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3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft 1 3.3 Die Indigenen als Teil der Kolonialgesellschaft Sarah Albiez-Wieck 1. Einleitung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Stellung der indigenen Bevölkerung im kolonial- zeitlichen Gesellschaftsgefüge auf dem Gebiet des späteren Mexiko. Dabei ist zu berück- sichtigen, dass die Kategorie des „Indigenen“ oder indio* überhaupt erst mit der spani- schen Eroberung entstand. Mit indios – oder alternativ naturales, d. h. „Eingeborene“ – benannten die spanischen Eroberer die Bewohner/innen Mesoamerikas. Nachkommen aus Beziehungen zwischen Indigenen und Spanier/innen wurden als mestizos (Mesti- zen*) bezeichnet. Außerdem brachten die Spanier afrikanische Sklav/innen mit nach Lateinamerika, die sowohl mit Spanier/innen als auch mit Indigenen Nachkommen zeugten. Somit bildete sich eine vielschichtige Gesellschaft mit unterschiedlichen Grup- pen heraus, deren Verhältnis zueinander verstanden werden muss, um die Stellung der Indigenen zu bewerten. Um die verschiedenen Gruppen abzugrenzen, ist es zudem notwendig, sich mit den Konzepten Ethnizität sowie „Rasse“ aus theoretischer Perspek- tive auseinanderzusetzen. Letzteres wird im ersten Abschnitt thematisiert. Anschließend werden das sistema de castas* und weitere Gesellschaftsmodelle vorgestellt, die die Stel- lung der Indigenen beeinflussten. Abschließend wird die Bedeutung von Ethnizität und „Rasse“ am Beispiel einer Region in Westmexiko veranschaulicht. 2. Ethnizität und „Rasse“ (nicht nur) in Mesoamerika Historiker/innen und Anthropolog/innen stellen sich der Frage, ob und wie verschiede- ne Gruppen kategorisiert werden können und ob diese und andere soziale Grenzzie- hungen in der Vergangenheit für Menschen im Alltag überhaupt relevant waren. Für den Begriff Ethnizität existieren in der Forschungsliteratur einerseits zahlreiche unter- schiedliche Definitionen (z. B. Emberling 1997: 304; Martínez Cobo 1983; Wimmer 2008: 973–974), andererseits wenden sich Autor/innen, wie etwa Brubaker (2009: 29), grundsätzlich gegen Definitionen von Ethnizität, da sie zu sehr von der Existenz ethni- scher Gruppen als abgegrenzter Einheiten ausgingen. Die einflussreichsten theoretischen Schriften zum Begriff der Ethnizität stammen von Weber (1980[1922]: 235–240) und Barth (1969) und weisen besonders auf die Be- deutung der Selbst- und Fremdzuschreibung und die damit entstehenden Grenzen so- wie auf die Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft hin. In Anlehnung an diese und
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Die Indigenen als Teil der Kolonialgesellschaft

Feb 07, 2023

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Page 1: Die Indigenen als Teil der Kolonialgesellschaft

3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft

1

3.3 Die Indigenen als Teil der Kolonialgesellschaft

Sarah Albiez-Wieck

1. Einleitung

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Stellung der indigenen Bevölkerung im kolonial-

zeitlichen Gesellschaftsgefüge auf dem Gebiet des späteren Mexiko. Dabei ist zu berück-

sichtigen, dass die Kategorie des „Indigenen“ oder indio* überhaupt erst mit der spani-

schen Eroberung entstand. Mit indios – oder alternativ naturales, d. h. „Eingeborene“ –

benannten die spanischen Eroberer die Bewohner/innen Mesoamerikas. Nachkommen

aus Beziehungen zwischen Indigenen und Spanier/innen wurden als mestizos (Mesti-

zen*) bezeichnet. Außerdem brachten die Spanier afrikanische Sklav/innen mit nach

Lateinamerika, die sowohl mit Spanier/innen als auch mit Indigenen Nachkommen

zeugten. Somit bildete sich eine vielschichtige Gesellschaft mit unterschiedlichen Grup-

pen heraus, deren Verhältnis zueinander verstanden werden muss, um die Stellung der

Indigenen zu bewerten. Um die verschiedenen Gruppen abzugrenzen, ist es zudem

notwendig, sich mit den Konzepten Ethnizität sowie „Rasse“ aus theoretischer Perspek-

tive auseinanderzusetzen. Letzteres wird im ersten Abschnitt thematisiert. Anschließend

werden das sistema de castas* und weitere Gesellschaftsmodelle vorgestellt, die die Stel-

lung der Indigenen beeinflussten. Abschließend wird die Bedeutung von Ethnizität und

„Rasse“ am Beispiel einer Region in Westmexiko veranschaulicht.

2. Ethnizität und „Rasse“ (nicht nur) in Mesoamerika

Historiker/innen und Anthropolog/innen stellen sich der Frage, ob und wie verschiede-

ne Gruppen kategorisiert werden können und ob diese und andere soziale Grenzzie-

hungen in der Vergangenheit für Menschen im Alltag überhaupt relevant waren. Für

den Begriff Ethnizität existieren in der Forschungsliteratur einerseits zahlreiche unter-

schiedliche Definitionen (z. B. Emberling 1997: 304; Martínez Cobo 1983; Wimmer

2008: 973–974), andererseits wenden sich Autor/innen, wie etwa Brubaker (2009: 29),

grundsätzlich gegen Definitionen von Ethnizität, da sie zu sehr von der Existenz ethni-

scher Gruppen als abgegrenzter Einheiten ausgingen.

Die einflussreichsten theoretischen Schriften zum Begriff der Ethnizität stammen

von Weber (1980[1922]: 235–240) und Barth (1969) und weisen besonders auf die Be-

deutung der Selbst- und Fremdzuschreibung und die damit entstehenden Grenzen so-

wie auf die Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft hin. In Anlehnung an diese und

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ähnliche Ideen (Gabbert 2006: 90) lässt sich Ethnizität als sozial konstruiertes Phäno-

men verstehen, das sich in kulturellen Praktiken artikuliert. Dabei setzen die Ak-

teur/innen verschiedene Differenzierungsmerkmale ein, um kollektive Selbst- und

Fremdzuschreibungen in Abgrenzung von einem Anderen vorzunehmen. Ein wichtiger,

aber nicht der einzige Referenzpunkt ist diesbezüglich die Vorstellung einer gemeinsa-

men Herkunft. Ethnizität hat stets etwas mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe in Ab-

grenzung zu anderen Gruppen, und insofern mit einer „vorgestellten Gemeinschaft“, zu

tun.1 Hierbei ist es jedoch wichtig hervorzuheben, dass Ethnizität, wie auch andere sozi-

ale Kategorisierungen (z. B. Stand,2 Gender, Alter) kontextabhängig, flexibel und histo-

risch veränderbar ist. Außerdem sind ethnische Gruppen weder homogen und klar

nach außen abgegrenzt, noch verfolgen alle Mitglieder gemeinsame Ziele (Brubaker

2009: 28). Schließlich ist zu beachten, dass die Identifizierung ethnischer Kategorien der

Vergangenheit von den jeweils historisch-konkreten Definitionen von Ethnizität abhän-

gig ist und zwischen Ethnizität als wissenschaftlichem Konzept und den Vorstellungen

von Ethnizität der Akteur/innen selbst zu unterscheiden ist.

Bei der Beschäftigung mit Ethnizität im Allgemeinen und dem sistema de castas

(Kastensystem) in Lateinamerika im Speziellen stößt man auf die kontrovers diskutierte

Beziehung zwischen Ethnizität und „Rasse“, ein Begriff, der insbesondere in Deutsch-

land aus historischen Gründen vermieden wird. Die Positionen in der internationalen

Forschung reichen bezüglich dieser Thematik von einer völligen Ablehnung des Kon-

zepts Rasse über die Gleichsetzung mit oder Unterordnung unter das Konzept Ethnizi-

tät, bis hin zur klaren Trennung der beiden (vgl. Anthias 1998; Lomnitz 2001; Müller &

Zifonun 2010a; Wade 2008). Loveman (1999) hat aufgezeigt, dass die meisten Definitio-

1 Auch wenn Anderson den Begriff imagined community nicht für ethnische Gruppen sondern für die

Nation verwendet (vgl. Anderson 2005), ist dieses Merkmal wohl beiden Konstruktionen kollektiver

Identität gemein. 2 Ich verwende für die vorspanische Zeit und für die Kolonialzeit den Begriff „Stand“ statt „Klasse“.

Hierin folge ich Mörner, der „den Wandel der kolonialen Gesellschaft von einer auf rechtlichen Privi-

legien basierenden Ständegesellschaft hin zu einer offeneren, eher auf Besitz und Reichtum basieren-

den Klassengesellschaft“ beschrieben hat (Potthast-Jutkeit 1999: 116–117; vgl. Mörner 1967). Die

Verwendung des Begriffs „Stand“ soll hier auf die klare Trennung zwischen adliger und nicht-adliger

Bevölkerung hinweisen, die es in Mesoamerika auch schon in vorspanischer Zeit gab, und vermeidet

den Aspekt des Besitzes oder Nicht-Besitzes von Produktionsmitteln, der für den Marxschen Klassen-

begriff entscheidend ist. Es gibt jedoch durchaus berechtigte Kritik an der Beschreibung der Kolonial-

gesellschaft als Ständegesellschaft. Chance & Taylor (1977) haben für Oaxaca gezeigt, dass sich insbe-

sondere gegen Ende der Kolonialzeit durchaus von einer vorindustriellen Klassengesellschaft sprechen

lässt. Für Weber (1980[1922]: Kap. I, IV) und Marx (2009[1872]: Bd. I, 4. Abschnitt; Bd. III, Kap. 52)

sind alle Gesellschaften in staatlichen Organisationsformen Klassengesellschaften und Stände ein Spe-

zifikum von Feudalgesellschaften, in denen die einzelnen Stände auch sozialen Klassen angehören.

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nen von Rasse tautologisch sind3 und dass ein grundsätzlicher analytischer Unterschied

zwischen race und ethnicity bislang nicht überzeugend nachgewiesen werden konnte.

Auch zahlreiche andere Autor/innen, wie etwa Wade (2008: 184), haben argumentiert,

dass die Unterscheidung zwischen Indigenen und Mestizen zwar oft als „ethnisch“ an-

gesehen wird, weil sie „kulturelle“ Unterscheidungen wie Sprache, Kleidung und Ver-

halten zu umfassen scheinen und nicht „rassische“ Unterscheidungen wie Aussehen

und Abstammung. Allerdings sei eine konzeptuelle Trennung beider Begriffe nicht an-

gebracht.

Sowohl ethnische als auch „rassische“ bzw. rassistische Kategorien sind gleicherma-

ßen sozial konstruiert, auch wenn sie auf physischen Kriterien basieren. Indigene sind

seit langem ebenso Opfer von Rassismus wie die schwarze Bevölkerung Lateinamerikas.

Die Diskriminierung letzterer Bevölkerungsgruppen hängt sowohl von kulturellen Fak-

toren wie Kleidung als auch von sozialen Merkmalen wie Klassenstatus ab. Aus diesen

Gründen und auch, um den Anschein zu vermeiden, es gäbe tatsächlich biologische

Menschenrassen, wird im Folgenden der Begriff Ethnizität verwendet. Dabei ist jedoch

zu beachten, dass Ethnizität als wissenschaftlicher Terminus erst seit Mitte des

20. Jahrhunderts verwendet wird und ähnlich wie „Rasse“ in seiner Verwendungsge-

schichte nicht unumstritten geblieben ist. Bei der Untersuchung der hispanoamerikani-

schen Kolonialgesellschaft ist es daher wichtig zu beachten, welche zeitgenössischen

Begriffe Verwendung fanden und welche Bedeutungen, semantische Felder und politi-

sche Konnotationen sie aufwiesen.

In alltagsweltlichen und politischen Diskursen, insbesondere indigener Bewegungen

wie etwa der CONAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador, Bünd-

nis der indigenen Nationalitäten Ecuadors) in Ecuador und von Nichtregierungsorgani-

sationen, wird oft die Auffassung vertreten, dass indigene Völker als ethnische Gruppen

mehr oder weniger kontinuierlich seit der vorspanischen Zeit existierten; diese Aussage

wird oft mit dem Anspruch auf ein bestimmtes, seit vorspanischer Zeit bewohntes Ter-

ritorium oder mit der Forderung nach besonderen Rechten verknüpft. Ethnizität wird

somit auch als strategische Ressource verwendet (vgl. Büschges & Pfaff-Czarnecka

2007). Doch ob Ethnizität tatsächlich auch schon in vorspanischer Zeit eine relevante

soziale Kategorisierung darstellte, ist von Historiker/innen und Archäolog/innen sehr

unterschiedlich beurteilt worden.

3 So kritisiert sie etwa die Definition der racialized social systems von Bonilla-Silva (1997: 474), definiert

als soziale Systeme, die ökonomische, politische, soziale und psychologische Belohnungen anhand so-

zial konstruierter, „rassischer“ Linien vergeben, ohne zu erläutern, was „rassische“ Linien sein sollen

(eigene Hervorhebung).

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Für Mesoamerika ist Gabbert (2004: 35–36) bezüglich der vorspanischen Maya der

Ansicht, dass es kein ethnisches Gruppenbewusstsein oder ethnische Einheiten gab,

sondern vielmehr zu jener Zeit ein großer Teil der Bevölkerung in dynastischen Rei-

chen, Altersgruppen, Dörfern, Berufsgruppen u. ä. entlang verwandtschaftlicher oder

lokaler Gruppen organisiert war. Die Vorstellungen von Zugehörigkeit hätten sich von

der eurozentrischen Idee einer klar abgegrenzten, soziopolitischen Einheit mit einer

eigenen Kultur unterschieden und seien wesentlich komplizierter gewesen. Im Gegen-

satz zu Gabberts Hypothese für die Maya vertreten Berdan (2008: 130–131) sowie Sand-

strom & Berdan (2008: 214–219) für das vorspanische Zentralmexiko die Auffassung,

dass ethnische Gruppen existierten. Allerdings stellen die Autoren klar, dass Ethnizität

nicht sehr relevant war, da sie keinen entscheidenden soziopolitischen Ordnungsfaktor

darstellte.

Einige Forscher/innen gehen davon aus, dass erst der europäische Kolonialismus

zum Entstehen von Ethnizität und / oder „Rasse“ geführt hatte (Cornell & Hartmann

2010: 88–89; Thomson 2007). Andere sind der Auffassung, dass Ethnizität ein modernes

Phänomen darstelle, welches sich erst im Zuge der Nationalstaatsbildung entwickelt

hatte (Klinger 2008: 48–49; Müller & Zifonun 2010b: 28–29; Quilter 2010). Es existieren

auch vermittelnde Positionen wie die von Wimmer (2010: 121), der die Ansicht vertritt,

dass die nicht-westliche Welt durch die Kolonialisierung „rassifiziert“ und in ethnische

Sphären aufgeteilt wurde. Er argumentiert jedoch darüber hinaus, dass die wesentlich

spätere Entstehung des Nationalstaats den staatlichen Eliten neue Anreize für die Schaf-

fung ethnischer Grenzziehungen lieferte und der Nationalstaat gar eine „ethnische Lo-

gik“ habe, da er seine territorialen Grenzen als Grenzen der Nation ethnisch definieren

müsse.

3. Systema de Castas

Die koloniale Gesellschaft in Hispanoamerika – und interessanterweise nicht in Brasili-

en – wird oft als sociedad oder sistema de castas bezeichnet, in der die verschiedenen

gesellschaftlichen, in der Forschung zumeist als „ethnisch“ bezeichneten Gruppen, un-

terschiedliche Positionen einnahmen. An der Spitze der sozialen Pyramide standen in

dem Modell zufolge 4 der Eliten die Spanier/innen und Kreol/innen*, unten die Indige-

nen und noch darunter afrikanische Sklav/innen, mit zahlreichen „Mischungen“ dazwi-

4 Die soziökonomische Realität war oft komplexer, so gab es etwa auch sehr arme Spanier, oder Mulat-

ten, die als Handwerker und Händler tätig waren.

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schen. Dabei werden die „gemischten“ Bevölkerungsgruppen zumeist als castas be-

zeichnet, aber alle Gruppen waren Teil des sistema de castas.

Abb. 1: Castas-Darstellung (pintura de castas, ca. 1750; aus: Katzew 2004: 36) [komprimierte Vorschau; für Farbteil

vorsehen!]

Ihren bekanntesten Ausdruck findet die sociedad de castas in den sogenannten pin-

turas de castas (Kastengemälde, Abb. X im Farbteil). Diese Bilder bestehen jeweils aus

einer Reihe kleinerer Abbildungen, in denen Paare mit Kind dargestellt werden, geord-

net nach dem Grad der jeweiligen „Vermischung“ der Kinder. So heißt etwa das Kind

eines Schwarzen mit einer Indigenen chino. Hierbei werden den unterschiedlichen

Gruppen oft auch bestimmte moralische Attribute zugewiesen. Diese Bilder sollten die

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Rolle der Spanier/innen und Kreol/innen an der Spitze der sozialen Hierarchie legiti-

mieren und die koloniale Gesellschaftsordnung illustrieren; außerdem zeigten sie die

(vermeintliche) Bedrohung der Spanier/innen und Kreol/innen durch die immer größer

werdende Gruppe der castas. Sie entstanden vor allem zwischen 1760 und 1780 und

standen in engem Zusammenhang mit den bourbonischen Reformen5, die u. a. das Ziel

hatten, die Kontrolle des Mutterlandes über die koloniale Gesellschaft zu stärken und

diese zu modernisieren und zu ordnen (vgl. Katzew 2004; siehe Kummels [3.4] in die-

sem Band).

Die Frage, inwiefern die in den pintura de castas dargestellten und stark ausdifferen-

zierten ethnischen Kategorien tatsächlich im Alltag relevant waren und ob bzw. ab wann

die castas ethnische Kategorien darstellten, ist in der Forschung umstritten. Laut Thom-

son (2007) handelte es sich bei den castas um rechtliche und „rassische“ Kategorien, die

sich im 17. Jahrhundert entwickelten und in der Mitte desselben in Mexiko-Stadt insti-

tutionalisiert wurden. Tavárez (2009) interpretiert sie als die Zugehörigkeit zu kol-

lektiven Identitäten, die auf Abstammung („Blut“), Herkunft, Erziehung und Sprache

basierten, mit speziellen Merkmalen, die sich auf das jeweilige Land und Klima bezogen.

Dabei waren diese Identifikationen unter bestimmten Umständen durchaus verhandel-

bar. Ethnische Zuschreibungen waren äußerst flexibel und hingen eng mit dem wirt-

schaftlichen Erfolg und der sozialen Positionierung zusammen. Außerdem entwickelte

sich die sociedad de castas in Neuspanien erst im Laufe des 16. Jahrhunderts. In den ers-

ten Jahrzehnten nach der spanischen Eroberung waren deren Kategorien noch nicht

klar voneinander getrennt. Die Kinder aus spanisch-indigenen Beziehungen wurden

erst ab etwa 1570 als „Mestizen“ eingestuft (Cope 1995: 18); sie konnten jedoch auch in

eine der beiden Bevölkerungsgruppen integriert werden. Auch der Wechsel zwischen

den verschiedenen Kategorien war noch leichter möglich.6 Insbesondere indigene Adli-

ge wechselten teilweise durch Heirat und kulturelle Assimilation in den spanischen Teil

der Gesellschaft.

Eng mit dem sozialen Stand verwoben war auch die Zugehörigkeit zu einer spezifi-

schen Berufsgruppe. Bestimmten castas war die Ausübung einiger Berufe verwehrt. So

5 Bei den bourbonischen Reformen handelte es sich um ein Bündel an Maßnahmen, welches das Kö-

nigshaus der Bourbonen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchführte, um wieder eine stär-

kere Kontrolle über seine Kolonien und den Handel mit denselben zu erlangen. Der Widerstand gegen

diese Reformen in Hispanoamerika wird als einer der Gründe für die bald darauf folgende Unabhän-

gigkeit gewertet. 6 In den letzten Jahrzehnten der Kolonialzeit gab es eine legal institutionalisierte Möglichkeit für pardos

(dunkelhäutige, afrikanisch-stämmige Personen) oder mulatos (Nachkommen spanischer und afrika-

nisch-stämmiger Eltern), die rechtlichen Nachteile des „Schwarz-seins“ loszuwerden: die so genannten

gracias al sacar konnte man in einem aufwändigen Verfahren erwerben (Twinam 2009).

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war es Anfang des 16. Jahrhunderts nur in sehr wenigen Ausnahmefällen möglich, als

Indigener, Mestize oder Mulatte Priester zu werden (Albiez 2009: 39ff). Schwarzen, Mu-

latten, chinos oder (ehemaligen) Sklaven war der Zugang zur Universität in Mexiko-

Stadt und damit zusammenhängenden Berufen, wie etwa dem des Arztes, Anwalts oder

Apothekers verwehrt (Lanning & TePaske 1997: 265; Twinam 2009: 147); Indigene hin-

gegen durften studieren (Carreño 1961: 33, 65). Ebenso war castas der Zugang zu be-

stimmten Handwerksberufen verboten und sie durften höchstens unter Aufsicht eines

Spaniers Hüte oder Handschuhe herstellen. Einige diesbezügliche órdenes reales (könig-

liche Erlasse) wurden im 18. Jahrhundert bestätigt, doch im Allgemeinen wurden die

Zugangsverbote in dieser Zeit stark abgeschwächt. So konnte sich ein indigener Klerus

herausbilden, und auch Schwarze begannen Universitäten zu besuchen und als Ärzte zu

wirken. Allerdings gab es dagegen immer wieder Widerstand von Seiten der Spani-

er/innen und Kreol/innen, die ihre Privilegien verteidigten (Lanning & TePaske

1997: 265–267). Auch sichtbare Statussymbole und Praktiken, wie etwa das Tragen von

Waffen und das Reiten von Pferden, waren Indigenen und castas meist untersagt. Indi-

gene Adlige waren jedoch von solchen Regelungen ausgenommen bzw. konnten Son-

derregelungen für sich in Anspruch nehmen, wenn sie ihren vorspanischen Adelsstand

nachweisen konnten. Außerdem waren indigene Adlige zumeist von der Tributpflicht

befreit. Darüber hinaus durfte die freie, afrikanisch-stämmige Bevölkerung im Gegen-

satz zu nicht-adligen Indigenen in den Milizen mitwirken und auch Waffen tragen

(Vinson 2000).

Insgesamt herrscht in der Forschung noch Uneinigkeit über den genauen Zusam-

menhang von Beruf, Stand, casta und Ethnie sowie deren jeweiligen Bedeutungen.

Tavárez (2009) etwa argumentiert, dass die institutionellen Praktiken der spanischen

Verwaltung die Ethnizität der Untertanen als primären Identitätsmarker festlegten, mit

größerer Bedeutung als Klasse, Gender oder Beruf. Potthast-Jutkeit hingegen unter-

streicht für alle sozialen Schichten die Bedeutung der sozialen Kategorisierung Gender,

und merkt an, dass die „Familienformen in bemerkenswerter Weise mit der casta korre-

lieren“ und bei Männern die „Geschlechtszugehörigkeit entscheidender war als die eth-

nische“ (Potthast-Jutkeit 1999: 126). Chance & Taylor (1977: 483) schließlich sind der

Ansicht, dass zumindest in Oaxaca keine der sozialen Determinanten ausschlaggebend

waren.

Das sistema de castas war somit ein von der Elite entworfenes System zur Selbstlegi-

timation und Machtsicherung. Für den Alltag insbesondere der städtischen Bevölkerung

hatte es jedoch oft geringe Relevanz. Von den über vierzig verschiedenen Typen, die das

sistema de castas theoretisch aufwies, waren laut Cope (1995: 15, 24 ff., 165), der die Si-

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tuation in Mexiko-Stadt im 17. und 18. Jahrhundert untersuchte, lediglich die fünf bis

sieben folgenden, nach ihrem Status geordneten Typen bedeutsam: Spani-

er/in / Kreol/in, castiz@7, morisc@8, Mestiz/in, Mulatt/in, Indigene/r und Schwarze/r.

Neben dem sozialen Stand, Beruf und Gender war das Konzept der casta mit der so

genannten limpieza de sangre („Reinheit des Blutes“) und somit auch mit religiösen

Vorstellungen eng verwoben. Die Vorstellung der limpieza oder pureza de sangre gab es

in Spanien spätestens ab dem Jahre 1449. Sie diente dazu, Christen von Nicht-Christen,

d. h. Juden und Muslime, zu unterscheiden, selbst wenn letztere zum Christentum kon-

vertiert waren (sogenannte conversos). Dabei glaubte man, dass die „Essenz“ über das

Blut und die Muttermilch an die Nachkommen weitergegeben wurde. „Reinen Blutes“

war eine Person, die von christlichen Eltern abstammte (Böttcher & al. 2011; Hering

Torres 2011, Stolcke 1992: 101). Insbesondere nach dem Abschluss der reconquista, der

Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den Mauren und der Vertreibung der Ju-

den aus Spanien 1492, wurde die Doktrin der limpieza de sangre zur Abgrenzung von

den conversos immer wichtiger. Die „Reinheit des Blutes“, d. h. die Abstammung von

„alten“ Christen, musste mit Zertifikaten nachgewiesen werden, um bestimmte Ämter

ausüben zu dürfen oder um Mitglied in Gilden zu werden (Lomnitz 2001: 341). Die

Übertragung des Konzepts der limpieza de sangre auf Indigene und afrikanische Skla-

ven/innen und deren „gemischte“ Nachkommen beruhte vor allem darauf, dass diese

ebenfalls religiös andersgläubig waren. Selbst wenn sie konvertiert waren, misstraute

man – oft zu Recht – ihrer Standfestigkeit im christlichen Glauben. Mit der Bezeich-

nung der castas sollten die „Gemischten“ als eigene und geschlossene soziale Kategorie

hervorgehoben werden.

Im Laufe der Zeit erfolgte eine Verschiebung von der Bedeutung der genealogisch

bestimmten Abstammung (linaje), hin zu einer soziokulturellen Zuordnung. Die Ideo-

logie der limpieza de sangre entwickelte sich von einem moralisch-religiösen Konzept

mit Bezügen zur sozialen Identität und Hierarchie zu einer modernen „rassischen“ Vor-

stellung über sozioökonomische Ungleichheit im 18. Jahrhundert (Burns 2007; Stolcke

2009). Einige Historiker/innen sprechen bereits für die Kolonialzeit von „Rasse“. Dies-

bezüglich ist es jedoch wichtig, das Konzept zu historisieren, wie es etwa Böttcher & al.

(2011: 10) tun, indem sie betonen, dass „Rasse“ Mitte des 15. Jahrhunderts „Abstam-

mung“ bedeutete, sich jedoch zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf „befleckte Abstam-

mung“ bezog und in dieser Bedeutung auch ein Synonym für die „Unreinheit“ des Blu-

7 Nachkommen von spanischen/kreolischen und mestizischen Eltern. 8 Nachkommen von mulattischen und spanischen Eltern.

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tes darstellte. Mestizisierung war demnach eine Mischung aus guter und schlechter Ras-

se bzw. linaje, die über die Hautfarbe äußerlich sichtbar wurde.

4. Weitere Formen der sozialen Organisation

Das sistema de castas war nicht das einzige Modell, mit dem sich die koloniale Gesell-

schaft in Neuspanien beschreiben ließe. Die anderen Systeme folgten teilweise einer

anderen Logik als der des sistema de casta und deren soziale Grenzziehungen lagen quer

zu jenen der sociedad de castas.

Zum einen ist hier das Modell der zwei Republiken, der dos repúblicas, zu nennen

(siehe Schüren [3.2] in diesem Band). Dabei ist hervorzuheben, dass die räumliche

Trennung der Bevölkerung in república de españoles und república de indios nicht strikt

eingehalten wurde. Zahlreiche juristische Vorgänge zeigen, dass es eine große Zahl so-

wohl temporärer als auch dauerhafter Grenzüberschreitungen gab; dies gilt sowohl für

die ländliche als auch, in noch viel größerem Ausmaß, für die städtische Gesellschaft.

Außerdem stimmten die Fiskalkategorien, also die Einteilung in Tributpflichtige und

Personen, die Tribut erhielten, nicht mit der Aufteilung in zwei Republiken überein. Die

Indigenen, die in der república de indios vor spanischer Ausbeutung geschützt werden

sollten, mussten dennoch Tribut bezahlen, allerdings mit Ausnahme der Adligen, die

teilweise selbst Tribut erhielten. Schwarze und Mulatten hatten ebenfalls Tribut zu ent-

richten, waren jedoch der república de españoles zugeordnet, ebenso wie Mestizen, die

wiederum von der Tributpflicht befreit waren (Cope 1995: 18f; Vinson 2001: 132). Da-

mit war also auch die Frage, ob man zur Gruppe der Tributpflichtigen gehörte, ein

wichtiges Unterscheidungskriterium, das für viele der Betroffenen im Alltag besonders

bedeutsam gewesen sein dürfte.

Neben der Grenzziehungen zwischen Indigenen und Spanier/innen sowie castas in

den beiden repúblicas, kam für die indigene Bevölkerung noch eine weitere hinzu ein

Phänomen, das Cope als „doppelte Grenze“ (1995: 5) bezeichnet hat: die Aufteilung in

weitere „ethnische“ und / oder Sprachgruppen, wie beispielsweise die der Otomí, Taras-

ken oder Mixteken, auf die im nächsten Abschnitt genauer eingegangen wird.

Schließlich ist noch die Unterteilung in gente de razón* (Vernunftmenschen) und in-

dios zu nennen. Zur gente de razón zählten sowohl Spanier als auch die afrikanisch-

stämmige Bevölkerung, die Indigenen hingegen wurden gewissermaßen als Minderjäh-

rige betrachtet. Die Indigenen konnten als solche bekehrt werden, unterlagen einer ei-

genen Gerichtsbarkeit und galten als schutzbedürftig (Gabbert 2004: 18). Die afrika-

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nisch-stämmige Bevölkerung wurde hingegen als moralisch niedrig stehender angese-

hen und stammte angeblich von Noahs Sohn Ham ab (Wade 2000: 15).

5. Das Beispiel Michoacán

Abschließend soll nun die Rolle der indigenen Bevölkerung für eine Region Neuspani-

ens exemplarisch detaillierter dargestellt werden: die Provinz Michoacán im Westen des

heutigen Mexiko, die in etwa der Ausdehnung des vorspanischen taraskischen9 Staates

entsprach. Der taraskische Staat hatte sich, ähnlich wie das aztekische Imperium, in der

späten Postklassik (ca. 1200–1521) entwickelt und umfasste das Gebiet des heutigen

Bundesstaates Michoacán sowie Teile von Guerrero, Guanajuato und Jalisco. Zum Zeit-

punkt der insgesamt verhältnismäßig friedlich abgelaufenen spanischen Eroberung lag

die Hauptstadt in Tzintzuntzan am Ufer des Pátzcuaro-Sees.10

Noch bevor die Spanier in direkten Kontakt mit dem taraskischen Staat traten, starb

der taraskische Herrscher Zuangua, genannt irecha oder cazonci, an den Pocken. Ihm

folgte 1521 der junge Tzintzicha Tangáxoan II an die Macht. 1522 erreichte Cristóbal de

Olid, der als Eroberer Michoacáns gilt, Tzintzuntzan, wobei es in der ersten Phase statt

einer militärischen Eroberung vielmehr Abkommen zwischen den Spaniern und dem

taraskischen Herrscher gab.

In den folgenden Jahren wurde Michoacán von zwei Herrschern gleichzeitig regiert:

Einerseits dem irecha, der nach wie vor über beträchtliche politische Macht verfügte

und Tribut eintrieb, und andererseits der spanischen Regierung. 1528 kam Nuño de

Guzmán, der Präsident der ersten audiencia*, nach Neuspanien. Er ließ Tzintzicha

Tangáxoan nach einem Schauprozess hinrichten. Unterstützt wurde Guzmán dabei von

Pedro Cuinierángari, einem Adoptivbruder des letzten irecha, der auch die Aussagen

über die spanische Eroberung in der wichtigsten Quelle zum taraskischen Staat, der Re-

lación de Michoacán11, stark beeinflusst hat.

9 Zur Frage der Bezeichnung Tarasken oder P’urhépecha siehe Albiez-Wieck (2011: Kap. 1) und

Márquez Joaquín (2007). Ich verwende die (auch nicht unproblematische) Bezeichnung Tarasken, da

die Bezeichnung Purhépecha zu jener Zeit nur das „breite Volk“ umfasste. Die Tatsache, dass es unter

Wissenschaftler/innen keine Einigkeit über die Selbstbezeichnung der „Tarasken“ in vorspanischer

Zeit gibt, könnte meines Erachtens ein Hinweis darauf sein, dass diese Selbstbezeichnung nicht exis-

tierte, weil sich die Tarasken nicht als eine Gruppe, als „vorgestellte Gemeinschaft“, sahen. 10 Zum Ablauf und zur Analyse der Eroberung Michoacáns ist nach wie vor die Monografie von Warren

(1985) die beste Studie. Eine gute Überblicks- und Einstiegslektüre über Michoacán in der Kolonial-

zeit ist Castro Gutiérrez (2004). 11 „Bericht über Michoacán“: Dies ist die wichtigste Quelle zum vorspanischen taraskischen Staat und

der frühen Kolonialzeit, eine gute Ausgabe derselben ist: de Alcalá (2008).

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3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft

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Abb. 2: Genealogie der Nachkommen Tzintzicha Tangáxoans. Aus: Castro Gutiérrez (2004: 58)

In der Folge wurde die Macht der indigenen Adligen eingegrenzt. Auf lokaler und

auch regionaler Ebene verfügten sie jedoch weiterhin über bedeutendes Gewicht. Dies

galt insbesondere für die Nachfahren und enge Verwandte Tzintzicha Tangáxoans (sie-

he Abb. 2), von denen z. B. mehrere bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Gouverneure

der Hauptstadt Michoacán waren. Diese wurde von den Spaniern, insbesondere auch

auf Betreiben des Bischofs Vasco de Quiroga (1470–1565), im Jahre 1538 nach Pátzcua-

ro und von dort 1580 nach Guayangareo-Valladolid (heute Morelia, Hauptstadt des

Bundesstaates Michoacán) verlegt. Als Gouverneure der Hauptstadt von Michoacán

hatten sie Einfluss auch weit über diese Stadt hinaus und erhielten nach wie vor Tribut-

zahlungen aus anderen Orten. Auch adlige Frauen hatten teilweise erhebliche politische

und wirtschaftliche Macht, wie etwa Beatriz de Castilleja, ebenfalls eine Nachfahrin

Tzintzicha Tangáxoans, die mit dem Spanier Pedro de Ábrego verheiratet war und die

encomienda des wichtigen Ortes Ihuatzio erhielt (Becerril Patlán & Cerda Farías

2005: 184; Roskamp 1998: 154) oder Doña Ana Ocelo, die nahuatlsprachige Mutter von

Constantino Huitzimengari, einem illegitimen Sohn des letzten irecha, welche in Quel-

len als „principal y cacica“ (Paredes Martínez 1994: 369), als Adlige und Kazikin be-

zeichnet wird und zahlreiche Ländereien besaß (López Sarrelangue 1965: 210–211).

Auch später während der Kolonialzeit hatten Nachkommen der wichtigsten Adelsfami-

lien bedeutsame Positionen in der indigenen Verwaltung, dem cabildo indígena, inne

(siehe Schüren [3.2] in diesem Band).

Insbesondere in der Anfangszeit gab es sowohl innerhalb der Gruppe der indigenen

Adligen als auch zwischen Adligen und Nicht-Adligen zahlreiche Konflikte um die Ver-

teilung von Machtpositionen, Ländereien und Tribut. Der Umzug der Hauptstadt Mi-

choacáns von Pátzcuaro nach Tzintzuntzan etwa war von heftigen Protesten begleitet.

nahuatlsprachige Adlige aus Tzintzuntzan, von denen einige äußerst einflussreich wa-

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3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft

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ren, spielten in diesem Kontext eine wichtige Rolle (Albiez-Wieck 2011: Kap. 6.3; Ros-

kamp 2010).

Die Frage des Standes war sehr bedeutsam für das Leben im kolonialen Michoacán,

da er darüber entschied, ob Tribute zu zahlen und Arbeitsdienste zu leisten waren oder

nicht. Viele indigene Adlige konnten ihre Rechte aus vorspanischer Zeit zumindest in

reduziertem Umfang beibehalten. Außerdem genossen sie teilweise ähnliche Vorrechte

wie Spanier, etwa das Tragen von Waffen und das Reiten von Pferden. In den ersten

Jahrzehnten nach der Eroberung gab es jedoch einen erhöhten Grad an sozialer Mobili-

tät, und auch der Wechsel des Standes war in bestimmten Fällen möglich. Im Laufe der

Zeit kam es unter den Indigenen zu einem Prozess der sozialen Angleichung. Dies be-

deutete, dass einige indigene Adlige in der Gruppe der Kreol/innen aufgingen, ein gro-

ßer Teil jedoch nicht mehr als adlig angesehen wurde.12 Im Bereich der Verwaltung,

Religion, Kleidung und Nahrung setzten sich spanische Elemente je nach Region und

Bereich in unterschiedlicher Geschwindigkeit durch, so dass viele vorspanische Elemen-

te vor allem in den ersten Jahrzehnten nach der Eroberung im alltäglichen Leben erhal-

ten blieben.13

Nach der Eroberung veränderte sich das Leben der nicht-adligen Bevölkerung neben

teilweise neuen Tributpflichten vor allem auch durch die Missionierung. Außerdem

wurde die verstreut lebende Bevölkerung gegen Ende des 16. Jahrhunderts in sogenann-

te congregaciones, zentralliegende Gemeinden, umgesiedelt. Des Weiteren verschwan-

den Berufsgruppen und neue entstanden. Insbesondere der Bischof Vasco de Quiroga

förderte das Ausüben bestimmter Handwerke und die Spezialisierung ganzer Dörfer auf

einen Handwerkszweig. Auch unter der spanischen Herrschaft gab es eine geschlechts-

spezifische Trennung der Aufgabenbereiche.

Neben der Frage des Standes waren auch der Wohnort, das Geschlecht sowie der

ausgeübte Beruf äußerst bedeutsam für das Leben der indigenen Bevölkerung. Doch

welche Bedeutung besaß die Ethnizität? Wie oben für ganz Neuspanien dargelegt, gab es

auch in Michoacán eine soziale Trennung durch die beiden Republiken und die

sociedad de castas. An der Genealogie der Herrscherfamilie Huitzimengari kann man

jedoch erkennen, dass diese Trennung, insbesondere in den Anfangsjahren, nicht sehr

gefestigt war; es gab beispielsweise Heiraten zwischen Spanier/innen und indigenen Ad-

ligen. Für die späte Kolonialzeit fehlen bislang noch detaillierte Untersuchungen.

12 Dieser Prozess wird von einigen Autoren als „Purepechisierung“ (Martínez Baracs 1997: 110; Paredes

Martínez 2008: 105–106) bezeichnet, in Analogie zur „Macehualisierung“ in Zentralmexiko (macehual

– Angehöriger des breiten Volkes, Nicht-Adliger). 13 Vgl. zu diesem Thema in Zentralmexiko Lockhart (1992).

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3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft

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Und was bedeutete die „doppelte Grenze“ für die indigene Bevölkerung? Im taraski-

schen Staat und im kolonialen Michoacán wurden viele verschiedene Sprachen gespro-

chen, wobei die bedeutsamsten das Taraskische, das Nahuatl sowie verschiedene Spra-

chen der Otopame-Sprachgruppe darstellten. Einige dieser sprachlichen Gruppen ha-

ben sich im Laufe der Zeit zu ethnischen Gruppen entwickelt. Die Taraskischsprachigen

beschreiben sich selbst heute kollektiv als P’urhépecha und werden im mexikanischen

Nationalstaat als ethnische Gruppe adressiert. Allerdings ist auch heute oft noch die

Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft wichtiger als die zu einer ethnischen indigenen

Gruppe. Die meisten Wissenschaftler/innen setzen für die Kolonial- und auch für die

vorspanische Zeit unhinterfragt die verschiedenen Sprachgruppen mit ethnischen

Gruppen gleich. Ein genauerer Blick auf die Quellen zeigt jedoch, dass diese angeblichen

ethnischen Gruppen nicht so leicht zu fassen sind, wie es auf den ersten Blick erscheinen

mag.14

In Prozessakten und anderen Quellen gibt es zwar Selbstzuschreibungen zur „Nati-

on“ der Tarasken oder Otomí, doch geschieht dies fast ausschließlich auf lokaler Ebene,

so dass nicht unbedingt davon auszugehen ist, dass es ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer

größeren ethnischen Gruppe gab.15 Allerdings stehen die Prozessakten oft in Zusam-

menhang mit dem Streit um Landrechte, und die Ansprüche auf das Land werden mit

einer gemeinsamen, früheren Besiedlung, d. h. einer gemeinsamen Migration begründet

− ein häufiger Topos in der Ethnogenese. Castro Gutiérrez (2003: 294) hat jedoch ge-

zeigt, dass bei den Aufständen in Tzintzuntzan im 16. Jahrhundert keinerlei „ethnische

Solidaritäten“ existierten.16 Außerdem ist die Gleichsetzung ethnischer Gruppen mit

Sprachgruppen unhaltbar; Gabbert (2006: 92) bezeichnet die Gleichung „eine Sprache –

eine Kultur – ein Volk“ daher als „unheilige Dreifaltigkeit“. In den Relaciones Geográfi-

cas gibt es widersprüchliche Aussagen darüber, ob es Unterschiede zwischen den

Sprachgruppen gab, die auf eine gemeinsame Identität aller Sprecher/innen einer Spra-

che hinweisen. Roskamp (2003) hat in seiner Untersuchung der frühkolonialen Tribut-

14 Für eine ausführlichere Diskussion dieses Problems siehe Albiez-Wieck (2013). 15 Gabbert (2004: xiii) argumentiert überzeugend, dass erst von einer ethnischen Gruppe zu sprechen sei,

wenn es eine „vorgestellte Gemeinschaft“ oberhalb der „face-to-face“ Gruppe gibt. Zum Begiff nación,

der in den Quellen häufig verwendet wird, wenn etwa von Otomí, Tarasken oder Matlatzinca die Rede

ist, ist darauf hinzuweisen, dass seine Bedeutung sich im 16. Jahrhundert von der heutigen unter-

schied. Wie Guidicelli (2010) für die Provinz Nueva Vizcaya gezeigt hat, waren zudem die Kriterien

für die Klassifikation einer Gruppe oder einer Person zu einer bestimmten nación höchst unterschied-

lich, je nachdem, welche Person oder Institution die Klassifikation vornahm; Sprache stellte dabei ein

häufiges, jedoch beileibe nicht das einzige Kriterium dar. 16 Außerdem ist er der Ansicht, dass die kollektive Identität nicht über die Ebene der Haupt-Gemeinde,

der cabecera, hinausging.

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3.3 Albiez-Wieck: Indigene als Teil der Kolonialgesellschaft

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listen aus Cutzio und Huétamo gezeigt, dass dort Otomí und Tarasken scheinbar unter-

schiedlich besteuert wurden.

Ähnlich wie im Rest Neuspaniens gab es somit für die indigene Bevölkerung West-

mexikos eine Vielzahl von Zugehörigkeiten und Identitäten, die ihren Alltag bestimm-

ten – es handelte sich keineswegs um eine homogene Gruppe, deren Mitglieder alle die

gleiche Position in der Gesellschaft einnahmen. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts,

teilweise aber auch darüber hinaus, hatte namentlich die Gruppe der indigenen Adligen,

nicht zuletzt durch die größtenteils friedliche Eroberung des taraskischen Staates, wei-

terhin eine machtvolle Position inne.

6. Fazit

Die sozialen Ein- und Ausschlussmechanismen in der Kolonialzeit waren wesentlich

komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn von der indigenen Bevöl-

kerung der Kolonialzeit die Rede ist, muss für jeden konkreten Fall eine Vielzahl von

Faktoren in Betracht gezogen werden: casta, sozialer Stand, Beruf, Gender, Wohnort

(Stadt oder Land und Region innerhalb Neuspaniens), sowie auch die spezifischen Ver-

hältnisse des jeweiligen Zeitabschnitts. Verschiedene der hier beschriebenen, sich über-

lappenden und teilweise widersprechenden sozialen Grenzziehungsmechanismen dau-

erten auch nach der Kolonialzeit an. Die Übergangszeit hin zu einer nationalstaatlichen

Klassengesellschaft, von etwa 1750 bis 1929, wird als „das lange 19. Jahrhundert“ oder

als Middle Period bezeichnet (siehe Beitrag Kummels [3.4] in diesem Band)