3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft 1 3.3 Die Indigenen als Teil der Kolonialgesellschaft Sarah Albiez-Wieck 1. Einleitung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Stellung der indigenen Bevölkerung im kolonial- zeitlichen Gesellschaftsgefüge auf dem Gebiet des späteren Mexiko. Dabei ist zu berück- sichtigen, dass die Kategorie des „Indigenen“ oder indio* überhaupt erst mit der spani- schen Eroberung entstand. Mit indios – oder alternativ naturales, d. h. „Eingeborene“ – benannten die spanischen Eroberer die Bewohner/innen Mesoamerikas. Nachkommen aus Beziehungen zwischen Indigenen und Spanier/innen wurden als mestizos (Mesti- zen*) bezeichnet. Außerdem brachten die Spanier afrikanische Sklav/innen mit nach Lateinamerika, die sowohl mit Spanier/innen als auch mit Indigenen Nachkommen zeugten. Somit bildete sich eine vielschichtige Gesellschaft mit unterschiedlichen Grup- pen heraus, deren Verhältnis zueinander verstanden werden muss, um die Stellung der Indigenen zu bewerten. Um die verschiedenen Gruppen abzugrenzen, ist es zudem notwendig, sich mit den Konzepten Ethnizität sowie „Rasse“ aus theoretischer Perspek- tive auseinanderzusetzen. Letzteres wird im ersten Abschnitt thematisiert. Anschließend werden das sistema de castas* und weitere Gesellschaftsmodelle vorgestellt, die die Stel- lung der Indigenen beeinflussten. Abschließend wird die Bedeutung von Ethnizität und „Rasse“ am Beispiel einer Region in Westmexiko veranschaulicht. 2. Ethnizität und „Rasse“ (nicht nur) in Mesoamerika Historiker/innen und Anthropolog/innen stellen sich der Frage, ob und wie verschiede- ne Gruppen kategorisiert werden können und ob diese und andere soziale Grenzzie- hungen in der Vergangenheit für Menschen im Alltag überhaupt relevant waren. Für den Begriff Ethnizität existieren in der Forschungsliteratur einerseits zahlreiche unter- schiedliche Definitionen (z. B. Emberling 1997: 304; Martínez Cobo 1983; Wimmer 2008: 973–974), andererseits wenden sich Autor/innen, wie etwa Brubaker (2009: 29), grundsätzlich gegen Definitionen von Ethnizität, da sie zu sehr von der Existenz ethni- scher Gruppen als abgegrenzter Einheiten ausgingen. Die einflussreichsten theoretischen Schriften zum Begriff der Ethnizität stammen von Weber (1980[1922]: 235–240) und Barth (1969) und weisen besonders auf die Be- deutung der Selbst- und Fremdzuschreibung und die damit entstehenden Grenzen so- wie auf die Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft hin. In Anlehnung an diese und
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3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft
1
3.3 Die Indigenen als Teil der Kolonialgesellschaft
Sarah Albiez-Wieck
1. Einleitung
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Stellung der indigenen Bevölkerung im kolonial-
zeitlichen Gesellschaftsgefüge auf dem Gebiet des späteren Mexiko. Dabei ist zu berück-
sichtigen, dass die Kategorie des „Indigenen“ oder indio* überhaupt erst mit der spani-
schen Eroberung entstand. Mit indios – oder alternativ naturales, d. h. „Eingeborene“ –
benannten die spanischen Eroberer die Bewohner/innen Mesoamerikas. Nachkommen
aus Beziehungen zwischen Indigenen und Spanier/innen wurden als mestizos (Mesti-
zen*) bezeichnet. Außerdem brachten die Spanier afrikanische Sklav/innen mit nach
Lateinamerika, die sowohl mit Spanier/innen als auch mit Indigenen Nachkommen
zeugten. Somit bildete sich eine vielschichtige Gesellschaft mit unterschiedlichen Grup-
pen heraus, deren Verhältnis zueinander verstanden werden muss, um die Stellung der
Indigenen zu bewerten. Um die verschiedenen Gruppen abzugrenzen, ist es zudem
notwendig, sich mit den Konzepten Ethnizität sowie „Rasse“ aus theoretischer Perspek-
tive auseinanderzusetzen. Letzteres wird im ersten Abschnitt thematisiert. Anschließend
werden das sistema de castas* und weitere Gesellschaftsmodelle vorgestellt, die die Stel-
lung der Indigenen beeinflussten. Abschließend wird die Bedeutung von Ethnizität und
„Rasse“ am Beispiel einer Region in Westmexiko veranschaulicht.
2. Ethnizität und „Rasse“ (nicht nur) in Mesoamerika
Historiker/innen und Anthropolog/innen stellen sich der Frage, ob und wie verschiede-
ne Gruppen kategorisiert werden können und ob diese und andere soziale Grenzzie-
hungen in der Vergangenheit für Menschen im Alltag überhaupt relevant waren. Für
den Begriff Ethnizität existieren in der Forschungsliteratur einerseits zahlreiche unter-
gegen durften studieren (Carreño 1961: 33, 65). Ebenso war castas der Zugang zu be-
stimmten Handwerksberufen verboten und sie durften höchstens unter Aufsicht eines
Spaniers Hüte oder Handschuhe herstellen. Einige diesbezügliche órdenes reales (könig-
liche Erlasse) wurden im 18. Jahrhundert bestätigt, doch im Allgemeinen wurden die
Zugangsverbote in dieser Zeit stark abgeschwächt. So konnte sich ein indigener Klerus
herausbilden, und auch Schwarze begannen Universitäten zu besuchen und als Ärzte zu
wirken. Allerdings gab es dagegen immer wieder Widerstand von Seiten der Spani-
er/innen und Kreol/innen, die ihre Privilegien verteidigten (Lanning & TePaske
1997: 265–267). Auch sichtbare Statussymbole und Praktiken, wie etwa das Tragen von
Waffen und das Reiten von Pferden, waren Indigenen und castas meist untersagt. Indi-
gene Adlige waren jedoch von solchen Regelungen ausgenommen bzw. konnten Son-
derregelungen für sich in Anspruch nehmen, wenn sie ihren vorspanischen Adelsstand
nachweisen konnten. Außerdem waren indigene Adlige zumeist von der Tributpflicht
befreit. Darüber hinaus durfte die freie, afrikanisch-stämmige Bevölkerung im Gegen-
satz zu nicht-adligen Indigenen in den Milizen mitwirken und auch Waffen tragen
(Vinson 2000).
Insgesamt herrscht in der Forschung noch Uneinigkeit über den genauen Zusam-
menhang von Beruf, Stand, casta und Ethnie sowie deren jeweiligen Bedeutungen.
Tavárez (2009) etwa argumentiert, dass die institutionellen Praktiken der spanischen
Verwaltung die Ethnizität der Untertanen als primären Identitätsmarker festlegten, mit
größerer Bedeutung als Klasse, Gender oder Beruf. Potthast-Jutkeit hingegen unter-
streicht für alle sozialen Schichten die Bedeutung der sozialen Kategorisierung Gender,
und merkt an, dass die „Familienformen in bemerkenswerter Weise mit der casta korre-
lieren“ und bei Männern die „Geschlechtszugehörigkeit entscheidender war als die eth-
nische“ (Potthast-Jutkeit 1999: 126). Chance & Taylor (1977: 483) schließlich sind der
Ansicht, dass zumindest in Oaxaca keine der sozialen Determinanten ausschlaggebend
waren.
Das sistema de castas war somit ein von der Elite entworfenes System zur Selbstlegi-
timation und Machtsicherung. Für den Alltag insbesondere der städtischen Bevölkerung
hatte es jedoch oft geringe Relevanz. Von den über vierzig verschiedenen Typen, die das
sistema de castas theoretisch aufwies, waren laut Cope (1995: 15, 24 ff., 165), der die Si-
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tuation in Mexiko-Stadt im 17. und 18. Jahrhundert untersuchte, lediglich die fünf bis
sieben folgenden, nach ihrem Status geordneten Typen bedeutsam: Spani-
er/in / Kreol/in, castiz@7, morisc@8, Mestiz/in, Mulatt/in, Indigene/r und Schwarze/r.
Neben dem sozialen Stand, Beruf und Gender war das Konzept der casta mit der so
genannten limpieza de sangre („Reinheit des Blutes“) und somit auch mit religiösen
Vorstellungen eng verwoben. Die Vorstellung der limpieza oder pureza de sangre gab es
in Spanien spätestens ab dem Jahre 1449. Sie diente dazu, Christen von Nicht-Christen,
d. h. Juden und Muslime, zu unterscheiden, selbst wenn letztere zum Christentum kon-
vertiert waren (sogenannte conversos). Dabei glaubte man, dass die „Essenz“ über das
Blut und die Muttermilch an die Nachkommen weitergegeben wurde. „Reinen Blutes“
war eine Person, die von christlichen Eltern abstammte (Böttcher & al. 2011; Hering
Torres 2011, Stolcke 1992: 101). Insbesondere nach dem Abschluss der reconquista, der
Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den Mauren und der Vertreibung der Ju-
den aus Spanien 1492, wurde die Doktrin der limpieza de sangre zur Abgrenzung von
den conversos immer wichtiger. Die „Reinheit des Blutes“, d. h. die Abstammung von
„alten“ Christen, musste mit Zertifikaten nachgewiesen werden, um bestimmte Ämter
ausüben zu dürfen oder um Mitglied in Gilden zu werden (Lomnitz 2001: 341). Die
Übertragung des Konzepts der limpieza de sangre auf Indigene und afrikanische Skla-
ven/innen und deren „gemischte“ Nachkommen beruhte vor allem darauf, dass diese
ebenfalls religiös andersgläubig waren. Selbst wenn sie konvertiert waren, misstraute
man – oft zu Recht – ihrer Standfestigkeit im christlichen Glauben. Mit der Bezeich-
nung der castas sollten die „Gemischten“ als eigene und geschlossene soziale Kategorie
hervorgehoben werden.
Im Laufe der Zeit erfolgte eine Verschiebung von der Bedeutung der genealogisch
bestimmten Abstammung (linaje), hin zu einer soziokulturellen Zuordnung. Die Ideo-
logie der limpieza de sangre entwickelte sich von einem moralisch-religiösen Konzept
mit Bezügen zur sozialen Identität und Hierarchie zu einer modernen „rassischen“ Vor-
stellung über sozioökonomische Ungleichheit im 18. Jahrhundert (Burns 2007; Stolcke
2009). Einige Historiker/innen sprechen bereits für die Kolonialzeit von „Rasse“. Dies-
bezüglich ist es jedoch wichtig, das Konzept zu historisieren, wie es etwa Böttcher & al.
(2011: 10) tun, indem sie betonen, dass „Rasse“ Mitte des 15. Jahrhunderts „Abstam-
mung“ bedeutete, sich jedoch zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf „befleckte Abstam-
mung“ bezog und in dieser Bedeutung auch ein Synonym für die „Unreinheit“ des Blu-
7 Nachkommen von spanischen/kreolischen und mestizischen Eltern. 8 Nachkommen von mulattischen und spanischen Eltern.
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tes darstellte. Mestizisierung war demnach eine Mischung aus guter und schlechter Ras-
se bzw. linaje, die über die Hautfarbe äußerlich sichtbar wurde.
4. Weitere Formen der sozialen Organisation
Das sistema de castas war nicht das einzige Modell, mit dem sich die koloniale Gesell-
schaft in Neuspanien beschreiben ließe. Die anderen Systeme folgten teilweise einer
anderen Logik als der des sistema de casta und deren soziale Grenzziehungen lagen quer
zu jenen der sociedad de castas.
Zum einen ist hier das Modell der zwei Republiken, der dos repúblicas, zu nennen
(siehe Schüren [3.2] in diesem Band). Dabei ist hervorzuheben, dass die räumliche
Trennung der Bevölkerung in república de españoles und república de indios nicht strikt
eingehalten wurde. Zahlreiche juristische Vorgänge zeigen, dass es eine große Zahl so-
wohl temporärer als auch dauerhafter Grenzüberschreitungen gab; dies gilt sowohl für
die ländliche als auch, in noch viel größerem Ausmaß, für die städtische Gesellschaft.
Außerdem stimmten die Fiskalkategorien, also die Einteilung in Tributpflichtige und
Personen, die Tribut erhielten, nicht mit der Aufteilung in zwei Republiken überein. Die
Indigenen, die in der república de indios vor spanischer Ausbeutung geschützt werden
sollten, mussten dennoch Tribut bezahlen, allerdings mit Ausnahme der Adligen, die
teilweise selbst Tribut erhielten. Schwarze und Mulatten hatten ebenfalls Tribut zu ent-
richten, waren jedoch der república de españoles zugeordnet, ebenso wie Mestizen, die
wiederum von der Tributpflicht befreit waren (Cope 1995: 18f; Vinson 2001: 132). Da-
mit war also auch die Frage, ob man zur Gruppe der Tributpflichtigen gehörte, ein
wichtiges Unterscheidungskriterium, das für viele der Betroffenen im Alltag besonders
bedeutsam gewesen sein dürfte.
Neben der Grenzziehungen zwischen Indigenen und Spanier/innen sowie castas in
den beiden repúblicas, kam für die indigene Bevölkerung noch eine weitere hinzu ein
Phänomen, das Cope als „doppelte Grenze“ (1995: 5) bezeichnet hat: die Aufteilung in
weitere „ethnische“ und / oder Sprachgruppen, wie beispielsweise die der Otomí, Taras-
ken oder Mixteken, auf die im nächsten Abschnitt genauer eingegangen wird.
Schließlich ist noch die Unterteilung in gente de razón* (Vernunftmenschen) und in-
dios zu nennen. Zur gente de razón zählten sowohl Spanier als auch die afrikanisch-
stämmige Bevölkerung, die Indigenen hingegen wurden gewissermaßen als Minderjäh-
rige betrachtet. Die Indigenen konnten als solche bekehrt werden, unterlagen einer ei-
genen Gerichtsbarkeit und galten als schutzbedürftig (Gabbert 2004: 18). Die afrika-
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nisch-stämmige Bevölkerung wurde hingegen als moralisch niedrig stehender angese-
hen und stammte angeblich von Noahs Sohn Ham ab (Wade 2000: 15).
5. Das Beispiel Michoacán
Abschließend soll nun die Rolle der indigenen Bevölkerung für eine Region Neuspani-
ens exemplarisch detaillierter dargestellt werden: die Provinz Michoacán im Westen des
heutigen Mexiko, die in etwa der Ausdehnung des vorspanischen taraskischen9 Staates
entsprach. Der taraskische Staat hatte sich, ähnlich wie das aztekische Imperium, in der
späten Postklassik (ca. 1200–1521) entwickelt und umfasste das Gebiet des heutigen
Bundesstaates Michoacán sowie Teile von Guerrero, Guanajuato und Jalisco. Zum Zeit-
punkt der insgesamt verhältnismäßig friedlich abgelaufenen spanischen Eroberung lag
die Hauptstadt in Tzintzuntzan am Ufer des Pátzcuaro-Sees.10
Noch bevor die Spanier in direkten Kontakt mit dem taraskischen Staat traten, starb
der taraskische Herrscher Zuangua, genannt irecha oder cazonci, an den Pocken. Ihm
folgte 1521 der junge Tzintzicha Tangáxoan II an die Macht. 1522 erreichte Cristóbal de
Olid, der als Eroberer Michoacáns gilt, Tzintzuntzan, wobei es in der ersten Phase statt
einer militärischen Eroberung vielmehr Abkommen zwischen den Spaniern und dem
taraskischen Herrscher gab.
In den folgenden Jahren wurde Michoacán von zwei Herrschern gleichzeitig regiert:
Einerseits dem irecha, der nach wie vor über beträchtliche politische Macht verfügte
und Tribut eintrieb, und andererseits der spanischen Regierung. 1528 kam Nuño de
Guzmán, der Präsident der ersten audiencia*, nach Neuspanien. Er ließ Tzintzicha
Tangáxoan nach einem Schauprozess hinrichten. Unterstützt wurde Guzmán dabei von
Pedro Cuinierángari, einem Adoptivbruder des letzten irecha, der auch die Aussagen
über die spanische Eroberung in der wichtigsten Quelle zum taraskischen Staat, der Re-
lación de Michoacán11, stark beeinflusst hat.
9 Zur Frage der Bezeichnung Tarasken oder P’urhépecha siehe Albiez-Wieck (2011: Kap. 1) und
Márquez Joaquín (2007). Ich verwende die (auch nicht unproblematische) Bezeichnung Tarasken, da
die Bezeichnung Purhépecha zu jener Zeit nur das „breite Volk“ umfasste. Die Tatsache, dass es unter
Wissenschaftler/innen keine Einigkeit über die Selbstbezeichnung der „Tarasken“ in vorspanischer
Zeit gibt, könnte meines Erachtens ein Hinweis darauf sein, dass diese Selbstbezeichnung nicht exis-
tierte, weil sich die Tarasken nicht als eine Gruppe, als „vorgestellte Gemeinschaft“, sahen. 10 Zum Ablauf und zur Analyse der Eroberung Michoacáns ist nach wie vor die Monografie von Warren
(1985) die beste Studie. Eine gute Überblicks- und Einstiegslektüre über Michoacán in der Kolonial-
zeit ist Castro Gutiérrez (2004). 11 „Bericht über Michoacán“: Dies ist die wichtigste Quelle zum vorspanischen taraskischen Staat und
der frühen Kolonialzeit, eine gute Ausgabe derselben ist: de Alcalá (2008).
3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft
In der Folge wurde die Macht der indigenen Adligen eingegrenzt. Auf lokaler und
auch regionaler Ebene verfügten sie jedoch weiterhin über bedeutendes Gewicht. Dies
galt insbesondere für die Nachfahren und enge Verwandte Tzintzicha Tangáxoans (sie-
he Abb. 2), von denen z. B. mehrere bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Gouverneure
der Hauptstadt Michoacán waren. Diese wurde von den Spaniern, insbesondere auch
auf Betreiben des Bischofs Vasco de Quiroga (1470–1565), im Jahre 1538 nach Pátzcua-
ro und von dort 1580 nach Guayangareo-Valladolid (heute Morelia, Hauptstadt des
Bundesstaates Michoacán) verlegt. Als Gouverneure der Hauptstadt von Michoacán
hatten sie Einfluss auch weit über diese Stadt hinaus und erhielten nach wie vor Tribut-
zahlungen aus anderen Orten. Auch adlige Frauen hatten teilweise erhebliche politische
und wirtschaftliche Macht, wie etwa Beatriz de Castilleja, ebenfalls eine Nachfahrin
Tzintzicha Tangáxoans, die mit dem Spanier Pedro de Ábrego verheiratet war und die
encomienda des wichtigen Ortes Ihuatzio erhielt (Becerril Patlán & Cerda Farías
2005: 184; Roskamp 1998: 154) oder Doña Ana Ocelo, die nahuatlsprachige Mutter von
Constantino Huitzimengari, einem illegitimen Sohn des letzten irecha, welche in Quel-
len als „principal y cacica“ (Paredes Martínez 1994: 369), als Adlige und Kazikin be-
zeichnet wird und zahlreiche Ländereien besaß (López Sarrelangue 1965: 210–211).
Auch später während der Kolonialzeit hatten Nachkommen der wichtigsten Adelsfami-
lien bedeutsame Positionen in der indigenen Verwaltung, dem cabildo indígena, inne
(siehe Schüren [3.2] in diesem Band).
Insbesondere in der Anfangszeit gab es sowohl innerhalb der Gruppe der indigenen
Adligen als auch zwischen Adligen und Nicht-Adligen zahlreiche Konflikte um die Ver-
teilung von Machtpositionen, Ländereien und Tribut. Der Umzug der Hauptstadt Mi-
choacáns von Pátzcuaro nach Tzintzuntzan etwa war von heftigen Protesten begleitet.
nahuatlsprachige Adlige aus Tzintzuntzan, von denen einige äußerst einflussreich wa-
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ren, spielten in diesem Kontext eine wichtige Rolle (Albiez-Wieck 2011: Kap. 6.3; Ros-
kamp 2010).
Die Frage des Standes war sehr bedeutsam für das Leben im kolonialen Michoacán,
da er darüber entschied, ob Tribute zu zahlen und Arbeitsdienste zu leisten waren oder
nicht. Viele indigene Adlige konnten ihre Rechte aus vorspanischer Zeit zumindest in
reduziertem Umfang beibehalten. Außerdem genossen sie teilweise ähnliche Vorrechte
wie Spanier, etwa das Tragen von Waffen und das Reiten von Pferden. In den ersten
Jahrzehnten nach der Eroberung gab es jedoch einen erhöhten Grad an sozialer Mobili-
tät, und auch der Wechsel des Standes war in bestimmten Fällen möglich. Im Laufe der
Zeit kam es unter den Indigenen zu einem Prozess der sozialen Angleichung. Dies be-
deutete, dass einige indigene Adlige in der Gruppe der Kreol/innen aufgingen, ein gro-
ßer Teil jedoch nicht mehr als adlig angesehen wurde.12 Im Bereich der Verwaltung,
Religion, Kleidung und Nahrung setzten sich spanische Elemente je nach Region und
Bereich in unterschiedlicher Geschwindigkeit durch, so dass viele vorspanische Elemen-
te vor allem in den ersten Jahrzehnten nach der Eroberung im alltäglichen Leben erhal-
ten blieben.13
Nach der Eroberung veränderte sich das Leben der nicht-adligen Bevölkerung neben
teilweise neuen Tributpflichten vor allem auch durch die Missionierung. Außerdem
wurde die verstreut lebende Bevölkerung gegen Ende des 16. Jahrhunderts in sogenann-
te congregaciones, zentralliegende Gemeinden, umgesiedelt. Des Weiteren verschwan-
den Berufsgruppen und neue entstanden. Insbesondere der Bischof Vasco de Quiroga
förderte das Ausüben bestimmter Handwerke und die Spezialisierung ganzer Dörfer auf
einen Handwerkszweig. Auch unter der spanischen Herrschaft gab es eine geschlechts-
spezifische Trennung der Aufgabenbereiche.
Neben der Frage des Standes waren auch der Wohnort, das Geschlecht sowie der
ausgeübte Beruf äußerst bedeutsam für das Leben der indigenen Bevölkerung. Doch
welche Bedeutung besaß die Ethnizität? Wie oben für ganz Neuspanien dargelegt, gab es
auch in Michoacán eine soziale Trennung durch die beiden Republiken und die
sociedad de castas. An der Genealogie der Herrscherfamilie Huitzimengari kann man
jedoch erkennen, dass diese Trennung, insbesondere in den Anfangsjahren, nicht sehr
gefestigt war; es gab beispielsweise Heiraten zwischen Spanier/innen und indigenen Ad-
ligen. Für die späte Kolonialzeit fehlen bislang noch detaillierte Untersuchungen.
12 Dieser Prozess wird von einigen Autoren als „Purepechisierung“ (Martínez Baracs 1997: 110; Paredes
Martínez 2008: 105–106) bezeichnet, in Analogie zur „Macehualisierung“ in Zentralmexiko (macehual
– Angehöriger des breiten Volkes, Nicht-Adliger). 13 Vgl. zu diesem Thema in Zentralmexiko Lockhart (1992).
3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft
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Und was bedeutete die „doppelte Grenze“ für die indigene Bevölkerung? Im taraski-
schen Staat und im kolonialen Michoacán wurden viele verschiedene Sprachen gespro-
chen, wobei die bedeutsamsten das Taraskische, das Nahuatl sowie verschiedene Spra-
chen der Otopame-Sprachgruppe darstellten. Einige dieser sprachlichen Gruppen ha-
ben sich im Laufe der Zeit zu ethnischen Gruppen entwickelt. Die Taraskischsprachigen
beschreiben sich selbst heute kollektiv als P’urhépecha und werden im mexikanischen
Nationalstaat als ethnische Gruppe adressiert. Allerdings ist auch heute oft noch die
Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft wichtiger als die zu einer ethnischen indigenen
Gruppe. Die meisten Wissenschaftler/innen setzen für die Kolonial- und auch für die
vorspanische Zeit unhinterfragt die verschiedenen Sprachgruppen mit ethnischen
Gruppen gleich. Ein genauerer Blick auf die Quellen zeigt jedoch, dass diese angeblichen
ethnischen Gruppen nicht so leicht zu fassen sind, wie es auf den ersten Blick erscheinen
mag.14
In Prozessakten und anderen Quellen gibt es zwar Selbstzuschreibungen zur „Nati-
on“ der Tarasken oder Otomí, doch geschieht dies fast ausschließlich auf lokaler Ebene,
so dass nicht unbedingt davon auszugehen ist, dass es ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer
größeren ethnischen Gruppe gab.15 Allerdings stehen die Prozessakten oft in Zusam-
menhang mit dem Streit um Landrechte, und die Ansprüche auf das Land werden mit
einer gemeinsamen, früheren Besiedlung, d. h. einer gemeinsamen Migration begründet
− ein häufiger Topos in der Ethnogenese. Castro Gutiérrez (2003: 294) hat jedoch ge-
zeigt, dass bei den Aufständen in Tzintzuntzan im 16. Jahrhundert keinerlei „ethnische
Solidaritäten“ existierten.16 Außerdem ist die Gleichsetzung ethnischer Gruppen mit
Sprachgruppen unhaltbar; Gabbert (2006: 92) bezeichnet die Gleichung „eine Sprache –
eine Kultur – ein Volk“ daher als „unheilige Dreifaltigkeit“. In den Relaciones Geográfi-
cas gibt es widersprüchliche Aussagen darüber, ob es Unterschiede zwischen den
Sprachgruppen gab, die auf eine gemeinsame Identität aller Sprecher/innen einer Spra-
che hinweisen. Roskamp (2003) hat in seiner Untersuchung der frühkolonialen Tribut-
14 Für eine ausführlichere Diskussion dieses Problems siehe Albiez-Wieck (2013). 15 Gabbert (2004: xiii) argumentiert überzeugend, dass erst von einer ethnischen Gruppe zu sprechen sei,
wenn es eine „vorgestellte Gemeinschaft“ oberhalb der „face-to-face“ Gruppe gibt. Zum Begiff nación,
der in den Quellen häufig verwendet wird, wenn etwa von Otomí, Tarasken oder Matlatzinca die Rede
ist, ist darauf hinzuweisen, dass seine Bedeutung sich im 16. Jahrhundert von der heutigen unter-
schied. Wie Guidicelli (2010) für die Provinz Nueva Vizcaya gezeigt hat, waren zudem die Kriterien
für die Klassifikation einer Gruppe oder einer Person zu einer bestimmten nación höchst unterschied-
lich, je nachdem, welche Person oder Institution die Klassifikation vornahm; Sprache stellte dabei ein
häufiges, jedoch beileibe nicht das einzige Kriterium dar. 16 Außerdem ist er der Ansicht, dass die kollektive Identität nicht über die Ebene der Haupt-Gemeinde,
der cabecera, hinausging.
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listen aus Cutzio und Huétamo gezeigt, dass dort Otomí und Tarasken scheinbar unter-
schiedlich besteuert wurden.
Ähnlich wie im Rest Neuspaniens gab es somit für die indigene Bevölkerung West-
mexikos eine Vielzahl von Zugehörigkeiten und Identitäten, die ihren Alltag bestimm-
ten – es handelte sich keineswegs um eine homogene Gruppe, deren Mitglieder alle die
gleiche Position in der Gesellschaft einnahmen. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts,
teilweise aber auch darüber hinaus, hatte namentlich die Gruppe der indigenen Adligen,
nicht zuletzt durch die größtenteils friedliche Eroberung des taraskischen Staates, wei-
terhin eine machtvolle Position inne.
6. Fazit
Die sozialen Ein- und Ausschlussmechanismen in der Kolonialzeit waren wesentlich
komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn von der indigenen Bevöl-
kerung der Kolonialzeit die Rede ist, muss für jeden konkreten Fall eine Vielzahl von