Top Banner
Diplomarbeit über das Thema Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich dem Prüfungsamt bei der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft in Germersheim vorgelegt von Christina Voß
144

Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Dec 09, 2022

Download

Documents

Christina Lyons
Welcome message from author
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Page 1: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Diplomarbeit

über das Thema

Die Präsentation der taubblinden Helen Keller

in den Medien

und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich

dem Prüfungsamt bei der

Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft

in Germersheim

vorgelegt von

Christina Voß

Page 2: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

_____________________________________________________________

Referent: Professor Dr. K.-H. Stoll

Prüfungstermin: Sommer 1998

Page 3: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung............................................................................ 4

1 Biographische Hintergründe............................................... 6

1.1 Das Beispiel Laura Bridgman................................... 11

1.2 Helen Keller vor Erlernen der Sprache.................... 13

1.3 Der Spracherwerb, nachvollzogen anhand von

Briefen ihrer Lehrerin Anne Sullivan........................... 17

2 Die Presselandschaft zur Zeit Helen Kellers.......................... 30

3 Emotiv überhöhtes Vokabular in Zeitungsartikeln................ 35

3.1 Wunderkind oder Betrug?........................................... 39

3.2 Der „Frost King“-Skandal........................................... 44

3.2.1 Ein photographisches Gedächtnis?.................. 46

3.2.2 Retusche des Falls: eine lückenhafte

deutsche Übersetzung.................................... 50

4 Helen Kellers Rhetorik........................................................ 69

4.1 Humor........................................................................ 70

4.2 Metaphern.................................................................. 72

4.3 Vergleiche.................................................................. 75

4.4 (Bibel)zitate................................................................ 77

4.5 Alliterationen, Personifikationen

und andere Stilfiguren................................................. 79

5 Helen Kellers literarisches Schaffen....................................... 56

5.1 Optimism (1903) und The Story of my Life (1903)...... 57

5.2 Meine Welt (1908) und Dunkelheit (1909).................. 61

5.3 Out of the Dark (1913)............................................... 64

5.4 My Religion (1927).................................................... 65

5.5 Midstream (1929) und Teacher (1955)....................... 66

6 Filme und Bühnenstücke mit / über Helen Keller................... 80

6.1 William Gibsons The Miracle Worker......................... 82

6.1.1 Kameraführung............................................. 86

6.1.2 Erzählsituation.............................................. 90

6.1.3 Symbolismus................................................. 93

6.1.4 Komik........................................................... 96

6.1.5 Dramatische Effekte...................................... 99

6.1.6 Werktreue und Literarizität........................... 103

6.2 Überbetonung des Sexuellen in der Fortsetzung

Monday after the Miracle.......................................... 333

7 Helen Keller Jokes im Internet............................................. 106

7.1 Sprachliche Analyse.................................................... 222

7.2 Rechtliche Analyse...................................................... 456

Page 4: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

8 Schluß................................................................................. 108

Illustrationen....................................................................... 112

Literaturverzeichnis..................................................................... 114

Primärliteratur...................................................................... 114

Sekundärliteratur.................................................................. 115

Eidesstattliche Erklärung............................................................. 117

Page 5: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Einleitung

Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine komparative Analyse der literarischen Selbstdarstellung der

taubblinden amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller und ihrer Präsentation in den Medien.

Zur Untersuchung stehen hierbei einige ihrer Bücher sowie Presseartikel und Aussagen von

Zeitgenossen und William Gibsons Film The Miracle Worker, basierend auf seinem

gleichnamigen Theaterstück. Ebenso wird eine besondere Art der Darstellung in einem neueren

Medium, dem Internet, behandelt.

Um einen genauen Eindruck vom Leben und sozialen Wirken Helen Kellers zu erhalten, ist eine

Einführung in die biographischen Hintergründe notwendig. Die Situation der Taubblinden Mitte

des Neunzehnten Jahrhunderts schien immer noch aussichtslos; man befand es nicht für nötig,

spezielle Schulen für sie einzurichten, denn es galt immer noch die herkömmliche Auffassung,

die der Jurist Sir William Blackstone (1723-80) bereits ein Jahrhundert zuvor umrissen hat mit

den Worten:

Ein Mensch ist kein Idiot, wenn er auch nur einen Schimmer von Verstand besitzt, so daß

er seine Eltern, sein Alter und dergleichen angeben kann. Aber ein Mensch, welcher taub,

stumm und blind ist, wird vom Gesetz dem Idioten gleichgestellt, da man ihn für unfähig

halten muß, irgend etwas zu begreifen, weil ihm alle die Sinne fehlen, welche seine Seele

mit Ideen füllen können.1

Das Problem bestand nicht darin, daß die Seelen von Taubblinden keiner Ideen fähig waren,

sondern darin, wie ein geeigneter Lehrer sie mit Ideen füllen konnte. So formuliert ein deutscher

Wissenschaftler im Jahre 1905: „Endlich ist die bei Taubblindheit vorhandene

UNZUGÄNGLICHKEIT des Geistes mit primärer UNZULÄNGLICHKEIT des Geistes in den

äußeren Symptomen der Entwicklungshemmung so ähnlich, daß die Fehldiagnose auf Idiotie

sehr nahe liegt [...].“2

Die Meinung Blackstones wird durch Helen Kellers Wirken widerlegt. Bis es soweit war,

bedurfte es allerdings eines neuen Erziehungssystems, das von Dr. Howe initiiert und von Helen

Kellers Lehrerin, Anne Sullivan, vervollkommnet wurde. Im ersten Kapitel wird auf den

revolutionären Erfolg bei der Erziehung der taubblinden Laura Bridgman durch Dr. Howe

hingewiesen, der als Vorläufermodell für den noch größeren Erfolg bei Helen Keller aufzufassen

1 zitiert nach Jaedicke 1979, 14.

2 Stern 1905, 72.

Page 6: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

ist. Weitere Hauptthemen sind der geistige und kommunikative Zustand Helen Kellers in ihrer

„vorsprachlichen“ Zeit, ihr Spracherwerb, das geniale Erziehungssystem ihrer Lehrerin Anne

Sullivan, Helen Kellers schulische Ausbildung, ihre familiären Hintergründe sowie ihr soziales

Engagement und ihre Vorträge und Reisen zugunsten der Blinden.

Im zweiten Kapitel geht es um die Veränderung der Presselandschaft zu Helen Kellers

Zeiten, den Konkurrenzkampf der Monopolpresse, die effizientere Informationsvermittlung und

das Schüren der Massensentimentalität. Es soll gezeigt werden, wie verschiedene Zeitungen und

Zeitschriften Helen Keller ein Heiligen-Image aufdrängten und wie sie dieses durch ihre

sozialistischen Aktionen, ihren Einsatz für die farbige Bevölkerung, die Frauenfrage usw. immer

wieder erschütterte. Ebenso wird auf die Verbreitung von Klatsch und Tratsch über Helen

Kellers Privatleben hingewiesen, derer sie sich nur durch Gegendarstellungen wehren konnte.

Das dritte Kapitel demonstriert die übertriebene Darstellung der Erziehung der kleinen

Helen in der Presse, die aufgrund einer kritiklosen Fortschrittsgläubigkeit bzw. weltfremden

Sentimentalität ein Wunderkind schuf. Hier geht es vor allem um die sachliche Berichterstattung

ihrer Lehrerin Anne Sullivan im Vergleich zu den blumigen Reden des Direktors der Perkins

Institution for the Blind, Dr. Anagnos, dessen ungebremster Enthusiasmus die Journalisten zu

weiteren Übertreibungen anstachelte. Der Sensationsgier der Presse ist es zu verdanken, daß

viele Zeitgenossen aufgrund des emotiv überhöhten Vokabulars in den Artikeln ein völlig

falsches Bild von Helen Keller bekamen und sie verständlicher Weise als „Betrug“ hinstellten.

Als Aufhänger für die sprachliche Analyse ist hier der „Frost King“ gewählt worden, eine kleine

Geschichte, die die elfjährige Helen „gehört“, unbewußt im Gedächtnis behalten und dann einem

Freund gewidmet hatte, wofür man sie des Plagiats beschuldigte und vor einen

Prüfungsausschuß stellte.

Die Werküberblicke im vierten Kapitel sollen nicht nur die pädagogischen,

philosophischen, religiösen und ideologischen Inhalte ihrer Biographien zum Thema haben,

sondern auch auf Helen Kellers Rechtfertigung ihrer Ansichten, derer sie von Seiten der Presse

oft gerügt wurde, aufmerksam machen. Vor allem in Meine Welt und Wie ich Sozialistin wurde

greift sie gewisse Blätter und Einzelpersonen an und wehrt sich z.B. gegen die unsinnige

Auferlegung, sie dürfe nicht über Dinge schreiben, die sie nicht wahrnehmen könne, wie Farbe,

Licht und Töne.

Page 7: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Das fünfte Kapitel ist einer Analyse der am häufigsten angewandten Stilfiguren in Helen

Kellers The Story of my Life gewidmet, welche die rhetorische Begabung der Autorin unter

Beweis stellt. Abgesehen von Alliterationen, Personifikationen, Chiasmus u.a. sind es vor allem

die Metaphern, Vergleiche und Zitate, welche ihr den Ruf gegeben haben, „All her knowledge is

hearsay knowledge“.3

Das sechste Kapitel wird mit Hinweisen auf verschiedene Filme über Helen Keller und

deren Rezensionen eingeleitet. Dann erfolgt ein Vergleich ihrer literarischen Selbstdarstellung

mit Gibsons Film The Miracle Worker; hierbei geht es darum, die Gemeinsamkeiten mit der

Vorlage, Anne Sullivans Briefen aus dem Anhang von The Story of my Life, herauszuarbeiten,

sowie auf die Unterschiede aufmerksam zu machen. In diesem Rahmen werden Kameraführung

und Erzählsituation, Symbolismus, Komik, dramatische Effekte und Werktreue / Literarizität

näher analysiert. Anschließend soll die Überbetonung des Sexuellen in Gibsons zweitem Teil der

Helen Keller-Story, Monday after the Miracle, herausgearbeitet werden.

Im siebten Kapitel wird nach Gesamtbetrachtungen über die Darstellung Helen Kellers

im WWW die Frage behandelt, inwieweit es ethisch vertretbar ist, Helen Keller-Witze im

Internet zu veröffentlichen. Nach einer sprachlichen Untersuchung geht es um rechtliche

Aspekte, so z.B. um das Medienrecht, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die

Veröffentlichung schädigender Inhalte im Online-Bereich und die international angestrebte

„Regelung des Internet“, welche allerdings noch in der Zukunft liegt.

Der Schluß bringt sprachwissenschaftliche Erklärungen des Phänomens Helen Keller und

legt die Unterschiede von ihrer Sprachauffassung zu unserer dar. Somit wird auch demonstriert,

warum sie für Wiederholungen von bereits Gesagtem „anfälliger“ war als andere Menschen

(siehe Plagiatsvorwurf). Zusammenfassend weden die Vor- und Nachteile von Presse, Film und

Internet in bezug auf die wahrheitsgemäße Darstellung Helen Kellers besprochen.

3 zitiert nach Braddy 1934, 201.

Page 8: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

1 Biographische Hintergründe

Helen Keller wurde am 27. Juni 1880 in der Kleinstadt Tuscumbia im Norden Alabamas

geboren. Ihr Vater, Captain Arthur H. Keller, hatte im Sezessionskrieg als Offizier auf der Seite

der Konföderierten gekämpft und war später der Herausgeber einer kleinen Lokalzeitschrift. Er

war „konventionell, höflich, eher bequem (er hielt es nicht für standesgemäß, körperliche Arbeit

zu leisten)“.4 Er war tief in den Wertmaßstäben der Südstaaten verankert und hegte auch

Rassenvorurteile. So soll er einmal gesagt haben: „Wir halten sie einfach nicht für menschliche

Wesen.“5 Tuscumbia hatte um 1880 ca. 3000 Einwohner, die Hälfte davon waren Farbige.

6

Seiner Familie gegenüber war der Vater eher nachgiebig; vor allem die arme kleine Helen durfte

mit seiner Zustimmung machen, was sie wollte, weil er sie nicht weinen sehen konnte. Dies

sollte später zu Schwierigkeiten ihrer Lehrerin führen, dem Kind Gehorsam beizubringen. Helen

Kellers Mutter, Kate Adams, war 20 Jahre jünger als ihr Gatte und ihm intellektuell überlegen.

Sie interessierte sich für Politik und setzte sich für das Frauenwahlrecht ein. Die Familie Keller

war alteingesessen und hatte ein schönes Haus mit Garten, Reitknechte, Hausangestellte wie die

farbige Köchin Viney und eine Plantage, die sich jedoch mit der Zeit als unwirtschaftlich

herausstellte -- aber sie war nicht besonders wohlhabend. Trotzdem ermöglichte sie der kleinen

Helen anfangs eine Ausbildung, die ihr im Vergleich zu vielen weniger begünstigten taubblinden

Kindern eine erfolgreiche Zukunft versprach. In dieser Zeit deponierte man solche Kinder

meistens in heruntergekommenen staatlichen Einrichtungen für geistig Behinderte. Helen Kellers

weitere Ausbildung wurde von Sponsoren wie Carnegie und Rogers übernommen.

Im Alter von 19 Monaten verlor Helen durch eine bis heute nicht identifizierte Krankheit,

wahrscheinlich Hirnhautentzündung, Gehör und Augenlicht. Von da an lebte das Kind in völliger

Dunkelheit und Stille, niemand fand Zugang zu seiner Seele, und es konnte sich lediglich durch

Zeichen verständigen. Helens Eltern gaben jedoch die Hoffnung auf eine Rettung nie auf; und als

ihre Mutter in den „American Notes“ von Charles Dickens über den Direktor der Perkins

Institution for the Blind in Boston, Dr. Samuel Gridley Howe, las, der mit Erfolg die taubblinde

Laura Bridgman die Sprache gelehrt hatte, war Helens Ausbildung eine beschlossene Sache. Dr.

Howe war zwar schon lange tot, aber Helens Vater wandte sich auf Empfehlung des berühmten

4 Vgl. Macdonald 1992, 12.

5 Ibd.

6 Vgl. Jaedicke 1979, 9.

Page 9: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Augenarztes Dr. Chisholm in Baltimore an Dr. Alexander Graham Bell, Erfinder des Telefons

und Philanthrop, der sich dem Unterricht Gehörloser widmete. Dr. Bell lud Helen und ihren

Vater 1886 zu sich nach Washington ein und stellte sie Dr. Michael Anagnos, dem damaligen

Direktor der Perkins Institution, vor. Dieser schickte ein Jahr später die einundzwanzigjährige

Anne Sullivan, die sechs Jahre lang dort Schülerin und selbst einmal blind gewesen war, als

Privatlehrerin für Helen nach Tuscumbia.

Am dritten März 1887 traf Anne Sullivan bei der Familie Keller ein und begann ihre oft

mühsame, aber von Erfolg gekrönte Unterrichtsmethode. Helen lernte das Fingeralphabet, die

Brailleschrift, mit Bleistift auf einem vorgefertigten Rahmen sowie auf der Maschine zu

schreiben, und verfaßte ihre ersten Briefe, die später in Deutschland gesondert in Briefe meiner

Werdezeit herausgegeben wurden. Ein Jahr später zogen Anne Sullivan und Helen nach Boston

und besuchten Dr. Anagnos in der Perkins Institution for the Blind. In den darauffolgenden zwei

Jahren lernte Helen teils zuhause, teils in Boston. Ab dem 26. März 1890 nahm Helen Keller elf

Stunden im Sprechenlernen bei Miss Sarah Fuller, der Schulleiterin der Horace Mann School.

Danach übte sie mit ihrer Lehrerin weiter. Einer ihrer ersten, mühsam artikulierten Sätze war „I

am not dumb now.“ (The Story of my Life 61). Sie arbeitete besessen an der Verbesserung ihrer

Aussprache, aber für Personen, die nicht ständig mit ihr zu tun hatten, war sie ziemlich schwer

zu verstehen. Helen war inzwischen ein durch die Zeitungen bekanntes Wunderkind geworden.

Doch 1891 kam es zum „Frost König“-Skandal, in dem Helen des Plagiats beschuldigt wurde,

die Presse großes Aufheben um die Sache machte und Helen bzw. ihre Lehrerin als „Betrügerin“

dargestellt wurden. Es folgte ein Bruch zwischen ihrer Lehrerin Anne Sullivan und dem

verbitterten, enttäuschten Dr. Anagnos.

1894 zogen Anne Sullivan und Helen Keller nach New York. Dort besuchte Helen die

Wright Humason School for the Deaf. 1896 gingen die beiden nach Cambridge, wo sich Helen

an der School for Young Ladies unter Schulleiter Arthur Gilman auf die Aufnahmeprüfung für

das Radcliffe College vorbereitete. Anne Sullivan mußte während Helens gesamter Ausbildung

im Unterricht immer neben ihr sitzen und ihr die Worte der Lehrer in die Hand buchstabieren.

Ein Jahr später kam es zum Streit zwischen Anne Sullivan und Gilman, Helen verließ die Schule

und ging mit ihrer Lehrerin nach Wrentham, wo sie der Hauslehrer Merton S. Keith

unterrichtete. Im Jahr 1899 bestand Helen Keller die Aufnahmeprüfung und begann im Herbst

1900 ihr Studium am Radcliffe College. Zu dieser Zeit war das Frauenstudium noch

Page 10: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

ungewöhnlich und umstritten; in Nordamerika hatten die Frauen erst 1894 die Berechtigung

erlangt, an einer Universtität zu studieren, und zwar zunächst nur an jenem Radcliffe College.7

1901 sind zeitgeschichtlich zwei wichtige Ereignisse zu verzeichnen: Andrew Carnegie

wurde Philanthrop; später sollte er Helen Keller eine Rente ausstellen. Am 29.7. wurde die

Socialist Party gegründet. Im Jahr 1902 erschien The Story of my Life, und zwar zunächst als

Fortsetzungsbericht in der Familienzeitschrift Ladies Home Journal und dann in einer

Buchausgabe von John Macy, der einen Anhang mit Helen Kellers Briefen ihrer Kindheit sowie

Berichten und Briefen ihrer Lehrerin über deren Erziehungsmethode hinzufügte. 1905 heiratete

John Macy die elf Jahre ältere Anne Sullivan. In diesem Jahr wurde auch der IWW (Industrial

Workers of the World) gegründet, was später noch eine Bedeutung für Helen Kellers politisches

Engagement haben sollte. 1908 erschien Helen Kellers zweites Buch The World I Live in (Meine

Welt). Ein Jahr später trat sie in die Socialist Party ein. 1912 kam es zum Streik der 14 000

Textilarbeiter von Lawrence, Mass. unter der Führung des IWW; Helen Keller schloß sich der

Solidaritätsbewegung an. 1913 erschien Out of the Dark (Wie ich Sozialistin wurde), eine

Sammlung politisch progressiver Aufsätze und Briefe. Helen Keller und Anne Sullivan begannen

ihre Vortragsreisen und nahmen aufgrund finanzieller Engpässe die Carnegie-Rente an, die

Helen Keller zuvor aus Stolz zurückgewiesen hatte. 1913 verließ John Macy seine Ehefrau, da

er „nicht als Teil eines Dreigestirns leben“8 konnte: „[...] er hätte, als er Anne heiratete, wissen

müssen, daß er eine Institution heiratete. Anne könnte und wollte keine „richtige“ Ehefrau sein.

Immer müßte Helen an erster Stelle stehen [...].“9

1914 wurde die junge Schottin Polly Thomson von Anne Sullivan als Assistentin und

Haushälterin eingearbeitet. Ebenso wurde Peter Fagan, ein Sympathisant der Sozialisten, als

Sekretär eingestellt. 1916 verliebte sich der Neunundzwanzigjährige in die

sechsunddreißigjährige Helen Keller. Sie verlobten sich, obwohl Helen Keller immer Zweifel

gequält hatten, da sie sich nicht vorstellen konnte, daß ein Mann sie jemals lieben würde: “I

should think it would seem like marrying a statue.“ (Midstream 134) Sie beschlossen, zu

heiraten, aber als Helens Mutter davon erfuhr, verhinderten diese und Helens Schwester Mildred

die Heirat mit dem ungleich jüngeren, auch noch sozialistisch gesinnten Angestellten. Ein

Versuch durchzubrennen scheiterte. Anne Sullivan mußte ins Krankenhaus, der verprellte

7 Vgl. Schmitt 1954, 10.

8 Vgl. Macdonald 1992, 49.

9 Ibd.

Page 11: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Liebhaber meldete sich nicht mehr, und schließlich gab Helen Keller ihrer konservativen Familie

nach: „Ich gelangte zu der Überzeugung, daß eine Ehe mir ebenso wie Musik und Sonnenschein

verwehrt sein sollte“.10

In den Jahren 1914/15 trat Helen Keller durch Veröffentlichungen und Vorträge für die

Neutralität der USA im Ersten Weltkrieg ein. 1917 befürwortete Helen Keller die

Oktoberrevolution, und im darauffolgenden Jahr bis 1923 kritisierte sie antisowjetische

Interventionen der USA sowie die Hungerblockade gegen Sowjetrußland, für dessen Regierung

sie eintrat, und setzte sich zur Linderung der dortigen Hungersnot ein. 1919 spielte Helen Keller

die Hauptrolle im Hollywoodfilm über ihr Leben, „Deliverance“, der ein großer Flop wurde. Im

Jahr 1920 vereinigte sich Helen Keller mit Clarence Darrow, Upton Sinclair (dem „muck-raker“,

der die marode Situation der Arbeiter in The Jungle beschrieben hat), Jane Addams, Norman

Thomas, Felix Frankfurter u.a. zur Gründung der ACLU (American Civil Liberties Union).

Von 1920 bis 1924 traten Helen Keller und Anne Sullivan in Variétés auf; sehr zum Verdruß der

letzteren, da diese die Zurschaustellung jeglicher Form von Behinderung auf der Bühne zutiefst

verachtete; vor allem in einer Zeit, wo mißgestaltete Tiere und Körperbehinderte bzw. „Launen

der Natur“ wie Siamesische Zwillinge, „bärtige Damen“ und „Gummimenschen“ eine bliebte

Attraktion für Zirkusse und Kuriositätenshows waren11

. Helen Keller hielt kurze Ansprachen

vor einem Publikum, das sie akustisch kaum verstehen konnte, aber eigentlich auch nur

gekommen war, um das „Wunder“ mit eigenen Augen zu sehen. Die beiden Frauen mußten

jedoch für ihren Lebensunterhalt sorgen, und Helen Keller wollte dem Publikum beweisen, daß

sie „darüber stand“ und trotz der erschwerten Lage imstande war, ihr Brot selbst zu verdienen.

Am 26. 8. 1920 wurde in den USA das Frauenwahlrecht eingeführt, wofür sich Helen

Keller wiederholt eingesetzt hatte. 1921 wurde die American Foundation for the Blind (AFB)

gegründet, deren ständige Mitarbeiterin Helen Keller ab 1924 war. Sie nahm an

Aufklärungskampagnen zur Verbesserung staatlicher Blindenfürsorge teil. 1927 wurde das

Todesurteil für Sacco und Vanzetti vollstreckt; Helen Keller hatte im Rahmen des weltweiten

Protests für ihre Freilassung gekämpft. Im selben Jahr veröffentlichte Helen Keller My Religion

(Licht in mein Dunkel) und Midstream: My Later Life (Mitten im Lebensstrom), in welchem sie

sich zu Lenins Werk bekannte. In den Folgejahren erhielten Helen Keller und Anne Sullivan

10

a.a.O. 52. 11

Vgl. Macdonald 1992, 6.

Page 12: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Ehrentitel und Auszeichnungen. Im Jahre 1933 erfolgte in Berlin die Bücherverbrennung

„entarteter“ Schriften durch die Faschisten, der auch Wie ich Sozialistin wurde zum Opfer fiel.

1936 starb ihre Lehrerin Anne Sullivan, und Helen Keller unternahm Vortragsreisen mit

ihrer Sekretärin Polly Thomson, um über den Schmerz hinwegzukommen. Ein Jahr später fand

ihr erster Japanbesuch statt. 1943-46 besuchte Helen Keller die Kriegsversehrten in den

Lazaretten und Krankenhäusern von England, Frankreich, Italien, Griechenland und den USA,

um den Verletzten und Blindgeschossenen Hoffnung zu spenden. 1951 reisten Helen Keller und

Polly Thomson nach Südafrika, wo die Zulus Helen Keller den Namen „Homvuselo“ („Du hast

das Bewußtsein von vielen geweckt“) gaben.12

1952-57 reisten die beiden in den Nahen Osten,

Lateinamerika, Skandinavien, Indien und Japan. Sie besuchten die durch die Atombomben

zerstörten Städte Hiroshima und Nagasaki. Auf ihren Weltreisen warb Helen Keller für das

amerikanische Blindenbetreuungssystem durch private Stiftungen. 1955 erschien ihr Buch

Teacher: Anne Sullivan Macy (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan). Im Jahr 1960 starb

Helen Kellers langjährige Sekretärin Polly Thomson. 1962 erhielt Anne Bancroft ihren ersten

Oscar für die Darstellung der Anne Sullivan in William Gibsons Film „The Miracle Worker“,

dem zahlreiche Auszeichnungen verliehen wurden. 1961 war Helen Keller zum letzten Mal

öffentlich aufgetreten. In diesem Jahr erlitt sie einen leichten Schlaganfall, was ihre

Kommunikationsfähigkeit stark einschränkte. Helen Keller starb am ersten Juni 1968 im Alter

von 88 Jahren und wurde als eine der meistgeliebten und -geachteten Persönlichkeiten des 20.

Jahrhunderts in der National Cathedral in Washington beigesetzt.

1.1 Das Beispiel Laura Bridgman

Dr. Samuel Gridley Howe (1801-1876), dem Gründer der Perkins Institution for the Blind in

Boston, war der erste Versuch gelungen, einen taubblinden Menschen in die Gesellschaft

einzugliedern: Laura Bridgman.

12

Vgl. Macdonald 1992, 60.

Page 13: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Rund 50 Jahre vor Helen Keller, am 21. Dezember 1829 in Hanover / New Hampshire,

kam sie als ebenfalls gesundes Kind auf die Welt und verlor im Alter von 26 Monaten nach einer

Scharlacherkrankung Gehör und Augenlicht. „The child of seven was dumb and blind and almost

without the sense of smell, with no plaything but an old boot which served for a doll, and with so

little education in affection that she had never been taught to kiss.“13

In diesem desolaten

Zustand war sie, als Dr. Howe von ihr erfuhr und sie am vierten Oktober 1837 in seinem Institut

aufnahm. Er lehrte Laura Bridgman die Sprache, indem er ihr zuerst das Lesen erhaben

gedruckter Buchstaben beibrachte, und ging dabei folgendermaßen vor:

He pasted raised labels on objects and made her fit the labels to the objects and the

objects to the labels. When she had learned in this way to associate raised words with

things, in much the same manner, he says, as a dog learns tricks, he began to resolve the

words into their letter elements and to teach her to put together „k-e-y,“ „c-a-p.“14

Später verwendete Dr. Howe als Hauptverständigungsmittel das Fingeralphabet, welches

ursprünglich für sehende Taube gedacht war. Blinde können es jedoch fühlen, indem sie ihre

Hand leicht über die des „Sprechenden“ legen. Dr. Howe faßte seine Arbeit als religiöses Werk

auf, und es ist nicht verwunderlich, daß auch seine Schülerin tiefgläubig war. Inwieweit sie dabei

jedoch manipuliert wurde, ist umstritten:

Laura’s nature was intensely moral, -- almost morbidly so, in fact [...]; but it does not

appear certain that such an idea would have come to her spontaneously. She was easily

converted into revivalistic evangelicism [...] through communications which her

biographers deplore as having perverted her originally optimistic faith.15

Laura Bridgman schien nicht viel eigenen Willen und Durchsetzungskraft besessen zu haben,

was auch den großen Unterschied zu Helen Keller ausmacht: „Laura was primarily regarded as a

phenomenon of conscience, almost a theological phenomenon. Helen is primarily a phenomenon

of vital exuberance.“16

Bis zu ihrem Tod am 24. April 1889 blieb Laura Bridgman in der Perkins

Institution for the Blind. Sie hat es nie geschafft, außerhalb dieser gewohnten, geschützten

Umgebung unter normalen Menschen zu leben. Von ihr kann man nur sagen, daß sie schöne

Handarbeiten verrichtete und sich salonfähig verhielt.

Her immediate life, once it was redeemed [...] from quasi-animality, was almost wholly

one of conduct toward other people. Her relations to „things,“ only tactile at best, were

13

James 1969, 453. 14

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 298/9. 15

James 1969, 455. 16

a.a.O. 454.

Page 14: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

for the most part remote and hearsay and symbolic. Personal relations had to be her

foreground, -- she had to think in terms almost exclusively social and spiritual.17

Ohne das Experiment Laura Bridgman wäre eine Erziehung Helen Kellers nicht dermaßen

erfolgreich ausgefallen, denn ihre Lehrerin Anne Sullivan war an der Perkins Institution for the

Blind ausgebildet und berief sich auf die Studien Dr. Howes. Sie ging beim Vermitteln der

Sprache ähnlich vor, infiltrierte jedoch keine religiösen oder politischen Ideen. Als Lehrerin hat

sie mit ihrem einzigartigen Erziehungssystem Dr. Howe übertrumpft. Helen Keller stand

entwicklungsmäßig unsagbar hoch über Laura Bridgman, was wohl vor allem auf die

unterschiedlichen Unterrichtsmethoden zurückzuführen ist. Helen lernte zuerst das

Fingeralphabet, wobei ihre Lehrerin ihr von Anfang an alles in die Hand buchstabierte, was um

sie her vorging, selbst wenn sie es noch nicht verstehen konnte. Auf diese Weise erfaßte sie die

Sprache wie ein gesundes Kleinkind, das schon einiges versteht, was ihm gesagt wird, auch

wenn es sich noch nicht selbst ausdrücken kann. Für Helen war es das Erlernen einer

„Muttersprache“, wogegen Laura die Sprache systematisch wie eine Fremdsprache erlernte:

zuerst gab man ihr isolierte Wörter in Hochdruck, die sie mit den Dingen assoziieren mußte, an

denen sie befestigt waren; dann brachte man ihr die Grammatik bei, noch bevor sie genug

Vokabular hatte, um diese sinnvoll anzuwenden. Dies hatte natürlich Verwirrung und Fehler zur

Folge.18

Im Gegensatz zu Anne Sullivan, die ihrer Schülerin auf jede Frage eine Antwort gab,

umging Dr. Howe schwierige Fragen seiner Schülerin (z.B. nach Gott) mit dem Hinweis: „Your

mind is young and weak, and cannot understand hard things“.19

Die beiden taubblinden Frauen unterschieden sich vor allem in der Art und Weise, wie sie

ihr Leben in Angriff nahmen. Dabei fällt Laura Bridgman die passive Rolle, Helen Keller die

aktive zu. In William James’ Collected Essays and Reviews ist dieser Unterschied sehr drastisch

durch den Vergleich mit den unsicheren ersten Gehversuchen eines Genesenden dargestellt

worden: „Life for her [Helen] is a series of adventures, rushed at with enthusiasm and fun. For

Laura it was more like a series of such careful indoor steps as a convalescent makes when the

17

a.a.O. 455/6. 18

Nella Braddy berichtet in ihrer Biographie Anne Sullivans: „Laura had infinite difficulty in learning the

peculiarities of language and never really mastered idiomatic English. [...] One evening [...] Dr. Howe had

spent some time explaining to her the difference between „full“ and „less,“ [...]. The following day she said

[...], „I am motherful and sisterful; you are brotherless,“ and further exemplified her learning by asking if it

was derivative to-day. [...] Dr. Howe had explained that rain was a primitive word, rainy, a derivative

word. The child, of course, thought she had asked, „Is it raining?“ (Braddy 1934, 108)

19

Vgl. Braddy 1934, 111.

Page 15: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

bed days are over.“20

Obwohl Laura Bridgman21

für ihre Zeit bereits als erstaunliches Phänomen

galt und Dr. Howes Ruhm bis nach Europa reichte, machte sie nicht in einer derartigen Weise

von sich reden wie fünfzig Jahre später Helen Keller. Dies hängt mit der Entwicklung der

Presselandschaft zusammen, denn die Informationsvermittlung hatte sich in diesem Zeitraum

rasant verstärkt und effizienter gestaltet.

Helen’s age is that of the scarehead and portrait bespattered newspaper. In Laura’s time

the papers were featureless, and the public found as much zest in exhibitions at

institutions for the deaf and dumb as it now [Helen’s age] finds in football games. [...] In

contrast with the recklessly sensational terms in which everything nowadays expresses

itself, there seems a sort of white veil of primness spread over this whole biography of

Laura.22

Im folgenden wird zu untersuchen sein, wie sich diese neuartige Informationsweitergabe auf

Helen Kellers Entwicklung ausgewirkt hat.

1.2 Helen Keller vor Erlernen der Sprache

„Bevor meine Lehrerin zu mir kam, wußte ich nicht, daß ich vorhanden war. Ich

lebte in einer Welt, die eine Nichtwelt war.“

(Meine Welt 77)

Nach ihrer Selbsteinschätzung war Helen Keller in ihrer vorsprachlichen Zeit ein „‘Phantom’,

wie ich das kleine, nur von tierischen Impulsen, und nicht immer denen eines fügsamen Tieres,

beherrschte Wesen zu bezeichnen vorziehe.“ (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan 33).

Dies ist eine bescheidene Untertreibung. Ihr vorsprachlicher Zustand entsprach weder einem

animalischen noch einem idiotischen, da sie durch Zeichen imstande war, mit ihrer Umwelt, die

20

a.a.O. 454/5. 21

Nella Braddy weist auf Lauras „quaint staccato thoughts in quaint staccato language“ hin. Eine Leseprobe

zeigt, wie Laura Bridgman sich als reife Frau auf dem Höchststand ihres Lernens ausdrückte: „I hate to go

without my most constant friend Wight. She kept weeping many times till she left me the 9th of November.

She gave me a very beautiful and pure breastpin, just before I parted with her. [...] I love her half as much

as if she was my wife. I did not know that my best teacher was to leave me so shortly until the day before

she left me. I shuddered so much and worried sadly.“ (Braddy 1934, 74.)

22

James 1969, 455.

Page 16: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

hauptsächlich aus ihren nächsten Familienangehörigen und den Kindern der Bediensteten

bestand, zu kommunizieren: „At the time when I became her teacher, she had made for herself

upward of sixty signs.“ Außerdem beweisen die Schilderungen ihrer Lehrerin über ihr Eintreffen

bei der Familie Keller, daß das Kind äußerst intelligent und gewitzt war:

She felt my face and dress and my bag, which she took out of my hand and tried to open.

It did not open easily, and she felt carefully to see if there was a key-hole. Finding that

there was, she turned to me, making the sign of turning a key and pointing to the bag.23

Helen wußte aus Erfahrung, daß auch diese Besucherin ihr etwas Süßes mitgebracht hatte. Sie

hatte genau „gespürt“, daß jemand erwartet wurde, und den ganzen Tag auf der Lauer gelegen.

Nach Aussage ihrer Mutter24

gehörte Helen vor ihrer Erkrankung zu den Kleinkindern, die sich

lieber durch Zeichen als durch Worte verständlich machten. Ein Zeichen, das Helen Keller aus

der Zeit vor ihrer Erblindung und Ertaubung noch beibehalten hatte, war das „Winke-winke-

Machen“25

. Es ist heute leider nicht mehr nachzuweisen, ob Helen Keller die Zeichen, die sie

nach ihrer Erkrankung gebrauchte, als neues Verständigungsmittel erfunden oder zum Teil

bereits vorher gebraucht hatte. Jedenfalls sind viele ihrer Zeichen auch für sprechfaule normale

Kinder gebräuchlich, wie z.B.: „A shake of the head meant ‘No’ and a nod, ‘Yes,’ a pull meant

‘Come’ and a push, ‘Go.’ “ (The Story of my Life 9) Nach Beobachtungen ihrer Lehrerin26

besaß

das Kind auch kompliziertere Zeichen wie die für „small“ und „large“:

If she wanted a small object and was given a large one, she would shake her head and

take up a tiny bit of the skin of one hand between the thumb and finger of the other. If she

wanted to indicate something large, she spread the fingers of both hands as wide as she

could, and brought them together, as if to clasp a big ball.

Helen Kellers Familienangehörige verstanden ihre Zeichen, durch die sie ihnen zum Beispiel

andeutete, daß sie etwas Bestimmtes zum Essen haben wollte: „Was it bread that I wanted? Then

I would imitate the acts of cutting the slices and buttering them.“ (The Story of my Life 9) Oder:

„If I wanted my mother to make ice-cream for dinner I made the sign for working the freezer and

shivered, indicating cold.“ (Ibd.) Ebenso versuchte das taubblinde Kind, mit seinen

Spielgefährten zu kommunizieren; so auch mit der kleinen Tochter ihrer farbigen Köchin: „I

could not tell Martha Washington when I wanted to go egg-hunting, but I would double my

23

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 304. 24

a.a.O. 383. 25

a.a.O. Chapter IV: „Speech“, 389. 26

a.a.O. Chapter III: „Education“, 319.

Page 17: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

hands and put them on the ground, which meant something round in the grass [...].“ (The Story of

my Life 11)

Waren Helens Zeichen einmal nicht von Erfolg gekrönt und verstand man nicht, was sie

wollte, konnte sie sich auf den Boden werfen, toben, schreien und mit den Füßen stampfen. Je

älter sie wurde, desto häufiger wurden solche Wutausbrüche. Das Kind war sich dessen bewußt,

daß die anderen „etwas mit ihren Lippen machten“, was ihr entging: „Sometimes I stood

between two persons who were conversing and touched their lips. I could not understand, and

was vexed. I moved my lips and gesticulated frantically without result. This made me so angry at

times that I kicked and screamed until I was exhausted.“ (The Story of my Life 10) Bisweilen

schlug sie den Sprechenden wütend auf den Mund.

Helen Kellers soziale Verhaltensweise war vom Nachahmungseffekt geprägt. Selbst

wenn es um für eine Blinde sinnlose Handlungen ging, wie zum Beispiel das „Sich-im-Spiegel-

Betrachten“ oder das „Brille-des-Vaters-Aufsetzen“, so imitierte das Kind dieses Verhalten, weil

es so sein wollte wie die anderen. Auf diese Weise wurden verschiedene Verhaltensmuster für

das taubblinde Kind alltäglich. Besonders amüsant ist die Episode, als sie das Eintreffen von

Gästen „spürt“ und sich für sie schick machen will:

Standing before the mirror, as I had seen others do, I anointed mine head with oil and

covered my face thickly with powder. Then I pinned a veil over my head so that it

covered my face and fell in folds down to my shoulders, and tied an enormous bustle

round my small waist, so that it dangled behind [...]. (The Story of my Life 10)

Auch hatte Helen im Alter von sechs Monaten bereits zu sprechen begonnen; sie verlor jedoch

ihre ersten Worte „How d’ye“ und „Tea, tea, tea“ (vgl. The Story of my Life 6) nach ihrer

Erkrankung, da sie sie nicht mehr hören konnte. Das einzig verbliebene Wortfragment war die

Bezeichnung für „Wasser“: „[...] I continued to make some sound for that word after all other

speech was lost. I ceased making the sound „wah-wah“ only when I learned to spell the word.“

(The Story of my Life 7) Dieses Wortfragment wird später bei ihrer Erkenntnis, daß allen Dingen

ein Begriff zugeordnet werden kann, noch eine Bedeutung haben in der berühmten

„Brunnenszene“.

Wenn man glaubt, Dinge, die mit Hören und Sehen zu tun hatten, wären unwesentlich für

die kleine Helen gewesen, so ist man im Irrtum. Für sie war es z.B. äußerst wichtig, daß Puppen

Augen hatten, sonst waren sie keine richtigen Puppen: als Helens Vater mit seiner kleinen

Page 18: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Tochter nach Baltimore zum berühmten Augenarzt Dr. Chisholm fuhr, bastelte ihr ihre Tante im

Zug eine komische, formlose Puppe:

„Curiously enough, the absence of eyes struck me more than all the other defects [...]. I

tumbled off the seat and searched under it until I found my aunt’s cape, which was

trimmed with large beads. I pulled two beads off and indicated to her that I wanted her to

sew them on my doll.“ (The Story of my Life 18/19)

Diese Szene wird in leicht veränderter Form später im Theaterstück The Miracle Worker zum

Tragen kommen. Übrigens spielte Helen auch Streiche und hatte durchaus kein besseres

Benehmen als andere kleine Kinder. So sperrte sie z.B. gleich zu Anfang die arme Miss Sullivan

in ihrem Zimmer ein, versteckte den Schlüssel, rückte ihn nicht mehr heraus und freute sich

diebisch, als der Vater die neue Lehrerin mit einer Leiter durchs Fenster retten mußte. Dies ist

doch nicht die unintelligente Handlung eines „Tieres“.

1.3 Der Spracherwerb, nachvollzogen anhand von

Briefen ihrer Lehrerin Anne Sullivan

Anne Sullivan wurde 1866 in Feeding Hills, Massachusetts als Kind armer irischer Einwanderer

geboren. Ihre Mutter starb früh und ihr Vater war der Trunksucht verfallen, weshalb Annie und

ihr kleiner Bruder Jimmie, der mit einer Hüftgelenktuberkulose geboren war, 1876 ins

Armenhaus nach Tewksbury kamen. Dort vegetierten etwa 940 Männer, Frauen und Kinder vor

sich hin; die Sterberate war hoch, und die Gesunden waren mit Menschen, die ansteckende

Krankheiten hatten, Trinkern und Verrückten zusammengepfercht. Viele Frauen wurden

geschwängert oder kamen bereits als „fallen ladies“ an. Fast sechs Jahre lang mußte Anne

Sullivan, die durch ständige Bindehautentzündungen halbblind war, unter diesen

menschenunwürdigen Zuständen leben; ihr Bruder starb im Armenhaus. Mehrere

Augenoperationen erwiesen sich als nicht erfolgreich, und „[Annie] continued to be listed on the

public records as blind.“27

Sie hatte jedoch das aufbrausende, starrköpfige Temperament ihres

Vaters geerbt, und setzte sich in den Kopf, in die Schule zu gehen, als sie über Schulen für

27

Lash 1980, 9.

Page 19: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Blinde hörte. Eine unerwartete Gelegenheit bot sich, als eine Untersuchungskommission unter

Frank B. Sanborn vom State Board of Charities das Armenhaus inspizierte. Die Herren standen

bereits am Tor, als Anne Sullivan allen Mut zusammen nahm: „[...] she flung herself into the

group, crying, „Mr. Sanborn, Mr. Sanborn, I want to go to school!“28

Nicht viel später, am

siebten Oktober 1880, wurde Anne Sullivan in der Perkins Institution for the Blind

aufgenommen. Nach sechs Jahren Unterricht überzeugte die junge Frau, die mit vierzehn nicht

einmal ihren Namen buchstabieren konnte, durch überdurchschnittliche Leistungen und eine

beeindruckende Abschlußrede vor einflußreichen Persönlichkeiten, so daß Dr. Anagnos’ Wahl

sofort auf sie fiel, als es darum ging, eine passende Erzieherin für die taubblinde Helen Keller zu

finden. Anne Sullivan hatte durch Operationen ihr Augenlicht zum Großteil wiedererlangt, aber

sie sollte ihr ganzes Leben lang Probleme damit haben und erblindete kurz vor ihrem Tod

wieder. Ihre eigenen Erfahrungen in der Welt der Blinden sowie das Erlernen des

Fingeralphabets, wodurch sie sich mit Laura Bridgman verständigt hatte, sollten ihr bei ihrer

Arbeit mit Helen Keller von Vorteil sein.

Die authentischste und wertvollste Quelle über Helen Kellers Lernfortschritte sind die

Briefe, die Anne Sullivan in ihren ersten Monaten bei der Familie Keller an ihre Freundin Mrs.

Sophia C. Hopkins schrieb, ihre einzige Vertrauensperson, die zwanzig Jahre als Hausmutter an

der Perkins Institution gearbeitet hatte und während Annes Schulzeit wie eine Mutter für sie

gewesen ist. Würde man sich beim Nachvollziehen von Helens Entwicklung allein auf die

Beschreibung Helen Kellers in The Story of my Life berufen, käme man in Gefahr, die

novellistisch aufgeputzten Schilderungen, die die Vergangenheit nicht selten beschönigen, für

die einzige Wahrheit zu halten. Auch konnte sich Helen Keller nicht mehr an alle Geschehnisse

ihrer frühen Kindheit erinnern und war beim Verfassen ihrer Lebensgeschichte auf Anekdoten

angewiesen, die ihre Eltern oder ihre Lehrerin über sie erzählten. Die tagebuchähnlichen

Berichte ihrer Lehrerin an Mrs. Hopkins stellen auch eine zuverlässigere Quelle dar als ihre

später veröffentlichten Aufsätze in Blindenzeitschriften, weil sie intimer sind und nicht nur die

wissenschaftlichen Auszüge enthalten, die für ein breites Publikum bestimmt waren.

Im folgenden liegen sieben Briefe Anne Sullivans in chronologischer Reihenfolge zur

Untersuchung vor, so daß man die erzieherischen Fortschritte sehen kann. Besondere

28

a.a.O. 12.

Page 20: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Berücksichtigung finden solche Begebenheiten, die später im Vergleich mit dem Theaterstück

The Miracle Worker zur Debatte stehen. Anne Sullivans erster Brief stammt vom sechsten März

1887, drei Tage nach ihrem Eintreffen in Tuscumbia. Die Einundzwanzigjährige beschreibt darin

ihren Empfang bei der Familie Keller und charakterisiert die Familienmitglieder: „Mrs. Keller

[is] a very young-looking woman, not much older than myself [...].“29

Ihre Erwartung, in Helen

ein schwächliches Kind vorzufinden, werden angenehm enttäuscht: „[...] there’s nothing pale or

delicate about Helen. She is large, strong, and ruddy [...]. She is unresponsive and even impatient

of caresses from any one except her mother. She is very quick-tempered and wilful, and nobody,

except her brother James, has attempted to control her.“ (Ibd.) Wie bereits geschildert, macht

sich Helen gleich über den Koffer des Neuankömmlings her. Interessant ist Anne Sullivans

Beschreibung vom Gesichtsausdruck der kleinen Helen vor dem Erlernen der Sprache:

Her face is hard to describe. It is intelligent, but lacks mobility, or soul, or something. Her

mouth is large and finely shaped. You see at a glance that she is blind. One eye is larger

than the other, and protrudes noticeably. She rarely smiles [...]. (304/5)

Helen durchwühlt den Koffer der neuen Lehrerin, probiert deren Hut vor dem Spiegel auf und

findet die Puppe, ein Geschenk von den kleinen blinden Mädchen von der Perkins Institution.

Diese Gelegenheit nutzt Anne Sullivan, um ihr das erste Wort beizubringen: „I spelled „d-o-l-l“

slowly in her hand and pointed to the doll and nodded my head, which seems to be her sign for

possession.“ (305) Helen ist zunächst verwirrt und befühlt Annes Hand; Anne wiederholt die

Buchstaben, worauf Helen die Zeichen richtig nachmacht und auf die Puppe zeigt. Anne nimmt

die Puppe beiseite und will sie ihr erst wiedergeben, wenn sie nocheinmal richtig buchstabiert,

aber Helen mißversteht das als Gewaltakt, ihr die Puppe wegnehmen zu wollen. Sie wehrt sich

wild, aber die Lehrerin setzt sie rigoros auf einen Stuhl und versucht, sie mit einem anderen Wort

zu überreden:

I went downstairs and got some cake (she is very fond of sweets). I showed Helen the

cake and spelled „c-a-k-e“ in her hand, holding the cake toward her. Of course she

wanted it and tried to take it; but I spelled the word again and patted her hand. She made

the letters rapidly, and I gave her the cake, which she ate in a great hurry, thinking [...] I

might take it from her. (Ibd.)

Man erkennt, daß Anne Sullivan auf ein Lernen mit Belohnung hinarbeitet; wenn Helen richtig

buchstabiert hat, bekommt sie ein Stück Kuchen. Dann versucht die Lehrerin es noch einmal mit

29

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 303. Die folgenden in Klammern angegebenen

Seitenzahlen für dieses Kapitel beziehen sich ebenfalls auf den Anhang der Story of my Life.

Page 21: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

dem Wort „doll“, Helen macht „d-o-l“, Anne fügt noch ein „l“ hinzu und gibt ihr die Puppe,

worauf Helen davonflitzt und den ganzen Tag nicht mehr zu bewegen ist, auf Annes Zimmer zu

kommen. Anderntags beschäftigt Anne Sullivan ihre Schülerin, die sonst schlecht stillsitzen

kann, mit einer Handarbeit: „[...] I gave her a sewing-card to do. I made the first row of vertical

lines and let her feel it and notice that there were several rows of little holes. She began to work

delightedly and finished the card in a few minutes, and did it very neatly indeed.“ (306) Anne

buchstabiert „c-a-r-d“, was jedoch zur Folge hat, daß Helen es mißversteht und mit einem bereits

vorher gelernten Wort verwechselt: „She made the „c-a,“ then stopped and thought, and making

the sign for eating and pointing downward she pushed me toward the door [...]“ (ibid.) Somit

deutet sie ihrer Lehrerin an, sie solle ‘runtergehen und „c-a-k-e“ holen; und Anne Sullivan ist so

erfreut über das Wiedererkennen, daß sie das Wort Kuchen buchstabiert und dann dem

Kommando Folge leistet. Dann buchstabiert Anne Sullivan „doll“ und Helen deutet nach unten,

„meaning that the doll was downstairs.“ (306) Auch dieses Wort hatte das Kind wiedererkannt,

war aber zu bequem, die Puppe selbst zu holen: „She decided to send me instead.“ (306) Ihrer

Lehrerin bleibt nichts anderes übrig, als eine rabiate Maßnahme zu ergreifen: „She had not

finished the cake she was eating, and I took it away, indicating that if she brought the doll I

would give her back the cake.“ (306) Helen wurde rot, aber sie brachte die Puppe, nahm den

Kuchen und verdrückte ihn und sich hastig. An dem Tag, an dem Anne Sullivan diesen Brief

schreibt, kommt Helen von hinten, taucht ihre Hand ins Tintenfaß und patscht auf Annes

Briefpapier: „These blots are her handiwork.“ (306) An diesem Tag lernte Helen außerdem noch,

Holz- und Glasperlen in einer bestimmten Reihenfolge auf eine Schnur zu fädeln. Der Brief

endet damit, daß Anne Sullivan über ihre entzündeten Augen klagt und um Geheimhaltung der

Neuigkeiten bittet: „Please do not show my letter to any one.“ (307) Im vierten Kapitel über die

Presse wird klar werden, warum.

Der nächste Brief beinhaltet die berühmt gewordene Schlüsselszene aus The Miracle

Worker; Anne Sullivan berichtet, „I had a battle royal with Helen this morning.“ (307) Die

Familie Keller ist um den Frühstückstisch versammelt, und alle außer Miss Sullivan sind Helens

Tischmanieren schon so gewohnt, daß sie sie seelenruhig herumgehen und sich von den Tellern

der anderen bedienen lassen. Helen stopft sich alles mit den Fingern in den Mund, was sie mag,

doch von Annes Teller dürfen die dreckigen Händchen nichts nehmen. Anne läßt sich von ihr

nicht tyrannisieren wie die mitleidige Familie, sondern ist fest entschlossen, ihr den Unterschied

Page 22: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

von „erlaubt“ und „nicht erlaubt“ beizubringen. Helen bekommt einen Wutanfall und wirft sich

auf den Boden, worauf die Familie das Zimmer verläßt und Anne sich mit Helen einschließt.

Helen was lying on the floor, kicking and screaming and trying to pull my chair from

under me. She kept this up for half an hour, then she got up to see what I was doing. I let

her see that I was eating, but did not let her put her hand in the plate. She pinched me, and

I slapped her every time she did it. (307)

Daraufhin setzt sich Helen ebenfalls, um zu essen, aber mit den Fingern. Anne drückt ihr einen

Löffel in die Hand, „which she threw on the floor“. (307) Anne zwang sie, den Löffel wieder

aufzuheben, und nach einigen Minuten gab Helen nach, „and finished her breakfast peaceably“.

(308) Darauf folgte ein Kampf um das Zusammenlegen der Serviette: „When she had finished,

she threw it on the floor and ran toward the door. Finding it locked, she began to kick and scream

all over again. It was another hour before I succeeded in getting her napkin folded.“ (308) Der

erste Schritt zur Erziehung zu Benehmen und Gehorsam war getan.

Am elften März berichtet Anne Sullivan, sie sei mit Helen in das kleine Gartenhaus eine

halbe Meile vom Kellerschen Wohnsitz entfernt gezogen; dort kann Helen ihre

Familienangehörigen und Bediensteten nicht mehr tyrannisieren, und Anne kann in aller Ruhe

mit der Erziehung beginnen, ohne daß sich die wohlmeinenden Eltern mit ihrer Laissez-faire-

Methode einmischen: „[...]the more I think, the more certain I am that obedience is the gateway

through which knowledge, yes, and love, too, enter the mind of the child.“ (309) Zuerst führt

sich Helen widerspenstig auf und hat Heimweh, aber später fügt sie sich in die neue Situation.

Aber zur Schlafenszeit gibt es einen erneuten Kampf:

[...] when she felt me get into the bed with her, she jumped out on the other side, and

nothing that I could do would induce her to get in again. [...] We had a terrific tussle, I

can tell you. The struggle lasted for nearly two hours. [...] But fortunately for us both, I

am a little stronger, and quite as obstinate when I set out. [...] [S]he lay curled up as near

the edge of the bed as possible. (310)

Anne Sullivan fährt fort, in Helens Hand zu buchstabieren, doch sie weiß, daß Helen noch keinen

Zusammenhang zwischen Wort und Ding erkennt: „Helen knows several words now, but has no

idea how to use them, or that everything has a name.“ (310) Trotzdem gibt sie sich zuverlässig.

Am zwanzigsten März 1887 schreibt die junge Lehrerin enthusiastisch: „My heart is

singing for joy this morning. A miracle has happened! [...] The wild creature of two weeks ago

has been transformed into a gentle child.“ (311) Helen hat eine lange rote Wurst gehäkelt, und

als diese durch das ganze Zimmer reicht, tätschelt sie sich lobend den Arm und hält die Wolle an

Page 23: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

ihre Wange. Alle können die Veränderung an dem Kind bemerken; ihr Vater ruft aus: „How

quiet she is!“ (312) In dieser Woche hat Helen einige Substantive gelernt, aber sie erkennt immer

noch nicht deren Bedeutung. Auch verwechselt sie einige Schlüsselwörter, die später am

Brunnen zur „Erleuchtung“ beitragen:

„M-u-g“ and „m-i-l-k,“ have given her more trouble than other words. When she spells

„milk,“ she points to the mug, and when she spells „mug,“ she makes the sign for pouring

or drinking [...]. She has no idea yet that everything has a name. (312)

Um Helens Lust am Lernen zu vergrößern, hat Anne Sullivan Konkurrenz eingeladen: der kleine

farbige Percy lernt Helens Zeichen, um mit ihr zu wetteifern. Für die Kinder ist es ein Spiel.

„She was delighted if he made a mistake, and made him form the letter over several times. When

he succeeded [...] she patted him on his woolly head so vigorously that I thought some of his

slips were intentional.“ (312) Aber nicht nur dem kleinen Jungen will Helen ihre neuen

„Zeichen“ beibringen, auch dem gemütlichen alten Setter Belle buchstabiert sie „d-o-l-l“ in die

Pfote.

Am achtundzwanzigsten März sind Anne und Helen schon wieder im Kellerschen Haus

untergebracht; der Vater hatte nur eine zweiwöchige Abwesenheit seiner Tochter gestattet. Bei

Tisch testet Helen die Reaktion ihrer Familie, als sie abermals ihre Serviette auf den Boden wirft

und gegen den Tisch tritt. Anne Sullivan nimmt ihr den Teller weg und will sie aus dem Raum

führen, aber der Vater besteht darauf, daß keines seiner Kinder ohne Essen vom Tisch geht.

Am dritten April schreibt Anne Sullivan, sie verbrächten fast ihre ganze Zeit im Garten.

Helen hat ihre Puppe in die Erde gepflanzt und ihrer Lehrerin angedeutet, daß sie erwartet, die

Puppe würde wachsen und so groß werden wie sie. Häkeln und Stricken kann sie inzwischen,

und sie macht einen Waschlappen für ihre Mutter. Sie hat auch ein Schürzchen für ihre Puppe

gemacht, und Anne stellt stolz fest, „[...] it was done as well as any child of her age could do it.“

(314) Die Zeit von zwölf bis eins hat Anne Sullivan für das Erlernen neuer Wörter reserviert,

doch sie offenbart ihrer Brieffreundin ihre wahre Methode:

But you mustn’t think this is the only time I spell to Helen; for I spell in her hand

everything we do all day long, although she has no idea as yet what the spelling means.

(315; die wichtigsten Angaben zu ihrem Erziehungssystem hat John Macy kursiv gesetzt)

Sie behandelt Helen wie ein normales zweijähriges Kind, das die Sprache ja auch lernt, indem es

sie täglich hört und unbewußt Worte aufnimmt, die es noch nicht versteht. Diesen revolutionären

Gedanken hatte Anne Sullivan sich nicht bereits zurechtgelegt, als sie bei der Familie Keller

Page 24: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

eintraf, sondern sie ist erst einige Zeit später darauf gekommen, als sie erkannte, daß es unsinnig

ist, ein Kind, das noch keine sprachlichen Voraussetzungen mitbringt, zu geregelten

Unterrichtsstunden an einen Stuhl zu fesseln und mit vorgeformtem Unterrichtsmaterial zu

überhäufen. Dieser freie, nicht an feste Zeiten gebundene Unterricht vollzog sich meistens

draußen in der Natur, wodurch auch gleich eine Menge Anschauungsmaterial zur Verfügung

stand. Die kleine Schülerin selbst faßte diese Art von „Unterricht“ als Spiel auf und lernte

unbewußt. Anne Sullivan steht mit dieser Methode nicht allein da; auch Maria Montessori, zehn

Jahre älter als Helen Keller, befürwortet ein „Lernen durch Spielen“. Zur damaligen Zeit war

dieses System allerdings revolutionär, und das war es auch, was Anne Sullivans

Erziehungsmethode von der ihres Vorgängers, Dr. Howe, unterschied und sie deshalb effizienter

gestaltete.

Helen Keller kannte am 31. März achtzehn Substantive und drei Verben; ihre Lehrerin

schickte ihrer Korrespondentin Mrs. Hopkins eine Liste davon. Die Kreuze in Klammern

bezeichnen Worte, nach denen Helen selbst gefragt hatte: „Doll, mug, pin, key, dog, hat, cup,

box, water, milk, candy, eye (x), finger (x), toe (x), head (x), cake, baby, mother, sit, stand, walk.“

(315) Am ersten April kamen noch knife, fork, spoon, saucer, tea, papa, bed, und run hinzu.

(vgl. 315)

Am fünften April endlich berichtet Anne Sullivan von dem „Wunder“: „She has learned

that everything has a name, and that the manual alphabet is the key to everything she wants to

know.“ (315) Die Ausgangssituation war, daß Helen die Substantive „mug“ und „milk“ mit dem

Verb „drink“ verwechselte. Beim morgendlichen Waschen fragte sie nun nach dem Wort

„Wasser“ (obwohl sie es laut der Liste schon gekannt haben mußte!). Anne Sullivan kam die

Idee, ihr nach dem Frühstück praktisch zu veranschaulichen, was der Unterschied zwischen den

Begriffen der Flüssigkeiten und der Handlung des Trinkens waren:

We went out to the pump-house, and I made Helen hold her mug under the spout while I

pumped. As the cold water gushed forth, filling the mug, I spelled „w-a-t-e-r“ in Helen’s

free hand. The word coming so close upon the sensation of cold water rushing over her

hand seemed to startle her. She dropped the mug and stood as one transfixed. (316)

Und hier liefert Anne Sullivan eine Beschreibung von Helens Gesicht, nachdem sie von der

Erkenntnis des Zusammenhangs von Wort und Ding durchdrungen war: „A new light came into

her face.“ (316) Das vorher beschriebene „lack of soul, or something“ ist verschwunden. Helen

buchstabiert einige Male „water“, dann zeigt sie auf den Boden und lernt das Wort für „ground“.

Page 25: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

In ihrem Rausch fragt sie auch, wer Anne Sullivan ist, und diese buchstabiert „Teacher“, was

fortan immer ihre Bezeichnung sein sollte. Auf dem Weg vom Brunnen zum Haus lernte Helen

dreißig neue Wörter: „Here are some of them: Door, open, shut, give, go, come, and a great

many more.“ (316) Helens soziales Verhalten hat sich durchschlagend geändert; vom nächsten

Morgen berichtet ihre Lehrerin:

Helen got up [...] like a radiant fairy. She has flitted from object to object, asking the

name of everything and kissing me for very gladness. Last night when I got in bed, she

stole into my arms of her own accord and kissed me for the first time, and I thought my

heart would burst [...]. (316)

Wenn man an die Szenen zurückdenkt, die Helen machte, wenn sie neben ihrer Lehrerin im Bett

liegen mußte, wird deutlich, daß sie jetzt ihr gegenüber eine tiefe Dankbarkeit und sogar

Zärtlichkeit empfindet, weil sie ihr das Tor zur Sprache geöffnet hat. Der Film The Miracle

Worker hört mit seiner chronologischen Berichterstattung über Helens Fortschritte bei dieser

Szene auf, während die folgenden Briefe Anne Sullivans noch darüber berichten, wie Helen

abstrakte Begriffe lernte, etc.

2 Die Presselandschaft zur Zeit Helen Kellers

Über Laura Bridgman hatten lediglich Charles Dickens in seinen „American Notes“ und die

Töchter Dr. Howes der Öffentlichkeit berichtet; ein halbes Jahrhundert später schrieb die

aufkommende Monopolpresse in spektakulärer Weise über Helen Keller. Die schlagartige

Entwicklung der Presse hängt mit dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der USA

zusammen, die als „Golden Country“ eine so starke Einwanderungswelle zu verzeichnen hatten,

daß die Bevölkerungszahl in den Jahren 1890 bis 1910 von 63 auf 94 Millionen anstieg.30

Noch

1860 genoß der New York Herald den Ruhm, die „größte Zeitung der Welt“ zu sein; er wurde

jedoch keine dreißig Jahre später von der World und dem Journal eingeholt. Die

Monopolisierung der Presse erfolgte durch Leute wie Pulitzer, Hearst und McCormick, und

damit waren auch erste Wege zur Manipulation der Öffentlichkeit geebnet worden. So soll

30

Vgl. Jaedicke 1979, 81.

Page 26: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Randolph Hearst, der nach 1895 sein Presseimperium mit dreißig Massenblättern aufbaute, im

New York Journal gesagt haben: „Die Macht einer Zeitung ist die größte Kraft der Zivilisation!

Die Zeitungen bestimmen und überwachen die Gesetzgebung! Sie erklären Kriege! Die

Zeitungen kontrollieren die Nation, weil sie das Volk repräsentieren!“31

Unglaubliches ist auch

über den Konkurrenzkampf der Monopolkönige zu berichten; hierbei muß allerdings darauf

hingewiesen werden, daß die Jaedicke-Quelle aus der Ex-DDR stammt, was durch die Hetze

gegen den Kapitalismus augenfällig wird. Dafür entschädigt sie allerdings durch eine erstaunlich

kritische und zynische Berichterstattung und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die

„Kriminalität“ der kapitalistischen Presse geht:

Die „Pressezivilisation“ wies indes starke kriminelle Züge auf, das begann mit dem

Fabrizieren gefälschter Nachrichten und montierter Photos, führte über Interviews, die

das Gegenteil von dem enthielten, was gesagt worden war, bis zum bewaffneten Kampf

um den Vertrieb. Zwar konnten sich Hearst und McCormick nicht wie die Ölhaie

gegenseitig Pipelines, Schiffe und Lager sprengen, dafür ließen sie Gangsterbanden auf

den Straßenvertrieb der Konkurrenz los, wobei dann Zeitungsjungen und zufällige

Passanten auf dem Asphalt blieben.32

Die „gefälschten“ oder zumindest übertriebenen Nachrichten sollen auch bei Berichten über das

„Wunderkind“ Helen Keller noch eine große Rolle spielen. Helen Keller erfüllte alle Kriterien,

um die Sentimentalität der Massen zu schüren: sie stammte aus guter Familie, war hübsch und

bedauernswerter Weise taub und blind, hatte reiche Freunde wie Carnegie und berühmte wie

Mark Twain, und war so fleißig, daß sie mit Hilfe ihrer genialen Lehrerin eine beachtliche

Bildung erlangt hatte.

Die Boulevard-Presse pflegte jedoch neben Nachrichten über Verbrechen, neben

Enthüllungen und Indiskretionen eine Berichtsform, die sie die „menschlich interessante

Mitteilung“ nannte. Derartige Berichte waren durch ihre eigentliche Thematik kaum

neuigkeitsträchtig, warfen aber ein friedliches Licht auf bestimmte Seiten der

menschlichen Natur, dessen Schein der Leser liebte, weil es seinen Glauben an das

Menschliche wiederherstellte, den die anderen Spalten erschüttert hatten.33

Somit verpaßte die Presse der Taubblinden ein Image von „schön, strebsam, fromm und

gebildet“, mit anderen Worten „passiv und gefällig“, was sie mit zunehmendem Alter durch ihre

politischen Anschauungen und Aktionen aufs tiefste erschüttert haben muß. Nach Macys Bericht

31

a.a.O. 82. 32

Ibd. 33

a.a.O. 82/3.

Page 27: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

schrieb Charles Dudley Warner 1896 im Harper’s Magazine in idealisierter Weise über die

jugendliche Helen Keller:

I believe she is the purest-minded human being ever in existence. [...] The world to her is

what her own mind is. She has not even learned that exhibition on which so many pride

themselves, of ‘righteous indignation.’ [...] Her mind has neither been made effeminate

by the weak and silly literature, nor has it been vitiated by that which is suggestive of

baseness. In consequence her mind is not only vigorous, but it is pure. She is in love with

noble things, with noble thoughts, and with the characters of noble men and women.34

Auch und gerade Dr. Anagnos von der Perkins Institution erging sich in enthusiastischen

Lobpreisungen über die kleine Helen: „[...] sie ist die personifizierte Güte und Freude [...]. Von

Sünde und Übel, von Bösartigkeit und Gemeinheit, von Niedertracht und Perversion weiß sie

überhaupt nichts. Sie ist rein wie die Lilie, unschuldig wie die Vögel in der Luft oder die

Lämmer auf der Weide[...].“35

Dieses „purest-minded human being“, diese „reine Lilie“ erkannte

jedoch bald die politischen und sozialen Mißstände und begann sich dagegen zu wehren. Ihre

Reaktionen machten Furore. Besonders Helen Kellers sozialistischer „Sinneswandel“ muß ihr

Publikum schockiert haben; vor allem in einer Zeit, in der die paranoiden Säuberungsaktionen

McCarthys die USA überrollten. Wie Helen Keller Jahre später selbst beschreibt, teilte sie sich

mit dem Fußball, Mr. Roosevelt und dem New-Yorker Polizeiskandal die erste Seite der Zeitung:

„Diese Zusammenstellung macht mich durchaus nicht glücklich [...].“ (Wie ich Sozialistin wurde

5) Man kann verfolgen, wie die verschiedenen Blätter sich bekämpfen: die sozialistische Zeitung

Call kündigte an, Helen Keller würde vor dem Labor Forum an der Washington Irving High

School in New York eine Rede halten, in der sie für einen Generalstreik zur schnellsten

Beendigung des Krieges eintrete. „This was too much for the Sun, which deplored the use of a

school auditorium for such advocacy.“36

Zweitausend begeisterte Zuhörer hatten sich

eingefunden, und tags darauf konnte man in der Zeitung einen verständnisvollen Bericht lesen,

der Helen Kellers Aktion rechtfertigte:

Nobody can have the heart to criticize poor little Helen Keller [said the New York Herald

the following morning] for talking when opportunity offers. Talking is to her a newly

discovered art, and it matters not if she does talk of things concerning which she knows

nothing, could not possibly know anything. [sic!]

But why should the so-called Labor Forum be permitted to use the pathos of her

personality to promote a propaganda of disloyalty and anarchy?

34

The Story of my Life. Part III. Chapter II: „Personality“, 294. 35

Macdonald 1992, 28. 36

Lash 1980, 413.

Page 28: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

And what right has the Board of Education to turn over one of this city’s school

buildings for the purposes of such propaganda?37

Hier wird „poor little Helen Keller“ total entmündigt als Opfer einer politischen

Propagandakampagne dargestellt, die das Pathos ihrer Persönlichkeit für ihre anarchistischen

Zwecke ausnutzt. Die Zeitung behandelt sie wie ein kleines Kind (sie hatte die Dreißig bereits

überschritten!), das um des reinen Sprechakts willen eine Rede hält („talking is to her a newly

discovered art“), und das nicht weiß, wovon es redet. Sie ist ja auch eine Frau, zudem noch eine

taubblinde, wie soll sie da Ahnung vom politischen Geschehen haben, oder gar eine

eigenständige politische Meinung. Damit drückt die Zeitung eine zu der Zeit weit verbreitete

Meinung aus.

Auch ihre Beziehungen zu großen Industriemagnaten wurden von der Presse

ausgeschlachtet, besonders, wenn es um Pazifismus ging; so z.B. als Henry Ford an die hundert

führende amerikanische Persönlichkeiten auf sein „peace ship“ Oscar II einlud, damit sie sich

mit führenden Europäern treffen und über ein Friedensabkommen beraten konnten. Trotz der

Gegendarstellung der Presse ging Helen Keller nicht mit auf den „Ford Peace Trip“38

, und

dennoch fand sich im Life magazine eine herabwürdigende Äußerung über sie:

Perhaps as a blind leader of the blind Helen belonged with Henry’s crew. Peace-making

is a blind business; so is war-making. Helen and Henry are two very kind hearts,

imperfectly equipped to see the whole of life. Henry called his expedition a crusade, and

there was one crusade in which ten thousand virgins were enlisted, but they did not get to

the Holy City.39

Auch das Life magazine nimmt falsche Rücksicht auf Helen Keller („[she’s a] very kind heart“),

und sieht ihre Blindheit als Entschuldigung für ihre „fehlgeleitete“ politische Haltung. Sie sei

nicht mit genügend Sinnen ausgestattet, um das ganze Leben wahrzunehmen. Deshalb seien ihre

Friedensbemühungen idealistisch und vergebens, und das Life magazine drückt mittles einer

Allusion auf die Bibel herablassend aus, sie gleiche einer törichten Jungfrau.

Helen Keller kam noch im Zuge einer anderen prekären Streitfrage in die Zeitung: der

Situation der Farbigen in den Südstaaten. Inmitten ihrer konservativ eingestellten Familie konnte

sie dieses Thema nicht anschneiden, doch im Jahre 1916 schickte sie einen Hundertdollarscheck

an den Vizepräsidenten der National Association for the Advancement of Colored People mit

37

Lash 1980, 413/4. 38

a.a.O. 412. 39

a.a.O. 418.

Page 29: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

einem Begleitbrief, der ihre Gesinnung deutlich zu verstehen gab. Sie schrieb darin, „[...] The

outrages against the colored people are a denial of Christ. The central fire of His teaching is

equality. [...] the souls of all men are alike before God. [...]“40

Sie lobt die Association für ihre

Arbeit gegen „the unfair treatment of the colored people“, und drückt ihre Scham aus, daß ihr

geliebter Süden ökonomisch profitiert von „those who must bring up their sons and daughters in

bondage to be servants, because others have their fields and vineyards, and on the side of the

oppressor is power“.41

DuBois ließ ihren Brief in The Crisis drucken, die für den NAACP

herausgegeben wurde, und sofort erfolgte ein Angriff auf Helen Kellers humanitäre Darstellung:

[...] someone signing himself „Alabamian“ paid to have the article reprinted in The Selma

Journal. [...] „Alabamian“ charged Helen with advocacy of social equality of whites and

Negroes, of defamation of her own people, and charged her teacher with having

indoctrinated her with such disloyal notions: „The people who did such wonderful work

in training Miss Keller must have belonged to the old Abolition Gang for they seem to

have thoroughly poisoned her mind against her own people.“ The Selma Journal

sympathized with „Alabamian“ editorially and described Helen’s letter as „full of

untruths, full of fawning and bootlicking phrases.“42

Der Vorwurf, Helen Kellers Erzieher hätten der armen, hilflosen Schülerin ihre politischen

Ideologien einfiltriert, ist bei gewissen Zeitungen verbreitet gewesen. In diesem Fall nun wurde

Helen Keller von ihrer Mutter bestürmt, ihre Position zu erklären und gegebenenfalls zu

mäßigen. Sie schrieb ihrer Mutter, sie sähe keine Rechtfertigung für die Beschuldigung des

Herausgebers, sie hätte die Gleichheit von Farbigen und Weißen propagiert: „The equality I

advocated in my letter is the equality of all men before the law. [...]“43

, und ihre Mutter leitete

den Brief an die Zeitung weiter. Helen Keller fand einen Verteidiger, der sich „Justice“ nannte

und in The Selma Journal eine Gegendarstellung veröffentlichte:

[„Justice“ defended her] as an „Alabama woman honored all over the world“ who was

wrongfully being charged with „statements of disloyalty to the South and to the integrity

of Southern institutions. [...] The junta who have sought to make capital against woman’s

suffrage by making an heroic stand for white supremacy, alleging that Miss Keller, or

somebody else wants to break down racial differences, will not be able to get off with the

‘goods.’“44

40

Lash 1980, 444. 41

Ibd. 42

Ibd. 43

Lash 1980, 444. 44

a.a.O. 445.

Page 30: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Dieses ganze Hin und Her mit Leserbrief und Gegendarstellung beweist, daß Helen Keller für

ihre Zeit eine sehr fortschrittliche und radikale Meinung hatte, die den konservativen

Auffassungen vieler Leser und Zeitungen / Zeitschriften widersprach. Nicht nur ihr Engagement

für die Arbeiter, die Frauen und die Farbigen, sondern ebenso ihr Einsatz für Geburtenkontrolle

dürfte für manchen Leser ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Ebenso machte Helen Keller

Schlagzeilen, als sie sich über ein „Tabuthema“ echauffiert: die medizinische Wissenschaft war

darauf gestoßen, daß viele Neugeborene mit einer Augeninfektion (ophthalmia neonatorum) zur

Welt kamen, die durch Geschlechtsverkehr übertragen wurde und unbehandelt zur Erblindung

führt. Dies könnte verhindert werden durch ein Einreiben der Augen der Neugeborenen mit

Silbernitrat, aber die Ärzte machten diese Möglichkeit nicht publik, da man ungern zugab, daß

„anständige“ Mütter Krankheiten haben könnten, die durch Geschlechtsverkehr übertragen

werden. Helen Keller verurteilte dieses falsche Schamgefühl so oft in hohen Kreisen, ihren

Büchern und in der Öffentlichkeit, bis sie Anhörung fand. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt ein

Artikel, den sie im Kansas City Star über dieses Thema veröffentlichte; der Herausgeber soll zu

ihr gesagt haben: „We felt it was the most interesting thing we had in the paper today and so we

printed it on the first page“.45

Durch solche Aktionen wehrte sie sich gegen das ihr von der

Presse verpaßte Label -- paradoxerweise war es hier wieder eine Zeitung, die durch das

progressive, revolutionäre Bild, das sie von Helen Keller vermittelte, ihrem verklärten Image

entgegenwirkte.

Abgesehen von dem Presserummel um Helen Kellers soziale und politische Ansichten

gab es natürlich auch genügend Klatsch über ihr Privatleben. Soweit aus den insgesamt hier

vorliegenden Quellen ersichtlich, hat sie sich nur einmal eine Liebesaffäre geleistet. Dies muß

auf die Öffentlichkeit einen ähnlich sensationellen Reiz ausgeübt haben wie Skandale um das

Englische Königshaus oder den Amerikanischen Präsidenten. Bereits als ihre Lehrerin John

Macy heiratete, lauteten die Schlagzeilen:

„Helen Keller ALMOST Married!“46

Das rhetorisch geschickte „almost“ ist keine Lüge der Presse, denn es drückt ja nur eine nicht

eingetroffene Möglichkeit und keine Tatsache aus. Es fällt dem Leser sofort ins Auge (nicht nur

durch die Großbuchstaben), da er sich fragen muß, wer denn beinahe die berühmte Taubblinde

45

a.a.O. 398. 46

Vgl. Lash 1980, 317.

Page 31: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

geheiratet hätte, eine Tatsache, die an sich schon vielen ungeheuerlich erscheinen mag. Der

Artikel endete mit Bezug auf das Gerücht einer Romanze zwischen John Macy und Helen Keller:

„Persons who saw his indefatigable attentions to the twain believed that they saw the budding of

a romance for the blind girl. And it is her romance, a happier romance than that of Nydia, the

blind girl in The Last Days of Pompeii.“47

Die zentrale Aussage entkräftet jedoch jeglichen

Verdacht: „It is not given to any one else to be so important a third, to be as nearly engaged and

married as Helen Keller.“48

Nach dieser Irreführung nun verliebte sich Helen Keller 1916 wirklich in ihren jungen

Sekretär Peter Fagan: „[...] a story appeared in that morning’s Boston Globe reporting that Peter

Fagan had indeed applied for a license to wed Miss Keller. It emanated from the office of the

City Registrar [...].“49

Ihre Mutter war entsetzt und stellte ihre sechsunddreißigjährige Tochter

zur Rede: „What have you been doing with that creature? The papers are full of a dreadful story

about you and him.“ (Midstream 180) Um des lieben Friedens willen stritt Helen Keller alles ab;

ebenso ihr Freund: „The papers were filled with denials. Peter Fagan denied he had ever been to

City Hall, not to mention applying for a license. He was engaged to another girl, he insisted,

whom he refused to name. [...]“50

Anne Sullivans Anwalt fand, man bräuchte noch eine

schriftliche Widerlegung von Helen Keller persönlich, die diese dann auch schrieb, und ihre

Lehrerin (die erkrankt war und vor der die Geschichte geheimgehalten worden war, so daß sie sie

ohnehin nicht glaubte) unterstützte sie: „Annie in a formal statement to the press called the story

„an abominable falsehood.“51

Leider war die Presse nicht so leicht zu überlisten, denn die

standesamtlich geleisteten Unterschriften der beiden konnten nicht mehr rückgängig gemacht

werden. So konnte die New York Times ihrer die Sache atemlos verfolgenden Leserschaft

triumphierend berichten: „One part of the document [...] was filled in with a peculiar print-like

writing, resembling that of a blind person. Mr. Fagan’s name was signed to the paper.“52

Das

Schlimmste aber war, daß die Presse durch ihre durchsickernden Vermutungen ein dramatisches

„Kidnapping“ Helens durch Peter Fagan verhinderte -- die Times berichtet weiter, ein anonymer

Informant wüßte bescheid, daß Fagan seine Heiratsabsichten nicht aufgegeben hätte: „‘Fagan

47

Ibd. 48

Ibd. 49

a.a.O. 432. 50

Lash 1980, 432.. 51

a.a.O. 433. 52

Lash 1980, 433.

Page 32: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

told me all his troubles,’ said the anonymous informant. ‘He told me that denials were necessary

in order to soothe Mrs. Macy’s feelings. Fagan told me he was going to marry Miss Keller, and I

know that he consulted a lawyer about the marriage laws in the Southern States through which

they were to travel.’“53

Helen Keller und ihre Mutter hatten vor, mit dem Schiff bis Savannah zu

fahren und von dort den Zug nach Montgomery zu nehmen, um nach Alabama zurückzukehren.

Gewarnt durch die Gerüchte änderte ihre Mutter jedoch die Reiseroute, und Peter Fagan befand

sich allein auf dem Schiff. Er und Helen hatten geplant, daß er sie auf dem Weg vom Hafen zum

Zug entführen und nach Florida bringen sollte, wo ein befreundeter Pfarrer sie vermählen würde.

An diesem Fall kann man sehen, wie die Presse mit Geheimnissen aus dem Privatleben

berühmter Leute umspringt. Aus Rücksicht auf ihre Familienangehörigen gab Helen Keller den

Gedanken an eine Heirat auf, und mehr als zehn Jahre später schreibt sie in einer traurigen

Metapher: „The brief love will remain in my life, a little island of joy surrounded by dark

waters.“ (Midstream 182)

Auch Helen Kellers Bekannschaft mit literarischen Persönlichkeiten wurde von der

Presse weidlich ausgenutzt. Als George Bernard Shaw Helen Keller bei Lady Astor in Cliveden,

England, kennenlernte, stachelte die Presse die Empörung der Öffentlichkeit an durch die

Behauptung, er habe Helen beleidigt. Prompt erschien am 20.4.1933 ein Interview im The Daily

Herald mit seiner Gegendarstellung:

„They accused me of having insulted Helen Keller. How absurd,“ and Shaw leaned

forward in his evident distress. “I remember meeting her in London [...]. Conversation

was difficult, as you would suppose, considering that she is both blind and deaf and

everything has to be spelt out by someone else on her fingers. She “sees“ you by feeling

your face. It was rather embarrassing. It would have been in the worst possible taste to

ignore her condition. I remarked, by way of a compliment, that she was wonderful, and

added, jokingly, that she could see and hear better that her countrymen, who could neither

see nor hear.“

[...]“Someone takes a joking remark meant in all kindness and says I insulted Helen

Keller by saying, “Oh, all Americans are deaf and blind and dumb anyway“. I tell you I

have been misquoted everywhere, and the inaccuracies are chasing me round the

world.“54

Von G. B. Shaw ist bekannt, daß er die Presse nach Möglichkeit floh, denn „[t]he press coverage

trailing behind his world pilgrimage had been growing chaotic. [...] The country [America] was a

53

Ibd. 54

Ervine 1956, 531/2.

Page 33: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

vast Hot Air Volcano spouting superlatives -- or so it looked to Shaw [...].“55

Helen Keller

schien seinen Ausspruch übrigens nicht allzu persönlich genommen haben, denn sie hatte im

Gespräch bereits ein „Bild“ von ihm gewonnen: „Mrs. Macy’s hand gave me the inflection of his

voice, which implied that Americans could never rise to the level of his contempt.“56

Als Lady

Astor vermittelnd eingreifen wollte und ihr versicherte, Shaw sei einer der freundlichsten Herren

überhaupt, konterte sie: „I am glad to believe as you do that Mr. Shaw ‘is one of the kindest men

that ever lived.’ I know he is one of the greatest, but in all fairness I think you will grant that he

was not particularly gracious to me that afternoon.“57

Vom Tode Helen Kellers im Jahr 1968 nahm die amerikanische Presse übrigens kaum

Notiz: „Die Nachricht wurde mit geringer Sorgfalt redigiert, was man daraus ersehen kann, daß

die Presseagenturen drei verschiedene Todestage angaben: den 31. Mai, den 1. und den 3. Juni.

Die Korrektur erfolgte stillschweigend auf den 1. Juni.“58

Das offenkundige Desinteresse hängt

mit den Zeitumständen zusammen; die Zeitungen hatten Wichtigeres zu berichten. Am fünften

Juni erfolgte der Todesschuß auf Senator Robert Kennedy durch den Jordanier Sirhan B. Sirhan.

Hauptthema waren außerdem der Vietnamkrieg und der immer größer werdende

Massenwiderstand, der zur Brutalisierung des öffentlichen Lebens beitrug. Präsident Lyndon B.

Johnson wurde in Massenpetitionen aufgerufen, den privaten Waffenbesitz zu kontrollieren und

den freien Verkauf einzustellen. Solcher Art waren die Berichte, mit denen der USA-Bürger

konfrontiert wurde. Helen Keller stand nicht mehr im Rampenlicht.

Die Nekrologe in den großen Zeitungen und Zeitschriften hielten sich im 30-Zeilen-

Rahmen und berichteten das, was im Gedächtnis der Nation über Helen Keller

haftengeblieben war -- die Kindheit, Anne Sullivan, die Hochschulbildung, danach als

buchstäblich letzte Zeile ihre Mitarbeit in der Amerikanischen Stiftung für die Blinden.

Trotz lebenslanger Bemühungen und intensiven Einsatzes auf mehreren Gebieten war sie

ein amerikanisches Wunderkind und die erste graduierte Taubblinde der Welt

geblieben.59

55

Holroyd 1991, 308. 56

Lash 1980, 597. 57

a.a.O. 598. 58

Jaedicke 1979, 218. 59

a.a.O. 218.

Page 34: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

3 Emotiv überhöhtes Vokabular in Zeitungsartikeln

Im folgenden soll untersucht werden, wie die Presse durch ihren emotionsgefärbten Sprachstil

die Tatsachen, die Helen Kellers Erziehung und Ausbildung betreffen, verfälscht hat. Dabei

handelt es sich um indirekte Zitate, d.h. um bereits von Helen Kellers Lehrerin oder ihren

Freunden kommentierte Zeitungsausschnitte, da die Originale heute nur sehr schwer aufzutreiben

sind. Auf diese Weise lassen sich allerdings auch sehr gut die Reaktionen der Betroffenen sowie

deren Gegendarstellungen demonstrieren. Vor allem die rhetorisch meisterhaften Gegenangriffe

Anne Sullivans sind hier von Bedeutung.

Die Probleme mit der Sensationsgier der Presse setzten bereits wenige Wochen nach

dem Beginn des Unterrichts durch Anne Sullivan ein; dabei ist zu beobachten, daß sich das

„Wunder“ für die Journalisten offensichtlich nicht schnell genug vollzog und sie durch

aufgebauschte Berichte ihr Publikum in Atem zu halten versuchten. Helen Kellers Lehrerin

bemühte sich mit aller Kraft, eine solche Publicity zu vermeiden, ihre Berichte und Briefe über

Helen geheimzuhalten60

und sich in ihren öffentlichen Stellungnahmen so sachlich wie möglich

auszudrücken. Trotzdem schafften verschiedene Zeitungen und Zeitschriften es immer wieder,

ihre Worte zu verdrehen und die Leserschaft mit Wundermeldungen zu überschütten. Dazu

beigetragen hat vor allem Michael Anagnos, der Direktor der Perkins Institution for the Blind,

der sich so blumig und wortreich ausdrückte, daß sich die Presse begeistert auf seine Aussprüche

stürzte. Seine Rhetorik verdient eine genauere Untersuchung. Schlichtheit war nicht seine Sache.

In einem Brief an Anne Sullivan schreibt er:

Dear Annie, I am aware of the many difficulties of your position and of the thorns which

are scattered on your pathway [...]. [...] Look steady at the polar star of your work, and I

have not the slightest doubt but that you will weather all storms and reach the port of

success. [...] Then the crown will be yours as the prize of victory.61

Trotz ihres beschwerlichen Weges, auf den „Dornen gesät sind“, soll Anne den „Polarstern“

ihres Unterfangens ständig vor Augen behalten. Die Sterne galten nicht nur bei den Seefahrern

60

So findet man in einem ihrer Briefe an Mrs. Hopkins die Bemerkung: „She is no ordinary child, and

people’s interest in her education will be no ordinary interest. Therefore let us be exceedingly careful what

we say and write about her. I shall write freely to you and tell you everything, on one condition. It is this:

you must promise never to show my letters to anyone. My beautiful Helen shall not be transformed into a

prodigy if I can help it.“ (Braddy 1934, 140.)

61

Braddy 1934, 133.

Page 35: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

und in der Bibel als Wegweiser, und Anagnos will mit diesem Symbol ausdrücken, daß die junge

Lehrerin, wenn sie ihrer Berufung treu bliebe, den „Hafen des Erfolges“ erreichen würde. Der

Hafen ist ein Symbol des Ziels, der Sicherheit und der Geborgenheit. Die Substantivierung

„weather all storms“ schildert lebhaft Dr. Anagnos’ Vertrauen in die Durchsetzungskraft Anne

Sullivans, die allen Stürmen trotzen wird. Am Ende wird ihr die Siegeskrone aufgesetzt. Dieses

Herrschaftssymbol steht für Erfolg. Es wird erkenntlich, daß der Direktor der Blindenanstalt sich

nicht nur in veröffentlichten Berichten, sondern auch in privaten Briefen so geschwollen

ausdrückte.

In seinem Jahresbericht, der im September 1889 erschien, informierte Dr. Anagnos die

Öffentlichkeit nicht nur über Helens Fortschritte, sondern auch über die Hintergründe ihrer

Lehrerin. Er war zu taktvoll, um ihre Kindheit im Armenhaus von Tewksbury zu verraten;

deshalb verschleierte er ihre Vergangenheit in einem mitleidheischenden Erguß von Metaphern.

„The circumstances of her early life were very inauspicious,“ he wrote. „She was neither

rocked in a cradle lined with satin and supplied with down cushions, nor brought up on

the lap of luxury. [...]“ But, he declared, the furnace of hardships through which she had

passed had freed the pure gold of her nature from all dross. He spoke of her „iron will

hammered out upon the anvil of misfortune,“ of the depth, steadfastness, and beauty of

her character, and of her industry, perseverance, and resolution. „And now she stands by

his [Dr. Howe’s] side as his worthy successor in one of the most cherished branches of

his work ... in breadth of intellect, in opulence of mental power, in fertility of resource, in

originality of device and practical sagacity she stands in the front rank.“62

Um ihre Armut zu verdeutlichen, verwendet Dr. Anagnos ein Bild, wie reiche Kinder

aufgezogen werden („rocked in a cradle lined with satin and supplied with down cushions“).

Anne Sullivan hat weder mütterliche Zärtlichkeit („rocked“) noch ein feines Leben gekannt, was

die Alliteration „lap of luxury“ unterstreicht. „Lap of luxury“ ist gleichzeitig eine Metapher, die

an den Schoß der Mutter erinnert und Gefühle von Umsorgtsein und Geborgenheit vermittelt.

Die folgende interessante Metapher ist aus dem technischen Bereich genommen und verwendet

Vokabular über Hochöfen und Schmelze. „The furnace63

of hardships through which she had

passed had freed the pure gold of her nature from all dross64

“ soll bedeuten, daß Anne Sullivans

62

Braddy 1934, 141/2. 63

„furnace“: an enclosed structure in which heat is produced (as for [...] reducing ore). (Merriam-Webster’s

Collegiate Dictionary. Tenth Edition. Springfield, Massachusetts, U.S.A.: Merriam-Webster, Incorporated,

1996. 474.)

64

„dross“: the scum that forms on the surface of molten metal. (a.a.O. 355.)

Page 36: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

hartes Leben wie ein Schmelzvorgang war, durch den das reine Gold ihres Charakters von der

Schlacke gereinigt wurde. In der Tat ist aus Nella Braddys Biographie ersichtlich, daß die junge

Irin, als sie vom Armenhaus zur Perkins Institution kam, äußerst unbeherrscht sowie

gefühlsmäßig, intellektuell und materiell vernachlässigt war. Sie ist jedoch durch ihre

unglückliche Vergangenheit „geläutert“ worden, und ihr goldenes Herz kam durch ihre Arbeit

mit Helen Keller zum Vorschein.

Die Metapher „her iron will was hammered out upon the anvil65

of misfortune“

veranschaulicht, daß auf dem Amboß des Unglücks ihr eiserner Wille herausgehämmert worden

ist, d.h. daß Anne Sullivan nach vielen Leiden einen festen Charakter und klare

Zielvorstellungen entwickelt hat. Das Verb „to hammer out“ impliziert, daß Gewalt und Kraft

angewandt worden sind und die Zeitgenossen nicht gerade sanft und rücksichtsvoll mit Anne

umgegangen sind. Die Symbole der Metalle „Gold“ und „Eisen“ stehen für die Adjektive „edel“

und „fest“.

Nach einer hochtrabenden Aufzählung von Anne Sullivans Charaktereigenschaften folgt

eine weitere in Form eines Parallelismus’: „in breadth of intellect, in opulence of mental power,

in fertility of resource, in originality of device and practical sagacity“. Sie beschreibt Anne

Sullivans geistige Eigenschaften, wobei mindestens einige der überschwenglichen Begriffe

redundant, da synonym sind. Auch diese Aufzählung ist, wie die meisten Äußerungen Dr.

Anagnos’, eine Hyperbel. Nachdem im ersten Teil des Zitats die Sentimentalität und das

Mitgefühl der Leser angesprochen wurden, wird im Schlußsatz Anne Sullivans Position

gewertet: als „worthy successor“ Dr. Howes nimmt Anne den Platz an seiner Seite ein. Die

Klimax „one of the most cherished branches of his work“ ist eine Übertreibung, da zu jener Zeit

noch relativ wenig für die Erziehung Taubblinder getan wurde und Dr. Howes Erziehungssystem

noch in den Kinderschuhen steckte.

Dr. Anagnos schien keine allzu klare Vorstellung von der Art und Weise gehabt zu

haben, wie Helen die Sprache erlernte. Anstatt auf die mühsame Arbeit der Lehrerin

hinzuweisen, tut er so, als hätte Helen aus eigener Kraft dieses Wunder vollbracht:

So far as he was concerned, she had instinctively snatched the key to the treasury of the

English language from the fingers of her teacher and unlocked its doors practically by

herself. „As soon as a slight crevice was opened in the outer wall of their twofold

imprisonment, her mental faculties emerged full-armed from their living tomb as Pallas

65

„anvil“: a heavy usu. steel-faced iron block on which metal is shaped (as by hand hammering). (a.a.O. 53.)

Page 37: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Athene sprang from the head of Zeus.“ [...] „It is no hyperbole,“ he declared, „to say that

she is an intellectual phenomenon.“66

Sein ganzer Stolz drückt sich in der Metapher aus, daß Helen ihrer Lehrerin aus eigenem Instinkt

den Schlüssel zur „Schatzgrube der englischen Sprache“ entrissen und sich praktisch aus eigener

Kraft Eintritt verschafft habe. Durch das Verb „snatched from“ spricht Anagnos Helen mehr

Eigenantrieb zu, als ihr in Wirklichkeit zusteht, denn wie bereits gesehen mußte sie oft

gezwungen werden, die Zeichen des Fingeralphabets zu machen, und nicht selten schlug sie nach

ihrer Lehrerin.

Im folgenden verwendet Anagnos eine Metapher aus dem Bereich Gefängnis und Flucht:

sobald sich ein kleiner Spalt in der doppelten Kerkermauer aufgetan habe, sei ihr Geist

vollausgebildet aus seinem lebendigen Grabe entwichen. Eigentlich hätte es „threefold“ heißen

müssen, denn Helen Keller war zu der Zeit noch „deaf, blind, and dumb“. Die Hyperbel „full-

armed“ widerspricht Helen Kellers eigener Darstellung, sie sei ein „Phantom“ gewesen und habe

außer einigen Tasteindrücken nichts von der Außenwelt gewußt.

Schließlich führt Anagnos einen Vergleich aus der griechischen Mythologie an (derer er

sich häufiger bedient; er ist ja selbst Grieche und stolz auf seine ruhmreiche Geschichte): „as

Pallas Athene sprang from the head of Zeus“. Die Übertragung der Geburt der griechischen

Göttin der Weisheit auf Helen Kellers geistiges Erwachen muß für die Zeitungsleute sensationell

gewirkt haben. Durch Anagnos’ ausschweifende Metaphorik ist in den Zeitungen viel

Verwirrung angestiftet worden, da die Fakten über Helen Keller erst die Verschönerung von

Seiten des Direktors und dann noch die Aufmöbelung durch die Journalisten durchmachen

mußten, bis sie gar nicht mehr zu erkennen waren, wenn sie an die Öffentlichkeit gelangten.

Wenn Anagnos sagt, „it is no hyperbole to say that she is an intellectual phenomenon“, so ist

dies ein Paradoxon, denn seine Worte sind genau das -- eine Übertreibung.

Auch im folgenden Zitat wird deutlich, daß er Helens Errungenschaft als ihre eigene

Leistung betrachtet:

[...] Helen’s mind seems almost to have created itself, springing up under every

disadvantage, and working its solitary but resistless way through a thousand obstacles.“

She is a marvel, an intellectual prodigy, in every sense a remarkable person, „the finest

illustration of concentrated, unselfish, whole-souled devotion that childhood has ever

66

Braddy 1934, 142.

Page 38: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

offered to the vision of men or that of the gods,“ her life is „as perfect as a poem, as pure

and sweet as a strain of music.“67

„Helen’s mind“ wird hierbei personifiziert und bekommt extraordinäre Handlungen

zugeschrieben („created itself, springing up under every disadvantage, working its solitary

way“). Man kann dagegenhalten, daß Helens Weg nie „solitary“ gewesen ist, denn ihre Lehrerin

war von 1887 bis zu ihrem Tod 1936, d.h. ca. fünfzig Jahre lang praktisch ununterbrochen bei

ihr. Die von der Presse vielfach aufgegriffenen enthusiastischen Bezeichnungen für Helen,

„marvel“, „intellectual prodigy“ usw. haben viel zur Skepsis mancher Zeitgenossen beigetragen.

Der Superlativ „finest illustration“ soll Helens Ausnahmestellung kennzeichnen. Emotiv

überladen ist auch Helens „whole-souled“68

devotion, die wohl am ehesten mit natürlicher

kindlicher Anghänglichkeit wiedergegeben werden kann. Eine Klimax („ever offered to the

vision of men or that of the gods“) soll darstellen, daß selbst die Götter sprachlos sind vor

Staunen. Schließlich verwendet Anagnos Vergleiche aus den Bereichen Dichtung und Musik: ihr

Leben sei „as perfect as a poem“ und „as pure and sweet as a strain of music“. Hier ging ihm

endgültig der Realitätssinn verloren.

In einer weiteren Hyperbel über Helen Kellers Intelligenz und Wortgewandtheit

vergleicht Anagnos sein kleines Wunderkind mit den berühmten englischen Dichtern

Wordsworth und Keats; er steigert sich noch, indem er Helen ein „Emersonisches Wesen“

zuschreibt und sie mit Aristoteles vergleicht. Ja, er nennt sie sogar die wahre Tochter einer

Göttin, die die Mutter der Musen ist.

“She is the queen of precocious and brilliant children, Emersonian in temper, most

exquisitely organized, with intellectual sight of unsurpassed sharpness and infinite reach,

a true daughter of Mnemosyne69

.“ She is like Wordsworth, like Keats, like Galen70

, like

Aristotle -- „Reason is her sun.“71

67

Braddy 1934, 160. 68

„whole-souled“: (1834): moved by ardent enthusiasm or single-minded devotion (Merriam-Webster’s

Collegiate Dictionary. Tenth edition. Springfield, Massachusetts, U.S.A.: Merriam-Webster, Incorporated,

1996. 1351)

69

„Mnemosyne“: the Greek goddess of memory and mother of the Muses by Zeus. (Merriam-Bebster’s

Collegiate Dictionary. Tenth edition. Springfield, Massachusetts, U.S.A.: Merriam-Webster, Incorporated,

1996. 746.)

70

Galen: Greek physician and writer. 71

Braddy 1934, 160.

Page 39: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

In seiner emotionsgeladenen Charakterisierung stellt Dr. Anagnos Helen als die „Königin“ der

frühreifen Kinder dar. Durch die höchste Steigerungsform des Verbs („most exquisitely“) bzw.

durch die Präfixe der Adjektive „unsurpassed“ und „infinite“ wird ebenfalls sein unangebrachter

Enthusiasmus deutlich. Als Helen mühsam die Lautsprache lernte, schwärmte der Direktor der

Perkins Institution:

As for her speech, „verily her articulation is well-nigh perfect. She unloosed her tongue ...

and angels “forgot their hymns to hear her speak.“ [...] As for her writings, they “sparkle

with perfect crystallizations of fancy’s blossoms, which are sometimes huddled in

clusters upon the blazing page.“72

Die Beurteilung von Helens Sprache als „perfekt“ ist eine glatte Lüge; sie selbst und Anne

Sullivan waren Zeit ihres Lebens nicht zufrieden mit dem Erreichten.73

Auch das „well-nigh“

schwächt seine Einschätzung kaum ab. Dr. Anagnos konnte sich einer weiteren Metapher aus der

Götterwelt, diesmal aus dem christlichen Glauben, nicht enthalten: Engel vergäßen ihre Hymnen,

um Helen Keller sprechen zu hören. Eine Hyperbel ist auch die folgende Metapher: „Her

writings sparkle with perfect crystallizations of fancy’s blossoms, which are sometimes huddled

in clusters upon the blazing page“, die schon fast unübersetzbar ist: Ihr Geschriebenes sprüht vor

vollkommener Herauskristallisierung der Blüten des Verstandes, die manchmal dichtgedrängt

wie Trauben die lodernden Seiten füllen. „Huddled in clusters“ ist eine quantitative

Übertreibung, denn so vieler geistreicher Bemerkungen oder Stilfiguren auf einer Seite war die

damals Elfjährige noch gar nicht fähig. Die Wortwahl „blazing“ und „sparkle“ ist ebenfalls

emotional gefärbt; das Symbol des Feuers soll ausdrücken, daß Helen vor Verstand förmlich

sprühte.

Als Helen und ihre Lehrerin einen Empfang im Blindenkindergarten gaben, auf dem sie

ihren Gästen den kleinen Tommy Stringer, ein taubblindes Kind, für dessen Erziehung Helen

72

Braddy 1934, 160. 73

So berichtet Nella Braddy: „It was her [Anne Sullivan’s] aim and Helen’s to have Helen talk like a normal

person, and this is the only one of their many heroic undertakings in which they have confessed defeat. It is

no secret that Helen’s voice is the great disappointment of her life. She and her teacher have laboured with

it incessantly for more than forty years, but they have never made it normal. To those who are accustomed

to it, it is easy to understand and not unpleasant to hear, rather like listening to someone with a queer

foreign accent. But strangers, as a rule, do not find it easy to follow.“ (Braddy 1934, 151)

Die Übertreibung wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß Dr. Anagnos bereits über den

Perfektionismus der Sprache des Kindes redet, während Braddy die immer noch vorherrschende

Unzulänglichkeit der Sprache der reifen Frau Helen Keller betont.

Page 40: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Sponsoren gefunden hatte, vorstellten, konnte man kurz darauf einen enthusiastischen Bericht

lesen.

Helen spoke in Tommy’s behalf -- „with unsurpassed fluency and fervour,“ wrote Mr.

Anagnos, „and her listeners were entranced and moved to tears ... It is hardly possible to

describe adequately the tremendous effect of Helen’s appeal. It was as though some

wizard of the olden time had cast his spell over the assembly.“74

Daß das Publikum zu Tränen gerührt war, geschah häufig bei Ansprachen Helen Kellers, aber

eher aus Mitleid und Schockierung über ihr mühevolles Artikulieren als vor Staunen über ihr

„fließendes“ Sprechen. Der Vergleich „als ob ein Zauberer aus alten Zeiten die Versammelten

verhext hätte“ soll die Entrücktheit und Faszination der Zuhörer darstellen.

Es ist nicht verwunderlich, daß die Presse Dr. Anagnos’ Aussprüche begeistert aufnahm.

Die daraus entstehende ununterbrochene Verbreitung von Halbwahrheiten und Unwahrheiten

über ihre Schülerin veranlaßte Anne Sullivan, über Helen Keller keinen wissenschaftlichen,

tagebuchgenauen Bericht anzufertigen, wie er über Laura Bridgman existierte; eine bedauerliche

Reaktion für Sprachforscher und Psychologen. Dies kann unterlegt werden mit einer Bestätigung

John Macys: „... she was early discouraged from publishing data by the inaccurate use made of

what she at first supplied.“75

Als Anne Sullivan ihren ersten Bericht über ihre Arbeit mit Helen

Keller an Anagnos gesendet hatte, veröffentlichte der Boston Herald eine haushoch übertriebene

Schilderung des Falles. Am zehnten April 1887, nur fünf Wochen nachdem sie angefangen hatte,

Helen Keller zu unterrichten, beklagte sich Anne Sullivan in einem persönlichen Brief:

--- sent me a Boston Herald containing a stupid article about Helen. How perfectly

absurd to say that Helen is „already talking fluently!“ Why, one might just as well

say that a two-year-old child converses fluently when he says „apple give,“ or „baby

walk go.“ I suppose if you included his screaming, crowing, whimpering, grunting,

squalling, with occasional kicks, in his conversation, it might be regarded as fluent --

even eloquent. Then it is amusing to read of the elaborate preparation I underwent to

fit me for the great task my friends entrusted to me. I am sorry that preparation didn’t

include spelling, it would have saved me such a lot of trouble.“ (ibid. 299)

Anhand dieser Stellungnahme kann man sehr schön Anne Sullivans stilistische Gewandtheit

erkennen, vor allem ihren Sarkasmus, der besonders in der Steigerung von „fluent“ zu

„eloquent“ hervorsticht. Ironisch ist auch ihre Aufzählung „screaming, crowing, whimpering,...

74

Braddy 1934, 164. 75

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 299.

Page 41: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

with occasional kicks“; in der Tat hatte es vieler Anläufe bedurft, die wilde ungezügelte Helen,

die bei Wutausbrüchen um sich schlug, zu bändigen. Die maßlose Übertreibung der Presse

„already talking fluently“ wird durch einen geschickten Vergleich mit einem zweijährigen Kind

widerlegt, dessen Sprachfertigkeit sich auf Satzbrocken wie „apple give“ beschränkt und dessen

Situation sich kaum von der Helen Kellers beim Erlernen der Sprache unterscheidet.

Desweiteren korrigiert Anne Sullivan voller Hohn die Behauptung, sie wäre in besonderer Weise

für ihre Aufgabe ausgebildet und geeignet gewesen. In der Realität beschränkte sich ihre

Vorbereitungszeit von August 1886, als Helens Vater die Perkins Institution um eine Lehrkraft

ersuchte, bis Februar 1887. In dieser Zeitspanne studierte sie die Berichte von Dr. Howe über

Laura Bridgman, mit welcher sie während ihrer sechsjährigen Ausbildung in einem Haus

gewohnt hatte. Dies waren die einzigen Vorteile, die ihr bei ihrer großen Aufgabe zuteil wurden.

In einem Brief vom Januar 1888 an ihre Freundin Mrs. Hopkins gesteht sie ihre wahren Motive

äußerst kalt und pragmatisch:

I appreciate the kind things Mr. Anagnos has said about Helen and me; but his

extravagant way of saying them rubs me the wrong way. The simple facts would be so

much more convincing! [...] How ridiculous it is to say I had drunk so copiously of the

noble spirit of Dr. Howe that I was fired with the desire to rescue from darkness and

obscurity the little Alabamian! I came here simply because circumstances made it

necessary for me to earn my living, and I seized upon the first opportunity that offered

itself, although I did not suspect, nor did he, that I had any special fitness for the work.

(ibid. 344)

Diese Richtigstellung weist explizit auf den rhetorischen Überschwang der Rede des

griechischen Direktors hin. Der Ausdruck „drunk so copiously of the noble spirit“ entspricht

ungefähr der Metapher „die Milch der frommen Denkungsart trinken“ und sollte ausdrücken, wie

sehr Anne Sullivan von Dr. Howe inspiriert gewesen ist. Dr. Anagnos stellt es so dar, als hätte

Anne Sullivan die Lehren ihres Vorgängers buchstäblich in sich aufgesogen, was jedoch gar

nicht der Fall war, da sie ihr eigenes Erziehungssystem entwickelte. In der Metapher „fired with

the desire“ drückt das Element Feuer ihren Elan aus, an die große Aufgabe heranzugehen. In

Wirklichkeit war die junge Lehrerin unsicher, oft verzweifelt und kurz vor dem Aufgeben. Die

Metapher, Helen aus „darkness and obscurity“ zu retten, kommt auch häufig in Helens eigenen

Werken vor; sie selbst sieht ihre Entwicklung als einen Übergang vom Dunkel ins Licht. Einen

harten Kontrast zu Dr. Anagnos’ Lobhudeleien bietet Anne Sullivans eigene Darstellung, sie

habe diese Arbeit nur aus Selbsterhaltungstrieb angenommen, ohne eine besondere Berufung zu

Page 42: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

erkennen. Natürlich stellen Äußerungen wie die des Herrn Direktors ein „gefundenes Fressen“

für die Presse dar, weil sie die Leserschaft weitaus mehr beeindrucken als die sparsamen,

sachlichen, gefühlskalten Fakten einer einfachen Lehrerin.

Über den ersten Bericht des Direktors der Perkins Institution über Helen Keller im

Dezember 1887 schreibt Anne Sullivan in einem persönlichen Brief: „[...] He says Helen’s

progress has been ‘a triumphal march from the beginning [...]’ .“76

Sie fühlte sich nicht

geschmeichelt durch die Lobpreisung Mr. Anagnos’, sondern erkennt klar: „I think he is inclined

to exaggerate; [...] his language is too glowing, and simple facts are set forth in such a manner

that they bewilder one.“ (Ibd.) Sie äußert ihr Verständnis dafür, daß Helens rasante Entwicklung

ihm in der Tat wie ein „Triumphmarsch“ vorgekommen sein muß, weist aber ausdrücklich

darauf hin, daß die Zeitgenossen vor lauter Erfolg nicht mehr die mühsamen kleinen Schritte

sehen, die zum Ziel geführt haben.

Am vierten März 1888 moniert Anne Sullivan erneut mit beißendem Sarkasmus die

emotional gefärbten und merklich von den Tatsachen abweichenden Wunderberichte aus der

Presse:

Indeed, I am heartily glad that I don’t know all that is being said and written about Helen

and myself. I assure you I know quite enough. Nearly every mail brings some absurd

statement, printed or written. The truth is not wonderful enough to suit the newspapers;

so they enlarge upon it and invent ridiculous embellishments. One paper has Helen

demonstrating problems in geometry by means of her playing blocks. I expect to hear

next that she has written a treatise on the origin and future of the planets!“77

In seiner zweiten Ausgabe vom Helen Keller Souvenir setzte sich das Volta Bureau zum Ziel,

entgegen der Wundermeldungen aus den Zeitungen Fakten über Helens Schulbildung zu

veröffentlichen: „The scepticism [...] is no doubt in large measure due to the many exaggerated

and erroneous statements which from time to time have appeared in the public press“78

, heißt es

da in der Einleitung. Anne Sullivan trug mit einigen Briefen zum neuen Heft bei, blieb aber

trotzdem skeptisch, ob es ratsam sei, die Öffentlichkeit einzuweihen:

I said then, and I repeat now, I do not believe our affairs concern the public [...]. Helen

and I have suffered more than you or anyone else in the world can ever understand,

through the publicity that has been given her education. ... I cannot think the new

76

a.a.O. 299/300. 77

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 299. 78

Braddy 1934, 191/2.

Page 43: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Souvenir will unravel the tangled web of truth and falsehood that overzealous friends and

enemies have drawn about us.79

Die Metapher des „tangled web of truth and falsehood drawn about us“ veranschaulicht die

Verflechtung von Wahrheit und Übertreibung. Es sind im wahrsten Sinne des Wortes so viele

Lügennetze um Helen Keller gesponnen worden, daß es unmöglich war, diese zu entwirren.

Auch die europäische Presse veröffentlichte zahlreiche Märchen über das Wunderkind. In

Midstream nimmt Helen Keller amüsiert einen französischen Artikel auseinander, der durch sein

emotiv überhöhtes Vokabular ihren bescheidenen Wohnort Wrentham in eine Luxusresidenz

verwandelt:

Boston, la ville la plus intellectuelle [sic!] l’Athens des Etats Unis, a, au lendemain de ses

examens offert cette maison en hommage à la jeune fille qui a remporte [sic!] une victoire

sans pareille de l’esprit sur la matière, de l’âme immortelle sur les sens. (Midstream 27)

Durch den Superlativ „la plus intellectuelle“ sowie den Vergleich mit der griechischen

Metropole Athen wird Boston eine einzigartige Stellung in Amerika zugeschrieben. Angeblich

sei das Anwesen Helen Keller überschrieben worden von der Stadt Boston -- „who wished to

honour me as the ancients did when they bestowed upon a victorious general an estate where he

could live and enjoy his laurels“. (Midstream 27) Durch diesen Vergleich mit dem Alterssitz

eines sich verdient gemacht habenden Generals zeigt Helen Keller humorvoll, was sie der Stadt

wert gewesen sei. Helen Keller geht auch leicht ironisierend auf die Beschreibung der Residenz

ein: „Others [...] have added an extensive park and a wonderful garden. No such pomp and

circumstance marked my triumphal entrance into the village of Wrentham.“ (Midstream 27) Das

„village Wrentham“ steht dem „Athen der USA“ antithetisch gegenüber. In ihren Worten habe es

sich um ein „small, old farmhouse, long and narrow, decidedly Puritanical“ (Midstream 27)

gehandelt, das sie und Anne Sullivan gekauft hatten, und der Park sei eher „a neglected field of

seven acres“ (Midstream 27) gewesen. Eine andere euphorische Beschreibung liefert der Artikel

von ihrem Arbeitszimmer:

Helen Keller passe la plupart de ses journées dans son elegant [sic!] cabine de travail,

orné [sic!] de bronzes et d’objets d’art offerts pars [sic!] ses adorateurs, et dont les murs

disparaissent du haut en bas sous des centaines et des centaines de gros volumes au pages

blanches couvertes de points en relief -- ses chers livres en Braille. (Midstream 28)

79

Braddy 1934, 192.

Page 44: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Das Adjektiv „élégant“, das einen Hauch von Luxus vermitteln soll, ist nicht nur eine Hyperbel,

sondern auch eine Unwahrheit: „As a matter of fact, the study was very simple.“ (Midstream 28)

Auch die geschmackvolle Ausstattung mit Kunstwerken ist eine Übertreibung: „The only ‘works

of art’ were a plaster Venus di Milo [...], a bas-relief medallion of Homer [...], and some curios“.

(Midstream 28) Schon der Begriff „objet d’art“ ist für eine Gipsfigur zu hochgestochen. Der

Begriff „Anbeter“ ist ebenfalls eine Hyperbel, denn ihre „adorateurs“ waren u.a. ihr sogenannter

„foster-father“ John Hitz (der ihr die Venus gab), ein Professor von der University of Wisconsin

(von dem das Medaillon stammte), und Freunde, die ihr Kleinigkeiten von Reisen mitgebracht

hatten. Ein Mißverständnis wird deutlich durch die Hyperbel „... disparaissent du haut en bas

sous des centaines et des centaines ...“: Braillebücher nehmen nämlich weitaus mehr Platz ein als

normale, und Helen Keller hat nur eine kleine Anzahl von ihnen besessen (sie waren zu ihrer

Zeit auch noch schwer zu bekommen). So schreibt sie: „Only one wall ‘disappeared’ behind

large volumes of braille, and that did not mean hundreds of books. In most cases there were

three, four, or five big volumes to a book.“ (Midstream 28)

Derselbe französische Artikel läßt sich in Jubeltönen über die Abschlußfeier ihres

Jahrganges aus, bei der Helen Keller ihren Bachelor of Arts verliehen bekam:

Une foule immense emplissait ce jour-là le théâtre où avait lieu la fête du Collège.

Plusieurs autres étudiants allaient aussi recevoir des diplômes, mais toutes les attentions,

tous les regards, tous les coeurs étaient fixés sur la gracieuse jeune fille [...]. Miss

Sullivan, assise à coté d’elle, partageait naturellement l’heure de son triomphe [...]. [...]

Au milieu de tonnerres d’applaudissements frénétiques qu’elle ne pouvait entendre, mais

dont elle sentait résonner les échos, la jeune fille reut le précieux diplôme [...].

(Midstream 24/5)

Die „foule immense“ ist eine Hyperbel und wird widerlegt durch Helen Kellers enttäuschte

Feststellung: „There were no huge crowds filling the hall [...]. Only a few friends came [...]. My

mother was prevented by illness [...].“ (Midstream 25) Der Parallelismus „toutes les attentions,

tous les regards, tous les coeurs“ soll verdeutlichen, daß Helen Keller der Mittelpunkt des

Geschehens gewesen ist -- was aber gar nicht der Fall war. Auch die Bemerkung, daß Anne

Sullivan ihren Triumph teilte, entspricht nicht der Wahrheit: „Dean Briggs delivered the usual

commencement address, but he did not mention Miss Sullivan. In fact, none of the faculty spoke

either to her or to me.“ (Midstream 25) Helen Keller berichtet, daß mehrere Anwesende entrüstet

waren, und daß eine Studentin sogar verlauten ließ, Miss Sullivan hätte auch eine Auszeichnung

verdient. Die Metapher „tonnerres d’applaudissements“, noch unterstrichen durch das wertende

Page 45: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Adjektiv „frénétique“, zusammen ein Hendiadioyn, soll die Begeisterung des Publikums

vermitteln. Laut Helen Keller sei von tosendem Applaus allerdings nichts zu spüren gewesen:

„When I received my diploma, I felt no ‘thunder of wild applause.’ “ (Midstream 25) Alles in

allem war an der ganzen Veranstaltung für Helen Keller nichts Weltbewegendes, und sie zog

sich so bald wie möglich zurück: „We had come in to our seats quietly that afternoon, and we

went out as soon as we could, caught a street car and hastened away to the fragrant peace of the

lovely New England village [...].“ (Midstream 26)

3.1 Wunderkind oder Betrug?

Die maßlosen Übertreibungen von seiten der Presse hatten zwei Folgen: entweder sahen sowohl

Experten als auch die breite Masse die Lehrerin als Betrügerin an, oder sie bezeichneten die

Schülerin als „Wunderkind“. Vor allem in Europa betrachteten viele Leute Helen Keller als

amerikanische Übertreibung; neben skeptischen wissenschaftlichen Berichten erfolgten

zahlreiche Gegendarstellungen. In Deutschland hat es u.a. Dr. jur. Julius Gensel übernommen, in

Die Wahrheit über Helen Keller anhand des „von ihm gesammelten authentischen

Beweismaterials“ aufzuzeigen, daß Helen Keller „nicht nur ‘wirklich existiert’, sondern auch,

trotz ihrer Gebrechen, über die großen geistigen Eigenschaften verfügt, denen wir ihre herrlichen

Bücher zu verdanken haben“.80

Im Juli 1894 schrieb Anne Sullivan einen Bericht für die American Association to

Promote the Teaching of Speech to the Deaf, in dem sie davor warnt, emotiv übersteigerten

Wundermeldungen Glauben zu schenken:

You must not imagine that as soon as Helen grasped the idea that everything had a name

she at once became mistress of the treasury of the English language, or that „her mental

faculties emerged, full armed, from their then living tomb, as Pallas Athene from the head

of Zeus,“ as one of her enthusiastic admirers would have us believe.81

Helen Kellers „mental faculties“ waren alles andere als „full armed“, worauf ihre Lehrerin stets

unermüdlich hinwies. Helen bediente sich in ihren Anfängen ebenso einer „Babysprache“ wie

jedes gesunde Kind. Die Metapher aus der griechischen Götterwelt und das Bild der

80

Vgl. Keller, Helen. Dunkelheit. Stuttgart: Verlag von Robert Lutz, 1910. Anhang. Ohne Seitenangabe. 81

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 374/5.

Page 46: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Wiederauferstehung mögen zwar sehr poetisch klingen und den Lesern imponieren, beschönigen

jedoch die Realität.

Es ist erstaunlich, daß selbst eine in der Öffentlichkeit zu beobachtende Verhaltensweise

wie die Kommunikation mittels Fingeralphabet für Taubstumme durch die Presse als

„geheimnisvolle telegraphische Verständigung“ interpretiert werden konnte:

Miss Keller’s reading of the manual alphabet by her sense of touch seems to cause some

perplexity. Even people who know her fairly well have written in the magazines about

Miss Sullivan’s „mysterious telegraphic communications“ with her pupil.82

Noch haarsträubender sind okkulte Erklärungsversuche des unverstandenen Phänomens Helen

Keller, gegen die sich John Macy im Anhang der Story of my Life heftig zur Wehr setzt:

The question of a special „sixth sense,“ such as people have ascribed to Miss Keller, is a

delicate one. This much is certain, she cannot have any sense that other people may not

have [...]. Miss Keller is distinctly not a singular proof of occult and mysterious theories,

and any attempt to explain her in that way fails to reckon with her normality. She is no

more mysterious and complex than any other person. [...] She does not [...] prove the

existence of spirit without matter, or of innate ideas, or of immortality, or anything else

[...]. Philosophers have tried to find out what was her conception of abstract ideas before

she learned language. If she had any conception, there is no way of discovering it [...].

She had no conception of God before she heard the word „God [...].“83

Wissenschaftler haben verschiedene Tests mit Helen Keller ausgeführt. So hat z.B. Dr. William

Stern

„When a psychologist asked her if Miss Keller spelled on her fingers in her sleep, Miss Sullivan

replied that she did not think it worth while to sit up and watch [...].“84

82

a.a.O. Chapter II: „Personality“, 291. 83

The Story of my Life. Part III. Chapter II: „Personality“, 293/4. 84

The Story of my Life. Part III. Chapter II: „Personality“, 288.

Page 47: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

3.2 Der „Frost King“-Skandal

“The winter of 1892 was darkened by the one cloud in my childhood’s bright sky.“ (The Story of

my Life 63) Mit dieser Metapher leitet Helen Keller das vierzehnte Kapitel ihrer ersten

Autobiographie ein. Die dunklen Wolken am ungetrübten Himmel ihrer Kindheit waren durch

eine kleine Geschichte heraufbeschworen worden, die die Elfjährige Dr. Anagnos zu seinem

Geburtstag gewidmet hatte. Voller Stolz ließ dieser sie gleich zusammen mit seinem Bericht

drucken. Nur leider sollte sich herausstellen, daß die Geschichte Birdie and his Fairie Friends

hieß, von Margaret Canby stammte und Helen im Jahr 1888 von Mrs. Laurence Hutton in die

Hand buchstabiert worden war. Daran konnte sich Helen aber nicht mehr erinnern, und als sie

vier Jahre später vom rot- und goldgefärbten Herbstlaub beeindruckt war, schrieb sie spontan

ihre Geschichte „Autumn Leaves“, die sie auf Rat ihrer Familie in „The Frost King“

umbenannte. Rückblickend sagt sie in The Story of my Life: “I thought I was “making up a

story,“ as children say, and I eagerly sat down to write it before the ideas should slip from me.

My thoughts flowed easily [...]. Words and images came tripping to my finger ends [...].“ (63)

3.2.1 Ein photographisches Gedächtnis?

Der „Frost King“ ist keineswegs die erste Geschichte, die Helen Keller in ihrer Kindheit

nacherzählt und anderen Leuten „gewidmet“ hat. Wenn man die Briefe ihrer Werdezeit

durchsucht, findet man Stellen, an denen sie geschichtliche Ereignisse, über die sie im Unterricht

gehört hat, sowie Märchen ziemlich wortgetreu wiedergibt. Diese Briefe an ihre Freunde und

Gönner sind ein wertvoller Beweis dafür, daß das Lernen ihr großen Spaß bereitet hat und sie

freudig wiederholte, was sie gelesen hatte - nicht, um „geistigen Diebstahl“ zu begehen, sondern

um ihren Korrespondenten mitzuteilen, was sie im Innersten bewegte und sie nachdenklich

stimmte, oder auch einfach, um diesen eine Freude zu bereiten. Dies ist eine ganz natürliche

Page 48: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

kindliche Haltung. Dabei sind ihre Erzählung kein Abklatsch von bereits Gehörtem, sondern

durchaus mit eigenen Ausdrücken und Inhalten gefärbte Schilderungen. Helen Keller selbst sagt

dazu in The Story of my Life:

This habit of assimilating what pleased me and giving it out again as my own appears

in much of my early correspondence and my first attempts at writing. In a

composition which I wrote about the old cities of Greece and Italy, I borrowed my

glowing descriptions, with variations, from sources I have forgotten. I knew Mr.

Anagnos’s great love of antiquity [...]. I therefore gathered from all the books I read

every bit of poetry or of history that I thought would give him pleasure. Mr. Anagnos

[...] has said, „These ideas are poetic in their essence.“ But I do not understand how

he ever thought a blind and deaf child of eleven could have invented them. (69)

Helen Keller drückt mittels einer Metapher aus, was für sie eine solche Assimilation bedeutet:

„Those early compositions were mental gymnastics.“ (The Story of my Life 69)

[...] What a wonderful active and retentive mind that gifted child must have! If she

had remembered and written down accurately, a short story, and that soon after

hearing it, it would have been a marvel; but to have heard the story once, three years

ago, and in such a way that neither her parents nor teacher could ever allude to it or

refresh her memory about it, and then to have been able to reproduce it so vividly,

even adding some touches of her own in perfect keeping with the rest, which really

improve the original, is something that very few girls of riper age, and with every

advantage of sight, hearing, and even great talents for composition, could have done

as well, if at all. [...]

(The Story of my Life. Part III, Chapter V: „Literary Style“, 402)

„Under the circumstances, I do not see how any one can be so unkind as to call it a plagiarism; it

is a wonderful feat of memory, and stands alone [...]“ (ibid.).

„She is indeed a „Wonder-Child.“ (ibid. 403)

Mark Twain las erst einige Jahre später in The Story of my Life über diese

Plagiatsgeschichte und zeigt in einem Brief an Helen Keller deutlich seine Verärgerung darüber,

daß man sie so hat leiden lassen. Er breitet eine Theorie aus, nach der alle Gedanken aus zweiter

Hand sind; d.h. alles, was wir schreiben, haben wir vorher schon einmal irgendwo gehört. Er

Page 49: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

gesteht, selber „geistigen Diebstahl“ begangen zu haben, und ergeht sich in einer Flut von

Schimpfwörtern über die Menschen, die die kleine Helen damals so verunsichert haben:

Oh, dear me, how unspeakably funny and owlishly idiotic and grotesque was that

‘plagiarism’ farce! As if there was much of anything in any human utterance, oral or

written, except plagiarism! The kernel, the soul -- let us go further and say the substance,

the bulk, the actual and valuable material of all human utterances -- is plagiarism. For

substantially all ideas are second-hand [...]. [...] To think of those solemn donkeys

breaking a little child’s heart with their ignorant damned rubbish about plagiarism!85

3.2.2 Retusche des Falls:

Eine lückenhafte deutsche86

Übersetzung

Im vierzehnten Kapitel ihrer Lebensgeschichte berichtet Helen Keller, wie sie die Situation

während des Skandals empfunden hat. Interessanterweise ist das Kapitel 14 aus Helen Kellers

The Story of my Life, so wie sie von John Macy veröffentlicht wurde, in der Fassung87

, wie man

sie heute im deutschen Buchhandel erhält, herausgeschnitten worden. Ebenso fehlt der Übergang

zum fünfzehnten Kapitel, in dem Helen Keller von ihren Ängsten beim Erstellen ihrer

Lebenslaufskizze für The Youth’s Companion berichtet, da sie fürchtete, ihre Gedanken könnten

nicht ihre eigenen sein. Der deutsche Text leitet das fünfzehnte Kapitel mit Helen Kellers Arbeit

an dieser Skizze ein, und zwar zu einer Zeit, „[a]ls der Boden sich mit herbstlichen Blättern

bedeckte und die würzig duftenden Trauben, die die Laube am anderen Ende des Gartens

bedeckten, unter dem Einfluß der Sonnenwärme zur Reife kamen [...]“ (71) Hier wird das

riskante Bild einer Naturbeschreibung ähnlich der aus dem „Frost King“ verwendet, ohne den

Leser näher über die Umstände aufzuklären. Dabei ist Helen Kellers Ausgangssatz verkürzt und

um die Allusion auf die bedeutungsträchtigen Adjektive „gold“ und „crimson“ beraubt worden.

Die deutsche Übersetzung berichtet sachlich von der literarischen Beschäftigung der

85

Braddy 1934, 162/3. 86

In der französischen Übersetzung sind Kapitel 14 und 15 vollständig wiedergegeben. (Helen Keller. Sourde,

muette, aveugle. Histoire de ma vie. Traduit de l’anglais par A. Huzard. Paris: Editions Payot, 1991.)

87

Mein Weg aus dem Dunkel. Blind und gehörlos -- das Leben einer mutigen Frau, die ihre Behinderung

besiegte. München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., 1997.

Page 50: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

zwölfjährigen Helen Keller und erwähnt mit keinem Wort die Skrupel des Kindes, die im

amerikanischen Original noch auf anderthalb Seiten des fünfzehnten Kapitels emotiv dargelegt

werden:

When the ground was strewn with the crimson and golden leaves of autumn [...] I

began to write a sketch of my life -- a year after I had written „The Frost King.“

I was still excessively scrupulous about everything I wrote. The thought that what I

wrote might not be absolutely my own tormented me. No one knew of my fears except

my teacher. A strange sensitiveness prevented me from referring to the „Frost King“; and

often when an idea flashed out in the course of conversation I would spell softly to her, „I

am not sure it is mine.“ At other times, in the midst of a paragraph I was writing, I said to

myself, „Suppose it should be found that all this was written by some one long ago!“ An

impish fear clutched my hand, so that I could not write any more [...].

(The Story of my Life 73)

Vor allem die Personifikation der Angst, „impish fear“, die ihre Hand umklammerte und am

Schreiben hinderte, verdeutlicht die Auswirkungen des Skandals auf die Psyche des Kindes --

mit fast neurotischen Folgen. Da dies die umfangsreichste Kürzung der deutschen Übersetzung

von The Story of my Life ist, die statt der 23 nur 22 Kapitel aufweist, kann vermutet werden, daß

die übersetzte Fassung einen verklärteren Eindruck von Helen Keller übermitteln soll. Das

positive Gesamtbild, das der Leser von der „mutigen Frau, die ihre Behinderung besiegte“ erhält,

soll offenbar nicht durch einen Plagiatskandal aus ihrer Kindheit gestört werden -- der übrigens

im Sande verlief. Da das Knaur Taschenbuch von 1997 problemloser erhältlich ist als das

vergilbte Original aus einem Magazin, könnte beim Leser leicht ein idealisierter Eindruck

entstehen.

Alfred Schmitt sagt bereits 1954 dazu in Helen Keller und die Sprache: “Die ganze

Episode ist aus H. K.’s Leben wegretuschiert, als ob sie einen Flecken in ihm bedeutet hätte.“88

Da ab einer bestimmten deutschen Auflage der zweite und dritte Teil der Originalausgabe von

John Macy bis auf ihre Hälfte geschrumpft sind, obwohl sie Helen Kellers Briefe sowie wichtige

Briefe und Berichte ihrer Lehrerin enthalten, kann Alfred Schmitt mit Recht sagen:

Die Kürzung ist mit einer derartigen Verständnislosigkeit durchgeführt, daß man

manchmal fast den Eindruck haben kann, als wollte der Bearbeiter absichtlich dem

Leser gerade solche Züge vorenthalten, die für die wichtigste Frage, nämlich die

nach dem Beginn und dem Fortschreiten dieser einzigartigen Geistesentwicklung,

von besonderer Bedeutung sind. [...] H. K.’s Lebensgeschichte in der Ausgabe von

88

Schmitt, Alfred. Helen Keller und die Sprache. Münstersche Forschungen, herausgegeben von Jost Trier und

Herbert Grundmann. Heft 8. Münster/Köln: Böhlau-Verlag, 1954. Seite 17.

Page 51: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Macy gehört meiner Ansicht nach zu den Werken der Weltliteratur; sie in dieser

Weise zu verstümmeln, war einfach eine Barbarei.89

Dabei ist es wichtig zu erfahren, wie die angehende Schriftstellerin unter ihrem ersten

Gerichtsprozeß, von der Presse aufgebauscht, gelitten hatte. Nach Helen Kellers eigenen Worten

hätte diese Demütigung ein Ende ihrer Karriere bedeuten können. Mittels einer schönen

Metapher („angel of forgetfulness“) versichert die junge Schriftstellerin jedoch, daß sie nicht

nachtragend ist:

I think if this sorrow had come to me when I was older, it would have broken my spirit

beyond repairing. But the angel of forgetfulness has gathered up and carried away much

of the misery and all the bitterness of those sad days. (The Story of my Life 67)

4 Helen Kellers Rhetorik

Eine Untersuchung von Helen Kellers Gesamtwerk würde den hier gegebenen Rahmen sprengen.

Deshalb soll als Gegenstand der stilistischen Analyse The Story of my Life dienen, da die

Studentin den ihr eigenen Stil hier entwickelte. Er unterscheidet sich durch seine rhetorischen

Feinheiten wesentlich von demjenigen in den Abschnitten, die sie bereits als Zwölfjährige im

Youth’s Companion veröffentlicht hatte und die sie für ihre Lebensgeschichte aufpolierte; vor

allem eine Unmenge Metaphern sind zur Auflockerung und Veranschaulichung hinzugekommen.

Dadurch wirkt Helen Kellers Prosa allerdings beizeiten etwas überladen; Kritiker haben ihr einen

„phrasenhaften Stil“ vorgeworfen. Als ihre rhetorischen Spielereien wieder einmal überhand

nehmen, weist sie sich selbst zurecht:

It comes over me that in the last two or three pages of this chapter I have used figures

which will turn the laugh against me. Ah, here they are -- the mixed metaphors mocking

and strutting about before me, pointing to the bull in the china shop assailed by hailstones

and the bugbears with pale looks, an unanalyzed species! Let them mock on. The words

describe so exactly the atmosphere of jostling, tumbling ideas I live in that I will wink at

them for once, and put on a deliberate air to say that my ideas of college have changed.

(The Story of my Life 103)

89

Schmitt 1954, 17/18.

Page 52: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

4.1 Humor

Ein Charakterzug, den man Helen Keller nicht absprechen kann, ist ihr Humor. Er findet sich

sowohl in ihrem literarischen Werk als auch in täglichen Begebenheiten wieder. John Macy

bezeichnet ihn als „that deeper kind of humour which is courage“90

, und liefert einige Beispiele

aus Helen Kellers täglichem Sprachgebrauch:

Some one asked her if she liked to study. „Yes,“ she replied, „but I like to play also,

and I feel sometimes as if I were a music box with all the play shut up inside me.“

When she met Dr. Furness, the Shakespearean scholar, he warned her not to let the

college professors tell her too many assumed facts about the life of Shakespeare; all we

know, he said, is that Shakespeare was baptized, married, and died. „Well,“ she replied,

„he seems to have done all the essential things.“

Once a friend who was learning the manual alphabet kept making „g,“ which is like the

hand of a sign-post, for „h,“ which is made with two fingers extended. Finally Miss

Keller told him to „fire both barrels.“91

Man kann hier sehr schön die Schlagfertigkeit und Sprachgewandtheit der jungen Helen Keller

ausmachen. Besonders der Vergleich „as if I were a music box with all the play shut up inside

me“, der verdeutlicht, daß der Spieldrang nur in ihr ruht und auf Kommando abrufbar ist, sowie

die Metapher aus dem Bereich der Militärsprache, „to fire both barrels“ als Synonym für „streck

beide Finger aus“ zeigen ihre rhetorische Begabung.

Helen Keller zeigte bereits in jungen Jahren ein Flair für solche stilistische Feinheiten, was z.B.

aus ihren Briefen ersichtlich ist. In The Story of my Life finden sich ebenfalls humorvolle Stellen.

4.2 Metaphern

The Story of my Life ist von zahlreichen Metaphern durchwoben. Dieser stilistische Kunstgriff

bringt das Bezeichnete durch ein Bild zum Ausdruck, das eigentlich gar keine reale Beziehung

zum Bezeichneten hat. Es lockert den Text auf und regt die Phantasie an. Durch diese bildhafte

Übertragung wird der Leser in besonderer Weise angesprochen, und der Text erscheint nicht so

90

The Story of my Life. Part III, Chapter II: „Personality“, 287. 91

Ibd.

Page 53: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

trocken. Helen Keller konnte es sich in ihrem Erstlingswerk leisten, solche rhetorischen

Feinheiten einzubauen, da ihr Buch keine wissenschaftlichen Ansprüche hegt wie zum Beispiel

die rein sachlichen Berichte ihrer Lehrerin. Man kann ihre Metaphern der Verwendung nach in

verschiedene Kategorien einordnen:

Helen Keller leitet ihre Lebensgeschichte mit der Metapher des „Geheimnisaufdeckens“

ein; sie gesteht, nur ungern den Schleier zu lüften, der wie ein Nebel über ihrer Kindheit liegt. „I

have, as it were, a superstitious

hesitation in lifting the veil that clings about my childhood like a golden mist.“ (The Story of my

Life 3) Somit stellt sie eindrucksvoll und zugleich rhetorisch geschickt ihre Hemmungen dar, der

Öffentlichkeit ihr Privatleben preiszugeben.

Desweiteren findet man zahlreiche „Lichtmetaphern“, anhand derer sie den Unterschied

von ihrer vorsprachlichen Zeit (Dunkel) zu ihrer Erweckung durch ihre Lehrerin (Licht)

symbolisiert. Von ihrem Besuch bei Dr. Bell schreibt sie: „But I did not dream that that interview

would be the door through which I should pass from darkness into light [...].“ (19) Ihrer

Verzweiflung vor Erlernen der Sprache gibt sie folgendermaßen Ausdruck: „‘Light! give me

light!’ was the wordless cry of my soul, and the light of love shone on me in that very hour.“ (22)

Eine weitere auffällige Metapher verwendet sie mit Bezug auf „tie“, „bond“ und

„chain“, alles Ausdrücke des Gefesselt- und Gebundenseins. Zum Beispiel wußte Helen in ihrer

vorsprachlichen Zeit noch nichts von den „Banden der Liebe“; als sie ihre kleine Schwester

Mildred friedlich schlummernd in der Wiege ihrer Lieblingspuppe entdeckt, macht sie sich

kurzerhand daran, den Eindringling auszukippen: „At this presumption on the part of one to

whom as yet no tie of love bound me I grew angry.“ (16)

Anhand eines sportlichen Ereignisses schreibt Helen Keller enthusiastisch davon, wie sie sich

von der Erde „losgelöst“ empfand: „For one wild, glad moment we snapped the chain that binds

us to earth, and joining hands with the winds we felt ourselves divine!“ (57)

Sehr häufig sind auch bildhafte Umschreibungen, die „Distanz“ und „schwer begehbare

Wege“ ausdrücken sollen. Angesichts ihrer mühevollen Schrittchen vom Erlernen der ersten

Silben bis zum Begreifen einer Shakespeare-Zeile schreibt sie: „Gradually from naming an

object we advance step by step until we have traversed the vast distance between our first

stammered syllable and the sweep of thought in a line of Shakespeare.“ (29) Noch krasser ist

Page 54: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

ihre Formulierung von „Umwegen“, die sie zu gehen hat, da sie sich von ihren Mitschülerinnen

zu sehr unterscheidet, um auf direktem Wege ans Ziel zu gelangen:

„Debarred from the great highways of knowledge, I was compelled to make the journey

across country by unfrequented roads [...]; and I knew that in college there were many

bypaths where I could touch hands with girls who were [...] struggling like me.“ (96)

Der größte Teil der Metaphern stammt aus der Natur. Als sie sich endlich durch das

Fingeralphabet mit ihren Mitmenschen verständigen kann, „blüht“ sie im wahrsten Sinne des

Wortes auf: „The barren places between my mind and the minds of others blossomed like the

rose.“ (50) Ihre Probleme in Arithmetik beschreibt sie humorvoll: „I hung about the dangerous

frontier of „guess,“ avoiding [...] the broad valley of reason.“ (81) Ihr Eindringen in das

„Wunderland des Verstandes“, wo sie sich trotz ihrer Behinderung ebenso frei bewegen kann

wie alle anderen auch, drückt sie folgendermaßen aus: „In the wonderland of Mind I should be as

free as another.“ (96)

Eine bemerkenswerte metaphernreiche Beschreibung gibt Helen Keller uns von den

„bleichen Schreckgespenstern“ ihrer Schulzeit, die sie so oft überwunden und niedergeschmettert

hat, die aber immer wieder wie Stehaufmännchen vor ihr erscheinen -- die Prüfungen. Diese

Schilderung kann nicht ganz ernst gemeint sein, aber indem Helen Keller die Schule ins

Lächerliche zieht, obwohl sie für sie und ihre Lehrerin, die ständig als Dolmetscherin dabeisein

mußte, eine riesige Anstrengung bedeutete, beweist sie den Lesern, daß sie darüber steht und wie

gesunde Mädchen darüber lästern kann:

But the examinations are the chief bugbears of my college life. Although I have

faced them many times and cast them down and made them bite the dust, yet they

rise again and menace me with pale looks, until [...] I feel my courage oozing out at

my finger ends. (102)

Dies sind zum größten Teil alles Metaphern, die sie selbst gebildet hat, doch es finden sich auch

welche aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, die nicht auf ihre Ausnahmesituation als

Taubblinde gemünzt sind, wie z.B.: „I knew my own mind well enough and always had my own

way, even if I had to fight tooth and nail for it.“ (11)

Page 55: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

4.3 Vergleiche

Die zahlreichen Vergleiche in The Story of my Life dienen vor allem dazu, dem Leser ihre

vorsprachliche Zeit zu veranschaulichen. Die konkreten Begriffe würden hier lauten

„Dunkelheit, Stille, Isolation“, aber Helen Keller wollte es ausführlicher und bildhafter schildern,

um mehr Betonung auf ihr Leid zu legen. Herausstechend ist der Vergleich mit einem Schiff im

Nebel, das ohne Kompaß und Lotsen die Zielgerichtetheit verliert. Hier redet sie den Leser direkt

an („Have you ever been“). Dieser Vergleich beinhaltet noch eine Steigerung ins Negative („I

was like that ..., only I was without ...“):

Have you ever been at sea in a dense fog, when it seemed as if a tangible white darkness

shut you in, and the great ship, tense and anxious, groped her way toward the shore with

plummet and sounding-line, and you waited with beating heart for something to happen?

I was like that ship before my education began, only I was without compass or sounding-

line, and had no way of knowing how near the harbour was. (The Story of my Life 22)

Viele Vergleiche sind, ähnlich wie die Metaphern, aus der Natur gegriffen. Der folgende

Vergleich ist von ihrer Lehrerin inspiriert worden, die ihr die ersten Stunden über die Urtiere aus

dem Meer gibt und ihr The Chambered Nautilus vorgelesen hatte. Helen Keller zieht eine

Parallele zu dem Aufbau menschlichen Wissens:

Just as the wonder-working mantle of the Nautilus changes the material it absorbs from

the water and makes it a part of itself, so the bits of knowledge one gathers undergo a

similar change and become pearls of thought.“ (37)

Eine lebhafte Naturschilderung fließt ein in ihre Beschreibung, wie Anne Sullivan beim

Unterrichterteilen vorging. Hier setzt Helen Keller den Verstand eines Kindes mit einem seichten

Bach gleich, der sich munter seinen Weg bahnt, und der nicht sofort in ein breites Bett mündet,

sondern gespeist werden muß von verborgenen Quellen. Dies soll verdeutlichen, daß Anne

Sullivan ihrer Schülerin durchaus ihren eigenen Weg ließ, Schritt für Schritt vorging und sie

nicht zum Lernen zwang, auf äußere Stimulationen wartend („fed by mountain streams“), das

große Ziel („deep river“) jedoch ständig vor Augen.

She realized that a child’s mind is like a shallow brook which ripples and dances merrily

over the stony course of its education and reflects here a flower, there a bush, yonder a

fleecy cloud; and she attempted to guide my mind on its way, knowing that like a brook it

should be fed by mountain streams and hidden springs, until it broadened out into a deep

river [...]. (39)

Page 56: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Ein weiterer Vergleich mit einem Bild aus der Natur ist die Darstellung ihrer Gedanken als

„Vögel“: sie hat gerade Sprechen gelernt und wendet dies lieber an als das Fingeralphabet,

obwohl einige Freunde ihr abraten wollen, da sie die Grenzen ihrer bisherigen

Kommunikationsmittel erkannt hat und sich eingeschränkt fühlt. „My thoughts would often rise

and beat up like birds against the wind [...].“ (59) Sprechen geht nämlich viel schneller. So ist

auch der folgende Vergleich aus dem „Jagdbereich“ zu verstehen: häufig entkommt ihr als Jäger

die Beute, was eine figurative Aussage dafür ist, daß sie im College nicht jedes Wort der

Vorlesungen mitbekommt: somit will sie dem Leser ihre Situation bildhaft vor Augen halten --

ihre Lehrerin buchstabierte ihr die Worte der Dozenten in die Hand, und natürlich konnte Anne

Sullivan nicht jedes Wort dolmetschen, wenn sie zeitlich noch mitkommen wollte: „The words

rush through my hand like hounds in pursuit of a hare which they often miss.“ (98)

Zuletzt sind noch die Anspielungen auf die griechische Mythologie zu nennen, die Helen

Kellers Leser davon überzeugen, daß sie auch über das Altertum gut bescheid weiß. Diese

Vergleiche wirken vielleicht etwas angeberisch oder hochgestochen in der einfachen

Lebensgeschichte einer Studentin, zeigen jedoch, daß das alte Griechenland ein Steckenpferd der

jungen Autorin war. Sie betonen den intellektuellen Aspekt, wären im Text aber nicht unbedingt

vonnöten.

„In the electrical building we examined the telephones [...] and other inventions, and he

[Dr. Bell] made me understand how it is possible to send a message on wires that mock

space and outrun time, and, like Prometheus, to draw fire from the sky.“ (77)

„I was like little Ascanius, who followed with unequal steps the heroic strides of Aeneas

on his march toward mighty destinies.“ (139)

4.4 (Bibel)zitate

Der Leser von Helen Kellers Werken kann nicht umhin, die zahlreichen Zitate aus der Bibel oder

die von Stevenson zu bemerken, mit denen ihre Prosa gespickt ist. Bevor man versucht, Helen

Kellers häufigen Gebrauch von Zitaten zu erklären, muß man sich zuerst fragen, was ein Zitat

eigentlich bezweckt:

Zu einem Zitat kann man greifen, weil der Dichter etwas, was wir sagen möchten, so

treffend und eindrucksvoll ausgesprochen hat, wie es uns mit eigenen Worten nicht

Page 57: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

möglich wäre. Aber statt des zutreffendsten AUSDRUCKS unseres eigenen Gedankens

kann ein Zitat auch die QUELLE des eigenen Gedankens sein; wir sprechen etwas aus,

worauf wir nicht von selbst gekommen wären, sondern was wir nur aus der Lektüre

entnommen haben. So ist es häufig bei H. K. der Fall [...].92

Dies ist auch nicht erstaunlich, da Helen Keller aufgrund ihrer doppelten Behinderung vor allem

auf das Lesen angewiesen war, um daraus ihre Lebensweisheiten zu schöpfen, und genauer als

gesunde Menschen den Lesestoff im Gedächtnis behielt. Worte anderer, die auf sie großen

Eindruck gemacht haben, mischten sich unter ihre Schriften. So hat sich auch Caesar gleich zu

Beginn in ihrer Lebensgeschichte verewigt: „I came, I saw, I conquered, as the first baby in the

family always does.“ (The Story of my Life 6)

Im Gegensatz zu ihrer Lehrerin war sie von einer tiefen Religiosität. Sie formuliert selbst,

was die Bibel für sie bedeutet: „But how shall I speak of the glories I have since discovered in

the Bible? For years I have read it with an ever-broadening sense of joy and inspiration; and I

love it as I love no other book.“ (112) Dabei glaubt sie nicht blindlings alles, was gedruckt steht,

sondern bewahrt sich ihre Kritikfähigkeit: „Still there is much in the Bible against which every

instinct of my being rebels [...].“ (Ibd.)

Helen Keller benutzt die Bibel, um ihre eigene Situation besser akzeptieren und anderen

verständlich darlegen zu können: „The Bible gives me a deep, comforting sense that ‘things seen

are temporal, and things unseen are eternal.’“ (113) Einige der von ihr zitierten Stellen weisen

auf Blindheit und die „Es-werde-Licht-und-es-ward-Licht“-Situation hin, die in ihrem Leben

figurativ gesehen ja eine große Rolle gespielt hat bei ihrer „Befreiung“ durch Anne Sullivan:

Thus I came up out of Egypt and stood before Sinai, and a power divine touched my

spirit and gave it sight, so that I beheld many wonders. And from the sacred mountain I

heard a voice which said, ‘Knowledge is love and light and vision.’ “ (20)

Ihren Jubel über die schwerst erworbene Fähigkeit, mit dem Mund sprechen zu können, drückt

Helen Keller ebenfalls durch einen frommen Passus aus: „It was as if Isaiah’s prophecy had been

fulfilled in me, ‘The mountains and the hills shall break forth before you into singing, and all the

trees of the field shall clap their hands!’ “ (62) Desweiteren findet man Anspielungen auf Engel,

so z.B. als sie die eindrucksvollen Bronzestatuen, die sie auf der Weltausstellung von Chicago

berühren durfte, beschreibt: „They [the French bronzes] were so lifelike, I thought they were

angel visions which the artist had caught and bound in earthly forms.“ (76) Dieses Engelsbild

92

Schmitt 1954, 22.

Page 58: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

tritt noch einmal auf gegen Ende ihrer Lebensgeschichte, als sie darlegt, weshalb sie über

bestimmte Freunde und Gönner trotz aller Dankbarkeit nicht reden will: „[...] there are things

about them hidden behind the wings of cherubim, things too sacred to set forth in cold print.“

(140) Auch ihre Naturbeschreibungen werden vielfach mit der Bibel assoziiert; so z.B. in dem

schönen Vergleich, mit dem sie beschreibt, welches die ersten Wörter waren, die sie erlernte: „I

do not remember what they all were; but I do know that mother, father, sister, teacher were

among them -- words that were to make the world blossom for me, ‘like Aaron’s rod, with

flowers.’“ (24) Auch die negativen Seiten der Natur beschreibt sie mit einem Zitat; hier handelt

es sich um eine Episode, als sie auf einem Baum saß, während ein Gewitter nahte, und sich

fürchtete: „I had learned a new lesson -- that nature ‘wages open war against her children, and

under softest touch hides treacherous claws.’“ (27) Die friedliche Situation im Garten ihrer

Familie beschreibt sie mit einer Allusion and den Garten Eden: „After that I spent many happy

hours in my tree of paradise, thinking fair thoughts and dreaming bright dreams.“ (28)

4.5 Alliterationen, Personifikationen und andere

Stilfiguren

Neben den bereits genannten wichtigsten stilistischen Kunstgriffen treten noch zahlreiche andere

in The Story of my Life auf, wie z.B. Alliterationen: „[...] the wind sent forth a blast that would

have knocked me off had I not clung to the branch with might and main.“ (26) Oder: „It was

great fun [...] go let them slip and slide between my fingers.“ (38)

Ihre Beschreibung Mark Twains, „I feel the twinkle of his eye in his hand-shake“ (139), ist

ein Paradoxon, mit dem die Blinde zeigt, daß sie den Charakter und die Stimmung des

berühmten Dichters am Händedruck ablesen kann, wenn sie schon den Gesichtsausdruck nicht

sehen kann wie andere Leute. Für sie bedeutet eine besondere Art von Handschlag Gewitztheit,

Herzlichkeit und Humor und entspricht einem Augenzwinkern.

Auch ein Chiasmus läßt sich finden: „[...] it is true that there is no king who has not

had a slave among his ancestors, and no slave who has not had a king among his.“ (4) Ebenso

Page 59: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

verwendet Helen Keller Sprichwörter wie den „Elefanten im Porzellanladen“ und Neologismen;

so bildet sie z.B. „theme-goblins“ und „college nixies“:

Whenever I enter the region that was the kingdom of my mind I feel like the

proverbial bull in the china shop. A thousand odds and ends of knowledge come

crashing about my head like hailstones, and when I try to escape them, theme-goblins

and college nixies of all sorts pursue me, until I wish [...] that I might smash the idols

I came to worship. (102)

Ein weiterer Effekt ist, daß Helen Keller am Ende von The Story of my Life den Titel wieder

aufgreift: „Thus it is that my friends have made the story of my life.“ (140) Ihr letzter Satz

schließt mit einer Metapher: „[...] they [...] enabled me to walk serene and happy in the shadow

cast by my deprivation.“ (140) Alle diese sprachlichen Feinheiten beweisen ihre meisterhafte

Bewältigung der Muttersprache und eine umfangreiche Allgemeinbildung. Im Unterschied zu

ihren früheren Veröffentlichungen, oder auch zu ihren Jugendbriefen läßt sich dadurch erkennen,

daß sie sich als Schriftstellerin berufen fühlte und mit der Sprache experimentieren wollte.

5 Helen Kellers literarisches Schaffen

In dieser Werkanalyse geht es darum, den Stil Helen Kellers über die Jahre hinweg zu

vergleichen. Es fällt auf, daß ihre frühesten Werke von einer Naivität und dem Wunsch zeugen,

es allen recht zu machen. Voller Begeisterung wirft Helen Keller mit Metaphern nur so um sich

und sprüht vor Lebensfreude. In ihren späteren Werken tritt ihr rebellischer Charakterzug zutage;

sie entwickelt das Bedürfnis, sich direkt an den Leser zu wenden, um sich zu rechtfertigen für

das, was sie schreibt -- denn ihre Thematik hat sich von purer Selbstdarstellung zu Politik,

Religion und Philosophie hin verschoben. Je reifer sie wird, desto stärker kritisiert sie ihre

früheren Werke, wobei sie die Schwachstellen aufzeigt, die ihrem judendlichen Leichtsinn

entsprungen sind. Ihre ausschweifende Metaphorik legt sie dabei nie ab.

Es sind nur die inhaltlich hervorstechenden Werke analysiert worden. Nebenher hat

Helen Keller noch einige „Trostpflästerchen“ fabriziert, die für den normalen Leser nicht

besonders interessant sind; das Bändchen Three Days to See z.B. ist nämlich nur eine Flucht in

Page 60: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

die Phantasie, was Helen Keller tun würde, wenn sie drei Tage lang sehen könnte, wobei der

Leser gemahnt wird, seine Sinne dankbar und voll zu nutzen; und Peace at Eventide ist lediglich

ein Sammelsurium von Anekdötchen, die besonders Lesern, die den Tod eines geliebten

Menschen verwinden müssen, Hoffnung spenden sollen.

5.1 Optimism (1903) und The Story of my Life (1903)

1903 war das erste Buch Helen Kellers erschienen, ein kleiner Essay mit dem Titel Optimism,

der später von den Herausgebern in My Key of Life umbenannt wurde. Kernthema dieser kurzen

Schrift ist Helen Kellers unumwundenes Bekenntnis, eine Optimistin zu sein: „If I am happy in

spite of my deprivations, if my happiness is so deep that it is a faith, so thoughtful that it

becomes a philosophy of life, -- if, in short, I am an optimist, my testimony to the creed of

optimism is worth hearing.“ (The Practice of Optimism 4) Ihre Definition des Begriffes

Optimismus ist sehr einfach, ihre Weltanschauung wirkt naiv: „If I should try to say anew the

creed of the optimist, I should say something like this: ‘I believe in God, I believe in man, I

believe in the power of the spirit. I believe it is a sacred duty to encourage ourselves and others

[...].“ (The Practice of Optimism 61)

Dieses Traktätchen war noch während ihres letzten Studienjahres 1903 erschienen und

von dem Erfolgserlebnis getragen, das sich beim Gelingen jedes großen Vorhabens

einstellt. Sie wollte alle Menschen zur Zuversicht aufrufen, wofür sie einige Gründe

darlegte, deren logische Anerkennung den Leser dann zum Empfinden seines eigenen

Glücks führen sollte; sie war überzeugt davon, daß die Menschen Herren ihres Schicksals

wären und ihr Leben nach ihrem eigenen Willen gestalten könnten.93

Auf dieses Essay trifft derselbe Vorwurf zu, der auch in Bezug auf ihre Autobiographie erhoben

wurde -- daß sie die Tatsachen „unwillkürlich durch die Brille ihrer hohen Bildungsstufe und

ihres logischen Bedürfnisses“ heraus betrachtet habe.94

Sie räsonniert munter drauflos und

verbreitet eine grenzenlose Glückseligkeit und Selbstzufriedenheit. Sie scheint die Welt in einem

viel zu positiven Licht zu sehen.

It was immature, as one might expect of a college girl, and full of the „cocksureness“ for

which she still chides herself when she finds that she has written in a way which seems to

imply that she has the last word of knowledge on the subject, but it was bursting with

93

Jaedicke 1979, 84. 94

Briefe meiner Werdezeit. Einleitung II.

Page 61: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

vigour and defiance. She was tired of being pitied. She was proving and ready to prove

again that she could make something out of the broken pieces of her life.95

Die berühmt gewordene erste Autobiographie Helen Kellers, The Story of my Life, entstand 1902

während ihres Studiums, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war, und zwar zunächst als Aufsätze

in ihrer Klasse „composition“ bei Mr. Charles Copeland. Ihre Schilderungen erregten auch

außerhalb der Schule Aufsehen, und schließlich bat Mr. William Alexander von The Ladies’

Home Journal Helen Keller um eine Erzählung in einzelnen Abschnitten. Seine recht

erfolgreiche Monatszeitschrift, die 1903 die Traumgrenze von einer Million Exemplaren erreicht

hatte, bot neben unterhaltsamen Beiträgen über Familie, Haushalt und Mode eine

autobiographische Fortsetzungsreihe über Berühmtheiten wie William Dean Howells, Mark

Twain, Rudyard Kipling, Conan Doyle, Bret Harte und Hamlin Garland.96

Da durfte auch das

taubblinde Wunderkind nicht fehlen. Als Helen Keller beim Liefern der Beiträge in Zeitnot

geriet, nahm sich John Macy ihrer an. Schließlich veröffentlichte er die Artikel am 21.3.1903 als

zusammenhängende Geschichte The Story of my Life, versehen mit einem Anhang, der die

wichtigsten Briefe ihrer Kindheit enthielt sowie Angaben über Helen Kellers Person, ihre

Erziehung, ihre Sprachfertigkeit im Kontrast zu Anzweifelungen von seiten ihrer Zeitgenossen

(inklusive Frost King-Skandal) und ihren Schreibstil. Briefe ihrer Lehrerin informierten den

Leser über ihre Erziehungsmethoden.

Helen Keller äußert sich in späteren Jahren, als sie an Erfahrung dazugewonnen und

bereits mehrere Bücher veröffentlicht hatte, kritisch über die Naivität ihrer ersten

Autobiographie:

In The Story of My Life, which I wrote with the carelessness of a happy, positive young

girl, I failed to stress sufficiently the obstacles and hardships which confronted my

Teacher -- and there are other defects in the book which my mature sense of her sacrifice

will not permit to go uncorrected. (Teacher 39)

Sie gibt zu, durch ihren euphorischen, vereinfachenden Stil dazu beigetragen zu haben, daß so

abnorme „Wundermeldungen“ über sie entstehen konnten, wie die Presse sie verbreitete:

Exceedingly I regret that in The Story of My Life I was careless in what I wrote about the

progress Helen made in language and in learning to speak. The narrative was so

telescoped that it seemed to ordinary readers as if Helen in a single moment had „grasped

the whole mystery of language.“ What misunderstandings I must have created by my

95

Braddy 1934, 197/8. 96

Vgl Jaedicke 1979, 84.

Page 62: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

artless account of what I am sure a critical, mature person would have presented with a

proper sense of perspective. (Teacher 41)

Ihre Lebensgeschichte einen „kunstlosen Bericht“ zu nennen ist jedoch eine Untertreibung, da er

rhetorisch sicherlich auf sehr hoher Stufe anzusiedeln ist. Im Nachhinein beklagt Helen Keller

auch, ihren vorsprachlichen Zustand nicht korrekt dargestellt zu haben; dies versucht sie später

wiederholt in The World I live in und in Teacher, wo sie auf die „Nichtwelt“ des „Phantoms“

eingeht. „[...] [I]n The Story of My Life [...] I did not properly analyze the child’s state before she

was taught, or the successive phases by which she learned language, or the naturalness of

Teacher’s method.“ (Teacher 48)

Das Erscheinen ihrer Biographie hatte vielzählige Reaktionen der Öffentlichkeit zur

Folge, positive wie negative. Helen Keller wurde mit einer Flut von Briefen und Reviews

überschüttet. Mark Twain war einer derjenigen, der auch den Beitrag ihrer Lehrerin zu dem Buch

würdigte:

I am charmed with your book -- enchanted. You are a wonderful creature, the most

wonderful in the world -- you and your other half together -- Miss Sullivan, I mean -- for

it took the pair of you to make a complete & perfect whole. How she stands out in her

letters! her brilliancy, penetration, originality, wisdom, character, & the fine literary

competencies of her pen -- they are all there.97

Eine anonyme Review aus der New York Nation, auch in der New York Post veröffentlicht, ist

die härteste Kritik, die über The Story of my Life gedruckt wurde. Der Verfasser äußert zwar

Mitleid aufgrund von Helens Schicksal sowie Bewunderung für das von ihr Erreichte, spricht ihr

aber jegliche „literary sincerity“ ab. Er verurteilt ihren Sprachgebrauch, da eine Taubblinde

seiner Meinung nach auf ein bestimmtes Vokabular zu verzichten habe, und behauptet, sie maße

sich an, über Dinge zu schreiben, von denen sie aufgrund ihrer Behinderung gar keine genaue

Vorstellung haben könnte -- und wenn, dann nur, weil andere sie ihr beschrieben haben. So

verhält es sich angeblich mit dem Wort „Schönheit“, das für Helen Keller nichtssagend sei,

solange es ihr nicht gedeutet werde: „When she defines beauty as a form of goodness, she is

merely repeating one of those mystical sayings that have truth only for those who do not think

for themselves.“98

Damit kommt er dem Plagiatsvorwurf verdächtig nahe. Er zweifelt an, daß

vieles, worüber Helen Keller schreibt, auch ihr Eigenes ist.

97

Paine 1980, 1199. 98

Braddy 1934, 202.

Page 63: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

All her knowledge is hearsay knowledge, her very sensations are for the most part

vicarious, and yet she writes of things beyond her power of perception with the assurance

of one who has verified every word.

It seems cruel to criticize this unfortunate girl who has made so much of nothing, whose

life has been one long courageous effort to overcome her terrible disadvantages. No one

can help feeling the utmost sympathy for her deprivations, the greatest admiration for her

pluck. And yet the criticism must be expressed, not so much for her own sake as because

her writing exemplifies in a wonderful way the disregard of a principle for which writers

who have the true vocation would lay down their lives. Literary sincerity is so entirely

absent from it that the subject spills over from the domain of literature into that of ethics.

If she were to be judged like less afflicted mortals, we should have to call a great deal of

Miss Keller’s autobiography unconscientious.99

Hier erhebt sich der Verfasser des Artikels zum Schöpfer eines „Prinzips, für das Schriftsteller

mit einer wahren Berufung ihr Leben lassen würden“, welches er als allgemeingültig hinstellt. Er

vermißt in Helen Kellers Werk die „literarische Aufrichtigkeit“. Anhand einer Metapher aus

dem Bereich der Flüssigkeiten „the subject spills over from...“ will er zeigen, daß der Fall einen

fließenden Übergang vom literarischen zum ethischen Bereich aufweist. Helens Ausdrucksweise

ist für ihn unethisch, da sie dieselbe ist wie diejenige gesunder Menschen. Er zählt mehrere

Beispiele von Vokabeln auf, die sie zu vermeiden habe, und zitiert Textstellen aus ihrem Werk.

So kritisiert er zum Beispiel die folgende:

The glorious bay lay calm and beautiful in the October sunshine, and the ships came and

went by like idle dreams; those seaward going slowly disappeared like clouds that change

from gold to grey; those homeward coming sped more quickly, like birds that seek their

mother’s nest. ...100

Nach seiner Theorie hat Helen Keller kein Recht, das Wort „beautiful“, die Farbadjektive „gold“

und „grey“ sowie die Vergleiche „like idle dreams“, „like clouds that change“ und „like birds

that seek their mother’s nest“ zu verwenden, da sie weder Farben, Wolken noch Vögel mit den

Augen bzw. Ohren wahrnehmen kann. Viele bezweifelten, ob sie überhaupt träumen könne, da

sie ja keine Bilder im Traum sehen kann. Wie würden jedoch ihre Bücher ohne die zahlreichen

Anspielungen auf Farbe, Licht und Ton aussehen? Die künstliche Restriktion auf ein begrenztes

Vokabular für Blinde war übrigens zu jener Zeit in Amerika und Europa eine weit verbreitete

Methode. Eine soziale Folge ihrer Behinderung war, daß Blinde nicht für ihren eigenen

99

Ibd. 100

zitiert nach Braddy 1934, 202.

Page 64: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Lebensunterhalt sorgen und deshalb auch kaum heiraten konnten. Aus diesem Grund strichen

die Lehrpläne vieler Blindenschulen sämtliche Anspielungen auf das Thema „Liebe“, weil man

diesen armen Wesen ihre innere Ruhe nicht zerstören wollte, indem man ihnen Leidenschaften

präsentierte, die sie selber nicht leben konnten. Im Deutschen Reich geriet z.B. Schillers Don

Carlos auf den Index, und vor 1914 sangen die blinden Kinder im Schulchor statt „Du, du, nur

du allein, sollst mein Schatz und Liebster sein“, das harmlosere „sollst mein Freund und Bruder

sein“.101

Der Verfasser dieser Review aus der New York Nation war nicht der einzige, der Helen

Keller einen illegitimen Sprachgebrauch102

zuschrieb. In den zwei folgenden ausgewählten

Werken soll gezeigt werden, wie die Schriftstellerin sich dieser Herausforderung stellte.

5.3 Meine Welt (1908) und Dunkelheit (1909)103

Der Vergleich dieser beiden Bändchen bietet sich geradezu an, da Helen Keller in Dunkelheit

einen Rückzieher vor der öffentlichen Meinung macht und das schreibt, worum sie gebeten wird,

während sie in Meine Welt diejenigen verhöhnt, die ihr vorschreiben wollen, wo die Grenzen

ihrer Themenwahl und ihres Sprachgebrauchs zu liegen haben.

Dunkelheit leitet sie mit einer ironischen Danksagung an ihren Herausgeber ein, die

eigentlich ein Vorwurf dafür ist, daß er ihr das Wort verbietet: „[...] ich danke ihm für seine

freundliche Teilnahme [...]. Dafür kommt ihm aber nicht nur mein Dank, sondern auch die

Verantwortlichkeit zu. Denn auf seinen und anderer Herausgeber Wunsch geschieht es, daß ich

soviel von mir selber spreche.“ (Dunkelheit 7) Helen Keller bemerkt ganz richtig, daß sich

101

Vgl. Jaedicke 1979, 104. 102

John Macy verteidigt Helen Keller: „There is no reason why she should strike from her vocabulary all

words of sound and vision. Writing for other people, she should in many cases be true to outer fact rather

than to her own experience. So long as she uses words correctly, she should be granted the privilege of

using them freely [...]. [...] In her style, [...] we must concede to the artist what we deny to the

autobiographer. It should be explained, too, that look and see are used by the blind, and hear by the deaf,

for perceive; they are simple and more convenient words. Only a literal person could think of holding the

blind to perception or apperception, when seeing and looking are so much easier [...]. (The Story of my Life.

Part III. Chapter V: „Literary Style“, 424. 103

Leider konnten im zeitlich gesteckten Rahmen diese beiden Werke nur in der deutschen Übersetzung

beschafft werden.

Page 65: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

niemand etwas daraus macht, was sie über den Zolltarif oder die Dreyfusaffaire zu sagen hat.

Der Presse geht es lediglich um die immer gleiche Darstellung des „Wunders“ ihres

Spracherwerbs und um Kuriositäten, z.B. ob sie im Schlaf mit den Fingern buchstabiert.

Wenn ich mich erbiete, das Erziehungssystem der Welt zu reformieren, sagen meine

Freunde, die Zeitschriften-Herausgeber: Das ist interessant. Aber wollen Sie uns doch

bitte sagen, welche Begriffe Sie von Güte und Schönheit hatten, als Sie sechs Jahre alt

waren? -- Zuerst ersuchen sie mich, das Leben des Kindes zu schildern, das des Weibes

Mutter ist. Dann machen sie mich zu meiner eigenen Tochter und verlangen einen Bericht

über die Empfindungen einer Erwachsenen. Schließlich werde ich ersucht, über meine

Träume zu schreiben, und werde auf diese Weise zu einer anachronistischen Großmutter

[...] (Dunkelheit 8)

Anstatt zu rebellieren, gibt sie den Herausgebern scheinbar recht und beschränkt sich auf das ihr

zugestandene Thema der Autobiographie. Ihre Ironie ist jedoch nicht zu verkennen, als sie

bedauert, daß die Welt noch so lange im Dunkeln gelassen werden müsse, bis es ihr erlaubt sei,

über wichtigere Dinge zu schreiben:

Die Herausgeber sind so freundlich zu mir, daß sie ohne Zweifel recht haben, wenn sie

meinen, nichts von dem, was ich über die Weltangelegenheiten zu sagen hätte, würde

interessant sein. Bis sie mir nun Gelegenheit geben, über Themata zu schreiben, die

außerhalb meines Ichs liegen, muß die Welt unbelehrt und unverbessert ihren Gang

weitergehen, und ich kann weiter nichts tun, als daß ich so gut, wie es in meinen Kräften

steht, über das einzige kleine Thema schreibe, das man mir zu behandeln erlaubt.

(Dunkelheit 9)

Im Gegensatz dazu ist Meine Welt eine einzige Sammlung von Beweisen, wessen sie alles fähig

und weshalb sie berechtigt ist, die Sprache ebenso zu gebrauchen wie nicht behinderte

Menschen. So kommentiert sie einen Zeitungsartikel, der den Blinden ein bestimmtes Vokabular

verbieten will:

Vor einigen Monaten erschien in einer Zeitung, die die Veröffentlichung des „Mathilda-

Ziegler Magazine for the Blind“ ankündigte, folgende Bemerkung: „Manche Gedichte

und Geschichten müssen ausgelassen werden, weil sie von Sehen handeln. Anspielungen

auf Mondstrahlen, Regenbogen, Sternenlicht, Wolken und schöne Landschaften dürfen

nicht gedruckt werden, weil sie dem Blinden sein trauriges Schicksal besonders bitter

zum Bewußtsein bringen würden.“ (Meine Welt 5)

Helen Keller wehrt sich in einem rhetorisch raffinierten Gegenzug mit der Schlußfolgerung:

„Das heißt also: Ich darf nicht von schönen Häusern und Gärten sprechen, weil ich arm bin. Ich

darf nicht von Paris und Westindien lesen, weil ich diese Gegenden nicht [...] aufsuchen kann.

Ich darf nicht vom Himmel träumen, weil ich vielleicht niemals hineinkommen werde.“ (Meine

Page 66: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Welt 5/6) Diese Folgerung ist zwar logisch (ganz nach der Logik der „Kritiker“) aufgebaut,

ergibt aber nur Unsinn. „Die Kritiker haben ihr Vergnügen daran, uns zu sagen, was wir nicht

können [...], und folgern nun daraus, wir haben kein moralisches Recht, von Schönheit,

Himmelserscheinungen, Bergen, Vogelsang und Farben zu reden.“ (Meine Welt 6) Helen Keller

mokiert sich darüber, daß manche Kritiker auch den Tastsinn nur als „stellvertretend“

empfänden: „Sie leugnen a priori, was sie nicht gesehen haben und was ich doch gefühlt habe.“

(Meine Welt 7) Mit beißendem Sarkasmus verhöhnt sie die Ungläubigen:

Einige wackere Zweifler gehen sogar so weit, meine Existenz zu leugnen. Um nun

wenigstens selber zu wissen, daß ich existiere, nehme ich meine Zuflucht zu Descartes’

Methode: Ich denke, also bin ich. So steht denn metaphysisch meine Existenz fest, und

ich schiebe den Zweiflern die Mühe zu, meine Nichtexistenz zu beweisen. (Meine Welt 7)

Sie läßt ihre Argumentation in einer rhetorischen Frage auslaufen: „[...] ist es [...] nicht

erstaunlich, daß ein Mensch sich herausnimmt, festzustellen, was einer wissen kann oder nicht

wissen kann?“ (Meine Welt 7) Zugleich hält sie dem Hinweis, sie könne von vielen Dingen gar

keine Ahnung haben, triumphierend entgegen: „Desgleichen aber, mein selbstbewußter Kritikus,

gibt es Myriaden von Empfindungen, die ich wahrnehme, und von denen du dir nicht träumen

lässest.“ (Meine Welt 7) Man erkennt deutlich den trotzigen Grundton dieses Büchleins; die auf

diese Einleitung folgende Kapitel sind eine einzige Rechtfertigung. Sie gehen konkret auf „ihre

Welt“ ein und liefern Beschreibungen ihrer Sinneswahrnehmungen. Dabei muß sich der Leser

häufig den Vorwurf gefallen lassen, daß er selbst den Taubblinden gegenüber in mancherlei

Beziehung benachteiligt und höchstwahrscheinlich „geruchsblind und -taub“ ist (vgl. Meine Welt

42). So kann Helen Keller z.B. Personen an ihrem Geruch oder an ihrem Händedruck erkennen

und durch Erschütterung des Bodens fühlen, wer oder was sich ihr nähert. Auch Musik kann sie

durch Vibrationen spüren. Des weiteren spricht sie von Analogien in Sinneswahrnehmungen:

„Ich begreife, daß Scharlachrot sich von Purpurrot unterscheiden kann, weil ich weiß, daß der

Duft einer Orange nicht der Duft einer Pomeranze ist.“ (Meine Welt 69) Solche Analogien helfen

ihr zu verstehen, daß es Farbabtönungen gibt. Sie beharrt auf ihrem Recht zu sagen „ich sehe“:

Wenn ich sage: „Oh, ich sehe meinen Irrtum!“ oder „Wie dunkel, freudlos ist sein

Leben“, so ist das nicht eine herkömmliche Redensart, sondern ein zwingendes Gefühl

für Wirklichkeit [...]. Ich weiß, diese Ausdrücke sind Gleichnisse. Aber ich muß es mit

ihnen versuchen, weil es in unserer Sprache nichts gibt, was sie ersetzen könnte.

Entsprechende bildliche Ausdrücke für Taub-Blinde sind nicht vorhanden und auch nicht

notwendig. Weil ich das Wort „reflektieren“ bildlich verstehen kann, ist ein Spiegel für

mich niemals etwas Rätselhaftes gewesen. (Meine Welt 91)

Page 67: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Sie spricht von „Ideenverbindungen und Korrespondenzen“, womit sie sagen will, daß sie von

den Wahrnehmungen der ihr verbliebenen Sinne „Gefühl“ und „Geruch“ Analogien zieht zu

Eindrücken und Erfahrungen. Helen Keller zeigt dem Leser die katastrophale Folge auf, wenn

man ihr solche „Korrespondenzen“ verweigern würde: „beschränkt mich auf die

fragmentarische, zusammenhanglose Welt, die man berühren kann, und seht, ich flattere ratlos

umher wie eine Fledermaus.“ (Meine Welt 91) Müßte sie sich auf ein bestimmtes Vokabular

beschränken, würden ihre Wißbegierde, neue Kenntnisse zu erwerben, schrumpfen und ihre

seelischen Empfindungen abstumpfen. Voller Trotz stellt sie den Leser vor eine ganze Reihe

rhetorischer Fragen:

Ist etwa irgendwie bewiesen worden, daß diese Korrespondenz kein angemessenes Mittel

ist? Ist jemals im Gehirn eines Blinden eine Kammer geöffnet und leer gefunden worden?

Hat jemals ein Psychologe den Geist eines Blinden untersucht und sagen können: „Es ist

keine Empfindung vorhanden“? (Meine Welt 92)

In einem rhetorisch meisterhaften Gegenzug beschwert sich Helen Keller halb humorvoll, halb

ärgerlich über den „Geistesvandalen“, den Skeptiker, er ihr die Ideenverbindungen streitig

machen will:

Aus diesen Materialien schmiedet die Phantasie [...] ein Bild, das der Skeptiker mir

abstreiten möchte, weil ich nicht mit meinen körperlichen Augen das wechselnde

liebliche Antlitz meines Gedankenkindes sehen kann. Er möchte den Spiegel des Geistes

zerschlagen. Dieser Geistesvandale möchte meine Seele demütigen und mich zwingen,

den Staub der Materie zu schlucken. Während ich an dem Bissen des Umstandes kaue,

geißelt und spornt er mich mit dem Stachel der Tatsache. Wenn ich auf ihn achten wollte,

würde das schöne Antlitz der Erde in Nichts verschwinden [...]. (Meine Welt 93)

Die Metapher „Gedankenkinder“ verdeutlicht, wie lieb und teuer ihr manche Vorstellungen sind,

die sie sich nicht nehmen lassen will. Die Metapher der Unterwerfung „den Staub der Materie

schlucken“ soll zeigen, daß der Skeptiker sie zu Boden zwingen will. Sie hat an dem „harten

Bissen“ ihrer Behinderung „zu kauen“, d.h. sie versucht, aus ihrem eingeschränkten Leben das

Beste zu machen. Die Metapher der Folter „geißelt und spornt mich mit dem Stachel der

Tatsache“ veranschaulicht bildlich, daß der Skeptiker immer wieder „stichelt“, daß sie ja taub

und blind ist, was ihr auch nicht weiter hilft.

Sie wiederholt mehrfach, daß geistige Wahrnehmung durch Blindheit nicht beschränkt

wird, und wirft dem Leser erneut einen Wust rhetorischer Fragen an den Kopf, die so lächerlich

Page 68: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

sind, daß man ihre Position als richtig ansehen muß. Hier wird wieder ihre „cocksureness“

deutlich, derer sie sich im Nachhinein selbst einmal rügte; sie behält wie immer das letzte Wort:

Mein geistiger Horizont ist unendlich weit. [...] Würden jene, die mich in den engen

Grenzen meiner kümmerlichen Sinne bleiben heißen, von Herschel verlangen, er solle

seiner Sternenwelt ein Dach aufsetzen und uns Platos festes Firmament von gläsernen

Halbkugeln zurückgeben? Würden sie Darwin aus dem Grabe entbieten und ihm

befehlen, seine geologischen Zeiträume auszustreichen und uns dafür ein paar armselige

Jahrtausende zurückzugeben? Oh, die hochmütigen Zweifler! Sie sind immer bemüht,

dem aufwärts strebenden Geist die Flügel zu stutzen. (Meine Welt 94)

Mit diesen Allusionen an berühmte Forscher und Wissenschaftler zeigt sie, daß ihre Skeptiker

von gesunden Personen auch keine Rückschrittlichkeit erwarten. Analog folgert sie, daß man ihr

auch keine krampfhafte Einengung der Sprache abverlangen kann, um sie auf diese Weise in

ihrer Entwicklung zu hemmen. Durch die Metapher „dem aufwärts strebenden Geist die Flügel

stutzen“ verdeutlicht Helen Keller, daß sie eine geistige Kastration nicht hinnehmen wird.

Helen Keller geht erwartungsgemäß davon aus, daß der Leser einige ihrer Schilderungen

anzweifeln wird. So schreibt sie z.B., daß ihre Vorstellung von Dingen auf der Verbindung von

Gefühlswahrnehmungen mit Ideen und erworbenen Kenntnissen beruht. Sie vergleicht Gerüche,

die nicht mit Dingen, die sie kennt (Jahreszeiten, Häuser, Personen) in Verbindung gebracht

werden können, mit dem Stimmen eines Instrumentes, was ja auch keine Melodie, geschweige

denn eine Symphonie ergäbe. Da Helen Keller befürchten muß, daß ihre Leser ihr den

musikalischen Vergleich eben aufgrund ihrer Behinderung nicht abnehmen werden, fügt sie

angriffslustig hinzu:

(Für solche, die stets einer Beruhigung bedürfen, will ich sagen, daß ich einen Musiker

befühlt habe, der seine Geige stimmte, daß ich von einer Symphonie gelesen habe und

daher eine vollauf genügende geistige Vorstellung des von mir gebrauchten Gleichnisses

besitze.) (Meine Welt 59/60)

Viele Jahre später gesteht Helen Keller in ihrer zweiten großen Autobiographie: „I do not

remember writing anything in such a happy mood as The World I Live In. I poured into it

everything that interested me at one of the happiest periods of my life -- my newly discovered

wealth of philosophy [...].“ (Midstream 34) Man merkt, daß ihr das Argumentieren Spaß macht.

Auch in Teacher blickt sie, bereits als ältere Dame, genüßlich auf dieses Werk zurück: „[...] I

wrote The World I Live In with glee, laughing at the critics [...]. It was a genuine pleasure for me

to show how I could get fun out of playing with words whose meaning I could guess only from

Page 69: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

analogy and imagination.“ (Teacher 199) A propos Plagiat -- ihr wäre beinahe wieder ein faux

pas unterlaufen, denn sie hatte für ihr Buch The World I Live In, das zunächst in Form von

einzelnen Essays im Century erschienen war, einen Titel gewählt, den bereits Jane Austen einem

ihrer Werke gegeben hatte: „The essays appeared in the magazine under the title, ‘Sense and

Sensibility [...]’.“ (Midstream 34) Diese Antithese hätte gerade gut zu ihren Ausführungen über

die „Sinne“ bzw. die „Ideenverbindungen“ gepaßt.

In keinem ihrer anderen Werke, außer vielleicht in Wie ich Sozialistin wurde, nimmt

Helen Keller ihren Widersachern gegenüber eine derart bissige Haltung ein.

5.3 Out of the Dark (1913)

Interessanter Weise trägt Out of the Dark mit dem Untertitel Essays, Letters, and Addresses on

Physical and Social Vision die Widmung: „To My Mother“ -- abgesehen von humanitären

Kapiteln wie „What to Do for the Blind“ und „The Education of the Deaf“ enthält diese

Sammlung nämlich größtenteils revolutionäre und weltanschauliche Kapitel wie „How I Became

a Socialist“, „A Letter to an English Woman-Suffragist“ und „The Message of Swedenborg“, die

absolut nicht den Ansichten von Helen Kellers anti-sozialistisch eingestellter Mutter, die

Anhängerin der Episcopalian Church war, entsprachen.

Das Kapitel „How I Became a Socialist“, zuerst veröffentlicht im New Yorker Call, einer

sozialistischen Zeitung, verdient eine genauere Analyse, weil sich Helen Keller hier mit

unwahren Presseaussagen über ihre politischen Aktivitäten auseinandersetzt. Zuerst berichtet sie,

daß sie durch das Lesen sozialistischer Werke zur Sozialistin geworden sei -- sie hat sich ihre

Auffassung also selbst angeeignet. Dann liefert sie eine Richtigstellung der Anschuldigungen

eines Artikels aus The Common Cause, der auch im Life Issue erschienen ist (in zwei anti-

sozialistischen Publikationen):

For twenty-five years Miss Keller’s teacher and constant companion has been Mrs. John

Macy, formerly of Wrentham, Mass. Both Mr. and Mrs. Macy are enthusiastic Marxist

propagandists, and it is scarely surprising that Miss Keller, depending upon this lifelong

friend for her most intimate knowledge of life, should have imbibed such opinions. (Out

of the Dark 22)

Page 70: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Sie betont, daß ihre Lehrerin Anne Sullivan Macy überhaupt keine Marxistin gewesen sei, und

daß Mr. Macy sich weniger über Sozialismus mit ihr unterhalten habe, als sie es gewünscht hätte.

Ein anderer Abschnitt dieses Artikels trug die Überschrift: „Schenectady Reds Are Advertising;

Using Helen Keller, the Blind Girl, to Receive Publicity“. (Out of the Dark 22) Die Leser sollten

Mitleid mit Helen Keller empfinden (das „blinde Mädchen“ war schon 33 Jahre alt!), die

angeblich von den Kommunisten zu Werbezwecken geködert worden sei:

It would be difficult to imagine anything more pathetic than the present exploitation of

poor Helen Keller by the Socialists of Schenectady. For weeks the party’s press agencies

have heralded the fact that she is a Socialist, and is about to become a member of

Schenectady’s new Board of Public Welfare. (Out of the Dark 22/23)

Hierauf hätte Helen Keller gerne eine satirische Antwort gegeben, aber sie beschränkt sich

darauf, ihre Verachtung für das Blatt auszudrücken:

There is a chance for satirical comment on the phrase, „the exploitation of poor Helen

Keller.“ But I will refrain, simply saying that I do not like the hypocritical sympathy of

such a paper as the Common Cause, but I am glad if it knows what the word

„exploitation“ means. (Out of the Dark 23)

Man kann nicht umhin, den ärgerlichen Grundton in „How I became a Socialist“ zu bemerken.

Auf solches Mitleid kann Helen Keller verzichten. Als sie plante, auf Einladung der Sozialisten

nach Schenectady zu übersiedeln, woraus letzten Endes dann doch nichts wurde, erschienen in

der kapitalistischen Presse wieder Falschmeldungen.

But the reporters of the capitalist press got wind of the plan, and one day [...] the

Knickerbocker Press from Albany made the announcement. It was telegraphed all over

the country, and then began the real newspaper exploitation. By the Socialist press? No,

by the capitalist press. The Socialist papers printed the news, and some of them wrote

editorials of welcome. [...] [T]he Citizen [...] preserved silence and did not mention my

name during all the weeks when the reporters were telephoning and thelegraphing and

asking for interviews. It was the capitalist press that did the exploiting. Why? Because

ordinary newspapers care anything about Socialism? No, of course not; they hate it. But

because I, alas, am a subject for newspaper gossip. (Out of the Dark 23/24)

Im folgenden kritisiert Helen Keller die finanziellen Drahtzieher, die hinter der kapitalistischen

Presse stehen; mittels der Metapher „obedient to the hand that feeds them“ stellt sie dar, wie

vorprogrammiert der Kampf gegen den Sozialismus ist:

I like newspaper men. I have known many, and two or three editors have been among my

most intimate friends. Moreover, the newspapers have been of great assistance in my

work which we have been trying to do for the blind. [...] But Socialism -- ah, that is a

different matter! [...] The money power behind the newspapers is against Socialism, and

Page 71: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

the editors, obedient to the hand that feeds them, will go to any length to put down

Socialism [...]. (Out of the Dark 26/7)

Im nächsten Abschnitt verhöhnt Helen Keller einen Zeitungsmann, der sie bei einer

Versammlung im Interesse der Blinden kennengelernt und ihr zahlreiche Komplimente gemacht

hatte. Kaum interessierte sich die Kämpferin für die Sache der Blinden jedoch für den

Sozialismus, schien die Meinung des Zeitungemannes umgeschlagen zu sein -- er sah sie als

defekten Menschen mit eingeschränkter Urteilsfähigkeit:

The Brooklyn Eagle says, apropos of me and Socialism, that Helen Keller’s „mistakes

spring out of the manifest limitations of her development.“ Some years ago I met a

gentleman who was introduced to me as Mr. McKelway, editor of the Brooklyn Eagle. It

was after a meeting that we had in New York in behalf of the blind. At that time the

compliments he paid me were so generous that I blush to remember them. But now that I

have come out for Socialism he reminds me and the public that I am blind and deaf and

especially liable to error. I must have shrunk in intelligence [...]. Surely it is his turn to

blush. (Out of the Dark 27/8)

Ihre Ironie wird immer schneidender, was vor allem an dem Einschub zu erkennen ist, ihr

Verstand müsse in der Zwischenzeit sehr zurückgegangen sein. Im folgenden verdeutlicht sie

anhand einer Personifizierung der Zeitschrift, was für ein „kühner Vogel“ der lächerliche

Brooklyn Eagle sei. Desweiteren wird die industrielle Tyrannei personifiziert, die dem „Adler“

die Ohren verstopfe und die Sicht trübe.

Oh, ridiculous Brooklyn Eagle! What an ungallant bird it is! Socially blind and deaf, it

defends an intolerable system [...]. The Eagle is willing to help us prevent misery,

provided, always provided, that we do not attack the industrial tyranny which supports it,

and stops its ears, and clouds its vision. The Eagle and I are at war. [...] It is not fair

fighting or good argument to remind me [...] that I cannot see or hear. I can read. I can

read all the Socialist books I have time for, in English, German, and French. If the editor

of the Brooklyn Eagle should read some of them he might be a wiser man and make a

better newspaper. (28/9)

Wie auch in Meine Welt muß sich Helen Keller rechtfertigen -- sie sei zwar taub und blind,

könne aber lesen, und das sogar in mehreren Sprachen; sie sei also durchaus in der Lage, sich

eine eigene politische Weltanschauung zurechtzulegen. Nach der Betrachtung eines Werkes

Helen Kellers über Politik soll nun ein Band über Religion analysiert werden. Auch in My

Religion muß sich Helen Keller gegen die Vermutung durchsetzen, ihre intimsten Vertrauten

hätten ihr ihre religiösen Überzeugungen eingetrichtert.

Page 72: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

5.4 My Religion (1927)104

Als dieses Bändchen 1927 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, erschien ein Begleitwort: „My

Religion is not a literary production prepared for publication; it is a public profession of faith, a

spontaneaous utterance of the heart, a grateful tribute to Swedenborg.“ (Preface XIII) Helen

Kellers Verleger bei Doubleday hatte wenig Interesse für ein so religiöses Werk, ganz zu

schweigen von Anne Sullivan Macy, die zum Bedauern ihrer Schülerin gar keine Beziehung zu

irgendeiner Form von Religion hatte. Deshalb war Helen Keller bei der Organisation ihres

Werkes ziemlich auf sich alleine gestellt, was eine etwas chaotische Anordung ihrer Kapitel zur

Folge hatte. Ihre Schwierigkeiten, ohne einen fähigen „editor“ auskommen zu müssen, werden in

einem Brief an Rev. Paul Sperry, Anhänger der New Church Swedenborgs, deutlich -- hier zeigt

sie durch die Metapher „Valley of Despond“, wie hoffnungs- und aussichtslos ihr Unterfangen

schien:

I am wandering forlornly in the Valley of Despond. There is something weighing me

down to earth. It should be a book, but it is not. It is only the faintest resemblance of a

book. Indeed, the resemblance is so slight that I doubt it would occur to anybody but

myself to notice it. Mrs. Macy keeps insisting that I should send this undisciplined

offspring of my brain to you as it is, “without one plea.“ But I am fearful that you would

not see anything in it. (Preface XII)

Helen Keller hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn My Religion wurde ein

Verkaufsschlager. Dieses „undisziplinierte Gedankenkind“ kommt auch gleich zur Sache -- der

Leser wird direkt angeredet, denn ähnlich wie in Meine Welt muß sich Helen Keller zunächst

einmal gegen die Stimmen rechtfertigen, die behaupten, ihr wäre ihre religiöse Weltanschauung

aufgezwungen worden: „Do I hear someone say, ‘But is not deaf and blind Helen Keller liable to

be imposed upon by those whose opinions or dogmas or political ideals are confined to a small

minority?’ “ (53)

Wenngleich sie in schwärmerischen Tönen über Swedenborg philosophiert, so

unterstreicht sie doch immer wieder, daß eventuelle Irrtümer nicht auf ihrer Behinderung

beruhen. Sie verlangt, daß man sie wie einen normalen Menschen behandelt, der auch Fehler

machen kann, und der sich zu seinem Glauben bekennt: „Any defect there may be in my own

judgment of him is evidently not due to my physical limitations.“ (55)

104

Die Seitenzahlen beziehen sich auf die überarbeitete Fassung Light in My Darkness.

Page 73: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Inhaltlich beginnt sie, wie in fast allen ihrer Werke, bei ihrer vorsprachlichen Zeit.

Hingegen vieler Thesen, ob sie nicht doch irgendwelche „Vorstellungen“ gehabt habe, sagt sie

klipp und klar, sie hätte keinerlei Vorstellung vom Tod oder von Gott gehabt:

For nearly six years I had no concepts whatever of nature or mind or death or God. I

literally thought with my body. Without a single exception my memories of that time are

tactile. [...] I know I was impelled like an animal to seek food and warmth. I remember

crying, but not the grief that caused the tears; I kicked, and because I recall it physically, I

know I was angry. [...] I was like an unconscious clod of earth. (Kapitel 1:„My Mental

Awakening“, n.p.)

Sie bezeichnet sich in einem Vergleich als einen „Klumpen Erde“ ohne Bewußtsein. Nachdem

sie ihre Situation ausreichend geschildert hat, beschreibt sie die „Brunnenszene“; doch im

Gegensatz zu ihren anderen Werken, wo die Betonung auf ihrer Errettung durch Anne Sullivan

liegt, wird die „Erleuchtung“ hier religiös gedeutet:

Now I see it was my mental awakening. I think it was an experience in the nature of

revelation. [...] When the sun of consciousness first shone upon me, behold a miracle!

The stock of my young life that had perished, now steeped in the waters of knowledge,

grew again, budded again, was sweet again with the blossoms of childhood. [...] That

word “water“ dropped into my mind like the sun in a frozen winter world. (21)

Ihre Errettung erscheint ihr als „Wunder“ (was später in Gibsons Film The Miracle Worker

wiederaufgegriffen wird), und in metaphernreicher Sprache beschreibt sie, wie die „Sonne des

Bewußtseins“ plötzlich auf sie herniederschien. In Allusion an ihr erstes Wort „w-a-t-e-r“

verwendet sie die Metapher „waters of knowledge“: bildreich drückt sie aus, wie das Pflänzlein

ihrer Jugend, das bereits dahingewelkt war, mit dem Wasser des Wissens getränkt wurde und

wieder wuchs und blühte und die süßen Knospen der Kindheit entfaltete.

Im folgenden beschreibt sie durch eine Metaphorik von Licht und Wasser, was

Swedenborg, den sie mit 16 Jahren zum erstenmal las und für sich entdeckte, für sie bedeutete:

The doctrines set forth by Swedenborg bring us by a wondrous path to God’s City of

Light. I have walked through its sunlit ways of truth; I have drunk of its sweet waters of

knowledge; and the eyes of my spirit have been opened [...]. (156)

Auch die häufige Metapher des Weges („wondrous path“; „sunlit ways of truth“) wird

angewandt. Ihre Blindheit bringt sie ins Spiel durch die Metapher der geöffneten „eyes of my

spirit“, die eine Antithese zu ihren blinden Augen darstellen. Helen Keller geht auf ein Werk

Swedenborgs ein, das großen Eindruck bei ihr hinterlassen hat:

Page 74: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

His Divine Love and Wisdom is a fountain of life that I am always happy to be near. [...] I

bury my fingers in this great river of light that is higher than all the stars, deeper than the

silence that enfolds me. [...] I plunge my hands deep into my large Braille volumes

containing Swedenborg’s teachings, and withdraw them full of the secrets of the spiritual

world. (156/7)

Durch die Metapher „fountain of life“ beschreibt Helen Keller, daß die Lehren Swedenborgs für

sie zu einer Lebensquelle geworden sind. Weiterhin symbolisieren die Verben „bury my

fingers“, „plunge my hands deep into“ und „withdraw them full of“ die spirituelle

Reichhaltigkeit, aus der sie im wahrsten Sinne des Wortes „schöpft“. Durch die parallelistisch

angeordnete Antithese „higher than the stars -- deeper than the silence“ wird auf ihre Taubheit

angespielt.

Helen Keller kann sich ein Leben ohne Religion nicht vorstellen. Doch auch in My

Religion muß sie stilistisch wieder gegen die berühmt-berüchtigten „Kritiker“ zu Felde ziehen,

die ihr nicht einmal ihre Philosophie gönnen wollen:

I cannot imagine myself living without religion. I could as easily fancy a living body

without a heart. [...] I am aware that some learned critics will break me on the wheel of

their disdain. They will try to mend my poor philosophy on the anvil of their keen mirth

with the hammer of reasons culled from science. (150)

Der Vergleich mit einem „lebenden Organismus ohne Herz“ verdeutlicht, wie unmöglich ihr ein

Leben ohne Religion erscheint. Die Metapher „wheel of disdain“, also eine Art Folterinstrument,

auf dem die Kritiker sie brechen wollen, veranschaulicht Helen Kellers Schwierigkeit, ihre

eigene Meinung in Sachen Religion und Philosophie kundzutun gegenüber der verächtlichen

Reaktion der Kritiker. Noch anschaulicher ist die Metapher „mend my philosophy on the anvil of

their keen mirth“: die Kritiker schlagen ihre Philosophie auf dem „Amboß ihrer großen

Heiterkeit“ zurecht, d.h. sie nehmen Helen Keller nicht ernst. Als Werkzeug dient ihnen ein

„hammer of reasons culled from science“ -- d.h. sie hämmern mit wissenschaftlichen

Argumenten auf sie ein.

Wie in Meine Welt betont Helen Keller, daß sie Dinge „sieht“, von denen ihre

Mitmenschen keine Ahnung haben, weil sie die nackten Tatsachen den Visionen vorziehen:

I am often conscious of beautiful flowers and birds and laughing children where to my

seeing associates there is nothing. They sceptically declare that I see “light that never was

on sea or land.“ But I know that their mystic sense is dormant, and that is why there are

so many barren places in their lives. They prefer “facts“ to vision. They want a scientific

demonstration, and they can have it. (150)

Page 75: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Die Quintessenz auch dieses Bändchens ist, daß Helen Keller wie ein normaler Mensch

behandelt werden möchte, der ein Recht auf eine eigene Glaubensauffassung hat, und dem man

nicht nachsagt, ihm seien seine ideologischen Vorstellungen aufgezwungen worden.

5.5 Midstream (1929) und Teacher (1955)

Nachdem Helen Keller bereits eine Reihe von Büchern veröffentlicht hatte, stand sie vor dem

Problem, daß ihr der Stoff ausging -- und zwar über das leidige Thema, über das alle Leute hören

wollten: sie selbst.

The editors of the magazines said, “Do not meddle with those matters not related to your

personal experience.“ I found myself utterly confined to one subject -- myself, and it was

not long before I had exhausted it. (Midstream 139)

Sie beginnt mit ihrer zweiten großen Autobiographie Midstream: My Later Life da, wo The

Story of my Life endete -- bei ihrer College-Zeit. Dann fügt sie eine Reihe von Kapiteln ein, die

sich mit ihren späteren Erfahrungen beschäftigen. Darunter fallen z.B. die zahlreichen

Experimente, die neugierige Wissenschaftler an ihr vorgenommen haben. Stilistisch

hervorstechend ist die Passage, in der sie auf humorvolle Art berichtet, daß sie fast alles über

sich habe ergehen lassen müssen -- außer einer Vivisektion:

I wonder if any other individual has been so minutely investigated as I have been by

physicians, psychologists, physiologists, and neurologists. I can think of only two kinds

of tests I have not undergone. So far I have not been vivisected of psychoanalyzed. To

scientists I am something to be examined like an aerolite or a sunspot or an atom! I

suppose I owe it to a merciful Providence that I have not been separated -- actually

separated into ions and electrons. I suppose it is only a matter of time until they will turn

an alpha particle of charged helium into the dull substance of my body, and knock the

nucleus into a million particles. The only consolation there is in such a possibility is that

it will be very hard for a taxicab to hit those miniature me’s. (Midstream 257)

Um die Lächerlichkeit der Experimentierfreudigkeit einiger Wissenschaftler hervorzuheben,

vergleicht sich Helen Keller mit den Forschungsobjekten „aerolit / sunspot / atom“ und witzelt

darüber, daß sie noch nicht in Ionen und Elektronen aufgespalten worden ist. Sehr bildreich und

mit gespieltem Ernst macht sie die Prognose, daß irgendwann ein heliumgeladenes Alphateilchen

Page 76: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

in die Gestalt ihres Körpers verwandelt werden und anschließend einer Kernspaltung zum Opfer

fallen wird. Sie setzt dem ganzen noch eine Pointe auf mit der witzigen Bemerkung, daß es

immerhin einen Vorteil hätte, da die Miniatur-Helens nämlich nicht mehr von einem Taxi

angefahren werden könnten.

Einen ganz anderen Ton schlägt Helen Keller an, als sie von ihrer tragischen ersten Rede

während ihrer Vortragsreisen mit Anne Sullivan berichtet. Nach all den Märchen über ihre

„fließende Redensweise“ gesteht sie mit größter Aufrichtigkeit, wie unzulänglich ihre Stimme

war, und daß sie bei ihrem ersten Auftritt in Montclair, New Jersey, einem

Nervenzusammenbruch nahe gewesen ist:

Until my dying day I shall think of that stage as a pillory where I stood cold, riveted,

trembling, voiceless. Words thronged my lips, but no syllable could I utter. At last I

forced a sound. It felt to me like a cannon going off, but they told me afterwards it was a

mere whisper. (Midstream 97)

Sie vergleicht die Bühne mit einem „Pranger“, an dem sie bloßgestellt ist. Antithetisch stellt sie

die Aussagen gegenüber, daß sich Worte an ihre Lippen drängten, sie aber keinen Ton

herausbekam. Die Antithese „cannon“ und „whisper“ verdeutlicht, wie unfähig sie war, ihre

eigene Lautstärke selbst einzuschätzen.

I was constantly between Charybdis and Scylla; sometimes I felt my voice soaring and I

knew that meant falsetto; frantically I dragged it down till my words fell about me like

loose bricks. Oh, if that kindly custom of Athens, that of accompanying an orator with a

flute, could have prevailed [...]. (Midstream 97)

Die Allusion auf die Ungeheuer aus der griechischen Mythologie zeigt, daß sie ständig zwischen

zwei Extremen hin- und herschwankt. Die Metapher „like loose bricks“ symbolisiert ihre

holpernde und polternde Aussprache. In ihrer Verzweiflung wünscht sie, der alte Brauch von

Athen, Redner mit Flötenspiel zu begleiten, wäre auch in New Jersey an diesem Tag üblich

gewesen, denn sie wäre gern im allgemeinen Lärm untergegangen. Trotz aller Unzulänglichkeit

ist sie froh, durch ihre Stimme mit den anderen kommunizieren zu können, und der Paragraph

endet mit der hoffnungsvollen Metapher: „It is not a pleasant voice, I am afraid, but I have

clothed its broken wings in the unfading hues of my dreams [...].“ (Midstream 98)

In Midstream berichtet Helen Keller u.a. auch von ihren Vaudevilleauftritten mit Anne

Sullivan und den daraus resultierenden Problemen. Hauptanliegen war ja in erster Linie, ihren

Lebensunterhalt damit zu verdienen, daß sie zwischen Musikeinlagen dem Publikum vorführte,

Page 77: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

wie ihre Lehrerin ihr die Sprache beigebracht hatte, wonach sie zahlreiche Fragen beantworten

mußte. Manche Veranstalter wollten sich nach solchen Vorführungen um die Bezahlung

drücken, und wenn Helen Keller darauf bestand, gab es skandalöse Schlagzeilen, die ihren

Charakter in ganz falschem Licht darstellten:

Once when we did demand payment and refused to appear when it was not made, the

audience became indignant, and the next morning the newspapers came out with a great

headline, “Helen Keller refused to speak unless she held the money in her hand.“

(Midstream 212)

Das Publikum schien nicht zu verstehen, daß Helen Keller schließlich von irgendetwas leben

mußte und nicht gratis als Verkünderin des „Wunders“ herumreisen konnte. Midstream ist

übrigens das einzige Werk, in dem sie über ihr Intimleben berichtet und ihre Affaire mit ihrem

Sekretär Peter Fagan beschreibt -- die 1982 in Gibsons Theaterstück Monday after the Miracle

viel zu herzlos dargestellt und zu abrupt beendet wird.

The young man who was still acting as my secretary in the absence of Miss Thomson,

came in and sat down beside me. For a long time he held my hand in silence, then he

began talking to me tenderly. I was surprised that he cared so much about me. [...] He

said if I would marry him, he would always be near to help me in the difficulties of life.

[...] His love was a bright sun that shone upon my helplessness and isolation. [...] For a

brief space I danced in and out of the gates of Heaven, wrapped up in a web of bright

imaginings. (Midstream 178/9)

Daß Helen sich im siebten Himmel befunden hat, fällt in Monday after the Miracle gänzlich

unter den Tisch; hier ist die Situation nach ihrer Aufdeckung nur noch „peinlich“. In Gibsons

Theaterstück schleust John Macy seinen Freund Pete sozusagen als Ersatz für Helen ein, da er

sich kein Verhältnis mit ihr leisten kann; in Midstream dagegen erwähnt Helen Keller, Peter und

Polly seien als Hilfen angestellt worden, als John seine Frau Anne verlassen habe. In Monday

after the Miracle macht sich Pete, der ein ziemlicher Frauenheld zu sein scheint, an Helen Keller

heran, während in Midstream seine Feinfühligkeit und ernste Absicht deutlich werden.

Auch in Midstream muß sich Helen Keller Kritikern gegenüber zur Wehr setzen, die ihr

das ewig gleiche Thema der Autobiographie vorschreiben wollen: „I have already said that

people are not interested in what I think of things outside myself, but there are certain subjects

about which I feel very deeply, and this book would not be an honest record of my life if I

avoided them.“ (329) Mit dieser Rechtfertigung legitimiert sie z.B. ihre Ausführungen über die

Page 78: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Politik. Ein Gedanke, der Helen Keller bewegt, wovon aber niemand hören will, ist die russische

Revolution.

When we look back upon these mighty disturbances which seem to leap so suddenly out

of the troubled depths we find that they were fed by little streams of discontent and

oppression. These little streams which have their source deep down in the miseries of the

common people all flow together at last in a retributive flood. (Midstream 334)

Mittels einer Metapher zeigt sie, daß die große Flut des Widerstandes sich aus zahlreichen

kleinen Zuflüssen zusammensetzt, die von der Unzufriedenheit und Unterdrückung der Massen

herrühren, und erklärt somit die Ursprünge des Sozialismus.

Men vanish from earth leaving behind them the furrows they have ploughed. I see the

furrow Lenin left sown with the unshatterable seed of a new life for mankind, and cast

deep below the rolling tides of storm and lightning, mighty crops for the ages to reap.

(Midstream 335)

Durch die Metapher vom Ackermann beschreibt Helen Keller anschaulich, wie führende

geschichtliche Persönlichkeiten vor ihrem Tod (im Beispiel Lenin) eine Furche gezogen und die

Saat für ein neues Zeitalter ausgestreut haben, der auch die schlimmsten Stürme nichts anhaben

können. Den zukünftigen Geschlechtern stehe eine reiche Ernte bevor. Dies alles drückt die

Hoffnung aus, die Helen Keller in die russische Revolution setzt. Weiterhin zählt sie Personen

auf, die die Welt verändert haben, wie Sacco und Vanzetti, Juarès, Liebknecht, Rolland, Lenin

und Tolstoi, und die dazu beigetragen haben, die Massen für eine kurze Zeit aus ihrer Ignoranz

zu befreien.

The veil of the temple is for a moment rent in twain; Truth, piercing as lightning, reveals

the hideous thing we have made of our humanity. Then the veil is drawn, and the world

sleeps again, sometimes for centuries, but never as comfortably as it did before.

(Midstream 336/7)

Mit diesem biblischen Bild vom Vorhang im Tempel, der entzweireißt, will sie darstellen, daß

die Massen durch revolutionäre Persönlichkeiten aus ihrer Gleichgültigkeit wachgerüttelt werden

und sozusagen kurzzeitig hinter die Kulissen blicken können. Durch die Personifizierung der

Wahrheit wird deutlich, daß die Menschen erkennen, was sie angerichtet haben. Dann aber

schließt sich der Vorhang wieder (mit dem Tod der Revolutionäre), und die Welt schläft erneut.

Abgesehen von ihrer sozialistischen Einstellung wird auch ihre Glaubenshaltung deutlich.

Helen Keller fügt geradezu ein richtiges Glaubensbekenntnis ein, das sich durch die Anapher „I

believe“ auszeichnet:

Page 79: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

I believe that we can live on earth according to the teachings of Jesus [...]. I believe that

every question between man and man is a religious question [...]. I believe that we can

live on earth according to the fulfilment of God’s will [...]. I believe that life is given us

so we may grow in love [...]. I believe that only in broken gleams has the Sun of Truth yet

shone upon men. [...] I believe that no good shall be lost [...]. I believe in the immortality

of the soul [...]. I believe that in the life to come I shall have the senses I have not had

here [...].

(Midstream 340/1 Kursivdruck hinzugefügt)

Mittels einer Metapher über Licht und der Antithese zur Dunkelheit zeigt Helen Keller, daß ihr

Glauben ihr Kraft gibt und sie furchtlos auf ihrem Weg zum Paradies geht.

I carry a magic light in my heart. Faith, the spiritual strong searchlight, illumines the way,

and although sinister doubts lurk in the shadow, I walk unafraid towards the Enchanted

Wood where the foliage is always green [...]. (Midstream 341)

Midstream endet mit einer dunklen Vorahnung, daß der Tod ihrer Lehrerin Anne Sullivan Macy

nicht mehr fern ist. (Sie starb neun Jahre später.) Ihre Furcht, von ihr verlassen zu werden, drückt

Helen Keller durch eine Personifikation aus -- die Hoffnung hat ihr Gesicht verschleiert, und

Ängste streifen und schlagen sie bei ihrem Flug durch die Dunkelheit (wie Fledermäuse):

„Hope’s face is veiled, troubling fears awake and bruise me as they wing through the dark.“

(Midstream 344) Der letzte Absatz ihres Buches ist eine Hommage an ihre Lehrerin; in

metaphernreicher Sprache wird noch einmal beschrieben, wie sie Helen aus der Dunkelheit

rettete.

Out of the orb of darkness she led me into golden hours and regions of beautiful thought,

bright-spun of love and dreams. Thought-buds opened softly in the walled garden of my

mind. Love flowered sweetly in my heart. Spring sang joyously in all the silent, hidden

nooks of childhood, and the dark night of blindness shone with the glory of stars unseen.

As she opened the locked gates of my being my heart leapt with gladness and my feet felt

the thrill of the chanting sea. (347)

Teacher: Anne Sullivan Macy mit dem Untertitel A Tribute by the Foster-child of Her Mind ist

Helen Kellers letztes großes Werk. Endlich, nach dem Tod ihrer Lehrerin, konnte sie einmal ein

Buch schreiben, das nicht nur von ihr selber handelte. Es hatte bereits einen Vorläufer gehabt,

doch der Entwurf dieses Buches war bei einem Brand ihres Hauses in Arcan Ridge, Connecticut

zerstört worden. Helen Keller bedauerte den Verlust ihres Manuskripts zunächst sehr, wobei sie

mit der Feuer-Metaphorik spielt:

With anguish I thought of the „Teacher“ manuscript, three-fourths written, on which I

had worked in spare moments during twenty years. I said to Polly that the loss of that

Page 80: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

manuscript seemed to me like mutilation. Just as I said that, a fire leaped up in me, not to

burn down and blacken, but to illumine my mind and point it to a purpose. (Teacher 31)

Vielleicht ist es gut, daß der erste Entwurf verbrannt ist, denn zu Lebzeiten Anne Sullivans stand

Helen Keller ja ständig unter deren Einfluß, und sie hatte ihr noch in Midstream verboten, allzu

persönliche Details über sie zu veröffentlichen -- was eine Biographie unweigerlich mager hätte

ausfallen lassen. Helen Keller fährt fort mit der Feuer-Thematik:

[...] I perceived the shaping fire of Teacher’s spirit, and in that perspective I gained a

fresh appreciation of how the sparkle of her personality and the shadows of her blindness

[...] had been part and parcel of my life for fifty years. (Teacher 36)

Das Ziel dieses Buches formuliert sie folgendermaßen, wobei sie beim Bild des Feuers bleibt: „I

fervently hope that I may convey to my readers some gleams from the opal fires in the nature of

a woman with a heart for glorious living“. (Teacher 36) Die Überleitung zum antithetischen

Kapitel „w-a-t-e-r“ ist ebenfalls auf dieser Metaphorik fundiert: „It was a bright, clear spark from

Teacher’s soul that beat back the sooty flames of thwarted desire and temper in little Helen’s no-

world. That spark was the word ‘water.’ “ (Teacher 36) Dieses Paradoxon ist der Stichpunkt für

eine ausführliche Schilderung des vorsprachlichen Zustandes von „Phantom“ sowie ihrer

Errettung durch Anne Sullivan. Dabei verbessert Helen Keller ihre Darstellung in The Story of

my Life, die ihr zu unreif erscheint.

Sie stellt Anne Sullivans revolutionäres Erziehungssystem dar: „It was into this dense

mass of ignorance that Teacher flashed her beacon. She treated me exactly like a seeing and

hearing child“. (198) Allerdings sieht sie ihre Lehrerin dabei nicht in einem verklärten Licht,

sondern beschreibt auch ihre Determination, ja fast schon Besessenheit, etwas aus Helen zu

machen. Oftmals uferte ihr übergroßer Ehrgeiz in irreale Forderungen aus; so z.B. als sie von

Helen erwartete, sie würde ein ungeahntes Talent für Bildhauerei entwickeln. „There was music

to her in the thought that if I could only cultivate an extra sensitiveness in my touch, I might

create beautiful and significant plastic art.“ (Teacher 67) Helen mußte mit Ton üben, und ihre

Lehrerin konnte die Enttäuschung nur schwer verkraften, daß sich ihr Vorzeigekind nicht als

begnadete Künstlerin entpuppte. Helen Keller litt sehr darunter, den Idealvorstellungen ihrer

Lehrerin nicht entsprechen zu können: „There is nothing I have lived through on earth sadder

than to have lagged so far behind her desire as teacher and artist in one.“ (Teacher 63)

Gleichzeitig wehrte sich ihr Körper gegen die unsinnigen Anstrengungen: „Oh no, Teacher, you

Page 81: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

must not!“ cried the child, but Teacher could not curb her longing for perfection. By nature she

was a conceiver, a trail-breaker, a pilgrim of life’s wholeness.“ (Teacher 62) Um den

Anforderungen so gut wie möglich nachzukommen, arbeitete das Kind bis zur Erschöpfung: „I

wanted her to be happy, and I worked until my hands were exhausted. She read me biographies

of sculptors [...].“ (Teacher 68) Im Rückblick schildert Helen Keller in einer Mischung aus

Komik und Tragik, wie sie als Künstlerin scheiterte:

But I came to grief with a big, artificial, uninteresting fern; it did not resemble the

graceful ferns I had felt in the woods. [...] No satisfactory results appeared, and one

morning her anger flared up and she slapped my cheek with the cold wet clay. (Teacher

68)

Nach diesem Zornesausbruch bat Anne Sullivan sogleich reumütig um Verzeihung und erkannte,

daß sie ihren Liebling überfordert hatte. Ihr schrankenloser Ehrgeiz und Perfektionismus jedoch

sind ein negativer Charakterzug, den niemand außer Helen Keller, die ihn ja hautnah erlebt hat,

so treffend darzustellen wußte. Die Charakterstudie Teacher ist ihr einziges Werk, in dem sie

etwas Negatives über die „Retterin“ und „Wundertäterin“ sagt.

6 Filme und Bühnenstücke mit / über Helen Keller

Nicht nur die Presse benutzte Helen Keller, um ihre Auflagen zu steigern, sondern auch die

Filmindustrie versuchte sie zu vermarkten und aus ihrer Lebensgeschichte Kapital zu schlagen.

Eine günstige Gelegenheit bot sich, als Helen Keller in einer mißlichen finanziellen Lage war.

Sie wußte, daß mit ihrem Tod die Carnegie-Rente enden würde, und sie wollte ihre kränkelnde

Lehrerin versorgt wissen. Im Sommer 1918 trat der Hollywoodmanager Dr. Francis Trevelyan

Miller mit dem Vorschlag an Helen Keller heran, einen Film mit dem Titel „Deliverance“

(„Befreiung“) zu drehen, und sie sagte aus Geldgründen zu. Auch hoffte sie, der Sache der

Tauben und Blinden zu dienen. Der Titel „Deliverance“ geht auf Helen Kellers Wunsch zurück,

in diesem Film darzustellen, wie sie durch ihre Lehrerin vor ihrem grausamen Schicksal gerettet

worden war; außerdem wollte sie zeigen, wie die mit „geistiger Taubheit und Blindheit“

geschlagenen Kriegsmächte geheilt werden könnten. Der Film drehte Szenen nach ihrem Buch

The Story of my Life, und Helen Keller, Anne Sullivan Macy und ihre Sekretärin Polly Thomson

Page 82: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

trafen in Hollywood ein, „und zwar mitten in der Hauptepoche des Stummfilms, wo es dort nur

um nackte Sensationen ging und sonst nichts.“105

Helen Keller äußert sich folgendermaßen über den Produktionsassistenten Dr. Liebfreed,

dem die Finanzen unterstanden: „Er wollte einen kommerziellen „Schlager“, meine Lehrerin und

ich forderten jedoch ein historisches Dokument, und diese beiden Bestrebungen schienen

unvereinbar.“ (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan 125). Sie und ihre Lehrerin waren

von diesem Projekt zutiefst enttäuscht, und einzig die Bekanntschaft mit Charlie Chaplin, der

wie Anne Sullivan Armut kennengelernt und um sozialen Aufstieg gekämpft hatte, entschädigte

sie für die vergebliche Mühe. Als Darstellerin schien Helen Keller nicht sonderlich überzeugend

gewesen zu sein: „Die Dreharbeiten litten unter den Hemmungen der Heldin, die sich angesichts

der grazilen Filmstars als zu groß und zu ungeschickt empfand [...].“106

Das Thema selbst war

völlig undramatisch, und man mußte doch auf die Erwartungen des Publikums eingehen, die

früher wie heute wohl mit der Formel „sex, violence, and action“ umschreibbar sind, weshalb

sich die Produzenten gezwungen sahen, beinahe lachhafte Szenen zu erdichten:

A fierce battle was staged before the cave of Father Time between Knowledge and

Ignorance for control of Helen’s mind. Instead of an undergraduate love affair, and

because of her passion for the Greek myths, she was given a love affair with the mythical

Ulysses that included a realistic shipwreck on the Isle of Circe. In the final part of the

picture, to show her triumph over physical limitations, she took her first flight in helmet

and goggles in an aeroplane, over the protests of Teacher [...]. A penultimate scene with

hundreds of extras, the blind, the maimed, [...] showed Helen as the Mother of Sorrows

touching the kneeling petitioners with her torch of hope. The grand finale was to be a

scene in which Helen was ushered into a meeting of the Big Four to urge them to bring

the war to a close; and the final spectacle, so dearly beloved of Hollywood, presented

Helen on a large white charger, blowing a trumpet and leading thousands of shipyard and

factory workers, people of all nations, toward „deliverance.“107

Helen Keller protestierte gegen eine derartige Darstellung ihrer selbst; in einem Brief an ihre

Nachbarn aus Pittsburgh, Mr. und Mrs. Schwab, schrieb sie: „[...] there is a scene called „The

Council-Chamber,“ where all the great generals, kings and statesmen are assembled in a sort of

peace conference. I enter in a queer medieval costume and proclaim the Rights of Man rather

feebly [...].“108

Sie erreichte die Streichung dieser Szene. Aber der Siegeszug auf dem Schimmel

blieb bestehen, über den sie geschrieben hatte: „It is altogether too hilarious to typify the

105

Pause 1955, 396. 106

Jaedicke 1979, 157. 107

Lash 1980, 469/470. 108

Lash 1980, 472.

Page 83: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

struggles of mankind for liberty.“109

Die gefühlsduselige Symbolik, mit der „Deliverance“

überladen war, war typisch für Hollywood. Die Christusmetaphern (Segnung der Armen) sowie

die Kriegsmetaphern (Schimmel, Trompete, Führerin einer Völkerschar) und ebenso ihr

wallendes Gewand machten aus Helen Keller eher eine Jeanne d’Arc als eine Behinderte, die für

die Rechte ihrer Leidensgenossen eintritt. Helen Keller berichtet in Midstream: My Later Life

über ihre Illusionen und die mißlungene filmtechnische Umsetzung, aber sie äußert sich in keiner

Weise über die Uraufführung am 18. August 1919. An diesem Tag hatte die

Berufsgenossenschaft der Schauspieler, Actors Equity, einen Streik ausgerufen, dem sich Helen

Keller anschloß und ganz radikal nicht zur Erstaufführung erschien110

. Der Film, „nach Helen

Kellers eigenen Worten eine einzige Geschmacklosigkeit“111

, wurde kein Kassenerfolg, sondern

ein totaler Mißerfolg und brachte nicht die erträumte finanzielle Unabhängigkeit. Helen Keller

konnte noch von Glück reden, keine Schulden gemacht zu haben.

Der Film sollte ein realistisches Werk sein, wurde aber so stark ausgeschmückt, daß er zu

einer wilden symbolistischen Spielerei entartete, für die der einzige passende Titel

„Befreiung“ zu sein schien. (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan. Einführung

von Nella Braddy Henney, 17)

Immerhin wurden die lebensechtesten Szenen daraus in Nancy Hamiltons gelungenem

Dokumentarfilm von 1954, „The Unconquered“, übernommen, bei dem sich eine weitaus

positivere Rezension feststellen läßt. Ein Beispiel hierfür ist die Wertung von Walter Pause, der

in metaphernreicher Sprache vom „stummem Heroismus“ der Taubblinden spricht, welcher „den

Tageslärm übertönt“, was in sich ein Paradox ist. Somit hebt er die Einzigartigkeit des Filmes

sowie der dargestellten Heldin hervor.

[1954] stellte die Filmstadt Hollywood abseits ihrer üblichen Massenerzeugung den

zweiten Helen-Keller-Film „Die Unbesiegte“ her, der die traurig-erhebende

Lebensgeschichte der taubblinden Dichterin erzählt. Katherine Cornell, die ansonsten

filmfeindliche „First Lady“ des amerikanischen Theaters, spricht die Rolle Helen Kellers.

Der Film faßt seine Symbolik in einem Satz zusammen: „Ich weinte, als ich keine Schuhe

hatte -- bis ich einen Mann traf, der ohne Füße war.“ Millionen Menschen werden diesen

Film sehen. In ihm triumphiert ein großer Mensch in einem stummen Heroismus, dessen

Stimme den Tageslärm für alle Zeiten übertönt.112

109

Ibd. 110

Vgl. Jaedicke 1979, 157/8. 111

Pause 1955, 397. 112

Pause 1955, 405.

Page 84: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

1955 erhielt diese verfilmte Biographie unter dem neuen Titel „Helen Keller und ihre

Geschichte“ den Akademiepreis für den besten abendfüllenden Dokumentarfilm.

Den unzweifelhaft größten Erfolg hatte jedoch die Adaption von William Gibson, der

dieses Thema auf der Bühne und im Film umsetzte. Sein Ausgangstext waren die Briefe Anne

Sullivans aus dem Anhang von The Story of my Life, und als Background zu Anne Sullivans

Kindheit verweist er auf Nella Braddys Biographie Anne Sullivan Macy (vgl. Gibson, „Author’s

Note“). Im Jahre 1953 war „The Miracle Worker“ von William Gibson ein unproduziertes

Ballet; 1957 kam „The Miracle Worker“ bei „Playhouse 90“ (CBS) im Fernsehn, und im

Oktober 1959 wurde das Theaterstück unter der Regie von Arthur Penn am Broadway

uraufgeführt. Mit denselben Hauptdarstellerinnen (Anne Bancroft als Anne Sullivan und Patty

Duke als Helen Keller) wurde 1962 der Film „The Miracle Worker“ gedreht, der beiden

Schauspielerinnen Oscars einbrachte (Anne Bancroft: Best Actress Academy Award und Best

Foreign Actress, British Academy; Patty Duke: Best Supporting Actress). Sowohl im

Theaterstück wie auch im Film ist die Hauptperson Anne Sullivan (wie der Titel „miracle

worker“ schon sagt); also die „Wundertäterin“ und einmal nicht das „Wunderkind“. Es wird

lediglich eine kurze Zeitspanne aus Helen Kellers Leben behandelt, nämlich die ersten

Unterrichtstage nach Eintreffen ihrer Lehrerin; die Schlüsselszene ist ihre Erleuchtung am

Brunnen, als sie durch das Wort „Wasser“ erfaßt, daß jedes Ding seinen Namen hat:

At the dinner table one night, Duke tips over the water pitcher and Bancroft drags her

outside to the water pump and forces her to refill it. And that’s where the revelation

occurs; [...] [t]he connection has been made and the audience is magnetized by the scene

as the film ends. Everyone is to be congratulated for their work on this film. Penn and

cinematographer Caparros use short dissolves to great advantage and the score, by

Rosenthal, heightens every nuance of the drama.113

Der Regisseur Arthur Penn, dessen Spezialitäten Kriminal- und Westernfilme waren (z.B.

Bonnie and Clyde) übertrug die Dreharbeitsmethoden von Actionfilmen auf dieses subtile

pädagogische Sujet. Berühmt geworden ist der Film infolgedessen für die Szene, in der Anne

Sullivan der widerspenstigen Helen Tischmanieren beibringen will, und die mit drei Kameras

gefilmt wurde: „The eight-minute sequence that featured a physical fight between Bancroft and

Duke [...] will long be remembered as one of the most electrifying ever staged or filmed.“114

113

Nash 1986, 1967. 114

Nash 1986, 1967.

Page 85: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Ein weiteres Bühnenstück nach einer Vorlage von William Gibson erwies sich als

kommerzieller Fehlschlag, sowohl wegen der ungeeigneten Darstellerin der Helen Keller als

auch wegen inhaltlicher Überbetonung gewisser Themen. Im Motion Picture Guide findet sich

eine zynische Kritik:

Years later, Gibson wrote a sequel which Penn directed for the stage. It was callled

„Monday After the Miracle“ and starred Jane Alexander as Annie and Karen Allen as

Helen. The play was a dismal flop. In it, Allen spoke the lines the way she must have

thought a deaf person would speak but she was in and out of vocal character. There was a

sexual overlay placed on the story with an affair between Keller and ... never mind. It

failed deservedly and lost several hundred thousand for producers Ray Katz and Sandy

Gallin, two show business managers [...] who thought they knew theater. The sequel took

place many years hence and had none of the fire and drama of the original. Some things

are better left unsequelized.115

6.1 William Gibsons The Miracle Worker116

Die schriftliche Version von Gibsons Film trägt im Vorspann die Widmung

„To the memory of

Anne Sullivan Macy

humbly“,

d.h. The Miracle Worker ist eine Hommage an die Lehrerin und nicht, wie die früheren Filme

(besonders Deliverance) eine Verherrlichung des Wunderkindes. Auch die Tatsache, daß Gibson

Anne Sullivan in seinen Regieanweisungen vertraulich als „ANNIE“ bezeichnet, zeigt seine

Sympathie. Dies ist der erste große Unterschied, der beim Aufgreifen des Falls Helen Keller von

den Medien zu beobachten ist. Helen Keller wird sich darüber sehr gefreut haben, denn sie

erwähnt in zahlreichen ihrer Werke immer wieder, daß ihre Lehrerin zu kurz kommt. Gibsons

Film hat lobende Kritiken erhalten; im folgenden soll analysiert werden, was ihn zu einem guten

Film macht. Bei dem Vergleich mit der Vorlage kommt es auf Form und Inhalt an. The Miracle

Worker ist keine klassische Literaturverfilmung, da er nicht auf einer Romanvorlage beruht,

115

Ibd. 116

Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die in Klammern stehenden Seitenzahlen auf Gibson,

William. The Miracle Worker. A Play for Television. New York: Alfred A. Knopf, 1969.

Page 86: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

sondern Gibson sich an den Briefen Anne Sullivans orientiert hat. Daraus resultiert

unvermeidlich, daß der Film nicht viel Handlung aufweist. Wenn man den Rahmen außer acht

läßt (Krankenzimmer Helens; Kinderszenen mit der Taubblinden; Suche nach einer Erzieherin;

Verabschiedung Annes in der Perkins Institution; Anreise nach Alabama), so bleibt für die

eigentliche literarische Vorlage nicht mehr viel Handlung übrig. In Anne Sullivans Briefen ging

es ja meistens um Worte und nicht um Ereignisse; außerdem umreißen sie nur eine kurze

Zeitspanne aus dem Leben Helen Kellers, die lediglich in häuslicher Atmosphäre spielt, und

Gibson hat, um die Historizität zu bewahren, fast wortwörtlich mehrere Textstellen aus dem

Anhang von The Story of my Life übernommen; daher bleibt es zu untersuchen, wie Gibson mit

wenig Inhalt und einer hohen Literarizität einen erfolgreichen Film drehen konnte.

Dies war ihm zum einen möglich durch die Brisanz des Themas an sich; zum anderen

durch die Dramatik der aus den Briefen ausgewählten handlungsreicheren Szenen, hauptsächlich

physische Kämpfe zwischen Anne Sullivan und Helen Keller. Die Kernaussage des Miracle

Workers ist, wie eine junge, unerfahrene, augenkranke Lehrerin einem taubblinden Kind mittels

Fingeralphabet klar macht, daß jedes Ding einen Namen hat. Abgesehen von den physischen

Kämpfen spielt auch die Psyche in dem Film eine große Rolle; dies wird vor allem deutlich in

dem Verhalten von Anne (dramatische Alpträume). Es ist ein zweiter roter Faden zu beobachten,

der sich durch den ganzen Film zieht: Annes Suche nach Liebe. So wiederholt sie mehrere Male,

sie könne seit dem Tod ihres Bruders Jimmie nicht mehr lieben, und es ist ein langer und

beschwerlicher Weg, gezeichnet von Helens hartnäckiger Abweisung jeglicher Zärtlichkeit von

seiten ihrer Lehrerin, bis diese am Ende in ihre Hand buchstabiert: „I, love, Helen“. Natürlich hat

die Starbesetzung dazu beigetragen, daß der Film so ein Erfolg wurde. Über Anne Bancroft

schreiben die Kritiken: „Another Bancroft trademark is the intensely physical nature of her

performances. Her scraps in The Miracle Worker and The Pumpkin Eater represent two of the

screen’s most celebrated catfights.“117

Beziehungsweise:

It was Arthur Penn’s film [...] that brought her back to movies and to a working of raw

emotion [...]. The Oscar for that part was irrelevant to its frightening complexity. As well

as nursing the performance of Patty Duke, she so dramatized the struggle between liberty

and discipline that she probably helped reveal Penn’s own talent to himself.118

117

Vinson 1986, 45. 118

Thomson 1994, 41.

Page 87: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Der schriftlichen Version, an die wir uns im folgenden halten, hat William Gibson eine

Erklärung vorangestellt, in der er seine Quellen nennt und auf Werktreue bzw. Abweichungen

von den Originalbriefen Anne Sullivans hinweist:

The present text is meant for reading, and differs from the telecast version in that I have

restored some passages that read better than they play and others omitted in performance

for simple lack of time. [...] The main incidents in the play are factual; I have invented

almost nothing [...], though often I have brought together incidents separated in time. My

chief source has been Annie’s own letters [...].119

Das Stück besteht aus drei Akten. Inhaltlich sind folgende Szenen zu unterscheiden (ausgelassen

sind die zahlreichen Überblendungen, die inhaltlich nichts Neues bringen, sondern nur

Einstellungen und Symbole aufgreifen; Reihen von Szenen im Zeitraffer sind als eine Szene

zusammengefaßt):

Erster Akt: 1. Krankenbett der kleinen Helen und Entdeckung, daß sie taub und blind ist, 2. die

sechsjährige Helen spielt mit farbigen Kindern der Bediensteten und schneidet Martha die

Korkenzieherlocken ab aus Zorn, weil sie nicht wie die anderen sprechen kann, 3. Familie Keller

unterhält sich im Wohnzimmer darüber, was aus Helen werden soll, und Helen reißt zwei

Knöpfe vom Kleid der Tante, um sie als Augen an ihre Puppe genäht zu bekommen; dann leert

Helen die Wiege ihrer Puppe aus, in der Schwesterchen Mildred liegt, 4. Augenarzt Dr.

Chisholm wird angeschrieben, 5. Dr. Bell wird besucht, 6. Dr. Anagnos wird kontaktiert; er

bespricht sich mit Anne Sullivan; Anne verabschiedet sich von blinden Kindern und erhält

getönte Brille als Geschenk und Puppe für Helen, 7. Anne fährt mit dem Zug nach Tuscumbia,

8. Anne wird von James und Mrs. Keller vom Bahnhof abgeholt, 9. sie fahren mit der Kutsche

nach Hause, 10. Helen steht im Hof, begutachtet Anne und macht sich über ihren Koffer her, 11.

Familie Keller debattiert im Hof über Annes Eignung, 12. Anne und Helen sind auf Annes

Zimmer; Helen probiert ihren Hut, ihren Schal und ihre Brille vor dem Spiegel an; Anne bringt

ihr die Zeichen für „d-o-l-l“ bei; James kommentiert spöttisch; James geht; Anne buchstabiert

„c-a-k-e“; Helen schlägt ihr die Puppe ins Gesicht, sperrt sie im Zimmer ein und rennt weg, 13.

Mr. Keller holt Anne mit der Leiter aus dem Fenster, während Helen selbstzufrieden an der

Pumpe sitzt und den Schlüssel im Kleid der neuen Puppe versteckt.

Zweiter Akt: 1. auf ihrem Zimmer schreibt Anne den ersten Brief an Anagnos; Helen

versaut ihn mit Tinte; Anne lehrt Helen Holz- und Glasperlen auffädeln; Anne zeigt ihr, daß man

119

Gibson 1969. „Author’s Note“. N.p.

Page 88: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Puppe nicht auf Boden schlagen darf, sondern zärtlich sein muß; 3. Helen lernt mit der Nähkarte

umzugehen; Anne buchstabiert „c-a-r-d“; Mrs. Keller kommentiert, 4. Kampf Helen-Anne am

Frühstückstisch; Familie Keller wird hinausgeschickt; Anne zwingt Helen, vom eigenen Teller

und mit Besteck zu essen und ihre Serviette zusammenzufalten; Martha schaut durchs

Schlüsselloch, Mrs. Keller vertreibt sie; Martha und Percy schauen von draußen durchs Fenster,

Köchin Viney verscheucht sie; Viney schaut von außen durchs Fenster; Anne erzählt Mrs. Keller

von ihrem Erfolg, 5. Anne weint auf ihrem Zimmer; Mrs. Keller sucht sie auf; Anne bittet sie,

mit Helen ins Gartenhaus ziehen zu dürfen, 6. Mr. Keller gestattet dies, 7. Umzug ins

Gartenhaus, 8. Zweiwöchige Geschehnisse im Gartenhaus werden im Zeitraffer dargestellt

(Anne streicht Kalendertage aus): Anne zwingt Helen, mit Löffel und umgebundener Serviette

zu essen; Helen will nicht mit Anne ins Bett und kämpft; Bett bricht zusammen; Anne sitzt im

Schaukelstuhl und singt Wiegenlied für Helens Puppe, während James durchs Fenster schaut und

sich dafür schämt; Helen will sich nicht anziehen; Anne, Helen und Percy buchstabieren

gemeinsam; Helen lernt häkeln; Helen beobachtet schlüpfendes Küken; Einblende: Dr. Anagnos

liest erneuten Bericht von Anne vor; Helen bekommt drei Tauben; Anne und Helen sitzen auf

Baum, Anne buchstabiert in ihre Hand; Helen häkelt ein endlos langes Band und ist stolz; Anne

wäscht sie und buchstabiert „w-a-t-e-r“; Mr. Keller bringt den Hund Belle vorbei und erinnert sie

daran, daß sie am nächsten Morgen wieder ins Haus umziehen müssen; Anne hat einen Alptraum

und erwacht mit dem Schrei „Jimmie“; James hat wieder gelauscht und fühlt sich angesprochen;

Anne erzählt James von dem Tod ihres Bruders im Armenhaus.

Dritter Akt: 1. Umzug ins Haus, 2. Helen sitzt auf Veranda und packt Geschenke aus, 3.

Anne auf ihrem Zimmer; sie erhält erste Gehaltszahlung von Mr. Keller, 4. Tischszene; Helen

benimmt sich wieder daneben, um die Familie zu testen; Mr. Keller ist wütend über Annes

resolutes Eingreifen, doch James tritt für sie ein; Helen wirft den Wasserkrug um, Anne zerrt sie

nach draußen zur Pumpe, um ihn aufzufüllen, 5. Helen hat die Erleuchtung am Brunnen, lernt

„w-a-t-e-r“ buchstabieren, verbindet es mit ihrem Wortfragment „wah wah“; lernt „Teacher“ und

viele andere Wörter; Familie Keller buchstabiert mit ihr und ist überglücklich, 6. Anagnos liest

Annes Bericht, 7. Annie sitzt auf Veranda, Helen kommt und küßt sie zum ersten Mal; Anne

buchstabiert „I, love, Helen“, 8. im Zeitraffer geht Weihnachten vorbei; Helen macht Fortschritte

im Buchstabieren; es wird Frühling; Helen pflanzt ihre Puppe in die Erde und erwartet, daß sie

wächst; Helen schreibt mit Bleistift an Anagnos, 9. Anagnos liest ihren Brief an die „little blind

Page 89: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

girls“ von der Perkins Institution vor, 10. Mrs. Keller, Anne und Helen besuchen die Perkins

Institution; Anne berichtet, wie sie versucht hat, Helen zu erklären, was „soul“ ist, und daß Helen

geantwortet hat: „But if I write what my soul thinks, it will be visible, and the words will be its

body.“ (130; dies ist eine Anspielung auf ihre spätere Schriftstellertätigkeit); Anne macht

Anagnos klar, daß sie und Helen nicht in der Perkins Institution bleiben werden; Helen spielt mit

blinden Mädchen, womit der Film endet.

Soweit zum Inhalt. Im Unterkapitel „Werktreue“ wird behandelt werden, welche Szenen

Gibson verändert hat (indem er z.B. Personen einbaut, die gar nicht dabeigewesen sind). Was die

Form betrifft, so sollen in den folgenden Unterkapiteln die filmischen und kinematographischen

Elemente des Miracle Workers näher untersucht werden. Filmische Elemente sind all jene, die

nicht allein das Medium Film kennt: Sprache, Geräusche, Musik. Sie bilden den Diskurs des

Films. Im Gegensatz dazu ist das kinematographische Element das gattungsbestimmende

Element des Films: das Bild. Der Film könnte auf seine nicht-kinematographischen Elemente

verzichten (wie im konkreten Fall der Stummfilm), nicht aber auf sein kinematographisches.120

Im Rahmen der filmischen Elemente sollen Symbolismus, Komik, dramatische Effekte,

Werktreue und Literarizität des Miracle Workers näher betrachtet werden; in bezug auf das

kinematographische Element werden die Kameraführung und die damit zusammenhängende

Erzählsituation analysiert.

6.1.1 Kameraführung

The Miracle Worker zeichnet sich durch ein hohes filmisches Ausdruckspotential aus, das vor

allem auf seiner extraordinären Kameraführung beruht; die „short dissolves“, für die der Film

gelobt wurde, sind zahlreiche Überblendungen aus verschiedenen Blickwinkeln. Der

Blickwinkel der Kamera und damit auch der des Zuschauers ist äußerst wichtig, denn dadurch

kann sich der Rezipient leichter in die Protagonisten hineinversetzen (z.B. durch Großaufnahmen

der Gesichter) oder sich von diesen distanzieren (durch Totale, Halbtotale oder suchende

Kamerafahrten, bis sich die Kamera auf ein Objekt fest einstellt). So wird der Zuschauer einmal

120

Hurst 1996, 79.

Page 90: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

zum Erlebenden, ein anderes Mal zum Beobachtenden. Die Regieanweisungen für The Miracle

Worker beginnen mit der Beschreibung einer Einstellung mit subjektiver Kamera, d.h. der

Zuschauer sieht mit den Augen der Protagonistin, in diesem Fall Helen Keller. Man kann diese

Einstellung auch Point of View-shot 121

nennen.

In der Regel bestehen diese Situationen aus zwei Einstellungen: Als erste Einstellung

wird dabei zunächst der Blick der Person, z.B. in Form einer Großaufnahme ihres

Gesichts, gezeigt, um zu signalisieren, daß nun als zweite Einstellung der eigentliche

Point of View-shot folgt, also das, was diese Person erblickt.122

Hier erfolgt aber lediglich die zweite Einstellung, was einen dramatischen Effekt erzeugt: der

Zuschauer weiß zunächst nicht, in wen er sich gerade hineinversetzt, und ist vom Unheimlichen

der Situation gebannt. Er fühlt sich gleich der Protagonistin hilflos daliegend, während andere

auf sie herunterblicken und über sie urteilen:

[It is night, and we are in a child’s crib, looking up: what we see are the crib railings and

three faces in lamplight, looking down. They have been through a long vigil, it shows in

their tired eyes and disarranged clothing. One is a gentlewoman in her twenties with a

kindly and forbearing face, KATE KELLER; the second is a dry elderly DOCTOR,

stethoscope at neck, thermometer in fingers; the third is a dignified gentleman in his

forties with chin whiskers, CAPTAIN ARTHUR KELLER. Their dress is that of 1880, and

their voices are southern. The KELLERS’ faces are drawn and worried, until the

DOCTOR speaks.]123

(3)

Durch diese Einstellung hat der Zuschauer bereits wesentliche Dinge erfahren: er sieht mit den

Augen der an Hirnhautentzündung erkrankten, neunzehn Monate alten Helen Keller; ihre

besorgten Eltern werden vorgestellt, sowie der Arzt und Ort und Zeit, in der sie leben. Dieser

Point of View-shot erzeugt beim Zuschauer ein unangenehmes Gefühl und wird in der

Filmgeschichte häufig verwendet, um die Spannung zu erhöhen; er gleicht z.B. der Situation,

wenn man auf dem OP-Tisch liegt und auf die Brillen und den Mundschutz der grüngewandeten

Chirurgen und OP-Schwestern hochstarrt. Hier gibt es nun keinen Grund zur Besorgnis, denn die

ersten gesprochenen Worte sind die des DOCTORS: „She’ll live.“ (3) Der Arzt beglückwünscht

die erleichterten Eltern, „[...] we see only KATE’S tearfully happy face hovering over us“ (4),

aber kaum wähnt sich der Zuschauer in einer wiederhergestellten Familienidylle, wird durch eine

121

Vgl Hurst 1996, 145. 122

Hurst 1996, 145. 123

Die Regieanweisungen sind wie im Original kursiv in eckigen Klammern angegeben und im Fließtext zur

leichteren Unterscheidung kursiv gedruckt.

Page 91: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

geniale Kameraführung alles zunichte gemacht: nicht der Arzt sagt, „aber sie ist taub und blind“,

sondern der Zuschauer erlebt es am eigenen Leib, wie es plötzlich dunkel und still wird ringsum:

[But throughout, their voices have been dying out of focus, and the image of KATE’S face

has begun to swim. Music steals in; we hear the music without distortion, but light and

sound otherwise are failing. KATE’S serene face smiles down with love, blurring in a

halo of light, then is a spot, then is gone. Darkness.] (5)

Der Zuschauer weiß also viel früher als die Eltern und der Arzt, was ihm, d.h. der kleinen Helen

Keller, passiert ist. Auch diese Einstellungen hat zahlreiche Parallelen in der Filmwelt; z.B. bei

Krimis, wenn der Zuschauer mit immer verschwommener werdendem Blick sieht wie der gerade

Vergiftete, bei dem die Wirkung einsetzt. Oder wenn das Bild unter Tränen verschwimmt. Jetzt

müssen nur noch Helen Kellers Eltern dahinterkommen. Dies erfolgt indirekt: der Arzt ist gerade

am Abfahren, „[...] we hear the clop of hoofs and roll of wheels. KELLER’S eyes follow the

unseen buggy out of sight, then lift to the stars, thanking them too. Suddenly from the house

behind him comes a knifing scream; music out.] (5) Durch diese Einstellung spart sich der

Regisseur eine unnötige Szene und Material; er braucht keine Pferdekutsche auffahren zu lassen,

das erübrigt sich durch die Tontechnik.

Im folgenden sehen wir also nicht mehr aus dem Point of View der kleinen Helen, denn

sie kann ja nicht mehr sehen, sondern es erfolgt ein Wechsel von subjektiver zu objektiver

Kamera. Der Blick des Zuschauers ruht jetzt auf Großaufnahmen vom Gesicht ihrer Mutter. Er

sieht nicht mit den Augen der Mutter, sondern er betrachtet sie eingehend. Diese Art von

Kameraführung kann man als attached camera 124

bezeichnen:

Attached camera -- eine gebundene Kameraführung -- bedeutet, daß die Kamera als

Aufnahmegerät sich ganz den abzubildenden Personen [...] unterordnet, sich gleichsam an

sie bindet, Nähe und Teilnahme am Geschehen suggerierend. [...] Gebundene

Kameraführung [...] in Form von Nah- und Großaufnahmen [...] bedeutet eine

Konzentration auf das Wesentliche [...].125

Das Wesentliche ist hier die Verzweiflung, während Kate Keller einen Test mit einer Lampe

macht, die Helen nicht sieht, und mit einem Ruf, den Helen nicht hört: „Cut to KATE’S face

again, not from the baby’s eyes, but across the crib, and her look is terrible [...]“ (6). Und:

124

Vgl. Hurst 1996, 138. 125

Hurst 1996, 139.

Page 92: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

[Her face has something like fury in it, crying the child’s name; KATE almost fainting

takes up the baby’s hand, pressing it to her mouth to stop her own cry. We go close to her

lips, kissing the baby hand. Dissolve on lips and hand.] (7)

Die Hände und Lippen sind symbolträchtig; schließlich wird Helen mittels des Fingeralphabets

die Sprache lernen, die die anderen mit ihren Lippen bilden. Kaum hat der Zuschauer diese

Tragik verkraftet, erfolgt ein brillianter Übergang, der das Symbol der Lippen aufgreift -- doch

es ist inzwischen vier Jahre später; Helen spielt mit den beiden farbigen Kindern der

Bediensteten. Man nennt diese Art von Überblendung match cut: Ein match cut ist ein Schnitt,

„der zwei verschiedene Szenen durch die Wiederholung einer Handlung oder einer Form oder

die Verdoppelung von Faktoren aus der Mise en Scène verbindet“.126

[Cut to the lips of a Negro boy, PERCY, laughing, but also in perfect silence. The white

child’s right hand comes up swiftly to finger over them. PERCY’S teeth playfully bite at

it, and the hand jerks away.] (7)

Hier sieht der Zuschauer zwar nicht mehr aus Helens Blickwinkel, aber er hört mit ihren Ohren,

d.h. er hört nicht, wie Percy lacht. Das kann natürlich nicht ewig so weitergehen, sonst wären wir

in einem Stummfilm, weshalb sich plötzlich die Kameraeinstellung von Nahaufnahme zur

Totalen erweitert: „The silence shatters when we cut to a fuller view, PERCY’S laughter and

other rural sounds at once audible. We are in leaf-dappled sunlight in the yard of the Keller

homestead [...].“ (8) Diese Art von objektiver Kameraführung kann man detached camera 127

nennen; die gelöste Kamera ist eine Form der Kameraführung, in der sich die Kamera vom

Protagonisten und dessen Wahrnehmung löst und sich frei im szenischen Raum bewegt. Sie dient

als unabhängiges Beobachtungsinstrument und bleibt häufig auf Distanz, Totale und Halbtotale

bevorzugend.128

In den Regieanweisungen erfolgt nun eine Beschreibung der drei Kinder, die auf den

Verandastufen sitzen und Papierpuppen ausschneiden, man hört „chickens clucking, leaves

stirring“ (8); nachdem die Totale den Überblick über die Situation gegeben hat, wechselt die

Kamera wieder zu einer gebundenen (attached) Kameraführung. Dabei wird filmisch die

Beschreibung von Helens Gesicht realisiert, wie Anne Sullivan sie in ihrem ersten Brief gegeben

hat: „[...] her face alone lacks lightness, never smiles.“ (8) Eine Großaufnahme von Helens

Gesicht zeigt, daß sie mit ihren Lippen geräuschlose Bewegungen macht, während Percy

126

Vgl. Hurst 1996, 141. 127

Vgl. Hurst 1996, 160. 128

Vgl. Hurst 1996, 139.

Page 93: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

kommentiert: „She tryin’ talk. She gonna get mad. Looka her tryin’ talk.“ (8) Das Ziel der

Großaufnahmen ist es, intensivierend auf die Emotionen der Zuschauer zu wirken, während die

Totale den Überblick über den Handlungsablauf verschafft.

Gibson verwendet in seinem Stück noch eine besondere Art von Überblendung: er läßt

die Kamera auf addressierten Briefen ruhen. Somit erfährt der Zuschauer, daß eine fremde

Person eingeschaltet wird, die sich in größerer Entfernung befindet und für Helen Kellers

Schicksal maßgeblich ist. Laut Regieanweisung ist die erste kontaktierte Person Dr. Chisholm,

der berühmte Augenarzt in Baltimore, der Captain Keller zu Dr. Alexander Graham Bell schickt.

Eigentlich hätte Helens Vater laut The Story of my Life (18/19) mit seiner Tochter einen Zug

nehmen und Dr. Chisholm besuchen fahren müssen, um sich Rat zu holen. Doch Gibson spart

sich diese Reiseszene und unnützen Materialaufwand, indem er Dr. Chisholm das Bittgesuch des

Vaters erhalten und vorlesen läßt:

[Close-up of an envelope, stamped and canceled, addressed to „Dr. John Chisholm, 11

Maiden Lane, Baltimore, Md.“ A hand turns it over, the return address on back is „Capt.

Arthur Keller, Tuscumbia, Ala.,“ and a letter-knife begins to open it.

Dissolve to CHISHOLM’S face; he shakes his head.] (17)

Der Zuschauer weiß somit, daß sich Captain Keller an Dr. Chisholm gewand hat, und dieser sagt

in dem ganzen Stück nur zwei Sätze: „I can’t do anything for her. But you might take her to

Alexander Graham Bell in Washington --“ (18), begleitet von einem Kopfschütteln. Dann folgt

eine Überblendung und die Kamera fixiert in Großaufnahme einen Terminkalender -- doch

Vorsicht, wir befinden uns bereits im Bureau von Dr. Bell:

[Dissolve to close-up of an appointment book on a desk, with stamped letters: „Dr.

Alexander Graham Bell.“ A hand opens it and with a quill begins writing an entry

opposite a date and hour: „Captain Arthur Keller, with daughter Helen --“

Dissolve to BELL’S face.] (18)

Der Zuschauer versteht, daß Helen und ihr Vater bei dem berühmten Philanthropen eine Audienz

hatten. Aber auch Dr. Bell ist kurz angebunden: „I cannot see any way in to her, Captain Keller. I

can suggest only that you write to Michael Anagnos at the Perkins Institution in Boston --“ (18)

Der Zuschauer bekommt langsam den Eindruck, daß Helens Vater immer nur abgespeist und an

andere Zuständige weitergereicht wird. Die Überblendungen machen den beschwerlichen Weg

deutlich, bis endlich ein Helfer gefunden ist. Dies ist der Direktor der Perkins Institution, und im

Gegensatz zu den beiden vorherigen kontaktierten Personen wird er in voller Statur gezeigt, nicht

Page 94: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

nur eine Großaufnahme von seinem Gesicht. Er charakterisiert sich selbst durch sein Aussehen,

seinen Akzent und seine Redensweise. Ebenso erhält der Zuschauer einen Eindruck von der

Einrichtung der Perkins Institution:

[Dissolve to close-up of another envelope in KELLER’S handwriting, stamped, canceled,

opened, addressed to „Mr. Michael Anagnos, Director, Perkins Institution for the Blind,

South Boston, Mass.“ This envelope is being lightly slapped in a man’s palm, while we

begin to hear his voice; when we draw back for a fuller view we find ourselves in a room

of the Perkins Institution, listening to ANAGNOS as he wanders about, a middle-aged,

stocky, bearded man with a Greek accent. The room contains equipment for teaching the

blind by touch -- a skeleton, seashells, stuffed animals models of flowers and plants,

embossed books lying open -- which ANAGNOS touches as he walks. [...]] (18/19)

Der Text beginnt mitten im Satz: „-- child’s name is Helen Keller. I then wrote her father saying

a governess, Miss Annie Sullivan, has been found. Well. It will be difficult for you there,

Annie.“ (19) Jetzt weiß der Zuschauer auch, wem Dr. Anagnos von dem Brief erzählt, denn die

zweite Person im Raum wird in der Regieanweisung nur geheimnisvoll angerissen: „The other

person in the room is a young woman far in the background, seated beside a desk; we see only

her back.“ (19) Bisher hat die Kamera Anne nur in der Totalen als Bestandteil des Raumes

gezeigt, und sie wird lediglich durch die neckischen Worte und Anspielereien von Anagnos

vorgestellt („Gratifying, yes, when you came to us and could not spell your name, to accomplish

so much here in a few years, yes. But not easy, always an Irish battle.“ (19) Eine suchende

Kameraführung bewegt sich zeitgleich mit Anagnos auf Annie zu: „We are moving with him

around in profile to ANNIE.“ (19) Die Kameraführung wechselt von detached zu attached, und

die folgende Großaufnahme charakterisiert die Protagonistin des Stücks und läßt sie dem

Zuschauer nah und sympathisch erscheinen. Sie hat die Augen geschlossen:

[Now we have come full on ANNIE SULLIVAN, twenty-one, with a face which in repose

is grave and rather obstinate, and when active is impudent, combative, twinkling with all

the life that is lacking in HELEN’S, and handsome, as long as her eyes are closed; there

is a certain crude vitality to her.] (19)

Der Schock kommt für den Zuschauer, wenn sie die Augen öffnet (Augen sowie Brille haben

Symbolcharakter, was später noch behandelt wird): „And now she has opened her eyes: they are

inflamed, vague, clouded by the granular growth of trachoma, and she often keeps them closed

to shut out the pain of light.“ (20) Der Zuschauer weiß nun, es ist eine Lehrerin für die kleine

Helen gefunden, und sie ist eine tragische Person.

Page 95: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Eine weitere beachtenswerte Art der Kameraführung ist die Gerichtetheit auf Objekte

anstatt auf Personen. Sehr schön wird dies deutlich an Anne Sullivans Reise zur Familie Keller

von Boston nach Alabama. Die Kamera begleitet ihren Koffer, so daß sich der Zuschauer

praktisch als Annie selber fühlt; manchmal sind ihre aufgestützte Hand oder ihr Rocksaum noch

zu sehen, ansonsten ruht unser Blick immer auf dem Label ihres Gepäckstücks. Annie wird dabei

stark entpersonalifiziert; die Kamera hat lediglich noch ihre Hand im Blickfeld, die den Koffer

hält. Diese Art von attached camera läßt dem Zuschauer die Reise wie eigenes Erleben

erscheinen. Eine starke Betonung liegt auf den Banalitäten dieser wie jeder anderen Zugreise:

Umsteigen, Bahnhöfe, Wartehallen, Koffer, Lärm, Musik usw. Plötzlich wechselt das Motiv

Koffer mit dem Motiv vorbeifliegende Namen der Stationen, welches wiederum vom Motiv

Gesicht der schlafenden Anne abgelöst wird. Diese alternierende Einstellung wiederholt sich, so

daß Zeit und Raum durch die Kameraführung überbrückt werden, wobei immer die Erschöpfung

der Reisenden im Auge behalten wird.

Eine weitere Technik ermöglicht dem Zuschauer, trotz Ablauf von Szenen über Anne

Sullivan inzwischen nicht die desolate Situation der kleinen Helen zu vergessen: der match cut.

Wie bereits in dem vorangegangenen Beispiel mit der Wiederaufnahme des Bildes der Lippen

erfolgt im ersten Akt eine wiederholte Einblendung des Kopfes Helen Kellers: der Zuschauer

wird zuanfangs Zeuge eines Wutausbruchs von Helen, sie schlägt ihre Mutter auf die Lippen,

kämpft mit ihr und will dann plötzlich in den Arm genommen werden: „Dissolve on HELEN’S

head, hanging down on KATE’S arm.“ (17) Danach folgen die Briefe an die verschiedenen

Doktoren und die Verabschiedung Annes in der Perkins Institution. Annie hat gerade das kleinste

blinde Mädchen, das nicht will, daß sie fortgeht, dazu gebracht, für sie zu lächeln („Dissolve on

her smile.“ 27), als das krasse Gegenteil eingeblendet wird: „And in on the earlier contrasting

view of HELEN’S head, hanging down on KATE’S arm.“ (27) Diese kontrastive Überblendung

hat einen hohen dramatischen Effekt und verdeutlicht dem Zuschauer, daß Anne Sullivan zwar

nicht leichten Herzens Abschied nimmt, aber die Erziehung der armen Helen im Vordergrund für

sie steht.

Page 96: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

6.1.2 Erzählsituation

Die Erzählsituation (ES) hängt eng mit der Kameraführung zusammen. Im Film kann man

zwischen drei Arten von Erzählsituation unterscheiden: der Ich-ES, der auktorialen ES und der

personalen ES 129

, wobei eine gelöste Kameraführung (detached camera) die auktoriale, und

eine gebundene Kameraführung (attached camera) die personale Erzählsituation herbeiführt.

Die erste Art der Erzählsituation (Ich-ES) ist relativ selten im Film, denn sie würde bedeuten,

daß der Ich-Erzähler selbst vor der Kamera nicht zu sehen ist, sondern quasi die Kamera selbst

ist. Dies ist sehr problematisch, da der Zuschauer einen Eindruck vom Erzähler haben muß. Wie

kann er das aber, wenn er ihn nie sieht? Es gibt solche Filme, doch sie sahen sich teils genötigt,

den Ich-Erzähler in einer Rahmenhandlung vor der Kamera sitzen und direkt in sie

hineinsprechen zu lassen, damit der Zuschauer ihn als Ich-Erzähler outen konnte.130

Im Miracle Worker kommen die beiden letztgenannten Erzählsituationen zum tragen, die

personale und die auktoriale. Die Bezeichnungen personal und auktorial sind leicht zu erklären;

jeder literarische Text hat eine Erzählfigur, entweder einen Ich-Erzähler oder einen allwissenden

(omniscient third person narrator). Im Film kann nun auf die Dauer kein Ich-Erzähler auftreten,

aber es gibt eine personale Erzählfigur, die als Reflektor fungiert. Der Reflektor erzählt

eigentlich nicht die Vorgänge, sondern scheint sie gerade selbst zu durchleben, d.h. der

Zuschauer sieht die Vorgänge aus dem Point of View des Reflektors, meist des Protagonisten des

Films. Im Film The Miracle Worker wird dies z.B. sehr eindrucksvoll in der Eingangsszene mit

subjektiver Kameraführung gezeigt, wenn der Zuschauer praktisch mit den Augen Helen Kellers

die Umwelt aus dem Kinderbettchen heraus wahrnimmt. Bei der auktorialen Erzählsituation ist

die Berichterstattung objektiv, d.h. der Zuschauer sieht vor allem Totalen und Halbtotalen und

bekommt einen distanzierten Überblick über die Vorgänge -- ohne Reflektor, so daß er sich nicht

in einen Protagonisten hineinversetzen muß, sondern mit seinen eigenen Augen beobachtet, was

vorgeht.

Wie bereits festgestellt, alternieren im Miracle Worker die Kameraführungen attached

und detached, so daß man auch von einem ständigen Wechsel der Erzählsituationen sprechen

kann; diese Variation trägt sowohl zur Spannungserhöhung als auch zur Dramatik bei. In anderen

Worten, manchmal betrachtet der Zuschauer die Situation übersichtlich aus der Ferne, ein

129

Vgl. Hurst 1996, 25. 130

Vgl. Hurst 1996, 110.

Page 97: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

anderes mal „reist er mit“ und hat Annies Koffer und die vorbeisausenden Stationsschilder vor

Augen. Zuanfangs wurde bereits gesagt, es könne in einem Film keinen Ich-Erzähler geben; es

ist jedoch möglich, einen „Erzähler“ auftreten zu lassen, der ein anderer ist als eine

Reflektorfigur. Diesen Erzähler sieht der Zuschauer nicht im Bild, sondern er hört lediglich

dessen Stimme zur Begleitung anderer Bilder. Dies nennt man voice-over oder Off-Stimme.131

Im Miracle Worker kann man diese Technik einige Male beobachten; Dr. Anagnos ist hierbei die

Off-Stimme; er liest Briefe Anne Sullivans oder Helen Kellers vor, während der Zuschauer

jedoch nicht ihn, sondern die Schreibenden sieht. Diese Handlung ist in sich unlogisch, denn

theoretisch kann Dr. Anagnos den Brief während des Schreibvorgangs noch gar nicht empfangen

haben und lesen; sie ist jedoch notwendig, um dem Zuschauer den Inhalt des Briefes zu

vermitteln und weitaus ästhetischer, als Anne oder Helen selbst ihren eigenen Brief während des

Schreibens mitlesen zu lassen. An dieser Stelle hätte der Kameramann als Alternative auch nur

eine Großaufnahme vom Brief zeigen können, wie es in manchen Filmen getan wird (besonders,

wenn der Brief kurz ist). Dabei hat der Zuschauer aber dann zwei Probleme: erstens muß er die

Handschrift des Schreibenden entziffern, und zweitens muß er sich beeilen, denn es ist wie bei

längeren Untertiteln, sie verschwinden meist zum Ärger des Zuschauers, bevor er sie ganz

durchgelesen hat. Im Miracle Worker bestehen die Briefe ja meist nur aus drei Zeilen; trotzdem

wurde das voice-over gewählt. Dies hat den Vorteil, daß der Regisseur eine Deutung in die

Aufnahme des Briefes legen kann; so könnte Dr. Anagnos den Bericht über Helens Fortschritte

z.B. mit stolzgeschwellter Stimme lesen.

Hier werden also zwei Szenen überblendet; auf der einen Seite das Schreiben des

Briefes und auf der anderen das Erhalten. Diese Technik dient somit als Zeitraffer. Das Hauptziel

der Off-Stimme ist es jedoch, die Literarizität des Films herzustellen, d.h. eine möglichst

wortgetreue Einhaltung der Vorlage (hier Annes Briefe aus The Story of my Life). Die Off-

Stimme ist also ein „episierendes Gestaltungsmittel“.132

Dies kann man an einem konkreten

Beispiel betrachten. Im zweiten Akt des Miracle Workers wiederholt sich die Großaufnahme

eines Briefes:

[Close-up of ANNIE’S hand writing a letter, her smoked glasses lying near by. There is

also an envelope addressed to MICHAEL ANAGNOS, and it is his voice we hear off-

camera, reading the letter.] (51)

131

Vgl. Hurst 1996, 110. 132

Vgl. Hurst 1996, 107.

Page 98: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Was Dr. Anagnos sagt, ist die ungefähre Wiedergabe von Annies Äußerungen in ihrem ersten

Brief an ihre Freundin Mrs. Sophia Hopkins (und nicht an Dr. Anagnos). Im Original heißt es:

„[...] nobody, except her brother James, has attempted to control her. The greatest problem I shall

have to solve is how to discipline and control her without breaking her spirit.“133

Im Miracle

Worker wird daraus:

ANAGNOS: „... and nobody here has attempted to control her. the greatest problem I

have is how to discipline her without breaking her spirit.“ (51)

Trotz der Vereinfachungen ist eine hohe Literarizität gegeben. Dies läßt den Film nicht nur

einfach als Spielfilm, sondern fast als Dokumentarfilm erscheinen und erhöht somit die

Werktreue. Dasselbe ist im dritten Akt zu beobachten, wo die Regieanweisung lautet:

[[...] and we dissolve to a letter in a square script, HELEN’S hand writing with pencil on

paper laid upon a board with sunken ruled lines. We hear ANAGNOS reading it.] (128)

Die Stimme Anagnos’ liest dem Zuschauer jetzt einen der ersten mit dem Bleistift geschriebenen

Briefe der kleinen Helen vor (Tuscumbia, September 1887), ungefähr so, wie wir ihn im Anhang

von The Story of my Life finden:

„Helen will write little blind girls a letter

Helen and teacher will come to see little blind girls

Helen and teacher will go in steam car to Boston

Helen and blind girls will have fun

Blind girls can talk on fingers

Helen will go to school with blind girls

Helen can read and count and spell and write like blind girls

Helen is blind

Helen will put letter in envelope

Good-bye

Helen Keller“ (128)

Im Original sind diese Sätze wortwörtlich gleich und ebenfalls ohne Interpunktion (was im Film

natürlich nicht sichtbar ist, doch durch monotones Sprechen verdeutlicht werden kann); Gibson

hat jedoch einige Sätze weggelassen. Es fehlen:

Helen will see Mr anagnos

Mr anagnos will love and kiss Helen

mildred will not go to boston

Mildred does cry

133

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 305.

Page 99: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

prince and jumbo will go to boston

papa does shoot ducks with gun and ducks do fall in water and jumbo and mamie do

swim in water and bring ducks out in mouth to papa

Helen does play with dogs

Helen does ride on horseback with teacher

Helen does give handee grass in hand

teacher does whip handee to go fast

Helen will put letter in envelope for blind girls134

Durch diese Auslassungen wird zum einen der Aspekt der Zärtlichkeit nicht angesprochen, der

zwischen Helen und Dr. Anagnos stets eine Rolle spielte; auch dann noch, als er mit Anne

Sullivan zerstritten war (nach der Frost King-Episode). Zum anderen wird nichts über Helens

Freizeitaktivitäten ausgesagt; Gibson hätte zu dem voice-over Bilder von der kleinen Helen mit

ihren Tieren in der Natur einblenden können. Doch darauf kam es ihm nicht an; seine Betonung

liegt auf dem „Miracle“ des Spracherwerbs. Wichtig für die nächste Szene ist nur, daß Helen die

blinden Mädchen von der Perkins Institution besuchen kommt.

Interessant ist es, daß der Film kein voice-over benutzt, wo der Zuschauer unbedingt eine

Erklärung braucht (es sei denn, er kennt sich mit der Gebärdensprache für Taubstumme aus):

während Anne in Helens Hand buchstabiert. Gibson hätte ein voice-over mit Annes Stimme

eingeben lassen können, während Anne ihre Lippen nicht bewegt, sondern nur die Zeichen

macht. Auf diese Art stellt man im Film auch innere Monologe dar. Er läßt Anne aber stattdessen

aussprechen, welche Buchstaben sie gerade macht; z.B. „[...] ANNIE spelling something back,

just what we do not know until we are in close-up on the two hands, and hear ANNIE’S voice,

unsteady, whispering.“ (127) ANNIE: „I, love, Helen.“ (128) Man erkennt auch gleich, warum:

ihre Stimme soll „unsteady“ sein und „whispering“. Die Off-Stimme eines „Erzählers“ ist

normalerweise neutral.

Eine besondere Funktion hat die Unterbrechung der Off-Stimme durch den Dialogtext;

z.B. in einer Szene, in der der Zuschauer abwechselnd eine Einblendung von der verzweifelnden

Anne Sullivan und eine Einblendung vom lesenden Dr. Anagnos sieht: „Dissolve to an envelope

in a man’s hands, addressed to MICHAEL ANAGNOS, and again we hear his voice, reading;

meanwhile we dissolve back to the room, where we see ANNIE standing, weary and disheartened

[...].“ (94) Schließlich sieht der Zuschauer nur noch Anne und hört Anagnos’ Off-Stimme:

134

The Story of my Life. Part II: „Letters“, 146/7.

Page 100: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

ANAGNOS [off-camera]: „-- I feel every day more and more inadequate. My mind is

undisciplined, full of skips and jumps, and a lot of things huddled together in dark

corners. If only there were someone to help me! I need a teacher as much as Helen. I need

--“ (94)

Anne läßt den „Erzähler“ jedoch nicht zuende sprechen: „But his voice ends when ANNIE breaks

into it, crying at HELEN across the room.“ (94) Sie fällt sich praktisch selbst ins Wort, indem sie

ihren passiven Bericht, von Anagnos vorgelesen, aktiv unterbricht und die letzte Zeile

theatralisch ausruft -- somit erscheint dem Zuschauer die Situation noch wirklichkeitsnaher,

erlebter und verzweifelter. ANNIE: „I need help too!“ (94)

6.1.3 Symbolismus

Im Gegensatz zum Film Deliverance findet sich im Miracle Worker keine Überhäufung an

Symbolen. Die hier angewandten Symbole sind handfest und weder Personifikationen

mythischer Figuren noch ausladende Metaphern für Heldentum (vgl. Schimmel und Trompete) --

hier kämpfen nicht „Knowledge“ und „Ignorance“ um die Seele der kleinen Helen, sondern eine

ganz realistische Anne Sullivan, die als Symbol ihrer einstigen Blindheit eine schwarzgetönte

Brille135

trägt. Die feierliche Überreichung dieser Brille als Abschiedsgeschenk erfolgt durch die

kleinen blinden Mädchen der Perkins Institution: „A settling of silence while ANNIE unwraps it.

The present is a pair of smoked glasses, and she stands still.“ (25) Die Worte der Kinder erklären

dem Zuschauer gleichzeitig die Situation: Anne hat eine Augenoperation hinter sich, und ihre

Freundin Mrs. Hopkins (die spätere Adressatin ihrer Briefe) macht sich Sorgen, weil Anne zu

Helen nach Alabama gehen wird: „It’s for your eyes, Annie. Put them on, Annie! ‘Cause Mrs.

Hopkins said your eyes hurt since the operation. And she said you’re going where the sun is

fierce.“ (25) Diese Brille taucht noch häufig im Film auf, ebenso wie Anspielungen auf Anne

Sullivans schmerzende Augen. Auch Mr. Keller wird in einer Einleitungsszene durch sein

Brilleputzen in Großaufnahme dargestellt: „In on a close-up of spectacles being deliberately

135

Die rührende Szene der Geschenküberreichung in Gibsons Film beruht auf einer gänzlich unsentimentalen

Tatsache. Am 22. Mai 1897 schrieb Anne an Mrs. Hopkins: „My eyes are still much inflamed and swollen

[...]. [...] The smoked glasses you sent me are fine. I wear them all the time and find they help me,

especially out of doors.“ (Braddy 1934, 135)

Page 101: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

polished. We draw back enough to see it is CAPTAIN KELLER’S [...].“ (34) Sehen bedeutet ja

auch immer Einsehen und Verstehen -- was Mr. Keller allerdings noch fehlt.

Neben der getönten Brille erhält Anne Sullivan ein weiteres symbolhaftes Geschenk von

Dr. Anagnos: „ANNIE opens the small box he extends, and sees a garnet ring. She looks up,

blinking, and down.“ (22) Der Ring136

als Symbol immerwährender Freundschaft ist allerdings

weniger auf Annes Verbundenheit mit der Perkins Institution zu beziehen; er stellt vielmehr ihre

lebenslange Bindung an Helen Keller dar. Als das Kind seine neue Lehrerin „ertastet“, fühlt es

auch den Ring. In dieser Szene wird das Symbol der Hände besonders eingehend von der

Kamera studiert:

[Cut instantly to a close-up of their two hands. These hands will be together for the next

fifty years, and all of HELEN’S knowledge will flow to her through this other hand;

something of this should be intimated in this close-up.] (38)

Ein weiteres Symbol ist die Wasserpumpe, an der Helen später anhand des Wortes „w-a-t-e-r“

die Sprache verstehen lernt. Im Laufe des Films ruht die Kamera mehrere Male auf der Pumpe

(„In on a water-pump in the yard. We hear voices, off-camera.“ 48), damit der Zuschauer durch

dieses déjà-vu-Erlebnis einen Vorgeschmack davon bekommt, daß sich dort bald etwas

Großartiges ereignen wird. Als Helen ihre Lehrerin eingeschlossen hat, finden wir den kleinen

Unschuldsengel bezeichnenderweise genau dort: „Now, we move back around the water-pump,

until at its base we see HELEN seated, a picture of innocent contentment [...].“ (50) Als Anne

und Helen das Gartenhaus verlassen müssen, ziehen sie mit ihrer Habe in einer Schubkarre an

der Pumpe vorbei Richtung Haus: „Cut to a long view from the water-pump in the Keller yard;

the pump is huge in the foreground, and beyond it we see the wheel-barrow approaching [...].“

(109) Aber nicht nur im Bild, auch im Dialog wird das Symbol „Wasser“ gebraucht: als Anne zu

Mr. Keller von ihrer Hoffnung spricht, Helen könnte vielleicht doch die Sprache erlernen, drückt

sie sich folgendermaßen aus: „All I know is to go on, keep doing what I’ve done, and have --

some faith that inside she’s -- That inside it’s waiting. Like water, underground. [...].“ (112)

Ebenso wird der Akt des Waschens mehrfach in Nahaufnahme gezeigt; der Zuschauer

soll Anne Sullivans angestrengte Bemühungen mitverfolgen, Helen das Wort „Wasser“

beizubringen: „Cut to a basin of water. ANNIE drags HELEN to it, and with a face-cloth

136

Auch der Ring, der bei Gibson in einer ausgeschmückten, sentimentalen Szene vorkommt, wird bei Braddy

nur kurz erwähnt: „Mr. Anagnos loaned her money for her railroad fare and gave her a garnet ring.“

(Braddy 1934, 116)

Page 102: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

vigorously scrubs her face. In the middle she stops to spell, grimly.“ (99) Ein match-cut zeigt,

daß die Zeit für das „miracle“ noch nicht gekommen ist; Helen macht sich nur darüber lustig,

indem sie Annes unverständliche Zeichen imitiert: „Dissolve to a duplicate basin of water.

HELEN drags her doll to it, and with a face-cloth vigorously scrubs its face. And then pokes her

fingers insistently at its palm, in an impish mockery of ANNIE.“ (99) Somit wird Spannung

aufgebaut. Kurz bevor sich das „miracle“ ereignet, versetzt sich der Zuschauer in die Köchin

Viney, die den verhängnisvollen Wasserkrug trägt, den Helen später umstoßen und an der Pumpe

auffüllen soll. „Close-up of a water pitcher being carried by a Negro hand; we follow it along

the hall, through the doorway, to the dining-room table.“ (114) Diese Überblendung ist so

entpersonifizierend, daß Viney bis auf ihre Hand nicht mehr dargestellt wird, sondern der

Zuschauer sich ganz auf das Symbol des Wasserkrugs konzentriert. Bei der Tischzene weicht

Gibson dann von Inhalt und Chronologie der Briefe Anne Sullivans ab; dort wurde erstens kein

Wasserkrug umgeworfen; auch folgte das „miracle“ (5. April 1887) nicht unmittelbar auf die

Tischzene -- diese fand bereits in den ersten Tagen nach Annes Ankunft statt (erste Märzwoche

1887). Im Film folgen diese Szenen direkt aufeinander, werden dramatisiert und symbolisch

verdichtet:

[[...] ANNIE moves in, to grasp her wrist, and HELEN, flinging out her other hand,

encounters the water pitcher; she swings with it at ANNIE; ANNIE, falling back, blocks it

with an elbow, but the water flies over her and the pitcher tumbles to the floor. [...]] (120)

Während Anne Helen nun zwingt, Wasser zu pumpen, und ihr dabei in die freie Hand „w-a-t-e-

r“ buchstabiert, sieht der Zuschauer in einer Nahaufnahme den Wandel im Gesicht des Kindes,

der in den Briefen in gleicher Weise beschrieben wird: „And now the miracle happens. We have

moved around close to HELEN’S face, and we see it change, startled, some light coming into it

we have never seen there, some struggle in the depths behind it [...].“ (123) Helen spricht dabei

ihr Wortrudiment „Wah.Wah.“ (123) aus; nach den Briefen ihrer Lehrerin hat sie dies nicht

getan. Auch in Helen Kellers eigener Schilderung heißt es nur simplifiziert: „Suddenly I felt a

misty consciousness as of something forgotten -- a thrill of returning thought; and somehow the

mystery of language was revealed to me.“ (The Story of my Life 23) Der Zuschauer muß sich

nämlich erklären können, warum Helen gerade hier begreift, was Sprache ist; daß „water“ das

einzige Wort war, für das sie nach ihrer Erkrankung noch eine Lautbezeichnung verwendete,

könnte ein Grund sein. Im Miracle Worker fällt ihr der Wasserkrug aus der Hand und zerbricht.

Page 103: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

In ihren Briefen schreibt Anne Sullivan nur von einem Becher: „She dropped the mug and stood

as one transfixed.“137

Der Krug hat als Symbol sicherlich einen höheren Ausdruckswert, schon

von der Ästhetik her; außerdem ist er ihr Alibi, daß sie Wasser pumpen muß, denn wäre ihr bei

Tisch nur ihr Becher umgekippt, hätte sie ja vom Krug nachgießen können.

Ein weiters Symbol ist das Vorkommen des Wortes „miracle“ selbst. Der Zuschauer soll

den mühevollen Weg des „miracle workers“ mitverfolgen. Bereits in der Anfangsszene schickt

Dr. Anagnos Anne Sullivan in ihre neue Position mit den nicht gerade ermutigenden Worten: „If

that child can be taught. No one expects you to work miracles, even for twenty-five dollars a

month.“ (22) Ähnlich skeptisch äußert sich später Mr. Keller: „I consent to the garden-house.

We’ll give them two weeks. Be a miracle if she lasts that long.“ (79) Anne Sullivan stimmt zu:

„Fourteen days. Maybe it’s enough. For only one miracle.“ (80) Und in der Tat hat sie in dieser

Zeitspanne nur ein Wunder vollbracht -- sie hat aus dem Wildfang ein artiges Kind gemacht, ihm

aber noch nicht die Sprache vermitteln können. Als Helen in der Endszene Dr. Anagnos

vorgestellt wird, lobt er die Lehrerin: „Annie, you have made, what, a wonder, hm?“, und Anne

erwidert bescheiden: „Oh, she’s a wonder. I didn’t make her.“ (130) Einer der letzten Sätze des

Films ist Dr. Anagnos’ Bemerkung: „Together you have made a wonder“ (130), was die

Handlung des Films noch einmal auf einen Punkt bringt.

Symbolismus findet sich nicht zuletzt im Bereich „Kostüme“. Zwar trägt Helen Keller

hier kein wallendes, mittelalterliches Gewand wie in Deliverance, aber in der Endszene des

Miracle Workers unterscheidet sie sich farblich von den kleinen Schülerinnen an der Perkins

Institution for the Blind. Auch der Tanz und Gesang haben etwas Rituelles an sich; zum einen

wird das Happy End betont, zum anderen die herausragende Gestalt Helen Kellers:

[Draw back; we are on the children, and the camera lifts, slowly, to a high and full view

of them in the room, in their dark clothes, HELEN in her light dress, all holding hands

and moving in a circle around the smallest child, chanting. Fade out.] (131)

Der „circle“ ist ein Symbol ähnlich dem Ring Annies. Und hier wird der Kreis wirklich

geschlossen. Zum Glück steht Helen nicht in der Mitte in ihrem weißen Kleid, denn sonst wäre

die Szene an Symbolismus überladen. Dem Regisseur wurde übrigens der Vorwurf einer

137

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 316.

Page 104: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

„demagogischen Ästhetik“138

gemacht, mit der er jede Szene sentimental auslaufen läßt. Damit

hat er jedoch sicherlich den Geschmack des Publikums getroffen.

6.1.4 Komik

Obwohl der Film an sich dramatisch ist, spricht er den Zuschauer auch durch seine Komik an.

Diese äußert sich meistens in Wortspielen und schlagfertigen Antworten Anne Sullivans. So z.B.

in der Szene, in der ihr Dr. Anagnos viele wohlgemeinte Ratschläge mit auf den Weg gibt („This

is my last time to counsel you, Annie, and you do lack some -- by some I mean all -- what, tact

or talent to bend. To others. [...]“ 19). Kaum unterbricht er sich mitfühlend „Your eyes hurt?“,

entgegnet ANNIE [wickedly]: „My ears, Mr. Anagnos.“ (20)

Später beklagt sich Anne bei Mrs. Keller, daß sie so oft umsteigen mußte („I changed

trains every time it stopped, the man who sold me that ticket ought to be tied to the tracks --“

30).139

Auf Mr. Kellers höfliche Frage „You had an agreeable journey?“ antwortet sie sarkastisch

„Yes, several!“ (35)

Eine andere humorvolle Szene, die Gibsons Phantasie entsprungen sein muß (Anne

Sullivan berichtet jedenfalls nicht davon), findet auf Annes Zimmer statt, als Helen sich

daranmacht, ihren Koffer auszupacken: „HELEN comes back to the suitcase, gropes, lifts out a

pair of bloomers.“ ANNIE: „Oh, no. No you don’t--“ (41) In dieser Minute steckt Helens großer

Stiefbruder James seine Nase ins Zimmer: „[...] ANNIE in one hurried move gets the bloomers

swiftly back into the suitcase, the lid banged shut [...].“ (42/3)

Als Anne in Helens Hand buchstabiert, die ihr gerade einen Kinnhaken versetzt, macht

James dümmliche Kommentare („Doesn’t like that alphabet, Miss Sullivan. You invent it?“

138

Vgl. Jaedicke 1979, 215.

139

Laut Braddys Biographie hat Anne Sullivan an Mrs. Hopkins geschrieben: „The man who sold us that ticket

ought to be hanged, and I’d be willing to act as hangman.“ (Braddy 119) Anne Sullivan hatte einen sehr

humorvollen Stil, und Gibson konnte teilweise die Komik aus ihren Briefen übernehmen.

Page 105: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

(44/5), worauf Anne schlagfertig entgegnet: „Spanish monks under a -- vow of silence.140

Which

I wish you’d take.“ (45)

Als Helen Miss Sullivan in ihrem Zimmer eingeschlossen hat und Mr. Keller sie durchs

Fenster retten muß, trägt er Annie gegen ihren Willen (sie meint, sie könne das auch alleine) die

Leiter herunter, wobei er ihr großzügig anbietet: „Simply hold onto my neck.“ (48) Doch:

„KELLER wobbles, and ANNIE grabs at his whiskers.“ KELLER: „My neck, Miss Sullivan.“

(48/9)

Nach dieser sensationellen Befreiungsaktion läßt James, der sich zuvor über Annes

Buchstabieren von „d-o-l-l“ lustig gemacht hatte, Anne gegenüber folgenden Kommentar los:

„Might as well leave the l, a, d, d, e, r, hm?“ (50)

Während der berühmten Tischszene streiten sich der bornierte Mr. Keller und sein Sohn

James darüber, warum die Südstaaten im Krieg mit den Nordstaaten Vicksburg verloren haben,

und Mr. Keller ist dabei sehr taktlos, da Anne Sullivan ja auch ein „Yankee“ ist. Für ihn war der

Nordstaatengeneral Grant einfach nur „drunk“, für James „obstinate“. Als sich Anne nun bei

Tisch nicht alles von Helen gefallen läßt und partout keinen frischen Teller annehmen will,

während Helen in ihrem herumgrabscht, sagt James: „Ha. You see why they took Vicksburg?“

Als Anne schließlich die ganze Familie hinausschickt, um mit der Widerspenstigen allein fertig

zu werden, dreht sich James noch einmal um: „If it takes all summer, general.“ (64)

Einen komischen Effekt hat auch das heimliche Lauschen der kleinen Martha

Washington vor dem Schlüsselloch, bis Helens Mutter sie erwischt. Sie findet jedoch schnell

einen anderen Weg:

[In on an outside window of the house, where MARTHA and the boy PERCY are rolling a

log up; they mount it, glue their noses to the window-pane, and VINEY comes along with

a broom.] (68/9)

Kaum hat die Köchin jedoch ihre Kinder vertrieben („Shoo, shoo, never you mind what’s goin’

on inside there. You tend your own bizness, you hear me?“ 69), klebt sie selbst mit ihrer Nase

an der Fensterscheibe: „VINEY mounts the log, and peers in. [...]“ (69)

140

Hier ist eine Erklärung vonnöten. In Braddys Biographie heißt es: „This alphabet, which is now standard

throughout the world where Latin letters are used, was first employed in the teaching of the deaf in France

in the early part of the 18th century. It was brought from Spain, where it is said to have been invented by a

group of monks who had taken a vow of silence; by using it they were able to converse without breaking

the vow.“ (Braddy 1934, 73)

Page 106: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Im folgenden hört man nur beängstigende Laute aus dem Eßzimmer bzw. heftige Tritte

an der Tür. Das Ergebnis der Schlacht bei Tisch ist, daß Helen von ihrem eigenen Teller

gegessen hat, und sogar mit einem Löffel. Während Helen aus dem Raum stürzt, ihrer Mutter vor

die Knie rennt und sich rettungssuchend daran festklammert, kommentiert Anne kühl und mit

siegesbewußter Miene die Lage: „The room’s a wreck, but her napkin is folded.“ (71) Kaum ist

nun dieser Kampf überstanden (das Frühstück hat Stunden gedauert), „when we hear VINEY’S

voice, cheery“: „Don’t be long, Miss Annie. Lunch be ready right away!“ (72) Das ist zuviel für

Annie: „ANNIE shuts her eyes as at a death sentence, takes a deep breath, and passes on. [...]“

(72)

Anne bleibt auch Mr. Keller keine Antwort schuldig, als er daran zweifelt, daß sie im

Gartenhaus allein mit Helen zurechtkommen kann: „Do you know what it’s like to take care of a

child, single-handed, day and night?“ ANNIE: „I can use both hands, Captain Keller.“ (79)

Auf Kate Kellers Besorgnis „You’re not to overwork your eyes, Miss Annie“ entgegnet

sie lakonisch: „Well, I wouldn’t if I didn’t have such an underworked brain!“ (96), und als Mrs.

Keller das Fingeralphabet lernen will, buchstabiert Anne ihr etwas in die Hand, das sie noch

nicht versteht: „I said this is the only way women can get writer’s cramp talking too much!“ (97)

Auf James’ taktloses Kompliment hin „You’d be quite a handsome girl if it weren’t for

your eyes.141

No one’s told you?“ antwortet Anne schlagfertig: „Everyone. You’d be quite a

gentleman if it wasn’t for your manners!“ (106)

Durch diese humorvollen Dialoge und amüsanten Bilder garantiert Gibson, daß der Film

nicht zu theatralisch und rührselig wird. Außerdem wird die Protagonistin Anne Sullivan so im

rechten Licht gezeigt: frech, selbstbewußt und reaktionsschnell. Ohne Komik könnte der Film in

Gefahr geraten, aus Anne mit ihrer schwarzen Brille am Ende noch eine Leidensfigur zu machen.

141

Nella Braddy schreibt in ihrer Biographie: „She would be so pretty if it were not for her eyes. [...] Out of the

vagueness that enwraps the beginnings of Annie Sullivan those are the first words that she can remember.

The words are completely disembodied, and all her efforts to attach them to a person have failed.“ (Braddy

1934, 1)

Page 107: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

6.1.5 Dramatische Effekte

Abgesehen von der Handlung entstehen dramatische Effekte zum einen durch die Kostüme und

Accessoires (getönte Brille, weißes Kleid Helens usw.), zum anderen werden sie durch den Ton

erzeugt (z.B. in der ersten Szene des ersten Aktes, in der Helens Ertaubung durch das Abnehmen

der Lautstärke verdeutlicht wird, oder in der Kinderszene mit Helen, Percy und Martha auf den

Verandastufen, in der der Ton gänzlich fehlt und der Zuschauer nur die Gestik sieht). Zweimal

wird im Film an einem Glockenstrang gezogen, was auf den Zuschauer ebenfalls einen

aufmerksamkeitserregenden Effekt hat. Beim ersten Mal ruft Percy auf diese Weise Mrs. Keller

herbei, als Helen der kleinen Martha die Haare abschneidet: „PERCY darts to the bell string on

the porch, yanks it, and the bell rings.“ (9) Beim zweiten Mal ist der Effekt ungleich größer,

denn Helen hat gerade das Wort „water“ begriffen und läutet nicht nur ihre Eltern herbei,

sondern die Glocken des ganzen Dorfes fallen symbolisch in das Freudengeläut ein:

[HELEN scrambles onto the porch, groping, and finds the bell string, tugs it; the bell

rings, all the bells in the town seem to break into speech while she reaches out and

ANNIE spells feverishly into her hand. [...] HELEN, still ringing the bell, with her other

hand touches her mother’s skirt [...].] (125)

Abgesehen von der chaotischen Szene bei Tisch hat Gibson noch einige andere tragische Szenen

eingebaut, die das Spannungspotential des Films, der an sich ja nicht viel Handlung aufweist,

erhöhen. So verläuft z.B. ein Kampf zwischen Helen und Annie nicht unblutig:

[[...] HELEN swings the doll with a furious energy, it hits ANNIE squarely in the face,

and she falls back with a cry of pain, her knuckles up to her mouth. [...] When ANNIE

lowers her knuckles, there is blood on them; she works her lips, gets to her feet, coughs,

spits something into her palm, finds the mirror, and bares her teeth at herself. Now she is

furious herself.] (46)

Die Kamera geht sogar noch ins Detail (Helen hat Anne inzwischen eingeschlossen), es wird

etwas blutrünstig: „[S]he catches sight of herself in the mirror, her cheek scratched, her hair

disheveled, her handkerchief bloody, her eyes disgusted with herself. [...]“ (47)

[She turns to a pitcher and basin on a stand, puts down what is in her hand, pours some

water, dips the handkerchief, and commences to wash her face. We go close to what she

has put down: it is a broken tooth. Dissolve.] (47)

Diese etwas eklige Nahaufnahme verdeutlicht dem Zuschauer, daß Helens Erziehung gar keine

einfache Sache ist. Anne Sullivan berichtet in ihren Briefen nichts darüber. Dabei hat Gibson

Page 108: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

diese dramatische Szene keinesfalls erfunden, wie man zunächst annehmen könnte. Nach Helen

Kellers eigener Schilderung in der Biographie ihrer Lehrerin waren es sogar zwei Zähne, die

daran glauben mußten, nur in einer anderen Situation; Gibson hat (wie in der Author’s Note

angekündigt) zwei zeitlich verschobene Ereignisse zusammengezogen:

One morning Phantom would not sit down to learn words which meant nothing to her,

and kicked over the table. When Annie put the table back in its place and insisted on

continuing the lesson, Phantom’s fist flew like lightning and knocked out two of Annie’s

teeth. (Teacher 38)

Eine andere dramatische Szene erscheint dagegen etwas unglaubhafter (siehe Kapitel

„Werktreue“); nach dem verzweifelten Kampf ums Bett ist Helen endlich eingeschlafen und

Anne muß im Schaukelstuhl übernachten -- doch was James durchs Fenster sieht, läßt ihn vor

Scham die Augen senken. Der Zuschauer macht dieselbe Erfahrung, denn es wird eine subjektive

Kamera benutzt: „We look in the window with him, the camera panning slowly around.“ (Gibson

85) Anne verhält sich ziemlich gestört:

[ANNIE is in a rocker near by, crooning, but not to HELEN: it is to Helen’s doll142

,

which she is rocking against her breast, patting its diminutive behind, and she herself in

her voluminous nightgown looking like a small girl, playing momma. [...]] (85)

Es kommt noch stärker, denn einige Nächte später hat Anne denselben Alptraum wie auf ihrer

Anreise im Zug (was den Zuschauer die ganze Zeit über gespannt hält, ob das Geheimnis noch

gelüftet wird):

[In on ANNIE’S sleeping face in moonlight. It is disturbed by some dream of growing

terror, the dream we have seen once before on her face, in the train; but this time it lifts

her up in a nightmare sweat, her face blind and terrified. She gropes with a hand, touches

HELEN’S body under the blanket, and the scream breaks from her throat.] (103)

James, der zufällig (!) gerade wieder einmal ums Gartenhaus schleicht, kommt auf den Schrei

„Jimmie!“ herbei, und er bringt Anne soweit, daß sie ihm wie betäubt ihren immer

wiederkehrenden Traum erzählt:

He had a bunch on his hip the size of a tea-cup, a tubercular hip, they said. It kept

growing. [...] He kept saying about his hip over and over, It hurts, it hurts. Then he

couldn’t walk, even with the crutch. I was asleep when it happened, I didn’t hear them

142

In anderem Zusammenhang läßt sich dieses neurotische Verhalten Annes auch in Braddys Biographie

finden: „She was with Helen all day, and in the evening she used to sit in her bedroom [...] crooning to one

of Helen’s dolls („All of my life I have played with dolls,“ she confesses) [...].“ (Braddy 1934, 129) Ich

würde es als eine Art Leerlaufhandlung bezeichnen, die ausdrückt, daß sie sich nach Zärtlichkeit sehnt.

Page 109: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

roll his bed out, but I woke up and felt it wasn’t there. So I went to the dead house in the

middle of the night [...]. When I screamed it woke everyone, they dragged me off him.

[...] (105)

Ein Hinweis auf ihre Alpträume ist weder in Anne Sullivans Briefen noch in Nella Braddys

Biographie enthalten.143

Gibsons Alptraumszene ist besonders ergreifend für den Zuschauer,

denn durch diese feinere Charakterzeichnung Anne Sullivans wird noch deutlicher, daß die

Hauptperson hier nicht Helen Keller ist. Sogar das „Innenleben“ der Protagonistin wird dem

Zuschauer offengelegt.

6.1.6 Werktreue und Literarizität

In einem Punkt widerspricht Gibson sich selbst. Zuerst läßt er Mrs. Keller ihrem Mann

gegenüber die Verschwiegenheit Annes, die nicht gerne über ihre Vergangenheit redet, betonen

(„She’s very close-mouthed about some things.“ 39), dann erzählt Anne Mrs. Keller

vertrauensvoll ihre Leidensgeschichte im Armenhaus, um sie endgültig von dem Gedanken

abzubringen, Helen in ein „asylum“ zu geben:

Mrs. Keller. I grew up in such an asylum. Rats, why, my brother Jimmie and I used to

play with the rats! You’re as innocent as a lamb to me, and Captain Keller too. Maybe

he’d like to hear what it will be for Helen to live with street-walkers and people queer in

the head, with fits, or D.T.’s, and the babies born with no family, the first year we had

eighty, seventy died, and the room we played in was the dead house, where they kept the

bodies till they could dig the -- (77)

Bereits in der Einleitungsszene, in der Anne die getönte Brille überreicht bekommt, gesteht sie

Dr. Anagnos: „I thought I died when Jimmie died, that I’d never again -- Well, it’s true, you say

love, and I haven’t loved a soul since and I never will, but this place gave me more than my eyes

back.“ (23) An dieser Stelle wird besonders deutlich, warum Gibson Annes Vergangenheit im

Armenhaus ins Spiel bringt: der zweite rote Faden des Films ist, wie die starrköpfige Anne nach

vielen vergeblichen Versuchen am Ende doch noch die Liebe der ebenfalls starrköpfigen Helen

143

Nella Braddy sagt über die Zugreise: „She cried so much that the conductor on the train from Chattanooga

asked her if „any of her folks was dead“ and tried to soothe her with sandwiches and peppermints [...]. The

further details of the journey are lost.“ (Braddy 1934, 118) Bei Gibson wird Anne Sullivan weniger

weinerlich und kindlich dargestellt, dafür aber mit einem Trauma aus ihrer Zeit im Armenhaus.

Page 110: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

gewinnt und dieses Kind auch lieben kann. Der Zuschauer zweifelt mehrere Male daran, ob

daraus jemals etwas wird, da Anne oft betont, für Helen oder sonst jemanden keine Liebe

empfinden zu können: „I didn’t come here for love. [She lifts the tea-cup, as in a toast.] I came

for money!“ (78) Und: „And I don’t even love her, she’s not my child!“ (113)

Später erzählt Anne dann wie in Trance ausgerechnet James, zu dem sie nach eigenen

Berichten gar keine besondere Beziehung hatte, von ihrem Alptraum. Zudem sieht es im Film

fast so aus, als wolle sich James an sie heranmachen, was an ihrer Unfähigkeit zu lieben

scheitert. Dies ist wohl nur als zusätzlicher „thrill“ für den Zuschauer zu betrachten, der in dem

Film auf eine Love Story verzichten muß (bis auf die erst relativ spät eintretende „Eroberung“

Helens durch Anne). In der Realität hat Anne Sullivan allen Menschen gegenüber Stillschweigen

bewahrt, und Helen Keller selbst hat sie erst in deren fünfzigsten Lebensjahr von ihrer Kindheit

im Armenhaus erzählt, als sie selbst vierundsechzig Jahre alt war. Diese unrealistische

Vertrauensseligkeit mußte Gibson wohl oder übel in seinen Film einfließen lassen, da die

Protagonistin sonst nicht so stark als eine tragische Figur herausgekommen wäre. Auch wäre

ohne die Alptraumszene ein dramatischer Effekt verlorengegangen, der die Spannung der

Zuschauer erhöht und deren Identifikationsmöglichkeiten mit der Protagonistin aufgrund von

Sympathie verstärkt. Helen Keller, die doch die absolute, lebenslange Vertrauensperson Anne

Sullivans war, berichtet davon, wie sie nach Jahren des Schweigens endlich in die Geheimnisse

der Vergangenheit ihrer Lehrerin eingeweiht wurde, da diese für die Biographie, die Nella

Braddy über sie zu schreiben gedachte, ohnehin die Wahrheit ans Licht bringen mußte:

In twenty-five years, after most of my books were written and my work for the American

Foundation for the Blind was well-established, I learned the truth about Teacher’s life in

the almshouse at Tewksbury. Nella was writing a book about her [...]. [...] Before telling

me her story, Teacher asked the maid to go out for the afternoon and even tucked her

Shetland collie [...] off in an out-of-the-way corner [...]. Then we sat side by side and the

terrifying drama of her early years began to unfold in my palm. (Teacher 113)

Helen Keller verstand, daß die Erinnerung an den Tod ihres kleinen Bruders Anne Sullivan nie

mehr losgelassen hat, und sie konnte sich im Nachhinein so manches merkwürdige Verhalten

ihrer Lehrerin, die sich plötzlich aus aller Gesellschaft zurückziehen konnte und sehr launisch

war, erklären.

I put myself into the exploring spirit of the half-blind, lonely child who lived in that

hideous environment and I nearly went distracted at the dreadful sobbing with which,

Page 111: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

after the silence of half a century, she spoke of her brother Jimmie’s death in the

almshouse. (Teacher 113/4)

Nicht einmal, als Helen Keller 1929 ihre zweite große Autobiographie Midstream: My Later Life

schrieb, durfte sie in einem ihrer Lehrerin gewidmeten Kapitel Anspielungen auf deren

schmähliche Vergangenheit machen:

However, I thought Teacher grew less reasonable as I approached the end of Midstream.

She compelled me to use an unnatural constraint in the chapter I called „My Guardian

Angel.“ She did not permit any reference to her humble birth or the almshouse, her

sufferings and disappointments. Actually I felt humiliated, as if I had almost lied to God

Himself, and I never spoke of Midstream to her after an experience that caused aversion

to myself. For I loved Teacher and not myself in her. (Teacher 180)

Die Freizügigkeit Anne Sullivans Vergangenheit betreffend ist der größte Verstoß gegen

Authentizität im Miracle Worker. Er schadet jedoch dem Film nicht, sondern erhöht das

Interesse der Zuschauer. Es gibt noch einige andere Unterschiede (abgesehen vom Auftreten von

Personen in gewissen Szenen, die in Wirklichkeit gar nicht dabeigewesen sind; wie z.B. die

lauschenden Kinder und Viney bei der Frühstücksszene); so wird Helen Keller wilder und

ungeschickter dargestellt, als sie eigentlich war. Als Anne ihr die Arbeit mit der Nähkarte

beibringt, lauten die Regieanweisungen im Miracle Worker: „[...] HELEN’S hand is threading

the card in a haphazard maze from hole to hole. ANNIE’S hand tries to instruct hers; HELEN’S

is impatient, and presently gets rid of ANNIE’S simply by jabbing it with the needle [...].“ (55).

Im Original heißt es da: „[...] [S]he finished the card in a few minutes, and did it very neatly

indeed.“144

Ebenso wird Helen ungeduldig und rachsüchtig dargestellt, als ihr beim Auffädeln

einer Perlenkette ein Malheur passiert: „Cut to HELEN, hanging the competed string of beads

around her neck, whereupon they all slide off the unknotted end. HELEN sits darkly. Then with

venteful resolve she seizes her doll, and is about to dash its brains out on the floor [...].“ (52/3)

In Annes Briefen war Helen nicht so dumm, keinen Knoten zu machen, sondern es war Annes

Fehler, und Helen wird sogar noch für ihre Cleverness gelobt: „I did not make the knot large

enough [...], and the beads came off as fast as she put them on; but she solved the difficulty

herself by putting the string through a bead and tying it. I thought this very clever.“145

Im

Miracle Worker zeigt sich Helen an einer Stelle besonders aggressiv; sie rächt sich an der

kleinen Martha, weil diese sprechen kann: „[...] instantly HELEN has MARTHA on her back,

144

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 306. 145

The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 307.

Page 112: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

knees pinning her shoulders down, and MARTHA’S tied bunchlets of wiry hair are flying off in

snips of the scissors. [...] MARTHA is running off in tears, and HELEN is fiercely snipping the

shorn bunchlets into smaller fragments.“ (9) Gerade diese nachträgliche Zerstückelung zeigt

Helen in einem viel negativeren Licht. Nach Helen Kellers eigener Schilderung war dies

offenbar ein Akt gegenseitigen Frisierens: „Martha Washington had as great a love of mischief

as I. [...] I turned my attention to Martha’s corkscrews. [...] Thinking that turn and turn about is

fair play, she seized the scissors and cut off one of my curls [...].“ (The Story of my Life 12/13)

Die Darstellung einer verwildeten Helen im Miracle Worker war für den Film anscheinend

notwendig, um den Kontrast zu ihrem Verhalten nach dem Spracherwerb stark genug

hervorheben zu können.

Etwas vermißt man jedoch im Film: die berühmt-berüchtigte Eloquenz von Dr. Anagnos.

Bei Gibson liest er hauptsächlich Annes Briefe vor, und wenn er selbst etwas formuliert, so

geschieht dies in abgebrochenen, hintereinandergefügten kurzen Hauptsätzen, ohne

ausschmückende Stilfiguren. Man findet nur eine Metapher: „Deaf, blind, mute -- no one knows.

She is like a little safe, locked, that no one can open. Perhaps it is empty.“ (20/21) Ansonsten

scheint die Betonung eher auf der Tatsache zu liegen, daß Anagnos Ausländer ist (die

Regieanweisung betont seinen „Greek accent“, vgl. 18). Seine Sätze sind abgehackt: „Now, in

this envelope, a loan for the railroad [...].“ (22) „In this box, a gift.“ (22) „A small girl, such a

large question.“ (130; als Reaktion auf Helens Frage „What is a soul?“). Oder: „And will you

stay with us, here, now? Both?“ (131) Auch scheint Dr. Anagnos häufig unsicher, welches Wort

er verwenden soll, weshalb er ein ständiges „what“ oder „hm“ einflechten muß: „[...] you do lack

some -- by some I mean all -- what, tact or talent [...]“ (19). Beziehungsweise: „Annie, you have

made, what, a wonder, hm?“ (130) Daraus wird ersichtlich, daß Anagnos, abgesehen von der

Tatsache, daß er Helen eine Lehrerin schickte, im Film nur eine untergeordnete Rolle spielt als

Vermittler der Briefe.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß aufgrund der hohen Literarizität auch eine

bemerkenswerte Werktreue gegeben ist; wenngleich manche Charaktere des Miracle Workers

etwas überzeichnet erscheinen. Die negative Darstellung Mr. Kellers ist verständlich, da er auch

in Anne Sullivans Briefen als borniert und starrköpfig charakterisiert wird. Aber James, der in

den Briefen gar keine, wenn nicht nur eine belanglose Nebenrolle annimmt, bekommt hier ein

stärkeres Gewicht zubemessen, als ihm eigentlich zusteht. Er nimmt Helen gegenüber eine harte

Page 113: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Haltung ein: „You really ought to put her away, Father. [...] Some asylum. It’s the kindest thing.“

(13) In der Realität war dies der Vorschlag eines Onkels146

von Helen gewesen. Auch seine

„Annäherungsversuche“ an Anne sind vielleicht etwas übertrieben: „And you’ve had no one to

dream about since?“ ANNIE [grimly]: „No. One’s enough.“ JAMES: „[...]giving up. Sooner or

later, we do. Then maybe you’ll have some pity on -- all the Jimmies. And Helen, for being what

she is. And even yourself.“ (105) Anne wird hier beinahe als Männerhasserin147

dargestellt. Und

vor allem als eine Person, die im Uneins ist mit sich selbst. Diesen Charakterzug hat Gibson aber

keinesfalls aus der Luft gegriffen. Er stellt seine Protagonistin nicht als Heilige (denn sie ist ja

eine „Wundertäterin“) dar, sondern als einen Menschen mit Fehlern und Schwächen, was sie laut

Helen Kellers Biographie auch war:

Teacher was twenty-nine [...] before I could form an idea of her personality apart from

her vocation as devotee of loveliness. As I grew more mature, she let loose upon me all

her varied moods, and because of this I was not taken unawares by the storms of destiny.

(Teacher 69)

Teacher also suffered [...] from a melancholy which bred a wretched incapacity to

respond even to the kindest approaches of her intimate friends. She would fly from them

to the woods [...]. But then she would come back to her friends asking forgiveness.

(Teacher 70)

Teacher was not logical. Yet she was the only woman I have known intimately who could

engage in the rough and tumble of argument and come off victorious. (Teacher 71)

Sein Hauptziel hat der Film erreicht: ein gelungenes Portrait Anne Sullivans mit Betonung auf

der Schwierigkeit ihrer Arbeit und ihrer genialen Erziehungsmethode.

6.2 Überbetonung des Sexuellen im Folgestück

Monday after the Miracle148

146

„‘You really ought to put that child away, Kate,’ said one of Mrs. Keller’s brothers. ‘She is mentally

defective and it is not pleasant to see her about.’ “ (Braddy 1934, 104)

147

Nella Braddy erklärt Anne Sullivans merkwürdiges Verhalten als eine Störung, die von ihrer Zeit aus dem

Armenhaus herrührt: „The result [...] was an outlandish impression of what life was like and a queer

fascinated antagonism for men.“ (Braddy 1934, 45) 148

Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf Gibson, William. Monday after the Miracle.

A play in three acts. New York: Dramatists Play Service Inc., 1983.

Page 114: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Trotz der schlechten Kritiken ist es interessant, gewisse Aspekte in Gibsons „Teil Zwei“ der

Helen-Keller-Story, Monday after the Miracle, zu betrachten. Das Stück wurde im Mai 1982

beim Spoleto Festival in Charleston/South Carolina unter der Regie von Arthur Penn

uraufgeführt.

Der Dreiakter verfolgt ausschließlich die Dreiecksbeziehung Anne Sullivan - Helen Keller - John

Macy, und zwar von ihrem Beginn bis zu ihrem Scheitern. Dabei werden Helen Kellers

literarisches und soziales Wirken kaum gewürdigt; es geht lediglich um die Psychologie der

Figurenkonstellation. Der sexuelle Aspekt wird dabei überbetont. Eine große Rolle spielt die

Verbesserung von Helens Aussprache; am Anfang wird sie nicht verstanden, gegen Ende hält sie

„lectures“. Die Schauspielerin (Karen Allen) scheint dies jedoch nicht überzeugend

herübergebracht zu haben. Vom Titel her könnte man erwarten, Monday beziehe sich auf den

ersten Montag nach dem Ereignis am Brunnen, und Gibson würde jetzt fortfahren zu erklären,

wie Helen eine Vorstellung von abstrakten Begriffen bekam und Fortschritte beim Erlernen der

Sprache machte, so wie es in den Briefen Anne Sullivans beschrieben wird. Aber die Fortsetzung

setzt nicht da ein, wo The Miracle Worker aufgehört hat, sondern es sind inzwischen Jahre

vergangen. Die Personen werden folgendermaßen beschrieben: „At the clothesline, Annie -- her

hair unkempt, an attractive slattern in her late thirties [...]. [...] Helen, in her early twenties, is

seated working at the Braille writer. John, 25, tweedy, books in pocket, and a sprig of lilac in

hand [...]“ (5)

Der erste Akt beginnt damit, daß John, ein junger Dandy auf Arbeitssuche, den Kopf zur

Tür hereinsteckt und ein paarmal „hello“ zur braillelesenden Helen sagt, worauf er natürlich

keine Antwort bekommt. Dann wird er Annies gewahr und begibt sich in den Garten, wo Anne

Sullivan Wäsche aufhängt. Er erkennt seinen Irrtum und wird gleich seinen ersten Kommentar

über Helen Keller los: „She’s lovely“ (6), während Anne ihn wie einen Vertreter abzuwimmeln

versucht: „Nothing today, thank you.“ (6) John Macys Auftreten ist von Anfang an dreist und

unverschämt, zumal er Anne für die Bedienstete hält und sie, nachdem er sie von oben bis unten

begutachtet hat, herablassend mit einem typischen Hausmädchennamen anredet: „Well, you’re

not bad yourself, Maisie, why didn’t you answer the door?“ (6) Als Anne erwidert, sie heiße

nicht Maisie, sagt er, „A generic appellative, sweet“ (6), und stellt sich folgendermaßen vor: „A

Page 115: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

friend to all downtrodden domestic help.“ (6) Im folgenden belehrt er Anne Sullivan, die ihn

verulkt und sagt, sie hieße Bridget, daß sie sich keineswegs in diesem Hause ausnützen lassen

müsse, und daß Karl Marx eine Antwort für alle geknechteten Hausangestellten habe -- die

Revolution. Anne Sullivan spielt das Spiel mit und antwortet wahrheitsgetreu auf die Frage:

„Aren’t you underpaid?“ -- „Indeed I am.“ -- „And overworked.“ -- „I work like a slave.“ (6) So

wird gleich die momentane Situation Helen Kellers und Anne Sullivans beschrieben, die von

finanziellen Engpässen gekennzeichnet war und davon, daß Anne ihre Augen überanstrengen

mußte, um mit Helens Arbeit fürs College mithalten zu können.

John reicht Anne einen Band von Marx, wobei er eingebildet so tut, als wäre Marx ein

alter Bekannter: „Old Karl analyzes all the reasons and gives the answer“ (6), doch sie gibt ihn

zurück mit dem Kommentar: „It has no pictures“ (7) -- Anne foppt John, indem sie sich wie eine

hoffnungslos ungebildete und unbelehrbare Hausangestellte verhält. Als sie ihn Helen vorstellt,

erkennt er jedoch seinen Irrtum. Helen („her voice thick, uninflected“ 7) sagt höflich, „It’s a

gracious offer“ (7), doch er versteht sie nicht, und Anne muß dolmetschen. Im folgenden hat

Gibson die Technik des voice over für die Entschlüsselung des Fingeralphabets benutzt, was er

im Miracle Worker nicht angewandt hat; dort sprach Anne für den Zuschauer ihre Sätze zu den

Zeichen. Hier jedoch sieht der Zuschauer Anne die Zeichen für Helen machen, während ein

voice over sie interpretiert; Helen dagegen spricht durchweg selbst, und zwar mit den Pausen an

den falschen Stellen, auch mitten im Wort.149

Es fällt auf, daß Anne Helen äußerst

verniedlichend und aus einer überlegenen Pose heraus anredet: „I’m not sure he’s suitable,

baby.“ (7)

Die Szene versucht krampfhaft, komisch zu sein; erst durch das Verwirrspiel, dann durch

Helens Charakterisierung des neuen Sekretärs, als sie ihn betastet: „He is talented.“ -- „Thank

you.“ -- „And, knows it.“ (7) John Macy wird eingestellt, indem Anne ihm die Arbeit für den

nächsten Monat präsentiert. John: „It’s, ah -- bumpy going --“ (8), er kann nämlich kein Braille

lesen. Auch ist die Situation für ihn so verwirrend, daß er Helen anredet und ganz vergißt, daß

sie ihn ja nicht hören kann. Helen erleichtert es ihm, indem sie mit den Fingern von seinen

Lippen liest. John erzählt den Frauen, daß er eigentlich Schriftsteller ist und gerne ein Buch über

„American letters“ schreiben würde, aber seinen Lebensunterhalt auf andere Weise verdienen

müsse. Seine marxistische Grundhaltung ist bereits deutlich geworden. Als Anne Sullivan ihn

149

Deshalb stehen auch die Kommata in den Zitaten an den falschen Stellen.

Page 116: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

damit aufzieht, macht er die Anspielung: „I’m afraid you’re -- something of a witch.“ -- „Oh?“ -

- „Bewitching.“ (9) Dann fragt er die beiden Frauen, ob sie Maggie, A Girl of the Streets kennen,

und Helen fragt harmlos: „Do we?“, während Anne sich belesener zeigt: „I think she’s a book.“

(9) John verspricht, den Band von Stephen Crane mitzubringen; hier soll verdeutlicht werden,

daß John Macy beginnt, marxistische Vorstellungen und Werke der Muck-raker in den Haushalt

Keller-Sullivan einzuführen. Zugleich wird deutlich, daß Anne nichts davon hält. Helen wird

sich später begeistert zeigen.

John erzählt weiter, „There’s a new man Dreiser worth watching, also interested in fallen

women. It’s the buried life in this country, the unpriviliged, struggling for speech.“ (9) Anne

wirft ein, daß sie beide seine Hilfe gut gebrauchen könnten, wenn er Helen in ihrem „struggle for

speech“ unterstützen wolle, aber sie betont: „But she’s a risen woman.“ (10) Die

Ausgangssituation wird klar umrissen: Helen ist die Unberührbare, und Anne ist an sie

gebunden: „But aren’t you in a kind of bondage? [...] To her?“ (10) Diese Konstellation gerät im

Folgenden etwas aus den Fugen.

Anne bindet John gleich beim „Einstellungsgespräch“ auf die Nase, daß sie ein Kind

armer irischer Einwanderer und nur durch Helen gesellschaftlich aufgestiegen ist: „Low life. In

the raw. We rose together, a -- mutual levitation --“. (10) Wie bereits zum Miracle Worker

angemerkt, widerspricht dies ihrer Verschlossenheit, wenn es um ihre Vergangenheit geht.

Andererseits kommt in Monday after the Miracle ein Charakterzug Annes zum Ausdruck, der

vielen Zeitgenossen Sorgen um Helen bereitet hat -- ihre Sklaventreiberei. Eine kleine Szene

zeigt, daß Anne Helen nicht zu Bett gehen lassen will, bevor diese ihre Aufgaben erledigt hat:

HELEN. (Sitting.) Carving out, one diagram, takes me all, night. Do you, care?

ANNIE. (Laying out rods.) Of course not.

HELEN. (Working with the stiletto.) Jab, jab, jab -- (Annie comes with the book, spells.)

ANNIE. (Voice over.) Am I slave-driver?

HELEN. Yes.

ANNIE. (Voice over.) You forgive me?

HELEN. Can I, go to bed?

ANNIE. (Voice over.) No.

HELEN. No. (11)150

150

Nella Braddy berichtet häufig von Annes Determinismus und Ehrgeiz, Helen zum Arbeiten anzustacheln.

Ihr ewiges Antreiben sei auch der Grund gewesen, weshalb sie sich mit dem Schulleiter Gilman zerstritten

habe, der Anne aus falscher Rücksicht von Helen trennen wollte, worauf Mrs. Keller Helen von seiner

Schule nahm und sie gänzlich Annes Gutdünken unterstellte: „Mr. Gilman wrote Mrs. Keller that Annie

was treating Helen cruelly, making her life a perfect grind, and that the child’s health was in very

precarious condition.“ (Braddy 1934, 183)

Page 117: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Die psychische Problematik wird deutlich, als Helen halb im Scherz sagt: „My youth is,

withering on the, vine“ (12), und Anne selbstverloren murmelt: „Is it. Is it indeed.“ (12).

In der folgenden Szene tritt Johns Freund Pete auf. Die jungen Männer stehen vor der

Wäscheleine, und Pete sagt überwältigt: „Helen Keller’s underwear?“, worauf John entgegnet,

„She has all the usual plumbing.“ (12) Pete wird später noch öfters auftauchen, sozusagen als

Ersatzmann für Helen, wenn John sich in Anne verliebt. Zuerst geht es aber darum, daß John

Macy Helens Story of my Life als Buch herausgeben will. Annes Äußerungen sind ziemlich

authentisch wiedergegeben, denn sie war in der Tat nicht begeistert davon, daß ihre Briefe im

Anhang erscheinen sollten: „You know how we suffered with publicity“ und „[...] I don’t believe

our affairs concern the public“ (14). Wie bereits im Miracle Worker wird Annes schroffes,

abruptes Benehmen verdeutlicht: „I said I will not discuss this further! (She bangs her plate

down, jumps up, and marches Off [...]“. (15) John wagt es, auch noch einen Witz zu reißen: „My,

you’re a contrary type; if you ever drown I’ll look for you upstream.“ (15) Es wird auch

verständlich, warum Anne es nicht ertragen kann, wenn man sie rühmt, z.B. wegen ihrer

pädagogisch wertvollen Briefe: „I’m just not delighted with people who look at me, and see

Helen’s faithful crutch, and prattle of her genius.“ (15) Sie hat ja schließlich kein eigenes Leben,

sondern lebt und wirkt hingebungsvoll für Helen Keller. Ein anderer Aspekt, den Gibson

wahrheitsgetreu übernommen hat, ist die Tatsache, daß Helens Vater151

sein Kind für Geld

„ausstellen“ wollte:

I was nothing, till I found Helen. And that -- love flooded me, what more could the world

offer? Well, it offered all the grief of success. They couldn’t keep their hands off her, do

you know her father wanted to exhibit her for money? [...] Publicity. Do you know the

Perkins teachers were so jealous of me they tried her for plagiarism? - and the Cambridge

School thought she was such a feather in their cap they threw me out? (Gibson 15)

In diesen Zeilen findet man sogar eine Anspielung auf den „Frost King“. Nach diesen der

literarischen Vorlage getreuen Äußerungen fügt Gibson ein paar wilde Szenen ein:

ANNIE. I was never a child. You want my secret with Helen? -- I grew up in a garbage-

pail called the state poorhouse, with lunatics and syphilitic whores, and battled

my way out, and I didn’t teach Helen, I played with her, games, games, games,

151

„Mr. Gilman [...] showed Annie a telegram from Mrs. Keller authorizing him to take complete charge of

Helen, and reminded her that before his death Captain Keller had wished them to be separated. This was

true. Captain Keller had wished to exhibit Helen so as to recoup his fortunes, but Annie and her mother

were determined that Helen should go on with her education.“ (Braddy 1934, 184)

Page 118: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

her childhood was mine. A -- garden. And all the time I knew that to bring her

into the light would make my life.

JOHN. And it isn’t enough.

ANNIE. No. Not -- enough -- (She suddenly scrambles up to escape, John catches her by

the ankle; she goes down, kicking.) Let go.

Es entwickelt sich ein kleiner Kampf zwischen Anne und John:„He pins her striking hands,

kneels over her -- [...] „What would be enough? -- a man who --“ (-- and she knees him in the

groin; he rolls over in pain. She kneels.)“ (16/17) Sie küßt ihn, worauf er fragt, wo sie das

gelernt habe, im Armenhaus etwa? Sie sagt, von niemandem. Dann küßt er sie: „she comes out of

it wide-eyed“ (17) und fragt: „Is that sanitary?“ (17)

Dann vergeht ein gewisser Zeitraum (was Gibson darstellen läßt, indem das Licht

heruntergedimmt wird, Musik spielt, und es langsam wieder heller wird). Es folgt eine

Anspielung auf den Shakespeare-Bacon-Disput: John ist gerade dabei, Helen zu belehren, daß

Bacon die berühmten Shakespearewerke geschrieben hat („and kisses her brow“ 18), als Anne

hinzukommt und sich die erste Eifersuchtsszene entwickelt: „Am I interrupting?“ (18) Anne

schickt Helen zu Bett („Off to bed, baby.“ 19) und verheimlicht Helen, daß John über Nacht

bleibt. Nicht nur Anne, auch John behandelt Helen wie ein Kind: „Good night, sleep tight, don’t

let the --“ (19), aber als Helen beleidigt ruft, „I’m a, grown woman“, zieht er sich gekonnt aus

der Affaire: „-- flights of angels sing thee to thy rest“. (19) Jetzt erfährt der Zuschauer etwas

Erschreckendes -- Helen hat Glasaugen: „My eye, hurts.“ -- „Oh. Perhaps a crack in the glass;

we may need a new eye. We’ll visit the lab.“152

(19)

Im Miracle Worker war Annes getönte Brille ein Symbol; hier sind es Helens Glasaugen: „Lights

up a point on Helen’s bed as she works her artificial eyes out and sets them in a glass of fluid.“

(20) Während John und Anne im Bett liegen, schleicht Helen die Treppen hinunter und

schnüffelt, da sie ahnt, daß John noch da ist. Sie findet auch seine Jacke und „lauscht“ an Annes

Zimmertür, bevor sie in ihr Schlafzimmer zurückgeht. Anne gesteht John, „I feel like a thief.“

(20) Voller Ernst drückt sie die Problematik ihrer Lage aus: „And ashamed to -- be so --“ --

„Human.“ -- „Osculatory. From Helen’s geometry, touching at three points. I think of nothing

but you now; I don’t like you for it.“ (20) John hat sofort eine sexistische Anspielung auf Lager:

152

Es fragt sich, wo Gibson hier recherchiert hat. In den mir vorliegenden Quellen war nichts über ihre

„Glasaugen“ zu entdecken; schon längst nicht im Alter von 23 Jahren, und auch auf den Fotos sieht es nicht

danach aus.

Page 119: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

„Come touch me at three points.“ (20) Anne nimmt die Situation viel ernster und bittet ihn, sie

zu verlassen, da macht er ihr einen Heiratsantrag. Nach einigem Hin und Her ruft Anne aus: „I’m

married to Helen!“ (22), worauf John kontert: „How many children are you planning on?“ (22)

Damit hat er ins Schwarze getroffen, denn Kinder hat sich Anne immer gewünscht, und sie ist

jetzt in einem Alter, wo es noch nicht ganz zu spät ist. Für dieses Mal zieht sich John zurück und

läßt Anne mit ihrem Gewissen allein: „Annie sits still; but her thoughts move, her hand comes

down to her abdomen.“ (22)

In der folgenden Szene bringt John Pete zum Essen mit nach Hause; er hat auch eine

Flasche Bourbon dabei. Die Alkoholflasche als Symbol wird bald zum unabtrünnigen Attribut

Johns werden, das seinen psychischen und körperlichen Niedergang verdeutlicht. Anne sitzt auf

Helens Bettrand und gesteht ihre Liebe zu John: “Do you, kiss?“ -- “Yes“ -- “What else?“ --

“Touch.“ -- “You do, everything?“ -- “No.“ -- “Why not?“-- “It’s not a - promise I’m ready to

make--“ -- “I thought he, liked me.“ -- “Ohhh - baby--“. (vgl. 23) Anne ist den Tränen nahe als

sie erfährt, daß Helen sich Hoffnungen gemacht hatte. In diese Tragik baut Gibson Komik ein,

denn inzwischen warten die jungen Männer unten auf Anne und Helen; John hat seinen Freund

schon neugierig gemacht: „One’s a tiger, one’s a flower, you’ll like them“ (vgl. 23). Als Anne

herunterkommt und John seinen Freund vorstellt: “This is Pete“, antwortet sie brüsk: “Goodbye,

Pete“ (24), schaufelt sich von dem Essen, das die beiden mitgebracht haben, auf einen Teller,

nimmt sich Besteck und trägt alles hoch zu Helen. Pete sarkastisch: “I like them.“ (24) Als Anne

verschwunden ist, fragt er John: „Was that the flower?“ (24), und ist erleichtert, als dies verneint

wird. John versucht, mit Helen reden, aber sie ist verletzt und will nichts von ihm wissen.

Stattdessen stolpert sie die Treppe hinunter, wo Pete sie sieht: “You are the flower.“ (25) John

diskutiert mit Anne: „It’s ridiculous, I came here to woo you and have to woo her first? [...]

Women! Marry them both?“ (25). Anne und Helen streiten darüber, ob Anne einen Bewunderer

haben darf oder nicht, und darüber, daß sie Helen belogen hat. Die beiden Männer haben sie in

die Flucht geschlagen.

In der folgenden Szene besichtigen John, Anne und Helen das Landhaus in Wrentham,

das sie kaufen wollen. Hier eröffnet John Helen, daß er ihre Lehrerin heiraten möchte, und sie

reagiert so verzweifelt, daß John nicht mehr weiß, was er sagt: „I withdraw my proposal to you, I

do make it to her.“ (30) Anne hingegen kommt mit einem guten Argument: „And when I --

Page 120: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

retire, at a hundred and eight, I’ll be leaving you in good hands.153

I won’t live forever.“ (30)

Endlich kann Anne ihre Schülerin davon überzeugen, daß sich nichts großartig ändern wird,

wenn sie John heiratet, und daß Helen nicht nach Alabama zurückgeschickt wird. Sie darf auch

erst in Ruhe ihre Schule beenden. Der erste Akt hat ein Happy End und schließt mit einer

symbolischen Dreierkonstellation: „John puts his arms around both, binding them in a

threesome“. (31)

Mehrere Jahre sind vergangen; die drei wohnen im neuen Haus in Wrentham. Zu Beginn

des zweiten Aktes liegen Anne und John im Bett; John ist genervt, daß er auch am Sonntag um

sieben aufstehen muß, da Helen eine „deadline“ hat. John verlangt zuviel von Anne: “Let’s.“ --

“I haven’t the strength.“ -- “Never said that the first year.“ -- [...]“Open, sesame!“ -- “No, I’m --

sore--“. (32/33) In diesem Akt wird übrigens auch das Symbol aus dem Miracle Worker wieder

relevant: „Annie, below, finds her dark glasses amid the correspondence; contemplates it all

heavily [...].“ (33) Es wird deutlich, daß sie mit zunehmendem Alter wieder Probleme mit ihren

Augen bekommt. Am Frühstückstisch machen Anne und Helen ein kleines Spielchen, das an den

berühmten „catfight“ im Miracle Worker erinnert, womit dargestellt werden soll, daß John Macy

sich ausgestoßen fühlt, denn bei der intimen Vergangenheit Annes und Helens hat er nichts

mitzureden:

([...] Helen’s plate is not empty, but she mischievously sneaks a hand out to Annie’s -- [...]

-- and Annie slaps it; they giggle; then Annie holding Helen’s hand looks up to see John

standing with coffeepot and mugs.)

ANNIE. Oh, John, don’t look like that.

JOHN. How?

ANNIE. Glum. It’s an old joke, the first time I ate with Helen --

JOHN. I got the joke, I edited the spelling in those letters. (34)

John berichtet, daß er einen Titel für sein Buch gefunden hat: „The Spirit of American

Literature“. Dann informiert er seine Frau: „I invited Pete. For Helen.“ (35) Sein Plan war,

picknicken zu gehen, doch Anne widerspricht, da noch so viel Arbeit zu tun ist. John braucht

inzwischen schon Whiskey, und auf Annes entsetzte Frage, „For breakfast?“ entgegnet er, „For

company“. (36) Anne erkundigt sich zwar, ob sie ihm helfen kann, doch als er sie bittet, nur von

153

Diese Passage hat Gibson aus Nella Braddys Biographie entlehnt; sie stammt aus einem Brief von Mrs.

Macy an Helen: „You are never out of my thoughts. They keep me awake at night, and daylight brings no

satisfactory answers to them. When I married John I thought I had solved the greatest of them. He promised

me that in case of my death, which in the natural course would come before his, he would be a brother to

you, look after your happiness, and take charge of your affairs.“ (Braddy 1934, 253)

Page 121: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Zeit zu Zeit auch mal seine Hand zu halten, fragt sie: „The one with the drink?“ (36) Die

Antwort „The one that’s cold“ (36) zeigt deutlich, wie verloren John in diesem Dreierhaushalt

bereits ist. Dasselbe drücken auch die Regieanweisungen aus: „He lays it on her bosom; she

takes it to kiss, and goes in to Helen with the encyclopedia; John remains on the steps.) (36)

Anne hilft Helen mit ihrem Artikel über Silbernitrat, dem Heilmittel gegen die Augenkrankheit

von Neugeborenen. Anne macht sich inzwischen Gedanken, ob sie nicht einen Arzt aufsuchen

soll, weil sie immer noch nicht schwanger ist, aber John meint: „If the womb doesn’t want

another child? -- maybe it thinks Helen -- [...] is enough.“ (37)

John versucht mehrere Male, Annes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: “It gets lonely.“

[...] “I need mouth-to-mouth resuscitation.“ (38), doch Anne kann sich nicht von ihrer Arbeit mit

Helen losreißen und sagt nur, „ sie wartet“. Ihr Versuch, John zu trösten (“I’m downstairs in

body, upstairs in spirit“ (38)) schlägt fehl, und schließlich will sie ihre Ruhe: „Go up to work!

I’ll buy a padlock for that door --“ (38) Pete ist inwischen eingetroffen, und wie aus heiterem

Himmel entschließt sich Anne doch, picknicken zu gehen. Helen ist begeistert und freut sich

darauf, daß John ihr Swedenborg vorlesen wird (er hält Swedenborg für einen Verrückten). Jetzt

wird auch klar, daß mit Anne gesundheitlich etwas nicht stimmt: „But not make love in the

rowboat -- [...] because it hurts.“ -- „What hurts?“ -- „Some -- inflammation --“ (39) John rennt

hinter Anne die Treppe hoch: „Swedenborg. I want her.“ (40) Pete ist derweil mit Helen allein,

die maßlos glücklich ist, daß er mehr als seinen Namen in ihre Hand buchstabieren kann. Er gibt

ihr gleich eine Kostprobe: „Helen, thy beauty is to me/Like those Nicean barks of yore --[...]--

That gently o’er a perfumed sea/The weary, wayworn wanderer bore --“. (40)

Inzwischen ist wieder Zeit vergangen; Anne ist jetzt zweiundvierzig. Dr. Ed hat sie

untersucht und einen „muscle-fibre tumor“ festgestellt. Das könnte der Grund sein, weshalb sie

immer noch nicht schwanger ist. Außerdem macht er sich Sorgen wegen ihrer Augen.

Währenddessen sitzen John und Helen zusammen und lesen kommunistische Schriften, wobei

sie über Teacher lachen: „She’s a stiff-necked lady.“ (42) Helen will nicht undankbar sein und

vergleicht Teacher mit einem Steinmetz, der sie Stück für Stück wie ein Gesicht aus dem Stein

gehauen hat: „It seems, ungrateful for the, face to complain of, the chisel.“ (42) John fragt sie

neckisch, „But are you stone?“ (42) Helen erwidert, daß sie viele für eine Statue halten, und John

macht ihr das Kompliment, für eine Statue mit Flügeln. John sagt zu Helen, „she’s an artist;

you’re her art“ (42), und er gesteht, daß er wartet. “For her?“ -- “For her art.“ (43) Daraufhin

Page 122: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

wird John anzüglich: “Don’t hide; why are we here at the fire together?“ (43) Als Helen erzählt,

sie habe ein Mausenest auf dem Dachboden gefunden und John sich erkundigt, „What other wild

life is in the house?“ (43), antwortet sie: “You.“ (43) Schließlich bekennt sie, daß sie auch

Gefühle für ein männliches Wesen empfinden kann, und daß sie seine geheimnisvolle

Anwesenheit im Haus von Anfang an gespürt hat: “The house is alive with a, mystery. What is,

man?“ (43) John ist bereit, es ihr zu zeigen. Während sie sich küssen, buchstabieren sie mit den

Fingern, die Zuschauer hören ihre Unterhaltung als voice over, und die Regieanweisung ist

besonders interessant: „we hear Helen’s mind-voice, which is normal“. (44) Damit soll suggeriert

werden, daß Helen in Sachen Liebe durchaus normal ist, und daß ihre Behinderung sie in keiner

Weise unattraktiver macht. Diese Szene ist vielleicht die bedeutendste in Monday after the

Miracle. Helen will nicht mehr zu John sprechen, weil sie ihre Stimme häßlich findet, aber John

überzeugt sie vom Gegenteil. Es wird immer brisanter: “His hand goes down her; she tenses.“

(45) Weiter kommen sie aber nicht, da in dem Moment Anne und Pete den Raum betreten und

sich wundern, warum es bis auf das Feuer so dunkel ist. Pete ist gerade von seinem „great white

editor“ entlassen worden. Anne sieht, daß Helen weint und fragt, “What happened, baby?“ (47)

Zu ihrem Schrecken muß sie feststellen, daß ihr „baby“ gar nicht so unschuldig ist und sogar die

Aktive war: “I’m a, terrible person -- [...] I, made love to, John. [...] God gave me a, body and I,

can’t prevent what it feels.“ (47) Anne wird rasend eifersüchtig und schubst Helen in Johns

Arme: “you want her? [...] Take her.“ (48) Anne hat festgestellt, daß drei einer zuviel sind, und

will das Haus verlassen. Helen stolpert „Teacher Teacher Teacher“ schreiend umher und wirft

dabei eine Lampe um, so daß der Tisch Feuer fängt. Die Szene endet beinahe in einer Tragödie.

Während John mit einem Kissen das Feuer erstickt, erkundigt sich Anne, die sich krampfhaft um

Fassung bemüht, nach dem Verbleib ihres Drinks, und es bleibt sogar noch Zeit für einen

komischen Effekt: „Where’s my brandy?“ -- „On the -- inside the pillow“. (50)

Im folgenden wird eine Lösung gesucht, die Dreierkonstellation zu beenden. John trifft

die Situation am härtesten: „Because I’m married to a pair of Siamese twins, every time I reach

for you she’s in the way!“ (52) Er hätte jedoch nie vorgehabt, eine taubblinde Jungfrau zu

verführen. Helen macht den Vorschlag, ihre Mutter kommen zu lassen, doch John will nicht auch

noch eine „Schwiegermutter“. Während John und Anne streiten und sich gegenseitig die Schuld

an ihrer Kinderlosigkeit zuschieben, sitzen Helen und Pete auf der Terrasse, und Pete erklärt

Helen, daß nur jemand sie ausschließlich lieben könne, der ganz frei sei: „Teacher won’t be with

Page 123: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

you always. I can.“ (54) Helen hat Angst, geht aber Arm in Arm mit ihm ins Haus.

Währenddessen haben sich Anne und John versöhnt, und Anne macht John überglücklich mit der

Eröffnung, daß sie Helen für einige Zeit bei Dr. Ed und seiner Frau Ida abliefern will, um mit

John zu verreisen. Der zweite Akt endet mit Annes paradoxer Bitte an John: „Will you love me

as I am if I change enough?“ (56)

Der dritte Akt beginnt mit der Rückkehr Annes und Johns von ihrer Reise; Ed ist auch

eingetroffen, und Helen steht vor der schwierigen Aufgabe, Teacher zu erzählen, was sich

während ihrer Abwesenheit ereignet hat. Kaum betritt Anne den Raum, fliegt Helen ihr in die

Arme, während John murmelt: „Thought that was Pete’s job now.“ (58) In Monday after the

Miracle wird es so dargestellt, als habe John seinen Freund wohlweislich eingeführt, um ihn mit

Helen zu verkuppeln, damit die Dreiecksbeziehung ein Ende hat. Ed muß sich von Anne

Vorwürfe anhören, daß er nicht besser auf Helen aufgepaßt hat. Er hat es nämlich erst aus dem

Globe erfahren, daß Pete und Helen eine Heiratsurkunde unterschrieben haben. Alle sehen sich

nun nach Pete um, und John macht die anzügliche Bemerkung: „Probably after Ida, he’s an

enterprising boy.“ (58) Pete kommt die Treppe herunter und beruhigt die Anwesenden: “We

didn’t get married. [...] We didn’t use the license.“ (60) John ist zutiefst enttäuscht: „You said

they did, Ed, you got all my hopes up.“ (60) Pete druckst herum auf die Frage, ob er Helen liebe:

„I -- yes, well, it’s complicated“ (60) und erklärt, daß sich alles geändert habe, seit die Presse

einen solchen Wind um die Sache machte. Jetzt sei es nur noch peinlich. Anne erkundigt sich

besorgt, ob Helen schwanger sei, aber diese kann darauf nur sagen, „wovon denn?“. Das Symbol

der Glasaugen wird als Vorwand genommen, daß es nicht zum Sex kam: „I never thought, and

when he sees your eyes in a, saucer? [...] He couldn’t, make love to me.“ (62) Helen denkt, Pete

hätte Reißaus genommen, aber er ist noch da und nimmt alle Schuld auf sich. Da ihr das niemand

buchstabiert, erfährt Helen nicht, daß er noch im Raum ist, und verhaspelt sich: “Do you love

him.“ -- “Oh, he is so, boring.“ (61) Pete bricht nun in Tränen aus und bittet alle, Helen nicht zu

sagen, daß er das gehört habe, und rennt weg. Diese Szene ist genau das, als was Anne sie

bezeichnet: „This farce!“ (61)

Helen wehrt sich gegen Annes Bevormundung und verbietet ihr, sie „baby“ zu nennen.

John hat von Dr. Ed erfahren, daß Anne eine Totaloperation auf sich nehmen muß, und daß es

mit ihrem Kinderwunsch nun endgültig aus ist. Trotzdem endet die Szene damit, daß sowohl

John als auch Annie „I love you“ sagen. Daraufhin wird es dunkel, Musik spielt, und die Zeit eilt

Page 124: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

weiter. Anne liegt jetzt auf dem Sofa und erholt sich von ihrer Operation. Sie bittet John, die

Arbeit für das Magazin, für das er schreibt, aufzugeben und sich ganz seinem Buch zu widmen.

John hatte schon befürchtet, ihr “I’d like you to quit“ würde sich auf sein Trinken beziehen, das

immer unkontrollierbarer wird. Anne hat auch einen Vorschlag, wie trotzdem Geld ins Haus

kommen soll: sie will Helens Aussprache verbessern und mit ihr auf Vortragsreisen gehen. Nach

einem erneuten Zeitraffer sieht man Ed und John sich betrinken, während der Strohwitwer einen

Brief von den beiden Frauen auf Vortragsreise vorliest: “Helen writes they’re -- [...] having a

triumph; in Canada everyone -- Here, “everyone said we were wonderful, fascinating, charming

and beautiful women.“154

(68) John freut sich zu lesen, daß Helen der Socialist Party beigetreten

ist. Aber seine Freude ist nicht ungetrübt. Ed will ihn trösten, indem er ihm versichert, wie gut

sein Buch über amerikanische Literatur gewesen sei, doch er entgegnet verzagt: „Wrote it for my

children“. (68)

Helen und Anne sind von ihrer Reise zurückgekehrt, und das Symbol aus dem Miracle

Worker wird wieder aktuell -- „she wears dark glasses“. (69) Annes Augen werden immer

schlechter, mit ihrer Gesundheit steht es nicht zum Besten, und ihre Ehe mit John Macy geht

endgültig in die Brüche. Anlaß für den heftigen Streit ist, daß John fünfhundert Dollar von Helen

borgen will, um nach Italien zu fahren. Anne ist sehr hart zu John und wirft ihm vor, Helen

auszunutzen, ja, auszusaugen: “I can’t shake off the feeling you think she’s a kind of sponge.

Squeeze and drink.“ (70) John wirft ihr ebenfalls eine Metapher an den Kopf: „You call every

tune without me, pay the piper!“ (70)

Anne und Helen haben bereits einen neuen Plan; sie wollen zum Vaudeville gehen, um

Geld zu machen. John ist gegen diese Zurschaustellung Helens, und er zeigt deutlich, daß er die

beiden Frauen nicht mehr ernst nimmt, indem er Helen seine Flasche anstelle eines Buches oder

einer Blume in die Hand drückt, als sie zur Probe eine kleine Rede rezitiert: „Through love, I

found my soul and God and happiness.“ (73) John verhöhnt die Frauen: „doxies in tights, trained

seals“ (73), und er malt sich aus, wie Anne auf der Bühne stehen wird, „with your trained seal,

mouthing platitudes.“ (73)

154

Diese Stelle ist einem Brief Helens an Mr. Macy, abgedruckt in Nella Braddys Biographie entnommen:

“While we were in Canada, everyone said we were “wonderful, fascinating, charming and beautiful

women.“ I was “the great pupil,“ Teacher was “the great teacher,“ and mother was “the great mother.“

Flowers, compliments, honours, and salvos were showered upon us wherever we went, and nothing was

talked about but us three celebrities.“ (Braddy 1934, 236)

Page 125: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Als Helen sich auf Annes Seite stellt und sich weigert, John die fünfhundert Dollar zu geben,

wirft er ihr vor, sie lasse sich von der „iron maiden“ alles sagen. Er beschimpft Anne: „[...]

you’ve never been worth shit as a wife to me! [...] You’re a nag, a nag, a man-eating nag [...]“

(75) Schließlich bricht es endlich hervor, was sich schon lange in ihm angestaut hatte: „Love.

John loves Teacher. Teacher loves Helen. Helen and Teacher love John, and John loves Helen

and Teacher. John and Helen and Teacher are one huge loveturd. Through love -- (and bumps

against the desk -) -- I found my soul and God and happiness!“ (76) Die bittere Ironie, mit der er

Helens Vaudeville-Phrasen verballhornt, zeigt seine Verzweiflung, als „drittes Rad am Wagen“

leben zu müssen. Wir vermissen hier eigentlich seinen berühmten Ausspruch, er habe „eine

Institution geheiratet“.

Nach diesem Ausbruch sinken John und Annie in die Knie, und die Szene erreicht ihren

dramatischen Höhepunkt, als John Helen beschuldigt, sie habe sein Leben ruiniert: „[...] who

corrected your goddam commas, you leech, [...] you’ve sucked us empty, angel, you’ve gutted

her life and mine, and I swear if I could -- wipe out the day you were born --“ (76). Hier wird

endgültig klar, auf wessen Seite Anne steht: „[...] Annie comes up with the letter-knife.“ (76):

„You hurt her I will kill you.“ (76) Sie wirft zwar angeekelt von sich selbst den Brieföffner weg,

erkennt aber, daß es so nicht weitergeht, und schlägt John vor, sie beide zu verlassen, was dieser

auch tut.

Dann verfliegen wieder einige Wochen im Zeitraffer („Music, time passing.“ 77), und wir

treffen Anne beim Verhängen der Möbel mit Tüchern an -- die beiden Frauen ziehen aus. Dieses

traurige Symbol verstärkt noch die Abschiedsstimmung, vor allem durch Annes Bemerkung

„Too many ghosts“ (78), was optisch gut mit den weißen Laken kollokiert. Ed ist gekommen, um

den beiden Frauen, die ihr Leben dem Vaudeville widmen wollen („And we’re travellers now.“

78), beim Ausziehen zu helfen, und kann sich die Bemerkung nicht verkneifen, er habe John in

New York getroffen. Auf die Frage, wie es John gehe, gesteht er: „Drinking like a fish. But

expecting.“ (78), und Anne fragt schockiert: „A baby?“ (78) Es stellt sich heraus, daß John eine

Geliebte hat, eine junge „sculptress“. Anne versucht, ihre Eifersucht zu überspielen und äußert

gefaßt die Hoffnung, „A quiet type, I hope.“ (78) Darauf Ed sarkastisch: „She’s deaf-mute.“ (78)

John Macy ist von seinem Trauma ganz offensichtlich nicht losgekommen. In die Betroffenheit

hinein sagt Helen theatralisch: „Teacher. And once again, Teacher -- (Annie turns to stare.) It

Page 126: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

will be my answer, in the dark. When death, calls. (A slilence.) It’s a poem.155

(And presently

Annie comes back, takes her hand.)“ (78) Damit ist die Zukunft besiegelt: Annie und Helen

haben zwar John verloren, aber sie werden zusammen weiterkämpfen und sind sich ihrer

gegenseitigen Liebe sicher.

Das Stück Monday after the Miracle übertrifft den Miracle Worker an Sentimentalität und

Theatralik. Es ist keine eigentliche zentrale Figur mehr auszumachen; Helen fungiert lediglich

als Spielball zwischen John und Anne. John Macy wird zu dandyhaft dargestellt, Anne zu

eifersüchtig (am Anfang scheint sie in einer Art lesbischen Beziehung zu ihrer Schülerin zu

leben) und Helen zu fremdbestimmt. Es sieht aus, als habe John sie in den Sozialismus gedrängt.

Helens Verhältnis mit Pete hätte man sich liebevoller vorgestellt; sie ist in allem viel zu gefaßt

und kühl. Es erfolgt kein Hinweis darauf, daß sie mit ihm durchbrennen wollte. Der Zuschauer

empfindet keine rechte Sympathie mit auch nur einem der Helden, weshalb er sich kaum in einen

von ihnen hineinversetzen kann. Am ehesten hat man noch Mitleid mit John. Manchmal

erscheint das Stück wie die sozio-psychologische Studie eines jungen Mannes, der in einer

unerfüllten Beziehung versumpft und zum Trinker wird. Die Spannung geht mit der Zeit

verloren, da kein Schlüsselereignis zu erwarten ist, das dem Kampf bei Tisch oder der

Brunnenszene aus dem Miracle Worker entspräche. Die Szene der Verführung Helens durch

John Macy ist weder durch Braddys Biographie noch durch Helens eigene Schilderungen in

Midstream literarisch belegt. Sie wirkt stark überzeichnet. Vor allem der Brand, der beinahe ein

Unglück angerichtet hätte, erscheint unglaubwürdig und ist auch nirgendwo nachgewiesen.

Insgesamt ist zu sagen, daß der Zuschauer bei diesem ewigen Gerangel um die Liebe Annes ab

einem gewissen Punkt das Interesse am Geschehen verliert, zumal von vorneherein klar ist, daß

Helen gewinnen und John Macy verlieren wird. Es wird einfach zu viel gestritten, und die

problematische Aussprache Helens macht das Mitverfolgen auch nicht gerade leichter. Das

Leben Helen Kellers als junge Frau ist im Ganzen viel zu negativ dargestellt worden.

155

Nella Braddys Biographie endet mit den folgenden Sätzen über Helen: „[...] her fingers stray from the work

in hand to little songs of love and devotion which drop into her teacher’s lap when Helen places the rest of

her work there. The words of the songs are different, but the burden is always the same:

Teacher, and yet again

Teacher - and that was all.

It will be my answer

In the dark

When Death calls.“ (Braddy 1934, 351/2)

Page 127: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

7 Helen Keller Jokes im Internet

Neben Printmedien, Theaterwelt und Film bietet auch das Internet eine Reihe von

Möglichkeiten, sich über Helen Keller zu informieren. Um nur einige zu nennen: eine kurze

Biographie findet sich unter der Addresse <http://www.well.com/user/dhawk/keller.html>, Fotos

kann man herunterladen unter <http://www.igc.apc.org/afb/photos.html>, und Bücher bestellen

unter <http://www.thomson.com/gale/keller.html>.

Hier soll eine etwas ungewöhnlichere Webseite zur Debatte stehen, die nicht

unangefochten geblieben ist. Ihr Ersteller mußte sich gegenüber Protestleserbriefen

rechtfertigen:

Have you been offended by this page?

Statement by Omer Zak, webmaster of the DEAF-INFO Website:

Since I started making this list of HK jokes available on the Internet I receive once in a

while nasty letters from people who feel they were offended by the jokes. The

overwhelming majority of those complaining people are ones who are not themselves

deaf or blind. Therefore I find I have to explain some things.156

Seine Erklärung besteht darin, daß er angibt, selbst von Geburt an taub und außerdem kurzsichtig

zu sein. Zak ist der Meinung, das Erzählen von Behindertenwitzen würde den Behinderten

helfen, leichter mit ihrer Situation fertig zu werden. Solche Witze würden erstens das

Selbstmitleid reduzieren und zweitens gesunde Menschen ermutigen, einen Behinderten, der

seine Situation so leicht nimmt, daß er darüber lachen kann, als einen normalen Menschen zu

akzeptieren. Auch auf rechtlicher Basis hat Zak sich abgesichert:

The HK jokes serve two useful purposes [...]. Therefore they certainly are entitled to First

Amendment protection in USA and equivalent Freedom of Expression protection in other

countries. The jokes are made available worldwide via the WWW, which is a medium,

which does not push stuff through the throats of people who do not want to read it.157

Mittels der Metapher „to push stuff through the throats of people“ drückt Zak pauschal aus, daß

es jedem frei stehe, diese Webseite zu lesen oder nicht. Keiner wird gezwungen, sie zu

156

http://www.weizmann.ac.il/deaf-info/HelenKellerJokes.html 157

http://www.weizmann.ac.il/deaf-info/HelenKellerJokes.html

Page 128: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

„schlucken“. Allerdings kann man mit diesem Argument alles rechtfertigen; z.B. Pornographie

im Internet veröffentlichen und sagen, „wer nicht will, braucht es ja nicht anzusehen“. Deshalb

wird im folgenden nach einer sprachlichen Betrachtung der Behindertenwitze die derzeitige

rechtliche Situation der Anbieter im Internet kommentiert.

Die Helen Keller-Witze sind unter <http://www.weizmann.ac.il/deaf-

info/HelenKellerJokes.html> zu finden. Diese Webseite wurde am 22.11.1997 von Omer Zak

zum letzten Mal aktualisiert.

7.1 Sprachliche Analyse

Das Wort „Witz“ gehört zum Wortfeld <Wissen>. Im Mittelhochdeutschen bedeutete <witze>

ganz allgemein Verstand, Wissen, Klugheit, Weisheit.158

In der zweiten Hälfte des 16.

Jahrhunderts übersetzten die Engländer das lateinische „ingenium“ mit „wit“; und im Laufe der

Zeit erlangten „wit“, „Witz“ und das französische „esprit“ die engere Bedeutung für eine

Kunstform der Sprache: die geistreiche, rasche Gedankenverbindung und Assoziation. Ein

äußeres Merkmal des Witzes ist seine Kürze; schon Shakespeare sagte: “Brevity is the soul of

wit.“ (Hamlet VII, 2)159

Das Wesen des Witzes liegt zum einen im Aufdecken unvermuteter,

überraschender Zusammenhänge.160

Zum anderen beinhaltet der Witz ein Element des

Komischen: es geht immer um ein Unverhältnis (Paradoxie), z.B. um einem Widerspruch

zwischen Möglichkeit und Realität. Ist die Angelegenheit, über die ein Witz gemacht wird, zu

ernst, hört das Komische auf; genauso ist es bei Mitbetroffenheit des Zuhörers. Das Tragische ist

nämlich auch auf einem Unverhältnis fundiert.161

Witze sind abhängig von der Epoche, in der sie relevant sind. Es gibt „Witzmoden“, die

kommen und gehen, wie z.B. Blondinenwitze, die vor der Verkörperung des blonden

Dummchens durch Marilyn Monroe gar keinen Sinn gemacht hätten, Präsidenten-Witze, die in

jeder Amtsperiode natürlich verschieden sind, oder Lady Di-Witze, die gerade jetzt nach ihrem

Tod aufkommen. Auch die Helen Keller-Witze gehörten einer solchen Mode an und wurden

158

Vgl. Röhrich 1977, 4. 159

zitiert nach Röhrich 1977, 10. 160

Vgl. Wellek 1970, 14. 161

Vgl. Wellek 1970, 16.

Page 129: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

schätzungsweise hauptsächlich in den fünfziger und sechziger Jahren erzählt. Heute sind sie

ziemlich rar; in Deutschland hört man nur selten im Straßenverkehr: „Wo hast denn du den

Führerschein gemacht, auf der Helen-Keller-Schule?!“

Jeder Witz hat eine „Tendenz“,162

ist also gegen etwas oder jemanden gerichtet. Es gibt

viele Witze über soziale Randgruppen, z.B. Ausländerwitze, Schwulenwitze, Irrenwitze,

Blindenwitze, Stottererwitze, Schwerhörigenwitze... Taubstummenwitze gehören meist in die

Untergruppe der Gebärdenwitze; ihre Technik besteht darin, daß die Gebärden zweideutig sind

und eine sexuelle Nebenbedeutung haben.

Die komische Auseinandersetzung mit menschlichen Schwächen bieten für den Witz ein

weites Feld. Auch hier wird das Normabweichende belacht. Schon Aristoteles war der

Ansicht, das Wesen des Komischen bestünde in einem Defekt. Gedacht ist dabei zunächst

an körperliche Defekte, wie sie in der Komödie aller Zeiten und ebenso im Schwank

vorkommen. Man lacht über den Zwerg, über den Hinkenden, den Buckligen, den

Stotterer, den Betrunkenen, den Dicken, den Dünnen, den Eunuchen, den

Altersschwachen, über das häßliche Weib oder über eine abnorme Nase. Alle diese Fälle

könnte man unter dem Schlagwort <Gebrestenkomik> zusammenfassen.163

Dabei muß man sagen, daß die Behindertenwitze der Neuzeit weitaus „humaner“ sind als der

Schwank des ausgehenden Mittelalters oder die Darstellung von Gebrechen durch Hans Sachs.

Bei Behindertenwitzen geht es nicht um eine Verspottung der Behinderung an sich, sondern um

ein Lächerlichmachen der Mißverständnisse, die aus der Behinderung entstehen (z.B. wenn sich

zwei Schwerhörige unterhalten).

Man kann zwei Großgruppen unterteilen: die Sprachwitze und die Sachwitze. Bei

Sprachwitzen liegt die Pointe im rein Formalen, in der Ausdrucksweise und Formulierung. Bei

Sachwitzen ist die Pointe im Inhaltlichen zu suchen. Die meisten der Helen Keller-Witze, die

bisher im Internet veröffentlicht wurden, sind Sachwitze und von ihrer äußeren Form her

„unratbare Scherzrätsel“164

, die nur scheinbar einen Dialog herstellen, da der Fragesteller auch

die Antwort gibt. Rätsel und Witz sind einander sehr ähnlich, da es in beiden um die Auffindung

eines „tertium comparationis“, des Gemeinsamen, geht. Beide verwenden Vergleiche.

Gewöhnlich nennt ein Witz im ersten Satz die „Witzperson“, die bereits durch ihren Namen als

solche identifiziert werden kann (z.B. Tünnes und Schäl-Witze). Taucht der Name Helen Keller

auf, so ahnt der Zuhörer, was jetzt kommt: die Auflösung der Scherzfrage muß etwas mit ihrer

162

a.a.O. 5. 163

Röhrich 1977, 174. 164

Vgl. Röhrich 1977, 11.

Page 130: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Blindheit oder Taubheit zu tun haben. Der erste Witz aus der Internetsammlung baut genau auf

diese (wie sich zeigen wird fälschliche) Annahme:

Why can’t HK drive a car?

1. She’s a woman.

2. She’s dead.

Dieser Witz fällt unter die Kategorie der Autofahrerwitze (Witze über Blinde, die einen

Autounfall nach dem anderen haben, gehören in Amerika zum Klischee), und seine Pointe

besteht darin, daß der Ratende auf „She’s blind.“ getippt hätte, aber nicht darauf gefaßt war, daß

es in Wirklichkeit ein sexistischer Witz ist und gegen die vielbeschimpfte „Frau am Steuer“ geht.

Beziehungsweise, daß es überhaupt kein Witz ist, sondern mit der logischen Erklärung

abgegolten werden kann, daß eine Tote nicht mehr Autofahren kann. Ein zweiter Witz aus dieser

Kategorie beruht auf einer anderen Taktik:

How does HK drive?

- With one hand on the steering wheel, the other on the road.

Hier geht es direkt um die Behinderung; der Ratende kann auch selber darauf kommen, daß eine

Blinde beim Autofahren „fühlen“ muß, wo es langgeht. Das Irrationale an dieser Vorstellung soll

hier die Pointe sein. Ebenso beim nächsten Witz:

How did HK break her arm in the car?

- Trying to read stop signs.

Dieser Witz ist schon „witziger“ als sein Vorgänger, gleichzeitig aber auch brutaler, da er

impliziert, daß die Blinde die Verkehrsschilder fühlen muß, was bei der Geschwindigkeit des

Fahrens natürlich ohne Verletzung unmöglich ist. Das Wort „stop sign“ ist ein zusätzlicher

Effekt („Einbahnstraße“ hätte nicht denselben), denn es wirkt immer besonders komisch, wenn

gerade unmittelbar nach einem Warnhinweis ein Malheur passiert.

Die nächsten beiden Witze nehmen die Brailleschrift aufs Korn:

How did HK go insane?

- Trying to read a stucco wall.

How did HK burn her fingers?

- Trying to read a waffle iron.

Page 131: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Sie beruhen auf dem Vergleich / der Assoziation von Stuckwänden bzw. einem Waffeleisen mit

der Brailleschrift aufgrund der reliefartigen Erhöhung. Der Zuhörer lacht hier über das

Mißgeschick, das aus einer Verwechslung herrührt.

Nicht zu vermeiden in Bezug auf Helen Keller sind die Hundewitze. Sie war ständig von

solchen Viechern umgeben, die meist auch noch erschreckende Proportionen hatten wie die

riesige dänische Dogge Sieglinde, die auf zahlreichen Fotos zu sehen ist. Ähnlich wie Gertrude

Stein, die in der Öffentlichkeit immer mit ihrem weißen Pudelchen „Basket“ herumlief, zeigte

sich Helen Keller mit ihren riesigen „Blindenhunden“165

, über die sie auch in ihren Büchern

schrieb. Man denke nur an den alten Setter Belle aus ihrer Kindheit (The Story of my Life). Dies

reizt natürlich, darüber Witze zu machen:

Why did HK get a yellow leg?

- Her dog is blind, too.

Die Pointe hierbei ist, daß ihr angeblich ebenfalls blinder Hund ihr Bein nicht mehr von einem

Baumstamm unterscheiden kann. Darauf kommt der Ratende aber nicht sofort, da aus der

Fragestellung noch nicht ersichtlich ist, daß es um ihren Hund geht, und er bemüht sich, eine

logische Erklärung für „yellow“ zu finden. Helen Kellers eigene Taub- und Blindheit helfen hier

nämlich nicht weiter.

Interessanter ist ein Sexwitz über Helen Keller:

How many hands does it take HK to masturbate?

- Two. One to do it, one to moan!

Da sie mit den Fingern „spricht“, wird gefolgert, daß sie mit den Fingern auch „stöhnt“. (Was

natürlich unsinnig ist, denn erstens hat sie ja Sprechen gelernt, und Geräusche wie Stöhnen,

Weinen und Schreien konnte sie ohnehin ausstoßen; man denke nur an ihre vorsprachliche Zeit.

Der Film The Miracle Worker stellt dies auch sehr anschaulich dar.) Die Pointe liegt darin, daß

165

In Nella Braddys Biographie ist z.B. eine Anspielung auf Helens Hunde zu finden: „Small dogs, in Mr.

Wade’s opinion, were unsuitable for blind children; they needed big ones which might be of some use to

them, and to make sure that Helen had a big one he sent her an enormous mastiff which Helen called

Lioness. Lioness was gentle, but she was almost as large as the animal from which she took her name, and

the very sight of her made the timid tremble. She was shot to death by a policeman a few days after her

arrival in Tuscumbia.“ (Braddy 1934, 157)

Helens Trauer wurde bald publik, und aus aller Welt kamen Geldsendungen: „It seemed as if everyone in

the world wanted to give Helen a dog.“ (Braddy 157) Doch Helen spendete das Geld großzügig, um dem

kleinen taubblinden Tommy Stringer eine Erziehung zu ermöglichen. Sie bekam einen zweiten Hund von

Mr. Wade, den ein ebenso trauriges Schicksal ereilte: „He, too, was a big animal, and [...] hard to manage.

Nearly everybody was afraid of him [...]. The dog, [...] bit her [Anne] on the hand. Captain Keller shot him

[...].“ (Braddy 1934, 157/8.) Soviel zu Helen Kellers Hundegeschichten.

Page 132: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

man zum logischen Schluß kommt, sie bräuchte wie jeder andere nur eine Hand, da bei dieser

Betätigung weder Blindheit noch Taubheit ein Hindernis darstellen.

Ebenso verulken die drei folgenden Witze das Fingeralphabet:

What happened when HK fell into a well?

- She screamed and screamed until her hands turned blue.

Die Sprachkonvention erlaubt zu sagen, „man schreit, bis man im Gesicht blau anläuft“; da

Helen aber mit den Fingern „schreit“, werden diese blau -- eine Aussage, die das allgemeine

Sprachgefühl aufrecht zu erhalten sucht und dabei gegen die Logik verstößt. Nach demselben

Schema ist der folgende Witz aufgebaut:

What did HK do when she fell out of the tree?

- She screamed her hands off.

Im normalen Sprachgebrauch heißt der Ausdruck „to scream one’s head off“, also „sich die

Lunge aus dem Leib / Hals schreien“ bzw. „aus vollem Halse schreien“. Der Effekt liegt in der

falschen Übertragung der Redewendung sowie im Gleichklang von „head“ und „hands“.

Why couldn’t HK talk on cold days?

- Her mother made her wear mittens, and all she could do was mumble.

Auch hier beruht der Witz auf der falschen Ableitung, daß Helen, da sie ja mit den Fingern

„spricht“, in Handschuhen natürlich nur undeutlich nuscheln kann. Der Lacheffekt besteht darin,

daß man mit „mumble“ ein Geräusch verbindet, bei Helens Bewegungen der Finger im

Handschuh aber natürlich kein Murmeln zu hören sein kann. Die Kollokation ist hier nicht

gegeben, wird aber angenommen. Diese vier Witze können als Sprachwitze bezeichnet werden,

da es hier nicht nur um den Inhalt geht, sondern um einen falschen Bezug von „moan / scream /

mumble“ zum Fingeralphabet.

Grotesk bis zynisch sind die folgenden Blindenwitze:

Introducing - the new HK Doll. Wind it up and watch it walk into the patio doors.

Dieser Witz hat die Form eines Aussagesatzes, der aus der Werbung stammen könnte: eine

neuartige Puppe wird vorgestellt, die man aufziehen kann, worauf sie eine Tür einrennt -- weil

sie eben getreu ihrem Modell blind ist. Die Vorstellung ist eher makaber als komisch.

How did HK get pock marks on her face?

Page 133: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

- Learning to eat with a fork.

What’s the name of HK’s favorite book?

- „Around the block in 80 Days“.

Beim ersten Witz wird auf die Ungeschicklichkeit, beim zweiten auf die Orientierungslosigkeit

der blinden Helen Keller angespielt. Die Allusion bezieht sich auf Jules Vernes Roman „In 80

Tagen um die Welt“; die Pointe besteht darin, daß der viel kürzere Weg um den Block bei Helen

Keller die gleiche zeitliche Dimension einnimmt wie die imaginäre Weltumseglung vor der Zeit

der technischen Möglichkeiten.

Der folgende Blindenwitz ist gleich gegen zwei Personen gerichtet:

Define true love.

- HK and Stevie Wonder playing tennis.

How did HK’s mother punish her?

- Glued doorknobs to the walls.

Diese Antwort ist nur eine von vielen, die das Internet bietet. Hier geht es um Helen Kellers

Tastsinn; natürlich würde sie versuchen, eine Tür zu öffnen, wo keine ist, wenn ein Türgriff an

die Wand geklebt wäre.

7.2 Rechtliche Analyse

Kann jeder im Internet veröffentlichen, was er will? Gibt es kein Gesetz, welches

ehrbeleidigende oder persönlichkeitsverletzende Äußerungen im Online-Bereich verbietet? Diese

Frage stellt man sich, wenn man Webseiten mit Witzen über soziale Randgruppen findet; so

harmlos sie auch sein mögen. Es geht dabei nicht nur um die Betroffenen selbst, sondern auch

gesunde Menschen sind zum Teil sehr davon „betroffen“. Es ist heute nämlich leider noch so,

daß „Anarchie und Wildwest-Gesetze im Reich des ‘Cyberspace’ herrschen“.166

Und es haben

sich schon viele Stimmen erhoben, die kritisch von dem „Mythos der Informationsgesellschaft“

166

zitiert nach Schulte 1997, 125.

Page 134: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

gesprochen und „so riskante Manöver wie das Wenden auf der Datenautobahn“167

empfohlen

haben -- bevor es zu spät ist.

Allerdings geht es bei der Diskussion um eine Regelung in forderster Linie um das

wirtschaftsschädigende Problem der „Hacker“ und um die „virale Verseuchung“ von

Datenbeständen; die kriminellen Aktivitäten im Datennetz sind bereits als „Tschernobyl der

Informationstechnik“168

bezeichnet worden. Ein weiterer Punkt, der Beachtung findet, ist der

Datenschutz:

Das Bundesverfassungsgericht hat [...] Risiken [...] abgeschätzt und abgewogen, wobei

Anklänge an das Orwellsche Bedrohungsszenario zu vernehmen sind. Die Anhäufung

von persönlichkeitsbezogenen Daten kann [...] als Ganzes doch den gläsernen Bürger

entstehen lassen.169

Wie das Bild des „gläsernen Bürgers“ sehr schön zeigt, besteht die Gefahr des Abrufens

persönlicher Daten durch unbefugte Dritte; der Bürger wird im wahrsten Sinne des Wortes

„durchsichtig“, und es ist kein Wunder, daß bei manchem eine Panik ähnlich derjenigen in der

vor Jahren von Orwell geschilderten Situation entsteht.

Auf der anderen Seite erschallt der Hilferuf des sich von der Krake der Datenvernetzung

heimgesucht wähnenden Bürgers vor allem im öffentlichen Recht, namentlich im

Verfassungsrecht. Befürchtungen richten sich auf das Verschwinden der Privatsphäre

[...].170

Das Bild der „Krake“ der Datenvernetzung zeigt anschaulich, daß sich der Bürger in den

Fangarmen der unzähligen Möglichkeiten des Internet befindet. Das erste Problem ist: unter

welches Gesetz fällt eine Straftat im Internet? Das deutsche Telekommunikationsrecht wurde im

TKG von 1996 zwar neu geregelt, und für den Online-Bereich ist die Telekommunikation das

Mittel zur Übertragung von Daten -- dennoch ist die Relevanz des TKG für den Online-Bereich

nicht evident. Dann gibt es noch das Medienrecht der Länder, welches Rundfunk und Presse

regelt. Die Dienste im Bereich der digitalen Kommunikation nennt man häufig Mediendienste,

und die Bundesländer haben den Mediendienste-Staatsvertrag geschaffen -- und trotzdem ist die

Anwendbarkeit des Medienrechts auf digitale Kommunikationsdienste äußerst fraglich.

167

zitiert nach Schulte 1997, 117. 168

zitiert nach Schulte 1997, 121. 169

Schulte 1997, 125. 170

Schulte 1997, 124.

Page 135: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Abgesehen vom Mangel an passenden Gesetzen existiert das Problem der

Strafverfolgung. Vor allem das Beweisrecht gibt hier ein Rätsel auf, denn gedruckte

elektronische Aufzeichnungen besitzen in bezug auf ihren Inhalt keinen „Urkundencharakter“,

da sie lediglich das darstellen, was im Computer gespeichert ist; ob es nun vorher manipuliert

wurde oder nicht ist nicht mehr zu erkennen. Weiterhin kann man eines Absenders von

strafbaren Inhalten kaum habhaft werden; nach dem Territorial- und Tatortprinzip unterliegt

jeder Anbieter im Internet, gleichgültig seiner Nationalität und des Ortes, von wo aus er operiert,

dem deutschen Strafrecht, weil seine Informationen in Deutschland abgerufen werden können.

Deutschland erstrebt eine Regelung des Internet durch Gesetze. Dabei kommen

verschiedene Punkte zum Tragen. Das „rechtliche Koordinatensystem“171

sähe demnach

folgendermaßen aus: die allgemeinen rechtlichen Vorschriften sind das

Zivilrecht/Zivilverfahrensrecht und das Strafrecht/Strafverfahrensrecht. Diese beiden Rechte

haben vier untergeordnete Kategorien: Der erste Bereich ist die „Regelung der Infrastruktur“;

dazu gehören das Telekommunikationsrecht, das Medienrecht und das Kartellrecht. Der zweite

Bereich umschließt die „Regelung des Content“; hierunter fallen das Medienrecht, das

Wettbewerbsrecht und das Recht der kommerziellen Kommunikation. Der dritte Bereich umfaßt

das „Recht am Content“ und beinhaltet u.a. das Urheberrecht, das Marken- und Namensrecht

sowie das Kommunikationssicherheitsrecht. Der vierte Bereich ist zuständig für den

„Verbraucherschutz und Schutz der allgemeinen Persönlichkeitsrechte“; hier sind der

Datenschutz und das Recht der kommerziellen Kommunikation von Bedeutung. Man kann

erkennen, daß theoretisch schon eine Möglichkeit der gesetzlichen Überwachung des Internet

gegeben wäre, wenngleich sie auch noch nicht erfolgreich appliziert wird. Die Veröffentlichung

von Witzen über Behinderte würde in den vierten Bereich unter den Schutz der allgemeinen

Persönlichkeitsrechte fallen.

Auch die EU-Politik hat sich der Frage zur Regelung des Internet angenommen. Am

16.10.1996 veröffentlichte die EU-Kommission die Mitteilung „Illegale und schädigende Inhalte

im Internet“.172

Dabei definierte die Kommission die Begriffe „illegale“ und „schädigende

Inhalte“ ohne Rücksicht auf die rechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten und wies darauf

171

Vgl. Vahrenwald 1997, Kapitel 2, Abb. 2-1, S.1. 172

Vgl. Vahrenwald 1997, 3.2.5., 1.

Page 136: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

hin, daß jedes Land nach seinen eigenen Gesetzen handeln müsse. Zum Begriff der illegalen

Inhalte äußert sich die Kommission folgendermaßen:

[...] Bei einigen Fragen geht es nicht um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung,

sondern eher um den Schutz von Rechten des Einzelnen (Schutz der Privatsphäre und des

guten Rufs) [...]. Bestimmte Inhalte [...] gelten nach den Rechtsvorschriften einiger

Mitgliedstaaten als rechtswidrig. Dies ist beispielsweise der Fall bei Kinderpornographie,

Menschenhandel, Verbreitung rassistischen Materials oder Anstiftung zum Rassenhaß,

Terrorismus oder sämtlichen Formen des Betrugs [...]. ... Wenn bestimmte Handlungen in

einem Mitgliedstaat strafbar sind, in einem anderen aber nicht, ist es schwierig, sie

grenzüberschreitend zu verfolgen [...].173

In bezug auf die „schädigenden Inhalten“ formuliert die Kommission:

[...] Manche Arten von Material können die Wertvorstellungen und Gefühle anderer

Personen verletzen, wenn sie beispielsweise jemanden wegen seiner politischen

Ansichten, religiösen Überzeugungen, seiner Rassenzugehörigkeit und ähnlichem

verletzen. Was als schädigend betrachtet wird, hängt vom kulturellen Umfeld ab [...].

Jedes Land entscheidet für sich, wo genau die Linie zu ziehen ist [...]. Es ist deshalb

unabdingbar, [...] daß man versucht, Regeln zu finden, die gleichzeitig die Bürger vor

anstößigem Material schützen und ihnen die Redefreiheit garantiert [sic!]. In diesem

Kontext versteht es sich von selbst, daß die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie

Meinungsäußerung, in keiner Weise eingeschränkt werden dürfen [...].174

Behindertenwitze werden hier nicht extra angeführt, sondern fallen unter die Kategorie „und

ähnliches“. Sie sind zweifelsohne in der Lage, die „Gefühle anderer Personen“ zu verletzen, aber

der Schutz der Bürger vor solch „anstößigem Material“ liegt im Widerstreit mit dem Recht auf

freie Meinungsäußerung des Erstellers der Webseiten. Um weiteren Beschwerdebriefen

vorzubeugen, beruft sich der Sammler der Helen Keller-Witze auf dieses Recht. Es wird sich erst

in der Zukunft herausstellen, ob, inwieweit und mit welchen Mitteln überhaupt eine „Zensur“

eingeführt wird.

173

Vahrenwald 1997, 3.2.5., 1. 174

Vahrenwald 1997, 3.2.5., 2.

Page 137: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

8 Schluß

Wenn man von einer taubblinden Schriftstellerin hört, fragt man sich in erster Linie: „Wie ist das

möglich?“

Einen sprachwissenschaftlichen Erklärungsansatz liefert Alfred Schmitt in seiner Arbeit Helen

Keller und die Sprache (Münstersche Forschungen, Trier, Jost et. al. (Hrsg.), Heft 8, 75):

Es ist also keine Frage, daß die Erscheinungsform der Worte für H. K. eine völlig

andere ist als für uns. Daß sie sich trotzdem mit uns verständigen kann, ist darin

begründet, daß es für den sprachlichen Austausch nur auf den Zeichen-Charakter der

Sprachmittel ankommt. Aus welchem Material die Zeichen aufgebaut werden, ist im

Grunde gleichgültig [...]. Im allgemeinen ist Material aus der Schallwelt das

geeignetste [...]. Für H. K. kam nur Material aus der Tastwelt in Betracht. Die aus

diesem Material von ihr aufgebauten Tastgestalten müssen [...] durch einen

Kundigen erst in unsere Augen- und Ohrenwelt übertragen werden, können [...] aber

auch in unmittelbar uns verständliche [...] Erscheinungen sich umsetzen, wenn H. K.

mit dem Bleistift oder der Maschine schreibt oder [...] die mühsam erlernte

Lautsprache verwendet, die für sie selbst ja [...] eine Bewegungssprache ist. Auf

diese Weise ist zwischen ihr und uns eine Verbindung möglich [...], soweit die

Bedeutung der Zeichen die gleiche ist. (ibid. 75, Kursivdruck hinzugefügt)

Die sprachliche Untersuchung von Presseartikeln und zeitgenössischen Zitaten sollte zeigen,

inwieweit emotiv überhöhte Sprachbilder in der Lage sind, Wahrheiten zu verfälschen und die

breite Masse zu manipulieren. Im Kontrast dazu steht die nüchterne, sachliche Berichterstattung

von Anne Sullivan, die mit beißendem Spott die journalistischen Übertreibungen quittierte. Die

psychischen Auswirkungen auf die Betroffene, die entweder zum Wunderkind emporgehoben

oder als Betrügerin entlarvt wurde, sind dargestellt worden.

Schließlich soll noch auf den Vorwurf des Plagiats, den die Presse anhand des „Frost

King“-Skandals damals so sensationsgierig erhoben hatte, eingegangen werden. Hierbei muß

noch einmal gesagt werden, was Sprache für Helen Keller bedeutete und warum sie in weit

größerem Maße als gesunde Menschen für Wiederholungen und Zitate anfällig war.

Der Unterschied zwischen den Sprachinhalten H. K.’s und denen der Vollsinnigen

liegt hauptsächlich bei den Einzelvorstellungen. Ein Tierindividuum beispielsweise

[...] ist für sie ein Vorstellungskomplex, der aus Tast- und Geruchsempfindungen

aufgebaut ist [...]. Wie aber Einzeldinge zur Einheit von Begriffen [...]

Page 138: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

„zusammengegriffen“ werden, das ist bei ihr genau wie beim Vollsinnigen bestimmt

durch die Gewohnheiten der Muttersprache. Je mehr nun die Hierarchie der Begriffe

zu immer umfassenderen Begriffen kinaufsteigt [...], umso mehr tritt [...] der Anteil

der eigenen Wahrnehmung zurück [..], um so schwieriger wird es [...], durch eigenes

Folgern [...] oder durch eigene Intuition den aus der Muttersprache übernommenen

Bestand [...] nachzuprüfen und gegebenenfalls abzuwandeln. (ibid. 77)

Da allerdings die meisten Werke Helen Kellers autobiographischen Charakter besitzen und keine

fiktiven Schöpfungen sind, können wir ihr nicht den Vorwurf machen, wiederholt zu haben, was

andere bereits irgendwo sagten, kurz: ein Plagiat begangen zu haben. Die verwendeten Zitate in

ihren Büchern sowie zahlreiche Redewendungen, Metaphern und Allusionen mögen „aus der

Muttersprache“ übernommen sein, aber das Erleben bleibt immer noch ihr eigenes. Die

Schilderungen, wie sie mit ihrer Behinderung umgegangen ist, sind von unschätzbarem

pädagogischen, psychologischen und sprachwissenschaftlichen Wert.

Wenn man die Summe aus allem Dargelegten zieht, so ergibt sich, daß die öffentliche

Wirkung der Taubblinden eng mit der Massensentimentalität und der Gunst der

Monopolpresse verbunden war, ungeachtet ihrer eigenen schriftstellerischen Leistung und

ihrer persönlichen Integrität. Die Presse hatte ein Bild von ihr gezeichnet [...]; und bis

zum Ende der Studienzeit blieben Vorstellungsbild und Persönlichkeit identisch. Helen

Keller hatte sogar auf einem ungewöhnlichen Wege die amerikanische Legende bestätigt,

die selbst dem Ärmsten der Armen die gleichen Chancen [...] verhieß. [...] Sie blieb die

jugendliche Heldin der „Geschichte meines Lebens“, trotz aller Ausbruchversuche.

(Jaedicke 85)

Die Technik ist der Gesetzgebung immer um einen Steinwurf voraus. Man kann das Nachhinken

der Gesetzgebung als „legal lag“ bezeichnen. Nachdem der Bürger mit den unzähligen

Möglichkeiten des Internet einmal konfrontiert ist, wird es nötig werden, ihn durch Gesetze vor

Mißbrauch zu schützen. Dabei kann man sich nicht mit einer so simplen Rechtfertigung aus der

Affaire ziehen wie der Ersteller der Helen Keller-Jokes Webseite -- getreu dem Motto „wer nicht

will, braucht es ja nicht zu lesen“.

Page 139: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Illustrationen

Page 140: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Keller, Helen. Briefe meiner Werdezeit von Helen Keller. Übers. A. Saager. Erste Auflage.

Stuttgart: Verlag von Robert Lutz, 1910.

---. Drei Tage Augenlicht. Übers. Helene Hahn. Originaltitel: Three days to see. Heilbronn

a. N.: Heilbrunnen-Verlag, 1938.

---. Helen Keller’s Journal. With a foreword by Augustus Muir. W.C.: Michael Joseph Ltd.,

1938.

---. Light in My Darkness. Revised and edited by Ray Silverman. Foreword by Norman

Vincent Peale. Originaltitel: My Religion (New York: Doubleday & Co.,1927). West

Chester, Pennsylvania: Chrysalis Books, Imprint of the Swedenborg Foundation, Inc.,

1994.

---. Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan. Übers. Werner DeHaas. Originaltitel:

Teacher: Anne Sullivan Macy. Erste Auflage. Bern: Alfred Scherz Verlag, 1956.

---. Meine Welt. Übers. Heinrich Conrad. Originaltitel: The World I live in. Achte

unveränderte Auflage. Stuttgart: Verlag von Robert Lutz, 1908.

---. Mein Weg aus dem Dunkel. Blind und gehörlos -- das Leben einer

mutigen Frau, die ihre Behinderung besiegte. Übers. Werner DeHaas. Originaltitel: The

Story of my Life. Erste Auflage der neubearbeiteten Fassung 1994. München:

Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., 1997.

---. Midstream: My Later Life. Garden City, New York: The Sun Dial Press, Inc., 1937.

---. Optimismus. Ein Glaubensbekenntnis von Helen Keller. Übers. Dr. Rudolf Lautenbach.

Originaltitel: Optimism. Achte Auflage. Stuttgart: Verlag von Robert Lutz, 1906.

---. Out of the Dark. Essays, Letters, and Addresses on Physical and Social Vision. Garden

City, New York: Doubleday, Page & Company, 1913.

---. Peace at Eventide. London: Methuen & Co. Ltd., 1933.

---. Teacher: Anne Sullivan Macy. A Tribute by the Foster-child of Her Mind. Originally

published: Garden City, N.Y.: Doubleday, 1955. Reprinted: Westport, Connecticut:

Greenwood Press, 1985.

---. The Practice of Optimism. London: Hodder and Stoughton, 1909.

Page 141: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

---. Wie ich Sozialistin wurde. Übers. Alfons Büchle. Originaltitel: Out of the Dark.

Stuttgart: Verlag von Robert Lutz, 1914.

Macy, John A. (Hrsg.) The Story of my Life by Helen Keller. With Her Letters (1887-

1901) and A Supplementary Account of Her Education, Including Passages from the

Reports and Letters of Her Teacher Anne Mansfield Sullivan. Garden City, New York:

Country Life Press, 1905.

Sekundärliteratur

Braddy, Nella. Anne Sullivan Macy. The Story Behind Helen Keller. Garden City, New

York: Doubleday, Doran & Company, Inc., 1934.

Ervine, St John. Bernard Shaw. His Life, Work and Friends. London, W.C.: Constable &

Company Ltd., 1956.

Gensel, Julius. Helen Keller. Vortrag. (Gehalten am 2.12.1906 in der Sonntags-

Abendunterhaltung des Vereins für Volkswohl zu Leipzig von dem Vorsitzenden

Justizrat Dr. Gensel.) Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1907.

Gibson, William. Monday after the Miracle. A Play in Three Acts. New York: Dramatists

Play Service, Inc., 1983.

---. The Miracle Worker. A Play for Television. New York: Alfred A. Knopf, 1969.

Holroyd, Michael. Bernard Shaw. Volume III. 1918-1950. The Lure of Fantasy. New

York: Random House, 1991.

Hurst, Matthias. Erzählsituationen in Literatur und Film. Ein Modell zur vergleichenden

Analyse von literarischen Texten und filmischen Adaptionen. Tübingen: Max

Niemeyer Verlag, 1996.

Jaedicke, Martin. Helen Keller. Berlin: Union Verlag, 1979.

James, William. Collected Essays and Reviews. New York: Russell & Russell, 1969.

Lash, Joseph P. Helen and Teacher. The Story of Helen Keller and Anne Sullivan Macy.

New York: Delacorte Press, 1980.

Lennemann, W. Helen Keller. Eine Auswahl aus ihren Werken, mit einer Einleitung.

Leipzig: Philipp Reclam jun., 1912.

Page 142: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Macdonald, Fiona. Helen Keller. Die blinde und gehörlose Frau, die zum „Engel der

Blinden“ wurde. Übers. Karl-Heinz Koeck. Reihe „Vorbilder“. Würzburg: Arena

Verlag GmbH, 1992.

Nash, Jay Robert, et al. The Motion Picture Guide. L-M. 1927-1983. Chicago: Cinebooks,

Inc., 1986.

Paine, Albert Bigelow. Mark Twain. American Men and Women of Letters Series. Volume

III. New York, London: Chelsea House, 1980.

Pause, Walter. Das Leben triumphiert. Ein biographischer Roman über Helen Keller.

München: Kindler Verlag, 1955.

Reiners, Ludwig. Sorgenfibel oder Über die Kunst, durch Einsicht und Übung seiner

Sorgen Meister zu werden. München: Beck, 1988.

Riemann, G. Die Taubstumm-Blinden. Vortrag, gehalten auf dem Kongreß für

Kinderforschung und Jugendfürsorge 1906 in der Universität zu Berlin, nebst

Nachtrag von Gustav Riemann, Königl. Taubstummenlehrer in Berlin. Beiträge zur

Kinderforschung und Heilerziehung. Beihefte zur „Zeitschrift für Kinderforschung“.

Heft XXXVIII. J. Koch et. al. (Hrsg.). Langensalza: Hermann Beyer & Söhne

(Beyer & Mann), 1906.

Röhrich, Lutz. Der Witz. Figuren, Formen, Funktionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche

Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, 1977.

Schmitt, Alfred. Helen Keller und die Sprache. Münstersche Forschungen, herausgegeben

von Jost Trier und Herbert Grundmann. Heft 8. Münster / Köln: Böhlau-Verlag, 1954.

Schulte, Martin (Hrsg.). Technische Innovation und Recht. Antrieb oder Hemmnis?

Heidelberg: C. F. Müller Verlag, 1997.

Secker, Martin, et al. (Hrsg.). Cinema: A Critical Dictionary. Volume Two. Kinugasa to

Zanussi. London: Martin Secker & Warburg Limited, 1980.

Shipman, David. The Great Movie Stars 2. The International Years. London: Warner

Books, 1993.

Stern, L. William. Helen Keller. Die Entwicklung und Erziehung einer

Taubstummblinden als Psychologisches, Pädagogisches und Sprachtheoretisches

Problem. Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der Pädagogischen

Psychologie und Physiologie. (Hrsg.) Prof. Th. Ziegler et al. VIII. Band, 2. Heft.

Berlin: Verlag von Reuther & Reichard, 1905.

Page 143: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Stoeckel, Alfred. Von Homer bis Helen Keller. Berühmte und bedeutende blinde

Persönlichkeiten aus drei Jahrtausenden. Deutscher Blindenverband e.V. (Hrsg.).

Erste Auflage 1983. Bonn: Deutscher Blindenverband e.V., 1983.

Thomson, David. A Biographical Dictionary of Film. London: André Deutsch Ltd.,

1994.

Vahrenwald, Arnold. Recht in Online und Multimedia. Praxis-Handbuch.

Neuwied/Kriftel/Berlin: Luchterhand Verlag GmbH, 1997.

Vinson, James, et al. (Hrsg.). The International Dictionary of Films and Filmmakers:

Volume III. Actors and Actresses. Chicago and London: St. James Press, 1986.

Volta Bureau for the Increase and Diffusion of Knowledge Relating to the Deaf (Hrsg.).

Helen Keller Souvenir No. 2. 1892-1899. Commemorating the Harvard Final

Examination for Admission to Radcliffe College, June 29-30, 1899. Washington City:

Volta Bureau, 1899.

Wellek, Albert. Witz. Lyrik. Sprache. Beiträge zur Literatur- und Sprachtheorie mit einem

Anhang über den Fortschritt der Wissenschaft. Bern und München: Francke Verlag,

1970.

Diplomarbeiten

Gaß, Silvie: Der sozialkritische Aspekt in den Filmen LOS OLVIDADOS, VIRIDIANA,

TRISTANA und Le Charme discret de la Bourgeoisie von Luis Buñuel unter

Verwendung der Drehbücher sowie die Rezeption der Filme in der deutschsprachigen

Presse, Nr. 4338, Universität Mainz, FASK Germersheim, 1983.

Lorch, Gabriele: Emotiv überhöhte Vokabeln in Berichten der englischen Presse über das

„Silver Jubilee“, Nr. 3580, Universität Mainz, FASK Germersheim, 1979.

Page 144: Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich. (Thesis, 1998)

Ich versichere hiermit, daß ich zur Anfertigung der vorliegenden Arbeit

keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt und keine fremde

Hilfe in Anspruch genommen habe. Germersheim, den