst aus dem
Globe erfahren, daß Pete und Helen eine Heiratsurkunde unterschrieben haben. Alle sehen sich
nun nach Pete um, und John macht die anzügliche Bemerkung: „Probably after Ida, he’s an
enterprising boy.“ (58) Pete kommt die Treppe herunter und beruhigt die Anwesenden: “We
didn’t get married. [...] We didn’t use the license.“ (60) John ist zutiefst enttäuscht: „You said
they did, Ed, you got all my hopes up.“ (60) Pete druckst herum auf die Frage, ob er Helen liebe:
„I -- yes, well, it’s complicated“ (60) und erklärt, daß sich alles geändert habe, seit die Presse
einen solchen Wind um die Sache machte. Jetzt sei es nur noch peinlich. Anne erkundigt sich
besorgt, ob Helen schwanger sei, aber diese kann darauf nur sagen, „wovon denn?“. Das Symbol
der Glasaugen wird als Vorwand genommen, daß es nicht zum Sex kam: „I never thought, and
when he sees your eyes in a, saucer? [...] He couldn’t, make love to me.“ (62) Helen denkt, Pete
hätte Reißaus genommen, aber er ist noch da und nimmt alle Schuld auf sich. Da ihr das niemand
buchstabiert, erfährt Helen nicht, daß er noch im Raum ist, und verhaspelt sich: “Do you love
him.“ -- “Oh, he is so, boring.“ (61) Pete bricht nun in Tränen aus und bittet alle, Helen nicht zu
sagen, daß er das gehört habe, und rennt weg. Diese Szene ist genau das, als was Anne sie
bezeichnet: „This farce!“ (61)
Helen wehrt sich gegen Annes Bevormundung und verbietet ihr, sie „baby“ zu nennen.
John hat von Dr. Ed erfahren, daß Anne eine Totaloperation auf sich nehmen muß, und daß es
mit ihrem Kinderwunsch nun endgültig aus ist. Trotzdem endet die Szene damit, daß sowohl
John als auch Annie „I love you“ sagen. Daraufhin wird es dunkel, Musik spielt, und die Zeit eilt
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weiter. Anne liegt jetzt auf dem Sofa und erholt sich von ihrer Operation. Sie bittet John, die
Arbeit für das Magazin, für das er schreibt, aufzugeben und sich ganz seinem Buch zu widmen.
John hatte schon befürchtet, ihr “I’d like you to quit“ würde sich auf sein Trinken beziehen, das
immer unkontrollierbarer wird. Anne hat auch einen Vorschlag, wie trotzdem Geld ins Haus
kommen soll: sie will Helens Aussprache verbessern und mit ihr auf Vortragsreisen gehen. Nach
einem erneuten Zeitraffer sieht man Ed und John sich betrinken, während der Strohwitwer einen
Brief von den beiden Frauen auf Vortragsreise vorliest: “Helen writes they’re -- [...] having a
triumph; in Canada everyone -- Here, “everyone said we were wonderful, fascinating, charming
and beautiful women.“154
(68) John freut sich zu lesen, daß Helen der Socialist Party beigetreten
ist. Aber seine Freude ist nicht ungetrübt. Ed will ihn trösten, indem er ihm versichert, wie gut
sein Buch über amerikanische Literatur gewesen sei, doch er entgegnet verzagt: „Wrote it for my
children“. (68)
Helen und Anne sind von ihrer Reise zurückgekehrt, und das Symbol aus dem Miracle
Worker wird wieder aktuell -- „she wears dark glasses“. (69) Annes Augen werden immer
schlechter, mit ihrer Gesundheit steht es nicht zum Besten, und ihre Ehe mit John Macy geht
endgültig in die Brüche. Anlaß für den heftigen Streit ist, daß John fünfhundert Dollar von Helen
borgen will, um nach Italien zu fahren. Anne ist sehr hart zu John und wirft ihm vor, Helen
auszunutzen, ja, auszusaugen: “I can’t shake off the feeling you think she’s a kind of sponge.
Squeeze and drink.“ (70) John wirft ihr ebenfalls eine Metapher an den Kopf: „You call every
tune without me, pay the piper!“ (70)
Anne und Helen haben bereits einen neuen Plan; sie wollen zum Vaudeville gehen, um
Geld zu machen. John ist gegen diese Zurschaustellung Helens, und er zeigt deutlich, daß er die
beiden Frauen nicht mehr ernst nimmt, indem er Helen seine Flasche anstelle eines Buches oder
einer Blume in die Hand drückt, als sie zur Probe eine kleine Rede rezitiert: „Through love, I
found my soul and God and happiness.“ (73) John verhöhnt die Frauen: „doxies in tights, trained
seals“ (73), und er malt sich aus, wie Anne auf der Bühne stehen wird, „with your trained seal,
mouthing platitudes.“ (73)
154
Diese Stelle ist einem Brief Helens an Mr. Macy, abgedruckt in Nella Braddys Biographie entnommen:
“While we were in Canada, everyone said we were “wonderful, fascinating, charming and beautiful
women.“ I was “the great pupil,“ Teacher was “the great teacher,“ and mother was “the great mother.“
Flowers, compliments, honours, and salvos were showered upon us wherever we went, and nothing was
talked about but us three celebrities.“ (Braddy 1934, 236)
Page 125
Als Helen sich auf Annes Seite stellt und sich weigert, John die fünfhundert Dollar zu geben,
wirft er ihr vor, sie lasse sich von der „iron maiden“ alles sagen. Er beschimpft Anne: „[...]
you’ve never been worth shit as a wife to me! [...] You’re a nag, a nag, a man-eating nag [...]“
(75) Schließlich bricht es endlich hervor, was sich schon lange in ihm angestaut hatte: „Love.
John loves Teacher. Teacher loves Helen. Helen and Teacher love John, and John loves Helen
and Teacher. John and Helen and Teacher are one huge loveturd. Through love -- (and bumps
against the desk -) -- I found my soul and God and happiness!“ (76) Die bittere Ironie, mit der er
Helens Vaudeville-Phrasen verballhornt, zeigt seine Verzweiflung, als „drittes Rad am Wagen“
leben zu müssen. Wir vermissen hier eigentlich seinen berühmten Ausspruch, er habe „eine
Institution geheiratet“.
Nach diesem Ausbruch sinken John und Annie in die Knie, und die Szene erreicht ihren
dramatischen Höhepunkt, als John Helen beschuldigt, sie habe sein Leben ruiniert: „[...] who
corrected your goddam commas, you leech, [...] you’ve sucked us empty, angel, you’ve gutted
her life and mine, and I swear if I could -- wipe out the day you were born --“ (76). Hier wird
endgültig klar, auf wessen Seite Anne steht: „[...] Annie comes up with the letter-knife.“ (76):
„You hurt her I will kill you.“ (76) Sie wirft zwar angeekelt von sich selbst den Brieföffner weg,
erkennt aber, daß es so nicht weitergeht, und schlägt John vor, sie beide zu verlassen, was dieser
auch tut.
Dann verfliegen wieder einige Wochen im Zeitraffer („Music, time passing.“ 77), und wir
treffen Anne beim Verhängen der Möbel mit Tüchern an -- die beiden Frauen ziehen aus. Dieses
traurige Symbol verstärkt noch die Abschiedsstimmung, vor allem durch Annes Bemerkung
„Too many ghosts“ (78), was optisch gut mit den weißen Laken kollokiert. Ed ist gekommen, um
den beiden Frauen, die ihr Leben dem Vaudeville widmen wollen („And we’re travellers now.“
78), beim Ausziehen zu helfen, und kann sich die Bemerkung nicht verkneifen, er habe John in
New York getroffen. Auf die Frage, wie es John gehe, gesteht er: „Drinking like a fish. But
expecting.“ (78), und Anne fragt schockiert: „A baby?“ (78) Es stellt sich heraus, daß John eine
Geliebte hat, eine junge „sculptress“. Anne versucht, ihre Eifersucht zu überspielen und äußert
gefaßt die Hoffnung, „A quiet type, I hope.“ (78) Darauf Ed sarkastisch: „She’s deaf-mute.“ (78)
John Macy ist von seinem Trauma ganz offensichtlich nicht losgekommen. In die Betroffenheit
hinein sagt Helen theatralisch: „Teacher. And once again, Teacher -- (Annie turns to stare.) It
Page 126
will be my answer, in the dark. When death, calls. (A slilence.) It’s a poem.155
(And presently
Annie comes back, takes her hand.)“ (78) Damit ist die Zukunft besiegelt: Annie und Helen
haben zwar John verloren, aber sie werden zusammen weiterkämpfen und sind sich ihrer
gegenseitigen Liebe sicher.
Das Stück Monday after the Miracle übertrifft den Miracle Worker an Sentimentalität und
Theatralik. Es ist keine eigentliche zentrale Figur mehr auszumachen; Helen fungiert lediglich
als Spielball zwischen John und Anne. John Macy wird zu dandyhaft dargestellt, Anne zu
eifersüchtig (am Anfang scheint sie in einer Art lesbischen Beziehung zu ihrer Schülerin zu
leben) und Helen zu fremdbestimmt. Es sieht aus, als habe John sie in den Sozialismus gedrängt.
Helens Verhältnis mit Pete hätte man sich liebevoller vorgestellt; sie ist in allem viel zu gefaßt
und kühl. Es erfolgt kein Hinweis darauf, daß sie mit ihm durchbrennen wollte. Der Zuschauer
empfindet keine rechte Sympathie mit auch nur einem der Helden, weshalb er sich kaum in einen
von ihnen hineinversetzen kann. Am ehesten hat man noch Mitleid mit John. Manchmal
erscheint das Stück wie die sozio-psychologische Studie eines jungen Mannes, der in einer
unerfüllten Beziehung versumpft und zum Trinker wird. Die Spannung geht mit der Zeit
verloren, da kein Schlüsselereignis zu erwarten ist, das dem Kampf bei Tisch oder der
Brunnenszene aus dem Miracle Worker entspräche. Die Szene der Verführung Helens durch
John Macy ist weder durch Braddys Biographie noch durch Helens eigene Schilderungen in
Midstream literarisch belegt. Sie wirkt stark überzeichnet. Vor allem der Brand, der beinahe ein
Unglück angerichtet hätte, erscheint unglaubwürdig und ist auch nirgendwo nachgewiesen.
Insgesamt ist zu sagen, daß der Zuschauer bei diesem ewigen Gerangel um die Liebe Annes ab
einem gewissen Punkt das Interesse am Geschehen verliert, zumal von vorneherein klar ist, daß
Helen gewinnen und John Macy verlieren wird. Es wird einfach zu viel gestritten, und die
problematische Aussprache Helens macht das Mitverfolgen auch nicht gerade leichter. Das
Leben Helen Kellers als junge Frau ist im Ganzen viel zu negativ dargestellt worden.
155
Nella Braddys Biographie endet mit den folgenden Sätzen über Helen: „[...] her fingers stray from the work
in hand to little songs of love and devotion which drop into her teacher’s lap when Helen places the rest of
her work there. The words of the songs are different, but the burden is always the same:
Teacher, and yet again
Teacher - and that was all.
It will be my answer
In the dark
When Death calls.“ (Braddy 1934, 351/2)
Page 127
7 Helen Keller Jokes im Internet
Neben Printmedien, Theaterwelt und Film bietet auch das Internet eine Reihe von
Möglichkeiten, sich über Helen Keller zu informieren. Um nur einige zu nennen: eine kurze
Biographie findet sich unter der Addresse <http://www.well.com/user/dhawk/keller.html>, Fotos
kann man herunterladen unter <http://www.igc.apc.org/afb/photos.html>, und Bücher bestellen
unter <http://www.thomson.com/gale/keller.html>.
Hier soll eine etwas ungewöhnlichere Webseite zur Debatte stehen, die nicht
unangefochten geblieben ist. Ihr Ersteller mußte sich gegenüber Protestleserbriefen
rechtfertigen:
Have you been offended by this page?
Statement by Omer Zak, webmaster of the DEAF-INFO Website:
Since I started making this list of HK jokes available on the Internet I receive once in a
while nasty letters from people who feel they were offended by the jokes. The
overwhelming majority of those complaining people are ones who are not themselves
deaf or blind. Therefore I find I have to explain some things.156
Seine Erklärung besteht darin, daß er angibt, selbst von Geburt an taub und außerdem kurzsichtig
zu sein. Zak ist der Meinung, das Erzählen von Behindertenwitzen würde den Behinderten
helfen, leichter mit ihrer Situation fertig zu werden. Solche Witze würden erstens das
Selbstmitleid reduzieren und zweitens gesunde Menschen ermutigen, einen Behinderten, der
seine Situation so leicht nimmt, daß er darüber lachen kann, als einen normalen Menschen zu
akzeptieren. Auch auf rechtlicher Basis hat Zak sich abgesichert:
The HK jokes serve two useful purposes [...]. Therefore they certainly are entitled to First
Amendment protection in USA and equivalent Freedom of Expression protection in other
countries. The jokes are made available worldwide via the WWW, which is a medium,
which does not push stuff through the throats of people who do not want to read it.157
Mittels der Metapher „to push stuff through the throats of people“ drückt Zak pauschal aus, daß
es jedem frei stehe, diese Webseite zu lesen oder nicht. Keiner wird gezwungen, sie zu
156
http://www.weizmann.ac.il/deaf-info/HelenKellerJokes.html 157
http://www.weizmann.ac.il/deaf-info/HelenKellerJokes.html
Page 128
„schlucken“. Allerdings kann man mit diesem Argument alles rechtfertigen; z.B. Pornographie
im Internet veröffentlichen und sagen, „wer nicht will, braucht es ja nicht anzusehen“. Deshalb
wird im folgenden nach einer sprachlichen Betrachtung der Behindertenwitze die derzeitige
rechtliche Situation der Anbieter im Internet kommentiert.
Die Helen Keller-Witze sind unter <http://www.weizmann.ac.il/deaf-
info/HelenKellerJokes.html> zu finden. Diese Webseite wurde am 22.11.1997 von Omer Zak
zum letzten Mal aktualisiert.
7.1 Sprachliche Analyse
Das Wort „Witz“ gehört zum Wortfeld <Wissen>. Im Mittelhochdeutschen bedeutete <witze>
ganz allgemein Verstand, Wissen, Klugheit, Weisheit.158
In der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts übersetzten die Engländer das lateinische „ingenium“ mit „wit“; und im Laufe der
Zeit erlangten „wit“, „Witz“ und das französische „esprit“ die engere Bedeutung für eine
Kunstform der Sprache: die geistreiche, rasche Gedankenverbindung und Assoziation. Ein
äußeres Merkmal des Witzes ist seine Kürze; schon Shakespeare sagte: “Brevity is the soul of
wit.“ (Hamlet VII, 2)159
Das Wesen des Witzes liegt zum einen im Aufdecken unvermuteter,
überraschender Zusammenhänge.160
Zum anderen beinhaltet der Witz ein Element des
Komischen: es geht immer um ein Unverhältnis (Paradoxie), z.B. um einem Widerspruch
zwischen Möglichkeit und Realität. Ist die Angelegenheit, über die ein Witz gemacht wird, zu
ernst, hört das Komische auf; genauso ist es bei Mitbetroffenheit des Zuhörers. Das Tragische ist
nämlich auch auf einem Unverhältnis fundiert.161
Witze sind abhängig von der Epoche, in der sie relevant sind. Es gibt „Witzmoden“, die
kommen und gehen, wie z.B. Blondinenwitze, die vor der Verkörperung des blonden
Dummchens durch Marilyn Monroe gar keinen Sinn gemacht hätten, Präsidenten-Witze, die in
jeder Amtsperiode natürlich verschieden sind, oder Lady Di-Witze, die gerade jetzt nach ihrem
Tod aufkommen. Auch die Helen Keller-Witze gehörten einer solchen Mode an und wurden
158
Vgl. Röhrich 1977, 4. 159
zitiert nach Röhrich 1977, 10. 160
Vgl. Wellek 1970, 14. 161
Vgl. Wellek 1970, 16.
Page 129
schätzungsweise hauptsächlich in den fünfziger und sechziger Jahren erzählt. Heute sind sie
ziemlich rar; in Deutschland hört man nur selten im Straßenverkehr: „Wo hast denn du den
Führerschein gemacht, auf der Helen-Keller-Schule?!“
Jeder Witz hat eine „Tendenz“,162
ist also gegen etwas oder jemanden gerichtet. Es gibt
viele Witze über soziale Randgruppen, z.B. Ausländerwitze, Schwulenwitze, Irrenwitze,
Blindenwitze, Stottererwitze, Schwerhörigenwitze... Taubstummenwitze gehören meist in die
Untergruppe der Gebärdenwitze; ihre Technik besteht darin, daß die Gebärden zweideutig sind
und eine sexuelle Nebenbedeutung haben.
Die komische Auseinandersetzung mit menschlichen Schwächen bieten für den Witz ein
weites Feld. Auch hier wird das Normabweichende belacht. Schon Aristoteles war der
Ansicht, das Wesen des Komischen bestünde in einem Defekt. Gedacht ist dabei zunächst
an körperliche Defekte, wie sie in der Komödie aller Zeiten und ebenso im Schwank
vorkommen. Man lacht über den Zwerg, über den Hinkenden, den Buckligen, den
Stotterer, den Betrunkenen, den Dicken, den Dünnen, den Eunuchen, den
Altersschwachen, über das häßliche Weib oder über eine abnorme Nase. Alle diese Fälle
könnte man unter dem Schlagwort <Gebrestenkomik> zusammenfassen.163
Dabei muß man sagen, daß die Behindertenwitze der Neuzeit weitaus „humaner“ sind als der
Schwank des ausgehenden Mittelalters oder die Darstellung von Gebrechen durch Hans Sachs.
Bei Behindertenwitzen geht es nicht um eine Verspottung der Behinderung an sich, sondern um
ein Lächerlichmachen der Mißverständnisse, die aus der Behinderung entstehen (z.B. wenn sich
zwei Schwerhörige unterhalten).
Man kann zwei Großgruppen unterteilen: die Sprachwitze und die Sachwitze. Bei
Sprachwitzen liegt die Pointe im rein Formalen, in der Ausdrucksweise und Formulierung. Bei
Sachwitzen ist die Pointe im Inhaltlichen zu suchen. Die meisten der Helen Keller-Witze, die
bisher im Internet veröffentlicht wurden, sind Sachwitze und von ihrer äußeren Form her
„unratbare Scherzrätsel“164
, die nur scheinbar einen Dialog herstellen, da der Fragesteller auch
die Antwort gibt. Rätsel und Witz sind einander sehr ähnlich, da es in beiden um die Auffindung
eines „tertium comparationis“, des Gemeinsamen, geht. Beide verwenden Vergleiche.
Gewöhnlich nennt ein Witz im ersten Satz die „Witzperson“, die bereits durch ihren Namen als
solche identifiziert werden kann (z.B. Tünnes und Schäl-Witze). Taucht der Name Helen Keller
auf, so ahnt der Zuhörer, was jetzt kommt: die Auflösung der Scherzfrage muß etwas mit ihrer
162
a.a.O. 5. 163
Röhrich 1977, 174. 164
Vgl. Röhrich 1977, 11.
Page 130
Blindheit oder Taubheit zu tun haben. Der erste Witz aus der Internetsammlung baut genau auf
diese (wie sich zeigen wird fälschliche) Annahme:
Why can’t HK drive a car?
1. She’s a woman.
2. She’s dead.
Dieser Witz fällt unter die Kategorie der Autofahrerwitze (Witze über Blinde, die einen
Autounfall nach dem anderen haben, gehören in Amerika zum Klischee), und seine Pointe
besteht darin, daß der Ratende auf „She’s blind.“ getippt hätte, aber nicht darauf gefaßt war, daß
es in Wirklichkeit ein sexistischer Witz ist und gegen die vielbeschimpfte „Frau am Steuer“ geht.
Beziehungsweise, daß es überhaupt kein Witz ist, sondern mit der logischen Erklärung
abgegolten werden kann, daß eine Tote nicht mehr Autofahren kann. Ein zweiter Witz aus dieser
Kategorie beruht auf einer anderen Taktik:
How does HK drive?
- With one hand on the steering wheel, the other on the road.
Hier geht es direkt um die Behinderung; der Ratende kann auch selber darauf kommen, daß eine
Blinde beim Autofahren „fühlen“ muß, wo es langgeht. Das Irrationale an dieser Vorstellung soll
hier die Pointe sein. Ebenso beim nächsten Witz:
How did HK break her arm in the car?
- Trying to read stop signs.
Dieser Witz ist schon „witziger“ als sein Vorgänger, gleichzeitig aber auch brutaler, da er
impliziert, daß die Blinde die Verkehrsschilder fühlen muß, was bei der Geschwindigkeit des
Fahrens natürlich ohne Verletzung unmöglich ist. Das Wort „stop sign“ ist ein zusätzlicher
Effekt („Einbahnstraße“ hätte nicht denselben), denn es wirkt immer besonders komisch, wenn
gerade unmittelbar nach einem Warnhinweis ein Malheur passiert.
Die nächsten beiden Witze nehmen die Brailleschrift aufs Korn:
How did HK go insane?
- Trying to read a stucco wall.
How did HK burn her fingers?
- Trying to read a waffle iron.
Page 131
Sie beruhen auf dem Vergleich / der Assoziation von Stuckwänden bzw. einem Waffeleisen mit
der Brailleschrift aufgrund der reliefartigen Erhöhung. Der Zuhörer lacht hier über das
Mißgeschick, das aus einer Verwechslung herrührt.
Nicht zu vermeiden in Bezug auf Helen Keller sind die Hundewitze. Sie war ständig von
solchen Viechern umgeben, die meist auch noch erschreckende Proportionen hatten wie die
riesige dänische Dogge Sieglinde, die auf zahlreichen Fotos zu sehen ist. Ähnlich wie Gertrude
Stein, die in der Öffentlichkeit immer mit ihrem weißen Pudelchen „Basket“ herumlief, zeigte
sich Helen Keller mit ihren riesigen „Blindenhunden“165
, über die sie auch in ihren Büchern
schrieb. Man denke nur an den alten Setter Belle aus ihrer Kindheit (The Story of my Life). Dies
reizt natürlich, darüber Witze zu machen:
Why did HK get a yellow leg?
- Her dog is blind, too.
Die Pointe hierbei ist, daß ihr angeblich ebenfalls blinder Hund ihr Bein nicht mehr von einem
Baumstamm unterscheiden kann. Darauf kommt der Ratende aber nicht sofort, da aus der
Fragestellung noch nicht ersichtlich ist, daß es um ihren Hund geht, und er bemüht sich, eine
logische Erklärung für „yellow“ zu finden. Helen Kellers eigene Taub- und Blindheit helfen hier
nämlich nicht weiter.
Interessanter ist ein Sexwitz über Helen Keller:
How many hands does it take HK to masturbate?
- Two. One to do it, one to moan!
Da sie mit den Fingern „spricht“, wird gefolgert, daß sie mit den Fingern auch „stöhnt“. (Was
natürlich unsinnig ist, denn erstens hat sie ja Sprechen gelernt, und Geräusche wie Stöhnen,
Weinen und Schreien konnte sie ohnehin ausstoßen; man denke nur an ihre vorsprachliche Zeit.
Der Film The Miracle Worker stellt dies auch sehr anschaulich dar.) Die Pointe liegt darin, daß
165
In Nella Braddys Biographie ist z.B. eine Anspielung auf Helens Hunde zu finden: „Small dogs, in Mr.
Wade’s opinion, were unsuitable for blind children; they needed big ones which might be of some use to
them, and to make sure that Helen had a big one he sent her an enormous mastiff which Helen called
Lioness. Lioness was gentle, but she was almost as large as the animal from which she took her name, and
the very sight of her made the timid tremble. She was shot to death by a policeman a few days after her
arrival in Tuscumbia.“ (Braddy 1934, 157)
Helens Trauer wurde bald publik, und aus aller Welt kamen Geldsendungen: „It seemed as if everyone in
the world wanted to give Helen a dog.“ (Braddy 157) Doch Helen spendete das Geld großzügig, um dem
kleinen taubblinden Tommy Stringer eine Erziehung zu ermöglichen. Sie bekam einen zweiten Hund von
Mr. Wade, den ein ebenso trauriges Schicksal ereilte: „He, too, was a big animal, and [...] hard to manage.
Nearly everybody was afraid of him [...]. The dog, [...] bit her [Anne] on the hand. Captain Keller shot him
[...].“ (Braddy 1934, 157/8.) Soviel zu Helen Kellers Hundegeschichten.
Page 132
man zum logischen Schluß kommt, sie bräuchte wie jeder andere nur eine Hand, da bei dieser
Betätigung weder Blindheit noch Taubheit ein Hindernis darstellen.
Ebenso verulken die drei folgenden Witze das Fingeralphabet:
What happened when HK fell into a well?
- She screamed and screamed until her hands turned blue.
Die Sprachkonvention erlaubt zu sagen, „man schreit, bis man im Gesicht blau anläuft“; da
Helen aber mit den Fingern „schreit“, werden diese blau -- eine Aussage, die das allgemeine
Sprachgefühl aufrecht zu erhalten sucht und dabei gegen die Logik verstößt. Nach demselben
Schema ist der folgende Witz aufgebaut:
What did HK do when she fell out of the tree?
- She screamed her hands off.
Im normalen Sprachgebrauch heißt der Ausdruck „to scream one’s head off“, also „sich die
Lunge aus dem Leib / Hals schreien“ bzw. „aus vollem Halse schreien“. Der Effekt liegt in der
falschen Übertragung der Redewendung sowie im Gleichklang von „head“ und „hands“.
Why couldn’t HK talk on cold days?
- Her mother made her wear mittens, and all she could do was mumble.
Auch hier beruht der Witz auf der falschen Ableitung, daß Helen, da sie ja mit den Fingern
„spricht“, in Handschuhen natürlich nur undeutlich nuscheln kann. Der Lacheffekt besteht darin,
daß man mit „mumble“ ein Geräusch verbindet, bei Helens Bewegungen der Finger im
Handschuh aber natürlich kein Murmeln zu hören sein kann. Die Kollokation ist hier nicht
gegeben, wird aber angenommen. Diese vier Witze können als Sprachwitze bezeichnet werden,
da es hier nicht nur um den Inhalt geht, sondern um einen falschen Bezug von „moan / scream /
mumble“ zum Fingeralphabet.
Grotesk bis zynisch sind die folgenden Blindenwitze:
Introducing - the new HK Doll. Wind it up and watch it walk into the patio doors.
Dieser Witz hat die Form eines Aussagesatzes, der aus der Werbung stammen könnte: eine
neuartige Puppe wird vorgestellt, die man aufziehen kann, worauf sie eine Tür einrennt -- weil
sie eben getreu ihrem Modell blind ist. Die Vorstellung ist eher makaber als komisch.
How did HK get pock marks on her face?
Page 133
- Learning to eat with a fork.
What’s the name of HK’s favorite book?
- „Around the block in 80 Days“.
Beim ersten Witz wird auf die Ungeschicklichkeit, beim zweiten auf die Orientierungslosigkeit
der blinden Helen Keller angespielt. Die Allusion bezieht sich auf Jules Vernes Roman „In 80
Tagen um die Welt“; die Pointe besteht darin, daß der viel kürzere Weg um den Block bei Helen
Keller die gleiche zeitliche Dimension einnimmt wie die imaginäre Weltumseglung vor der Zeit
der technischen Möglichkeiten.
Der folgende Blindenwitz ist gleich gegen zwei Personen gerichtet:
Define true love.
- HK and Stevie Wonder playing tennis.
How did HK’s mother punish her?
- Glued doorknobs to the walls.
Diese Antwort ist nur eine von vielen, die das Internet bietet. Hier geht es um Helen Kellers
Tastsinn; natürlich würde sie versuchen, eine Tür zu öffnen, wo keine ist, wenn ein Türgriff an
die Wand geklebt wäre.
7.2 Rechtliche Analyse
Kann jeder im Internet veröffentlichen, was er will? Gibt es kein Gesetz, welches
ehrbeleidigende oder persönlichkeitsverletzende Äußerungen im Online-Bereich verbietet? Diese
Frage stellt man sich, wenn man Webseiten mit Witzen über soziale Randgruppen findet; so
harmlos sie auch sein mögen. Es geht dabei nicht nur um die Betroffenen selbst, sondern auch
gesunde Menschen sind zum Teil sehr davon „betroffen“. Es ist heute nämlich leider noch so,
daß „Anarchie und Wildwest-Gesetze im Reich des ‘Cyberspace’ herrschen“.166
Und es haben
sich schon viele Stimmen erhoben, die kritisch von dem „Mythos der Informationsgesellschaft“
166
zitiert nach Schulte 1997, 125.
Page 134
gesprochen und „so riskante Manöver wie das Wenden auf der Datenautobahn“167
empfohlen
haben -- bevor es zu spät ist.
Allerdings geht es bei der Diskussion um eine Regelung in forderster Linie um das
wirtschaftsschädigende Problem der „Hacker“ und um die „virale Verseuchung“ von
Datenbeständen; die kriminellen Aktivitäten im Datennetz sind bereits als „Tschernobyl der
Informationstechnik“168
bezeichnet worden. Ein weiterer Punkt, der Beachtung findet, ist der
Datenschutz:
Das Bundesverfassungsgericht hat [...] Risiken [...] abgeschätzt und abgewogen, wobei
Anklänge an das Orwellsche Bedrohungsszenario zu vernehmen sind. Die Anhäufung
von persönlichkeitsbezogenen Daten kann [...] als Ganzes doch den gläsernen Bürger
entstehen lassen.169
Wie das Bild des „gläsernen Bürgers“ sehr schön zeigt, besteht die Gefahr des Abrufens
persönlicher Daten durch unbefugte Dritte; der Bürger wird im wahrsten Sinne des Wortes
„durchsichtig“, und es ist kein Wunder, daß bei manchem eine Panik ähnlich derjenigen in der
vor Jahren von Orwell geschilderten Situation entsteht.
Auf der anderen Seite erschallt der Hilferuf des sich von der Krake der Datenvernetzung
heimgesucht wähnenden Bürgers vor allem im öffentlichen Recht, namentlich im
Verfassungsrecht. Befürchtungen richten sich auf das Verschwinden der Privatsphäre
[...].170
Das Bild der „Krake“ der Datenvernetzung zeigt anschaulich, daß sich der Bürger in den
Fangarmen der unzähligen Möglichkeiten des Internet befindet. Das erste Problem ist: unter
welches Gesetz fällt eine Straftat im Internet? Das deutsche Telekommunikationsrecht wurde im
TKG von 1996 zwar neu geregelt, und für den Online-Bereich ist die Telekommunikation das
Mittel zur Übertragung von Daten -- dennoch ist die Relevanz des TKG für den Online-Bereich
nicht evident. Dann gibt es noch das Medienrecht der Länder, welches Rundfunk und Presse
regelt. Die Dienste im Bereich der digitalen Kommunikation nennt man häufig Mediendienste,
und die Bundesländer haben den Mediendienste-Staatsvertrag geschaffen -- und trotzdem ist die
Anwendbarkeit des Medienrechts auf digitale Kommunikationsdienste äußerst fraglich.
167
zitiert nach Schulte 1997, 117. 168
zitiert nach Schulte 1997, 121. 169
Schulte 1997, 125. 170
Schulte 1997, 124.
Page 135
Abgesehen vom Mangel an passenden Gesetzen existiert das Problem der
Strafverfolgung. Vor allem das Beweisrecht gibt hier ein Rätsel auf, denn gedruckte
elektronische Aufzeichnungen besitzen in bezug auf ihren Inhalt keinen „Urkundencharakter“,
da sie lediglich das darstellen, was im Computer gespeichert ist; ob es nun vorher manipuliert
wurde oder nicht ist nicht mehr zu erkennen. Weiterhin kann man eines Absenders von
strafbaren Inhalten kaum habhaft werden; nach dem Territorial- und Tatortprinzip unterliegt
jeder Anbieter im Internet, gleichgültig seiner Nationalität und des Ortes, von wo aus er operiert,
dem deutschen Strafrecht, weil seine Informationen in Deutschland abgerufen werden können.
Deutschland erstrebt eine Regelung des Internet durch Gesetze. Dabei kommen
verschiedene Punkte zum Tragen. Das „rechtliche Koordinatensystem“171
sähe demnach
folgendermaßen aus: die allgemeinen rechtlichen Vorschriften sind das
Zivilrecht/Zivilverfahrensrecht und das Strafrecht/Strafverfahrensrecht. Diese beiden Rechte
haben vier untergeordnete Kategorien: Der erste Bereich ist die „Regelung der Infrastruktur“;
dazu gehören das Telekommunikationsrecht, das Medienrecht und das Kartellrecht. Der zweite
Bereich umschließt die „Regelung des Content“; hierunter fallen das Medienrecht, das
Wettbewerbsrecht und das Recht der kommerziellen Kommunikation. Der dritte Bereich umfaßt
das „Recht am Content“ und beinhaltet u.a. das Urheberrecht, das Marken- und Namensrecht
sowie das Kommunikationssicherheitsrecht. Der vierte Bereich ist zuständig für den
„Verbraucherschutz und Schutz der allgemeinen Persönlichkeitsrechte“; hier sind der
Datenschutz und das Recht der kommerziellen Kommunikation von Bedeutung. Man kann
erkennen, daß theoretisch schon eine Möglichkeit der gesetzlichen Überwachung des Internet
gegeben wäre, wenngleich sie auch noch nicht erfolgreich appliziert wird. Die Veröffentlichung
von Witzen über Behinderte würde in den vierten Bereich unter den Schutz der allgemeinen
Persönlichkeitsrechte fallen.
Auch die EU-Politik hat sich der Frage zur Regelung des Internet angenommen. Am
16.10.1996 veröffentlichte die EU-Kommission die Mitteilung „Illegale und schädigende Inhalte
im Internet“.172
Dabei definierte die Kommission die Begriffe „illegale“ und „schädigende
Inhalte“ ohne Rücksicht auf die rechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten und wies darauf
171
Vgl. Vahrenwald 1997, Kapitel 2, Abb. 2-1, S.1. 172
Vgl. Vahrenwald 1997, 3.2.5., 1.
Page 136
hin, daß jedes Land nach seinen eigenen Gesetzen handeln müsse. Zum Begriff der illegalen
Inhalte äußert sich die Kommission folgendermaßen:
[...] Bei einigen Fragen geht es nicht um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung,
sondern eher um den Schutz von Rechten des Einzelnen (Schutz der Privatsphäre und des
guten Rufs) [...]. Bestimmte Inhalte [...] gelten nach den Rechtsvorschriften einiger
Mitgliedstaaten als rechtswidrig. Dies ist beispielsweise der Fall bei Kinderpornographie,
Menschenhandel, Verbreitung rassistischen Materials oder Anstiftung zum Rassenhaß,
Terrorismus oder sämtlichen Formen des Betrugs [...]. ... Wenn bestimmte Handlungen in
einem Mitgliedstaat strafbar sind, in einem anderen aber nicht, ist es schwierig, sie
grenzüberschreitend zu verfolgen [...].173
In bezug auf die „schädigenden Inhalten“ formuliert die Kommission:
[...] Manche Arten von Material können die Wertvorstellungen und Gefühle anderer
Personen verletzen, wenn sie beispielsweise jemanden wegen seiner politischen
Ansichten, religiösen Überzeugungen, seiner Rassenzugehörigkeit und ähnlichem
verletzen. Was als schädigend betrachtet wird, hängt vom kulturellen Umfeld ab [...].
Jedes Land entscheidet für sich, wo genau die Linie zu ziehen ist [...]. Es ist deshalb
unabdingbar, [...] daß man versucht, Regeln zu finden, die gleichzeitig die Bürger vor
anstößigem Material schützen und ihnen die Redefreiheit garantiert [sic!]. In diesem
Kontext versteht es sich von selbst, daß die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie
Meinungsäußerung, in keiner Weise eingeschränkt werden dürfen [...].174
Behindertenwitze werden hier nicht extra angeführt, sondern fallen unter die Kategorie „und
ähnliches“. Sie sind zweifelsohne in der Lage, die „Gefühle anderer Personen“ zu verletzen, aber
der Schutz der Bürger vor solch „anstößigem Material“ liegt im Widerstreit mit dem Recht auf
freie Meinungsäußerung des Erstellers der Webseiten. Um weiteren Beschwerdebriefen
vorzubeugen, beruft sich der Sammler der Helen Keller-Witze auf dieses Recht. Es wird sich erst
in der Zukunft herausstellen, ob, inwieweit und mit welchen Mitteln überhaupt eine „Zensur“
eingeführt wird.
173
Vahrenwald 1997, 3.2.5., 1. 174
Vahrenwald 1997, 3.2.5., 2.
Page 137
8 Schluß
Wenn man von einer taubblinden Schriftstellerin hört, fragt man sich in erster Linie: „Wie ist das
möglich?“
Einen sprachwissenschaftlichen Erklärungsansatz liefert Alfred Schmitt in seiner Arbeit Helen
Keller und die Sprache (Münstersche Forschungen, Trier, Jost et. al. (Hrsg.), Heft 8, 75):
Es ist also keine Frage, daß die Erscheinungsform der Worte für H. K. eine völlig
andere ist als für uns. Daß sie sich trotzdem mit uns verständigen kann, ist darin
begründet, daß es für den sprachlichen Austausch nur auf den Zeichen-Charakter der
Sprachmittel ankommt. Aus welchem Material die Zeichen aufgebaut werden, ist im
Grunde gleichgültig [...]. Im allgemeinen ist Material aus der Schallwelt das
geeignetste [...]. Für H. K. kam nur Material aus der Tastwelt in Betracht. Die aus
diesem Material von ihr aufgebauten Tastgestalten müssen [...] durch einen
Kundigen erst in unsere Augen- und Ohrenwelt übertragen werden, können [...] aber
auch in unmittelbar uns verständliche [...] Erscheinungen sich umsetzen, wenn H. K.
mit dem Bleistift oder der Maschine schreibt oder [...] die mühsam erlernte
Lautsprache verwendet, die für sie selbst ja [...] eine Bewegungssprache ist. Auf
diese Weise ist zwischen ihr und uns eine Verbindung möglich [...], soweit die
Bedeutung der Zeichen die gleiche ist. (ibid. 75, Kursivdruck hinzugefügt)
Die sprachliche Untersuchung von Presseartikeln und zeitgenössischen Zitaten sollte zeigen,
inwieweit emotiv überhöhte Sprachbilder in der Lage sind, Wahrheiten zu verfälschen und die
breite Masse zu manipulieren. Im Kontrast dazu steht die nüchterne, sachliche Berichterstattung
von Anne Sullivan, die mit beißendem Spott die journalistischen Übertreibungen quittierte. Die
psychischen Auswirkungen auf die Betroffene, die entweder zum Wunderkind emporgehoben
oder als Betrügerin entlarvt wurde, sind dargestellt worden.
Schließlich soll noch auf den Vorwurf des Plagiats, den die Presse anhand des „Frost
King“-Skandals damals so sensationsgierig erhoben hatte, eingegangen werden. Hierbei muß
noch einmal gesagt werden, was Sprache für Helen Keller bedeutete und warum sie in weit
größerem Maße als gesunde Menschen für Wiederholungen und Zitate anfällig war.
Der Unterschied zwischen den Sprachinhalten H. K.’s und denen der Vollsinnigen
liegt hauptsächlich bei den Einzelvorstellungen. Ein Tierindividuum beispielsweise
[...] ist für sie ein Vorstellungskomplex, der aus Tast- und Geruchsempfindungen
aufgebaut ist [...]. Wie aber Einzeldinge zur Einheit von Begriffen [...]
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„zusammengegriffen“ werden, das ist bei ihr genau wie beim Vollsinnigen bestimmt
durch die Gewohnheiten der Muttersprache. Je mehr nun die Hierarchie der Begriffe
zu immer umfassenderen Begriffen kinaufsteigt [...], umso mehr tritt [...] der Anteil
der eigenen Wahrnehmung zurück [..], um so schwieriger wird es [...], durch eigenes
Folgern [...] oder durch eigene Intuition den aus der Muttersprache übernommenen
Bestand [...] nachzuprüfen und gegebenenfalls abzuwandeln. (ibid. 77)
Da allerdings die meisten Werke Helen Kellers autobiographischen Charakter besitzen und keine
fiktiven Schöpfungen sind, können wir ihr nicht den Vorwurf machen, wiederholt zu haben, was
andere bereits irgendwo sagten, kurz: ein Plagiat begangen zu haben. Die verwendeten Zitate in
ihren Büchern sowie zahlreiche Redewendungen, Metaphern und Allusionen mögen „aus der
Muttersprache“ übernommen sein, aber das Erleben bleibt immer noch ihr eigenes. Die
Schilderungen, wie sie mit ihrer Behinderung umgegangen ist, sind von unschätzbarem
pädagogischen, psychologischen und sprachwissenschaftlichen Wert.
Wenn man die Summe aus allem Dargelegten zieht, so ergibt sich, daß die öffentliche
Wirkung der Taubblinden eng mit der Massensentimentalität und der Gunst der
Monopolpresse verbunden war, ungeachtet ihrer eigenen schriftstellerischen Leistung und
ihrer persönlichen Integrität. Die Presse hatte ein Bild von ihr gezeichnet [...]; und bis
zum Ende der Studienzeit blieben Vorstellungsbild und Persönlichkeit identisch. Helen
Keller hatte sogar auf einem ungewöhnlichen Wege die amerikanische Legende bestätigt,
die selbst dem Ärmsten der Armen die gleichen Chancen [...] verhieß. [...] Sie blieb die
jugendliche Heldin der „Geschichte meines Lebens“, trotz aller Ausbruchversuche.
(Jaedicke 85)
Die Technik ist der Gesetzgebung immer um einen Steinwurf voraus. Man kann das Nachhinken
der Gesetzgebung als „legal lag“ bezeichnen. Nachdem der Bürger mit den unzähligen
Möglichkeiten des Internet einmal konfrontiert ist, wird es nötig werden, ihn durch Gesetze vor
Mißbrauch zu schützen. Dabei kann man sich nicht mit einer so simplen Rechtfertigung aus der
Affaire ziehen wie der Ersteller der Helen Keller-Jokes Webseite -- getreu dem Motto „wer nicht
will, braucht es ja nicht zu lesen“.
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