1 Erschienen in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47/10 (1999), S. 874-891. Árpád v. Klimó Die gespaltene Vergangenheit. Die großen christlichen Kirchen im Kampf um die Nationalgeschichte Ungarns 1920-48. Am 17. Juli 1948 schrieb Monsignore Zsigmond Mihalovics 1 „Die Protestanten haben sich mit den Schweizer Protestanten zusammengetan und erzielen große Erfolge. Als ob zuhause der Protestantismus nicht schmählich abgeblitzt wäre! Allein Mindszenty und die Katholiken zeigen entschiedenen und wahren Widerstand.“ aus seinem Salzburger Exil: 2 Mihalovics, einer der bekanntesten Vertreter der katholischen Kirche Ungarns der damaligen Zeit, hatte kurz zuvor heimlich das Land verlassen. In Salzburg nahm er Verbindung zum US- amerikanischen militärischen Abwehrdienst (C.I.C.) auf, der ihm Papiere besorgte, mit denen er nach Rom und später in die USA weiterreisen konnte. 3 Unterdessen verurteilte ihn das Budapester Volksgericht in Abwesenheit wegen Kriegsverbrechen und Volksverhetzung zu 10 Jahren Zuchthaus. 4 1 Zsigmond Mihalovics (geboren 1889 in Homokbödöge, gestorben 1959 in Chicago), Sohn eines katholischen Gesanglehrers, studierte in Wien Theologie und wurde 1914 zum Priester geweiht. Zunächst tätig als Religionslehrer in Budapest, wurde er später Pfarrer in einem Arbeiterviertel, wo man ihn zum Präsidenten des Sportvereins wählte. 1933 zum Landesdirektor der Actio Catholica ernannt, gründete M. die ungarischen Caritas und organisierte 1938 den Eucharistischen Weltkongreß. Seit 1942 war M. Mitglied des Ungarischen Oberhauses, vgl. Keresztény Magyar Közéleti Almanach, II. Bd., Budapest 1940, S. 699; Gyula Borbándi, Magyar politikai pályaképek 1938-48, Budapest 1997, S. 297 f.; Ferenc Seres, Mihalovics Zsigmond élete és mûvei, Pilisszentlélek 1993. Das gegen ihn zusammengetragene Beweismaterial war eher dünn. Mihalovics hatte als Chefredakteur der Zeitschrift „Katolikus Actió“ zwei antisowjetische Artikel zu verantworten, die 1942 und 1944 erschienen waren. Einer der Beiträge war im August 1942 unter Titel „Auf den Spuren des Heiligen Königs“ veröffentlicht worden. Die vom Volksgericht beanstandeten Zeilen lauten folgendermaßen: 2 Kopie des Briefes an Miklós Nagy in: Történeti Hivatal, BM, oszt. III/3-c, Vizsgálati dosszié, V-700/42, Mindszenty ügy, S. 12. 3 Dies geht aus dem zitierten Brief an Nagy hervor. Für die ungarische Staatssicherheit, welche zur Reduzierung von Komplexität neigte, war Mihalovics einfach ein „C.I.C.-Agent.“, vgl. ebd., S. 57. Vgl. auch: Magyar Országos Levéltár (MOL), M-KS-276-67/214, S. 59. Aus diesem Grund folterte sie ihre Gefangenen so lange, bis die Wirklichkeit einfach und verstehbar wurde. Vgl. ebd. S. 61. 4 Budapest Fõvárosi Levéltára (i.f. BFL), Népbiróság, VII./5./e, Mihalovics Zsigmond, 3073/48.
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Die gespaltene Vergangenheit. Die großen christlichen Kirchen im Kampf um die Nationalgeschichte Ungarns 1920-48. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47/10 (1999), S. 874-891.
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Erschienen in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47/10 (1999), S. 874-891.
Árpád v. Klimó
Die gespaltene Vergangenheit.
Die großen christlichen Kirchen im Kampf um die Nationalgeschichte Ungarns 1920-48.
Am 17. Juli 1948 schrieb Monsignore Zsigmond Mihalovics1
„Die Protestanten haben sich mit den Schweizer Protestanten zusammengetan und erzielen
große Erfolge. Als ob zuhause der Protestantismus nicht schmählich abgeblitzt wäre! Allein
Mindszenty und die Katholiken zeigen entschiedenen und wahren Widerstand.“
aus seinem Salzburger Exil:
2
Mihalovics, einer der bekanntesten Vertreter der katholischen Kirche Ungarns der damaligen
Zeit, hatte kurz zuvor heimlich das Land verlassen. In Salzburg nahm er Verbindung zum US-
amerikanischen militärischen Abwehrdienst (C.I.C.) auf, der ihm Papiere besorgte, mit denen
er nach Rom und später in die USA weiterreisen konnte.
3 Unterdessen verurteilte ihn das
Budapester Volksgericht in Abwesenheit wegen Kriegsverbrechen und Volksverhetzung zu 10
Jahren Zuchthaus.4
1 Zsigmond Mihalovics (geboren 1889 in Homokbödöge, gestorben 1959 in Chicago), Sohn eines katholischen
Gesanglehrers, studierte in Wien Theologie und wurde 1914 zum Priester geweiht. Zunächst tätig als
Religionslehrer in Budapest, wurde er später Pfarrer in einem Arbeiterviertel, wo man ihn zum Präsidenten
des Sportvereins wählte. 1933 zum Landesdirektor der Actio Catholica ernannt, gründete M. die
ungarischen Caritas und organisierte 1938 den Eucharistischen Weltkongreß. Seit 1942 war M. Mitglied des
Ungarischen Oberhauses, vgl. Keresztény Magyar Közéleti Almanach, II. Bd., Budapest 1940, S. 699;
Gyula Borbándi, Magyar politikai pályaképek 1938-48, Budapest 1997, S. 297 f.; Ferenc Seres, Mihalovics
Zsigmond élete és mûvei, Pilisszentlélek 1993.
Das gegen ihn zusammengetragene Beweismaterial war eher dünn.
Mihalovics hatte als Chefredakteur der Zeitschrift „Katolikus Actió“ zwei antisowjetische
Artikel zu verantworten, die 1942 und 1944 erschienen waren. Einer der Beiträge war im
August 1942 unter Titel „Auf den Spuren des Heiligen Königs“ veröffentlicht worden. Die
vom Volksgericht beanstandeten Zeilen lauten folgendermaßen:
2 Kopie des Briefes an Miklós Nagy in: Történeti Hivatal, BM, oszt. III/3-c, Vizsgálati dosszié, V-700/42,
Mindszenty ügy, S. 12. 3 Dies geht aus dem zitierten Brief an Nagy hervor. Für die ungarische Staatssicherheit, welche zur Reduzierung
von Komplexität neigte, war Mihalovics einfach ein „C.I.C.-Agent.“, vgl. ebd., S. 57. Vgl. auch: Magyar
Országos Levéltár (MOL), M-KS-276-67/214, S. 59. Aus diesem Grund folterte sie ihre Gefangenen so
lange, bis die Wirklichkeit einfach und verstehbar wurde. Vgl. ebd. S. 61. 4 Budapest Fõvárosi Levéltára (i.f. BFL), Népbiróság, VII./5./e, Mihalovics Zsigmond, 3073/48.
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„Der Befehlshaber der in die ukrainischen Weiten gesandten ungarischen Truppen ordnete an,
daß an bedeutenden Weggabelungen und Ortseingängen, überall, wo der Triumphzug die
ungarischen Truppen hinführt, sie zur Mahnung auf jedem dritten Erdhügel das apostolische
Doppelkreuz errichten sollen. Diese Mahnmale sollen einen Zaun bilden und das heilige
Zeichen der russischen und ungarischen Erlösung sein! Laßt uns würdig auf dem Pfade des
Heiligen Stephan gehen, als Schutzwehr des Christentums!“5
Zweifellos sakralisierte der Autor dieser Zeilen damit die ungarische Teilnahme beim Angriff
auf die Sowjetunion. Zugleich unterlegt er den „Kreuzzug“ mit historischem Sinn. Damit wird
das Ereignis zu einer mit religiöser Bedeutung aufgeladenen historischen Erzählung. Um die
Formulierung solcher Erzählungen soll es im folgenden Beitrag gehen, sein Thema ist die
konfessionelle Semantik nationaler Geschichtskonstruktionen in Ungarn zwischen 1920 und
1948.
Das Zitat interpretiert die ungarische Kriegsteilnahme im Rahmen der Idee des „Reiches des
Heiligen Stephan“.6 Diese Vorstellung definiert Ungarn als das abendländische Bollwerk
gegen die Gefahr aus dem „Osten“. Zugleich impliziert die Stephans-Idee die Dominanz der
katholischen Kirche im Land. Daraus ergaben sich, wie im folgenden gezeigt wird, zahlreiche
Konflikte mit dem ungarischen Protestantismus. Dieser neigte einer anderen Version der
ungarischen Nationalgeschichte zu, in welcher die „Freiheitskämpfe des ungarischen Volkes“
im Mittelpunkt standen.7
Im anfangs zitierten Brief wirft der Leiter der Actio Catholica den ungarischen Protestanten
vor, nicht ebenso Widerstand gegen den Kommunismus zu leisten wie Kardinal Mindszenty
und die katholische Kirche. Zugleich schwingt in dem Wort „abgeblitzt“ das triumphale
Ihr jeweils exklusiver Anspruch auf die nationale Geschichte führte
dazu, daß die beiden größten christlichen Kirchen Ungarns sich in Krisenzeiten mißtrauten
und nicht kooperieren konnten. So etwa 1948, als sich der Druck der stalinistischen
Machthaber auf die Kirchen, als letzte noch relativ autonome gesellschaftliche
Organisationen, zunehmend verstärkte.
5 Zit. n. ebd., S. 6 f. 6 Vor 1918 bedienten sich hauptsächlich die Habsburger der Heilige Stephans-Tradition und der mit ihr
verbundenen Vorstellung Ungarns als Regnum Marianum. Vgl. Katalin Sinkó, Árpád versus Saint István.
Competing Heroes and Competing Interests in the Figurative Representation of Hungarian History (erstm.
1989), in: Tamás Hofer (Hg.), Hungary between „East“ and „West“. Three Essays on National Myths and
Symbols, Budapest 1994, S. 9-26. 7 Bis 1945 war der Árpádenkult auch unter Protestanten verbreitet. Sinkó, Árpád, S. 20.
3
Gefühl mit, die ungarische Nation habe die katholische Kirche als ihre wahre Vertreterin
erkannt, während sie den Protestanten den Rücken kehre.8
Seit der Reformation wurde in Ungarn immer wieder um die konfessionelle Repräsentation
nationaler Identität gerungen.
9 Der konfessionelle Dualismus in Ungarn äußerte sich sogar im
Sprachgebrauch: Jede der beiden großen Konfessionen benutzte eine eigene Vokabel für das
Wort „Christ“. Während die Reformierten das ältere Wort „keresztyén“ verwenden,
bezeichnet sich ein katholischer Christ als „keresztény“.10 Nicht zufällig stritten sich
ungarische Gelehrte seit dem 17. Jahrhundert darum, welche Vokabel die „ungarischere“
sei.11 Während die einen grammatikalische Argumente für „keresztyén“ ins Feld führten,
betonten die anderen die sprachhistorische Richtigkeit von „keresztény“, da fast alle religiösen
ungarischen Begriffe aus dem slawischen Sprachraum stammten. Im „Ungarischen
Katholischen Lexikon“ von 1932 werden protestantische Schriftsteller und Redner für den
Gebrauch des Wortes „keresztyén“ mit den Worten kritisiert: „Diese künstliche Archaisierung
kann unmöglich richtungsweisend für den Sprachgebrauch sein.“12
Doch obwohl der konfessionelle Dualismus in Ungarn eine Jahrhunderte andauernde
Erscheinung war, muß man betonen, daß er weder kontinuierlich noch gleichförmig noch
alternativlos war. Vielmehr zeigt sich, daß die beteiligten Deutungseliten das dualistische
Schema in Konfliktzeiten immer wieder neu konstruierten, um durch ein klares Feindbild die
eigene Identität zu erneuern.
13
8 Im Oktober 1947 verkündete Kardinal Mindszenty vor 3000 Vertretern der Kirchengemeinden: „Die Nation
sind wir!“ Zit. n. Zsigmond Mihalovics, Mindszenty, Ungarn, Europa. Ein Zeugenbericht, Karlsruhe o. J.
[1949], S. 166.
Der konfessionelle Dualismus ist bei politischen
9 Zum Verhältnis der Konfessionen im 19. Jahrhundert siehe: Péter Hanák, Ungarn in der Donaumonarchie,
Budapest 1984, S. 337-340. 10 Beide Wörter stammen von einer südslawischen Sprache ab (Kroatisch bzw. Slowenisch). Seit dem
14. Jahrhundert ist „keresztyén“ nachgewiesen. Ungarische Etymologen vermuten, daß das ältere Wort
„keresztyén“ später von religiösen Gruppen verwendet wurde, um deren Hinwendung zu einem
„ursprünglichen“ Christentum zu betonen und um sich von der katholischen Kirche, die die neuere Form
„keresztény“ benutzte, abzugrenzen. Vgl. A Magyar nyelv történeti-etimológiai szótára, Bd. 2, Budapest
1970, S. 459 f. 11 Bertalan Biró, Art. „Keresztény“, in: Magyar Katolikus Lexikon, hrsg. v. Béla Bangha, Bd. III, Budapest 1932,
S. 32. 12 Ebd. 13 Zum Begriff „Deutungseliten“: Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit,
Frankfurt a. M. 1993, S. 66 ff.
4
Auseinandersetzungen nur eine diskursive Strategie unter anderen.14 Mit dem modernen
Nationalismus wurde auch die konfessionelle Frage neu verhandelt, nun im alleinigen Bezug
auf die Nation und deren Geschichte, nicht mehr im Bezug auf die Dynastie.15
Anhand historischer Kulte, mit denen die nationale Identität inszeniert werden, läßt sich die
genannte diskursive Strategie aufzeigen. Am Beispiel der beiden wichtigsten ungarischen
Nationalfeiertage, des Stephans-Tages (20. August) und des Gedenktages an den Beginn der
Revolution von 1848/49 (15. März) wird im folgenden dargelegt, wie konfessionelle
Deutungseliten versuchten, ihre Kirche als die nationalere und deren Interessen als die
legitimeren darzustellen. Zunächst wird der Aufstieg des Heiligen-Stephans-Kultes nach
1920, der Höhepunkt 1938 und die Folgen für das interkonfessionelle Verhältnis geschildert
(I.). Im Mittelpunkt des darauffolgenden Abschnitts steht die Neuformulierung des
ungarischen Märzkultes als antifaschstisch-nationales Gegenmodell (II.). Ein längeres
Schlußkapitel behandelt die Folgen der Polarisierung der ungarischen Geschichtskultur für das
Verhältnis der beiden großen christlichen Kirchen in der Zeit des Aufbaus der stalinistischen
Diktatur (1945-48) (III.).
I. Das Königreich ohne König und die Rolle des Heiligen-Stephans-Kultes 1938
Der 20. August 1938 war ein großer Tag für Zsigmond Mihalovics. An ihm fand in Budapest
die Heilige-Stephans-Prozession statt. Sie wurde zu einem der Glanzpunkte des von
14 „Politisch wirksam werden Sozialstrukturvariablen wie Klasse, Konfession usw. immer nur dann und nur
insofern, wie sie mit kulturellen Sinnbezügen aufgeladen sind.“ Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen
in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert,
Frankfurt a. M. 1992, S. 13. 15 Die liberale Minderheit innerhalb des ungarischen Katholizismus versuchte, die Idee der christlichen Mission
Ungarns mit dem nationalen Freiheitsgedanken zu verbinden. Als einer der wichtigsten Vertreter dieser
Richtung gilt der Historiker und Geistliche Mihály Horváth. 1848 zum Bischof von Csanád ernannt, trat er
1849 dem nationalrevolutionären Kabinett Szemere als Unterrichtsminister bei. Nach der Niederlage der
Revolution mußte er fliehen. Im Vorwort zur Neuauflage von August Ignaz Fesslers „Geschichte der
Ungarn“ (Leipzig: Brockhaus 1867, S. VII), die ein evangelischer Pfarrer bearbeitet hatte, stellte er fest,
daß „wie im nationalen, so [...] auch im religiösen und staatlich-politischen Leben (die Freiheit) fortwährend
das höchste Ziel des Ungars (war).“ Daher sei der konfessionelle Konflikt in Ungarn nie so ausgeprägt
gewesen wie andernorts. Zur Person Horváths: Magyar Életrajzi Lexikon, Bd. I., Budapest 1967, S. 749.
Am 15. März 1948 benannte das Nationalkomitee des VIII. Bezirks in Budapest einen Platz nach „dem
heldenhaften Bischof des Freiheitskampfes“.
5
Mihalovics organisierten Eucharistischen Weltkongresses. 800 000 Besucher strömten in
diesem Jahr zu der jährlich stattfindenden Prozession. Besonderen Glanz erhielt sie durch die
Teilnahme des vatikanischen Staatssekretärs Eugenio Pacelli (der ein Jahr später Papst wurde)
sowie durch das Beisein von nicht weniger als 15 Kardinälen, 48 Erzbischöfen und 197
Bischöfen.16
Mihalovics war im November 1932 zum Direktor der neugegründeten Actio Catholica (A. C.)
Ungarns ernannt worden.
17 Die A. C. hatte die Aufgabe, von ihrem kleinen Budapester Büro
am Franziskanerplatz aus alle katholischen Laienverbände des Landes zu gemeinsamen
Aktionen zusammenzufassen. Zu diesen gehörten die Marienkongregationen, die
Eucharistischen Vereine und zahllose Mädchen-, Knaben-, Arbeiter-, Landarbeiter-,
Studenten, Frauen- und Männervereine. Zur Vorgängerorganisation der A. C., dem
Katholischen Landesbund (Országos Katolikus Szövetség), zählten im Jahr 1922 etwa 1600
katholische Vereine.18
Mihalovics selber plante im Arbeitsprogramm der A.C. für 1938/39 eine wahre
Propagandaschlacht. Neben „Vorträgen mit Dia-Schau, Gedichten, Theater und anderen
Programmen zur Volkserziehung sollten Vorträge gehalten werden über Themen wie 'Sankt
Stephan und die Wirtschaft', 'Sankt Stephan und die bürgerlichen Rechte' oder 'Der kirchliche
Besitz als nationales Interesse'.“
Dieses riesige Organisationsnetz wurde 1938 zur Unterstützung des
Eucharistischen Weltkongresses und der ihn begleitenden Veranstaltungen herangezogen.
Doch das Andenken an den Gründerkönig sollte nach den Feiern nicht vergessen, sondern der
Nation nachhaltig in Erinnerung bleiben. Aus diesem Grund verabschiedete das ungarische
Parlament am 18. August 1938 das Gesetz XXXIII „über die Verewigung des ehrenvollen
Andenkens an König István“.
19 Zweitens sollten die katholitschen Volksbüchereien ihre
Bestände um Werke über Stephan und eucharistische Literatur aufstocken. Drittens sollten die
Schmalfilme vom Eucharistischen Weltkongreß und der Heiligen-Stephans-Feier gezeigt
werden. Viertens forderte Mihalovics: „Wir sollten zur Verewigung des Andenkens an den
Heiligen König für die Umbenennung von Straßen, Plätzen, Brunnen werben.“20
Der Eucharistische Weltkongreß stand im Zeichen des Stephansjahres, das aus Anlaß des 900.
Todestages des ungarischen „Staatsgründerkönigs“ begangen wurde. Der ungarische Staat und
16 Jenõ Gergely, A katolikus egyház története Magyarországon 1919-1945, Budapest 1997, S. 233. 17 Seres, Mihalovics, S. 31. 18 Gergely, A katolikus egyház, S. 127. 19 Esztergomi Primási Levéltár (i.f. EPL) 3571/38, 24. August 1938, S. 4. 20 Ebd.
6
zahlreiche gesellschaftliche Organisationen und Privatpersonen unterstützten die
Feierlichkeiten, denn mit der „Heiligen-Stephans-Idee“ ließen sich verschiedene, teilweise
auch widersprüchliche Interessen verbinden.
So wurde der Stephans-Kult einerseits zur historischen Rechtfertigung der inneren und
äußeren Gestalt des damaligen politischen Systems unter Reichsverweser Admiral Miklós
Horthy herangezogen. Damit verband sich die sogenannte „christlich-nationale“ Idee. Zum
anderen repräsentierte der Stephans-Kult die Zusammenarbeit zwischen dem politischen
System und der katholischen (teilweise auch der protestantischen) Kirche(n).
Wenden wir uns zunächst den Funktionen des Stephans-Kultes für das Horthyregime zu.
Dieses auf das Militär und die herrschenden Schichten (Aristokratie, Bürokratie, Kapital)
gestützte, in den 1920er Jahren durch Kompromißformeln auf breitere soziale Schichten
ausgeweitete System definierte sich von Beginn an als „christlich-nationale“ Antwort auf die
1918/19 gescheiterte bürgerliche Revolution und besonders die darauf folgende kurzlebige
Räterepublik − in einem weiteren Sinne als eine historisch notwendige Überwindung von
Liberalismus und Sozialismus.
Außenpolitisches Hauptziel war die Revision des von allen politischen Gruppen Ungarns,
einschließlich der 1919 verbotenen Kommunistischen Partei, als nationale Katastrophe
empfundenen Friedensvertrages von Trianon, in dem etwa zwei Drittel des Territoriums des
ungarischen Königreichs den Nachbarstaaten zugesprochen worden war. Das
wiederhergestellte „Königreich ohne König“ (denn weder die Alliierten noch Horthy waren an
einer Restauration der Habsburgerherrschaft interessiert) stellte sich in die
„neunhundertjährige Tradition“ des Stephans-Reiches, um die Legitimität seiner
Gebietsansprüche zu unterstreichen. Dabei berief sich das Regime auf die im 19. Jahrhundert
ausgearbeitete sogenannte „Lehre der Heiligen Stephanskrone“, in deren Zentrum die
territoriale Integrität der ungarischen Kronländer innerhalb der Habsburgermonarchie stand.21
Somit diente das Stephansjahr 1938 der positiven Selbstdarstellung der ungarischen Nation,
ihrer kulturellen und moralischen Stärke wie ihrer Überlegenheit gegenüber den
Nachbarländern, und nicht zuletzt auch der Steigerung des Fremdenverkehrs.
22
21 János M. Bak/ Anna Gara-Bak, The Ideology of a „Millennial Constitution“ in Hungary, in: East European
Quarterly XV (1981), S. 307-326; die Weiterentwicklung der Staatslehre um die „Heilige Krone” in der
Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt: József Kardos, A Szent Korona-tan története (1919-44),
Budapest 1985.
Neben den
religiösen Feierlichkeiten gab es ein umfangreiches Rahmenprogramm mit zahlreichen
22 Siehe dazu etwa die Akten des Budapester Fremdenverkehrsamtes: BFL, IV. 1501. (1916-44), 294.dob.
7
kulturellen Veranstaltungen (Konzerte, Oper, Operette, Theater), Sportereignissen und einem
großen Abschlußfeuerwerk. Der Budapester Oberbürgermeister Ferenc Ripka hatte bereits
1927 die Publikation einer historischen Studie zum Heiligen-Stephans-Tag angeregt, um zu
in den Jahrhunderten unserer nationalen Geschichte heran(reifte).”23 In seinem Vorwort hob
Ripka hervor, daß die Feier den emotionalen Zusammenhalt der Nation stärken und ein
positives Image nach außen vermitteln sollte. Namentlich sollte damit das „Ungartum“
(magyarság) in den Nachbarstaaten angesprochen werden. Zudem wollte der Bürgermeister
beweisen, daß die Heilige-Stephansprozession keine erfundene Tradition sei.24 Dies wurde
von fast allen Propagandisten der Stephans-Feiern betont, gerade weil die Budaer Prozession
eine erst im späten 18. Jahrhundert von Jesuiten am Hofe Maria Theresias entworfene
Tradition ohne historische Vorgängerin war. Der Stephanstag ging als Tag der
Heiligsprechung des staatsgründenden Königs bis ins Mittelalter zurück, wo er als Gerichts-
und Hoftag begangen wurde, nicht jedoch die Prozession der Handreliquie des Königs, der
„Heiligen Rechten“.25
23 Gyula Gábor, A Szent István-napi ünnep története. Budapest 1927, S. 2.
Der Erste Weltkrieg hatte den Charakter der Prozession in zwei
Aspekten verändert. So waren es 1916 erstmals Soldaten, welche das Reliquiar auf ihren
Schultern trugen, und nicht Geistliche wie sonst. Obwohl sich dies später nicht wiederholte,
blieb eine gewisse Militarisierung des Kultes auch nach 1918 bestehen, indem die militärische
Führung des Landes an den Feiern an prominenter Stelle teilnahm (zuvor war lediglich der
Stadtkommandant vertreten). Die zweite bedeutende Veränderung markierte die Teilnahme
des gekrönten Staatsoberhaupts, des letzten Habsburgerkönigs Karl im Jahr 1917. Dessen
Vorgänger Franz Joseph hatte, vermutlich aufgrund seines nicht spannungsfreien
24 So beschrieb etwa Prinz Franz Josef v. Habsburg den Heiligen-Stephanstag 1925 als einen Feiertag, „dessen
Angemessenheit erstens darauf beruhe, daß er das ungarische nationale Gefühl fördere und zweitens ein
Mittelpunkt des Fremdenverkehrs der Hauptstadt sein könne. [...] Die wahre Prozession zur Heiligen
Rechten ist keine neue, künstliche Handlung, sondern wahrhaft uralter traditioneller Brauch. Wenn wir
daher das Heilige-Stephans-Fest weiter auch mit großem Pomp feiern werden und mit der Organisation
nationaler Spiele und Feiern vertiefen, so wird dies auch eine Gelegenheit bieten, Ausländer nach Budapest
zu holen.” Zit. n. Gábor, Szent István-napi, S. 7. 25 Ausführlicher zur Geschichte der Prozession: György Gyarmati, A nemzettudat-hasadás ünnepi koreográfiája.
Augusztus 20. fél évszazada, in: Mozgó világ 8 (1995), S. 87-100; Árpád v. Klimó, Die Heilige Rechte.
Eine Reliquie als Gegenstand der Zeitgeschichte, erscheint in: Tagungsband „Körper Macht Geschichte -
Geschichte Macht Körper“ (Uni Bielefeld, 17./18. 12.1997). Zur Ablehnung des Kultes durch die
ungarischen Protestanten: Sinkó, Árpád, S. 13.
8
Verhältnisses zu Ungarn, niemals an der Feier teilgenommen. Horthy, ein Kalvinist, folgte
dem Beispiel Karls nach. Er schritt seit 1919 an der Spitze der Prozession voran, was die
Erhöhung der Feier zum obersten Staatsfeiertag unterstrich. Neben ihm nahmen die
Repräsentanten des Hochadels in ‘traditionellen’ Gewändern, die Dekane der Universität, die
Repräsentanten der Stadt, der Klerus und andere Stände in hierarchischer Ordnung teil.
Innenpolitisch verbanden sich mehrere Ziele mit dem Stephans-Kult. Das politische System
und die ihm zugrunde liegende soziale Ordnung, der Großgrundbesitz sollten damit nicht nur
historisch, sondern auch religiös legitimiert werden. Denn König Stephan hatte nach der
Legende seine Krone vom Papst erhalten. Damit sollten die Verfassung und die soziale
Ordnung transzendental überhöht werden. Dies begründete ein besonders enges Verhältnis
zwischen Staat und Kirchen, wobei der katholischen Kirche die Rolle eines primus inter pares
zukam und deren Primas eine hohe Position innerhalb der Verfassung einnahm.
Schon am 18. August 1919, wenige Tage nach der Machtübernahme durch Admiral Horthy,
hatte der Kultusminister verkündet, „daß im Verhältnis zwischen Kirche und Staat die Lage
vor dem 31. Oktober 1918 wiederhergestellt“ sei.26 Primas Csernoch versicherte Horthy
daraufhin, daß die katholische Kirche „mit ihrer traditionellen Treue und mit ihrer großen
moralischen Macht in Ihrer Exzellenz die gesetzliche Staatsgewalt [begrüßt] und [...] um Ihren
wirksamen Schutz [bittet].“27 Reichsverweser Horthy bezeichnete in seinem
Antwortschreiben die katholische Kirche als „die einzige Basis des Wiederaufbaus unseres
armen Vaterlandes.“28
Die katholische Kirche erhoffte sich eine Wiederherstellung ihres Einflusses auf Staat und
Gesellschaft, den sie in der Ära der Liberalen seit 1867 zunehmend verloren hatte.
Kultusminister Kúno Klebelsberg betonte, daß die „ungarische nationalistische Kulturpolitik
auf die Mitwirkung unserer historischen Kirchen nicht verzichten [kann]“.
29 Pater Béla
Bangha30
26 Andor Csizmadia, Rechtliche Beziehungen von Staat und Kirche in Ungarn vor 1944, Budapest 1971, S. 11.
, einer der einflußreichsten katholischen Publizisten und Sozialreformer der
damaligen Zeit, gab in seiner 1920 erschienenen Broschüre „Der Wiederaufbau Ungarns und
das Christentum“ dem konterrevolutionären Regime eine historische Fundierung. Danach
27 Ebd., S. 12. 28 Ebd. 29 Zit. n. Csizmadia, Rechtliche Beziehungen, S. 17. 30 Béla Bangha SJ (1880-1940), 1909 geweiht, war seit 1910 Herausgeber der „Mária Kongregáció“, gründete
1912 die Zeitschrift „Magyar Kultúra“ und war Mitorganisator des Eucharistischen Weltkongresses, vgl.
Magyar Katolikus Lexikon, Bd. 1, 1993, S. 589 f.
9
habe seit den Tagen des heiligen Stephan der christliche und nationale Gedanke Ungarn
getragen. 1848 habe die Nation diese Richtung verlassen und einen fremden, radikalen und
revolutionären Weg eingeschlagen. Damit habe sich die ungarische Wirtschaft unter dem
Druck der freien Konkurrenz der jüdischen Plutokratie, die Arbeiterbewegung entsprechend
der jüdischen Sozialdemokratie, die Kultur der die nationale Kraft schwächenden Anbetung
des Westens unterworfen.31
Auch die reformierte Kirche beteiligte sich tatkräftig am national-christlichen Programm. So
etwa in Form der 1921 gegründeten Jugendorganisation „Ungarischer reformierter
Jugendbund Soli Deo Gloria“, dessen Ziele „die Schaffung eines selbstbewußten nationalen
Lebens, die Stärkung der Missionen der Mutterkirche [...] besonders bei der zukünftigen
Generation“ waren.
32
Unter der Oberfläche der gemeinsam getragenen christlich-nationalen Propaganda verbargen
sich jedoch auch zahlreiche Konflikte, insbesondere mit den christlich-sozial orientierten
Strömungen innerhalb der Kirchen. Diese hatten schon seit längerer Zeit soziale Reformen
eingeklagt, doch war die Hierarchie auf diesem Gebiet wesentlich zurückhaltender, um nicht
zu sagen reaktionär. Die unterschiedlichen Auffassungen ließen sich aber unter dem
gemeinsamen Ziel einer Stärkung des gesellschaftlichen und politischen Einflusses der
Kirchen verbergen.
Obwohl die paranoid-apokalyptischen Vorstellungen (Tod der Nation, gekreuzigte Nation)
seit 1920 die Zusammenarbeit der großen christlichen Kirchen unter dem nationalen Dach
hätte erleichtern können, trug die religiöse Aufladung des ungarischen Nationalismus zu einer
Verschärfung des konfessionellen Dualismus bei. Die Furcht der Protestanten wuchs, von der
katholischen Mehrheitskirche an den Rand gedrückt zu werden.
Dies hing mit der allgemeinen Krise des Protestantismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
zusammen. „Als Folge der theologischen Abwertung der kirchlichen Institution, allgemein:
der Entkirchlichung und Entstehung des Kulturprotestantismus, neigten sie“, so Friedrich-
Wilhelm Graf, „zu einer religiös-moralischen Überlegitimierung des Politischen. [...]
Politische Interessenkonflikte wurden dann primär in moralischer Semantik gedeutet und aller
pragmatischer Ausgleich als 'falscher Kompromiß' denunziert. [...] Dieser protestantische
Vorrang der 'Gesinnungsethik' vor institutionsorientierter 'Verantwortungsethik' bestimmte
31 Jenõ Gergely, A politikai katolicizmus Magyarországon (1890-1950), Budapest 1977, S. 59. 32 Zit. n. János Bolyki/ Sándor Ladányi, A református egyház, in: A magyar protestantizmus 1918-48, Budapest
1987, S. 25-127, hier S. 48.
1 0
auch die Offenheit vieler Protestanten gegenüber dem modernen Nationalismus, der
wichtigsten Integrationsideologie der bürgerlichen Gesellschaft, sowie den totalitären
Vergemeinschaftungsutopien des 20. Jahrhunderts.“33
Der bereits erwähnte Jesuitenpater Bangha warb seit 1937 verstärkt um die Verbesserung der
interkonfessionellen Zusammenarbeit.
34 Bangha stellte in der „Magyar Szemle“, einer der
einflußreichsten Zeitschriften des damaligen Ungarn, die rhetorische Frage nach der
„Kersztyén Unió?“ (Christlichen Union?).35 Angesichts der drohenden Gefahren für alle
christlichen Kirchen, die nicht allein vom Bolschewismus ausgingen, sondern auch vom
deutschen Nationalsozialismus, den Bangha nur implizit erwähnte, müsse man beginnen,
einerseits die konfessionellen Gegensätze abzumildern und andererseits die religiöse
Gesinnung zu stärken.36
Ab Mitte der 1930er Jahre wurde die Frage der außenpolitischen Orientierung des Landes
immer dringlicher. Während ein Bündnis mit Deutschland zur Wiedererlangung der
verlorenen Gebiete erwogen wurde, wuchsen zugleich die Bedenken gegenüber dem
ideologischem Einfluß der Nazis auf Ungarn.
37
Der reformierte Bischof von Budapest, László Ravasz, antwortete jedoch Bangha, er habe den
Verdacht, die Katholische Kirche sei nicht an einem Dialog unter gleichrangigen Partnern
interessiert, sondern sie strebe eine Unterordnung der Protestanten an.
Papst Pius' XI. 1937 bekanntgewordene
Enzyklika „Mit brennender Sorge“ drückte die zunehmende Distanz des Vatikans zum
deutschen Nationalsozialismus aus - trotz des gemeinsamen Feindes, des Bolschewismus.
daß sowohl die Forderung nach interkonfessioneller Zusammenarbeit von katholischer Seite
wie auch die kühle Reaktion der Protestanten ausgerechnet im Vorfeld des Stephans-Jahres
formuliert wurden. Höhepunkt der Feierlichkeiten sollte neben dem von Mihalovics
organisierten Eucharistischen Weltkongreß die Zurschaustellung der Handreliquie des Königs
34 Zum folgenden: Mihály Bucsay, Geschichte des Protestantismus in Ungarn, Stuttgart 1959, Bd. 2, S. 143 f.
35 Magyar Szemle, Bd. XXIX, Nr. 114, S. 105-115. 36 Ebd., S. 115. 37 Zur Wende der 1930er Jahre: Peter Sipos, Õrségváltás szavazócédulállal - 1935, Parlamenti
képviselõválasztások 1920-1990, hrsg. v. György Földes u. László Hubai, Budapest 1994, S. 149-180;
Margit Szöllösi-Janze, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn, München 1989, S. 78 ff. 38 László Ravasz (1882-1975) hatte von 1921 bis zu seinem erzwungenen Rücktritt am 11. Mai 1948 das
Bischofsamt inne. Zur Diskussion um die Artikel von Bangha in den reformierten Kreisen: Béla Vasady,
Ábránd-é vagy lehetõség? (A keresztyén únió kérdéséhez), in: Protestáns Szemle, 47 (1938), S. 161-177.
1 1
sein. Sie wurde in einem eigens angefertigten goldenen Waggon in den wichtigsten Orten des
ganzen Landes gezeigt. Mit beiden Veranstaltungen hatte die kalvinistische Kirche Ungarns
erhebliche Probleme. So verkündete Bischof Ravasz vor der reformierten
Seelsorgervereinigung im Januar 1938: „Wie jede öffentliche eucharistische Manifestation ist
auch diese eine gegen Häretiker, Schismatiker, Irrende gerichtete religiöse Demonstration.
Dies kann nicht geleugnet, nicht vergessen werden. Die große eucharistische Versammlung
verfolgt das Ziel, abgefallene Massen zu bekehren und das Land wieder dem römischen Stuhl
anzuschließen. [...] Wir können diese Unternehmung in keiner Form unterstützen, weil wir
wissen, daß sie sich gegen uns richtet. [...] Wenn eine große christliche Kirche ein großes Fest
im Bereich ihrer eigenen Gemeinschaft feiert, nehmen wir eine wohlwollende Haltung ein und
erlauben ihr, ungestört zu feiern. Das ist eine natürliche Sache, doch nur unter der Bedingung,
daß wir weder in unserem Glauben verletzt, noch zu unserer religiösen Überzeugung
widersprechenden Handlungen gezwungen werden. Wir hoffen, daß jeglicher Versuch dieser
Art von der Staatsmacht pflichtgemäß abgewehrt wird.“39
Die Reformierte Versammlung beschloß schließlich, selbst eine internationale Veranstaltung
abzuhalten. So wurde Ende August 1938, gleichzeitig mit dem Eucharistischen Weltkongreß
in Budapest, das erste Treffen des „Reformierten Welt-Ungartums“ in Debrecen veranstaltet.
Auch die Zurschaustellung der „Heiligen. Rechten“ im ganzen Land bereitete den Kalvinisten
Probleme. Am 4. Juni 1938 berichtete „Református Élet“ (Reformiertes Leben) darüber.40
Zunächst stellt der Autor des Artikels fest, daß der goldene Waggon eine große Summe
gekostet habe, die „nicht allein die katholische Kirche, sondern auch die protestantischen“
bezahlt hätten. Das Stephans-Jahr sei aber kein Fest einer einzigen christlichen Kirche,
sondern der gesamten ungarischen Nation. Weiter ist zu lesen: „Wir Reformierte beten nicht
Heilige an, sondern nur Gott. Doch möchten wir gemeinsam mit den anderen feurigen
ungarischen Seelen den ersten ungarischen König feiern, der dem ungarischen Staat, der
ungarischen Nation das Tor nach Europa öffnete. [...] Doch sagt man uns, wir sollten uns,
wenn wir an der nationalen Feier teilnehmen wollten, 'bei der Prozession vor der Reliquie
verbeugen'. Wir brauchen aber keinen 'goldenen Waggon' dazu, um uns König Stephan zu
nähern. Dem reformierten Ungartum genügt ein einfacher Personenwagen. Wir müssen noch
einmal kraftvoll und entschieden wiederholen, auch im Namen des Blutes der nach Hause
kommenden ungarischen Reformierten, daß wir nur ein solches nationales Fest feiern können,
39 Református Élet, V. Jg., Nr. 3, 15. Januar 1938, S. 22. 40 Art. „Az aranyvonat útja“, in: Református Élet, 4. Juni 1938.
1 2
in welchem wir nicht die Rechte und Regeln unseres reformierten Glaubens verleugnen
müssen [..]. Wenn man sich schon in der Gegenwart voneinander abgrenzen und diese spalten
muß, dann ist das noch korrigierbar, aber wenn man die Vergangenheit spalten und wenn die
historischen Pfade im Zeichen konfessioneller Großmachtinteressen besetzt werden müßten,
wäre dies die tragischste Versündigung gegen die geistige Einheit des Ungartums. Soll der
von der römischen Kirche kanonisierte Heilige im Goldenen Waggon reisen. König Stephan,
der große ungarische Staatsgründer, braucht keinen Goldenen Waggon, solange seine Bahn
durch die Herzen der ihm gedenkenden Ungarn führt.“41
Neben der Ablehnung des als „katholisch“ identifizierten Reliquienkultes
42 ging es den
Reformierten hauptsächlich darum, gegen die Einverleibung des nationalen Gründerkönigs
durch die katholische Kirche zu protestieren. Deutlich formulierte dies das reformierte Blatt
drei Wochen später. Dabei wendet sich der Autor sowohl gegen rechtsextremistische
Versuche, dem Stephans-Kult einen neuheidnischen entgegenzustellen, wie erneut gegen den
sich hinter den Feiern verbergenden Machtanspruch der katholischen Kirche: „Heutzutage
muß man die Person König Stephans nach zwei Seiten hin verteidigen. Auf der einen Seite
gegen die heidnischen Wilden in Ungarn. Jenes Epos, welches die mächtige Hand König
Stephans als Spalterin der Volksseele beschreibt, sollte man bedauern.43
41 Eig. Hervorheb., zit. n. Református Élet, Nr. 26, 25. Juni 1938, S. 265.
[...] Man muß wieder
und wieder betonen, daß König Stephan einen großen nationsbewahrenden Dienst geleistet
hat. Hätten die Awaren oder Hunnen ihren 'König Stephan' gehabt, lägen heute ihre Städte an
der Donau und der Theiß. [...] Zweitens muß man König Stephan dagegen verteidigen, daß er
nur Held eines Teils der Ungarn sei, daß der heutige konfessionelle Zustand mit dem
Scheinwerfer seiner Glorie in einen Heiligenschein verwandelt und die einzige König-
42 Zur keineswegs klaren Haltung gegenüber der Heiligenverehrung im Protestantismus: Arnold Angenendt,
Heilige und Reliquien, 2. überarb. Aufl., München 1997, S. 257 ff. 43 Kurz nach dem Ersten Weltkrieg schrieb der aus einer proletarischen, griechisch-orthodoxen Familie
stammende Attila József folgendes Gedicht: „Auf dem Fest der Heilgen Rechten. / Christen, senkt das
Haupt!/ Am heutigen Tag erhebt sich die ewige Heilge Rechte / [...] / Aber Ihr, unserer heidnischen Ahnen
Blut / Ihr erhebt Euch nicht mehr mit großem Trotze gegen sie, / diese Hand, welche unsere Väter
erschlug“. Eigene Übersetzung nach: József Attila összes versei. Krit. Ausgabe zsgst. v. Béla Stoll, Bd. 1,
Budapest 1984, S. 74. Der völkische Schriftsteller Dezsõ Szabó schrieb 1922 die Zeilen: „Das große
historische Symbol der Ungarn als Rasse ist nicht die Rechte Hand jenes Ehemanns einer Deutschen, des
Heiligen Stephan; ihr tragisches, immerblutendes Symbol ist Koppány, den er [Stephan] vierteilte.“, zit. n.
Sinkó, Árpád, S. 21. In beiden Fällen wird an die „Verlierer“ der Geschichte, jene heidnischen Häuptlinge
erinnert, die sich der Christianisierungspolitik Stephans im 11. Jahrhundert widersetzten.
1 3
Stephans-Feier in einer Weise begangen wird, welche die Gemeinschaft dazu zwingt, sich
hinter einer religiösen Reliquie einzuordnen. Man muß vielmehr den großen
zusammenhängenden Gedanken suchen, den Wert der Geschichte des unteilbaren Ungarn.“44
II. Die Märzfront und die Neuformulierung des Freiheitskampf-Geschichtsbildes
Das autoritäre Regime, das sich 1938 im Heiligen-Stephans-Jahr feierte, beruhte auf dem
Ausschluß der Mehrheit der Bevölkerung vom politischen Leben.
Dies führte zum einen dazu, daß die radikale Umgestaltung der ökonomischen und sozialen
Verhältnisse am lautesten von den zeitweise in die Illegalität abgeschobenen
rechtsextremistischen Kräften formuliert wurde. Der andere Teil der Systemopposition,
bürgerlich-liberale, linke katholische und protestantische sowie nationalistisch-antideutsche
Gruppen, schlossen sich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre der „Märzfront“ an. In
diesem breiten Bündnis agierte die illegale, zahlenmäßig kaum noch existierende, von
Moskau aus organisierte Kommunistische Partei, welche seit 1936 fieberhaft an einem
Volksfrontprogramm arbeitete.
Eine weitere Folge der politischen Situation war, daß die Opposition einen eigenen, dem
offiziellen Stephans-Kult entgegengesetzten Geschichtskult annahm. Die ideologische
Führung des antifaschistischen Bündnisses lag in den Händen der sogenannten „Volkstümler“
(népi mozgalom), einer politisch sehr heterogenen agrarrevolutionären Gruppe, bestehend aus
Soziologen, Literaten („Dorfschriftstellern“) und Intellektuellen verschiedenster Couleur,
welche eine Art nationalen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus vertraten.
In diesem Umfeld wurde ein nationales, revolutionäres Geschichtsbild mit eigenen
Kultformen entwickelt, das besonders von der Kommunistischen Partei und der Nationalen
Bauernpartei, ihrem engsten Verbündeten, dem linken Teil der „Volkstümler“, propagiert
wurde.
Dieses Geschichtsbild basierte auf der Vorstellung, das ungarische Volk führe seit 400 Jahren
einen bislang erfolglosen Kampf um seine Freiheit gegen fremde Unterdrücker, allen voran
die Habsburgerdynastie. Seine ärgsten Feinde seien jedoch weniger die fremden Unterdrücker
selbst als vielmehr deren „Handlanger“ im Inneren, die nationalen Verräter in Gestalt der
herrschenden Eliten − die Aristokratie und der hohe katholische Klerus. Ähnlich wie beim
Stephans-Kult wurde die Nation, das Volk, damit jeglicher Verantwortung für den Verlauf der
44 Ebd.
1 4
nationalen Geschichte enthoben und zugleich entmündigt, da es sich offenbar immer von
kleinen Gruppen in die Irre führen ließ. Die inneren und äußeren Feinde beider
Geschichtskonstruktionen unterschieden sich deutlich: War der schlimmste Feind im Rahmen
des Heilgen-Stephans-Kultes die gottlose Sowjetunion (für manche auch die neuheidnischen
Nazis), so kämpften die Anhänger des Freiheitskultes einen „ewigen“ Kampf gegen die
Deutschen, die für sie die Nachfolger der Habsburgertyrannen darstellten. Es ist kein Zufall,
daß es innerhalb protestantischer Kreise ähnliche Versuche gab, den nationalen 48er-Kult
ebenso zu vereinnahmen, wie von katholischer Seite versucht worden war, den Stephans-Kult
als Beweis für die besondere nationale Bedeutung der eigenen Kirche zu verwenden.
Als Beginn des 400jährigen Freiheitskampfes galt der Bauernkrieg von 1514, symbolisch
komprimiert in der Figur des Bauernführers György Dózsa. Damit wurde die revolutionäre,
aber auch die agrarsozialistische Komponente dieses Geschichtsbildes betont. Dies erlaubte
auch eine protestantisch-konfessionelle Lesart, indem die kurz nach dem Bauernkrieg
entstandene kalvinistische Kirche Ungarns, unmittelbar an die Seite des um Unabhängigkeit
und religiöse Freiheit kämpfenden Volkes gestellt wurde.45 Als Höhepunkt der 400jährigen
Freiheitskämpfe galt die Revolution von 1848/49. In einem gewissen Sinne kann man sie als
das ungarische 1789 bezeichnen, da sie am Anfang der modernen politischen Kultur des
Landes steht.46
Die ungarische antifaschistische Opposition schloß sich am 15. März 1937 zusammen. Dies
war auch ein Versuch, der Einverleibung der Märztradition durch das Horthy-System zu
begegnen.
47
45 Besonders seit dem 19. Jahrhundert war von protestantisch-liberalen Kreisen behauptet worden, die eigentliche
nationale Kirche Ungarns sei die kalvinistische, da sie nicht fremden Herrn (Rom, Habsburg) diente, wie die
katholische. Das konnte sogar soweit gehen, daß die katholische Kirche aufgrund ihrer größeren Offenheit
für die slawischen und deutschen Ethnika Ungarns als eine nicht nur politisch, sondern ethnisch oder
rassisch weniger ungarische Konfession diffamiert wurde.
Der 15. März war seit 1928 offizieller Feiertag, wobei jedoch weniger die
liberalen, sondern stärker die nationalen und militärischen Eigenschaften der „Märzjugend“
betont wurden. Zudem nutzten auch rechtsradikale Jugendverbände den 15. März für Feiern,
bei welchen sie die rassische und militärische Überlegenheit der Ungarn feierten.
46 Árpád v. Klimó, Die Bedeutung von 1848/49 für die politische Kultur Ungarns, erscheint in: Helgard Fröhlich/
Michael Weinzierl (Hrsg.), 1848 im Kontext der europäischen Revolutionsgeschichte, Wien 1999. 47 Zum folgenden: György Gyarmati, Máricus Hatalma - A Hatalom Márciusa. Fejezetek Március 15.
ünneplésének történetébõl, Budapest 1998, S. 68 ff.
1 5
Mit dem 15. März als Feiertag waren inhaltliche Komponenten verbunden, die dem 20.
August in gewissem Sinne überlegen waren. So hatte der Stephanstag einen weniger
populären, weniger modernen Charakter, war eher mit dem Staat und der christlichen
Religion, der katholischen Konfession verbunden.48
Zwei Tage nach dem „Anschluß“ Österreichs an Deutschland wurde vor dem Konzerthaus am
Donauufer die offizielle Märzfeier begangen, wobei Horthy als der „der Nation geschenkte
Führer“ bezeichnet wurde.
Die Erinnerung an 1848 hatte dagegen
einen säkularisierten, modernen Charakter, mit dem sich protestantische, jüdische,
sozialistische, aber auch völkisch-revolutionäre politische Kräfte identifizieren konnten. Von
großer Bedeutung war außerdem, daß am 15. März 1848 die Bauernbefreiung verkündet
worden war. Damit konnte sich die Horthy-Opposition, zu deren Hauptzielen neben dem
Kampf gegen das Bündnis mit Deutschland die Entmachtung des Großgrundbesitzes und die
Landverteilung gehörten, zum unmittelbaren Erbe der 48er-Tradition erklären.
49 Die Anhänger der antifaschistischen Märzfront trafen sich zur
selben Zeit im Garten des Nationalmuseums, wo vor der Petõfibüste Reden gegen den
deutschen Imperialismus gehalten werden sollten.50
Eine schon 1937 eingeleitete Verhaftungswelle linker Oppositioneller führte zum frühzeitigen
Ende der Märzfront. Die Regierung beschloß die militärische Aufrüstung des Landes und das
Parlament verabschiedete das erste einer Reihe von „Judengesetzen“ nach dem „Numerus
Clausus-Gesetz“ von 1920. Damit war ein Weg eingeschlagen, an dessen Ende die
Wiederherstellung des christlich-nationalen „Stephans-Reiches“ stehen sollte.
Die Polizei löste die Veranstaltung
gewaltsam auf.
III. Der konfessionelle Dualismus während des Übergangs zur stalinistischen Diktatur 1945-
48
48 Auch wenn es Mitte des 19. Jahrhunderts Versuche von nationaler und katholischer Seite gegeben hatte, den
20. August zu einem gegen Habsburg und für die nationale Unabhängigkeit gerichteten Gedenktag zu
feiern. Nach der Revolution von 1848 verbot die österreichische Besatzungsregierung jegliche politische
Betätigung und zwang die Kirche, die Prozession auf einen engen religiösen Rahmen zu beschränken. Vgl.
Gábor, A Szent István-napi, S. 8. Auch hatten Liberale im 19. Jahrhundert versucht, den Stephans-Kult zu
säkularisieren, indem der Gründerkönig als radikaler, „moderner“ Reformer porträtiert wurde. Diese Lesart
wurde später von den Kommunisten dahingehend radikalisiert, daß nun Stephan als „revolutionärer“ König
interpretiert wurde, der mit „eiserner Hand“ gegen die Reaktion vorging. Vgl. József Litkei, Szent István,
unveröff. MS Budapest 1998. 49 Gyarmati, Március, S. 75. 50 Vgl. Konrád Salamon, A Márciusi Front, Budapest 1980, S. 148.
1 6
Nur zehn Jahre später sah es so aus, als habe man die nationalhistorische Festkultur völlig auf
den Kopf gestellt. 1948 begingen der Staat und die nun herrschende Kommunistische Partei
pompöse Märzfeiern, während die Heilige-Stephans-Prozession abgesagt wurde. Der zuvor
marginalisierte antifaschistische Märzgedanke triumphierte. In Tausenden von
Veranstaltungen wurde 1948 das Centenarium begangen. Die „verstaatlichte“
Revolutionserinnerung sollte den Weg in die Diktatur im „Jahr der Wende“ propagandistisch
rechtfertigen. 51
Nach dieser neuen Erzählung drückte das Jahr 1848 die ungarische Geschichte am
ruhmvollsten aus, weil in ihm die Freiheitssehnsucht des Volkes, die nationale Erhebung, die
wahre Heimatliebe in Erscheinung trat. Freie Männer kämpften für ein freies Ungarn.
Kossuth, Petõfi und Táncsics verkörperten diese Idee: Kossuth als Symbol des unabhängigen
Vaterlandes; Petõfi als demokratischer Dichter, der mit seinen Versen das Volk zur Nation
formte; Táncsics als Verkörperung des werktätigen Volkes. 1848 stand nach dieser
Interpretation außerdem für die Zusammenarbeit von Stadt und Dorf, für die Befreiung des
werktätigen Volkes vom Joch der Herrscher. Die Kommunistische Partei habe dieses heilige
Erbe der ungarischen Nation und ihrer Millionen Werktätiger rechtmäßig angetreten, sowohl
in historischem wie in sittlichem Sinne. Nun kämpfe sie gegen die Verschwörung gegen die
unabhängige Nation: die Reaktion, die nicht an die Nation glaube; die Heimatverräter; die
Verräter des arbeitenden Volkes. So wie Parteiführer Rákosi der Kossuth von heute sei, sei
Mindszenty der heutige Hám, der habsburgtreue Primas von 1848.
Ein Problem bereitete den Propagandisten dieser neuen „Ideen von 1848“ allerdings die
russische Intervention von 1849, die zur Niederlage des ungarischen „Freiheitskampfes“
geführt hatte. Es mußte betont werden, daß man den Einmarsch der zaristischen Truppen nicht
mit der Befreiung durch die Sowjetarmee vergleichen könne - eine Anstrengung, die einige
Akademiker über Jahrzehnte hinweg beschäftigte. 52
Die nun ständigen Angriffen ausgesetzte katholische Kirche versuchte, sich gegen die
Vereinnahmung der 48er-Tradition durch die neue Staatsmacht zur Wehr zu setzen.
51 Zum folgenden: András Gerõ (Hrsg.), Az államosított forradalom. 1848 centenáriuma, Budapest 1998, S. 16 ff. 52 Einen Überblick über die marxistische 48er-Geschichtsschreibung seit 1935 bietet: Erzsébet Andics, Rezension
von R. Averbuch [sowjetische Militärhistorikerin], Revolution und nationaler Freiheitskrieg in Ungarn, in:
Acta Historica 12 (1966), S. 429-434.
1 7
Am 6. Januar 1948 erschien im KP-Zentralorgan „Szabad Nép“ (Freies Volk) ein Artikel
unter dem Titel „Die klerikale Reaktion gegen Kossuth und Petõfi“.53 Darin schrieb der
Schriftsteller und Politiker Géza Losonczy (1917-57), der damals maßgeblich an der
Schaffung des Feindbildes „klerikale Reaktion“54 beteiligt war: „Der Primas und die A. C.
haben schon im vergangenen Jahr mehrmals kundgegeben, daß sie sich nicht an der
Vorbereitung der Centenariumsfeiern beteiligen möchten und ihre Organisationen dazu
aufgefordert, das Andenken an 1848/49 unter eigener Regie zu feiern.“55 Dies würde
bedeuten, so Losonczy, daß „Mindszenty und seine Clique [...] nur bereit sei, diejenigen zu
feiern, die vor einem Jahrhundert in der einen oder anderen Form die Habsburger, die
Windischgrätzer oder jene Leichenungarn [gyászmagyar] unterstützten, die Petõfi 'die inneren
Schurken' nannte.“56 Des weiteren griff Losonczy den Almanach des katholischen
Wochenblatts „Új Ember“ („Neuer Mensch“) an, der Artikel Mindszentys drucke, in denen
die „heiligen Namen Kossuth, Petõfi, Táncsics“ nicht auftauchten. Daraufhin versichterte die
A.C. im „Új Ember“, daß sie „im Laufe des Festjahres noch Gelegenheit bei unseren
Ehrungen haben werde(n), Kossuth, Petõfi und den anderen Helden von 1848 die gebührende
Aufmerksamkeit zu schenken.“57
Der Streit schwelte jedoch weiter, trotz dieses Zugeständnisses von katholischer Seite, denn es
ging der Partei nicht um einen Kompromiß, sondern um Unterwerfung. In einigen Fällen
geschah dies. So schrieb Dr. J. H., einer der Autoren der Artikelserie im Almanach des „Új
Ember“ am 7. Februar 1948 an den zuständigen Minister: „Herr Minister! Im Zusammenhang
mit meinem im Almanach erschienenen Artikel, der so viel Wirbel verursachte, erscheint es
mir angebracht, über die Entstehung des Artikels und meine historische Auffassung folgendes
zu berichten: Ich bin Familienvater, habe vier Kinder und lebe davon, meine
wissenschaftlichen, im Rahmen meiner Universitätsstudien erworbenen Kenntnisse als Artikel
zu veröffentlichen. Im Herbst vergangenen Jahres sprach ich erstmals den Új Ember an und
schlug 48 als Thema vor. Mir war bekannt, daß der Almanach in kleiner Auflagenzahl
erscheint, [...] und daher ging ich von solchen Lesern aus, bei denen die großen Gedanken der
48er Ereignisse fest verwurzelt sind und die sich daher auch für die Einzelheiten der großen
und schweren Zeit interessieren könnten. Aus den erhobenen Einwänden entnahm ich, daß die
53 Zit. n. Gerõ, Az államosított, S. 211. 54 György Kövér, Losonczy Géza 1917-57, Budapest 1998, S. 143 ff. 55 Zit. n. Gerõ, Az államosított, S. 211. 56 Ebd., S. 211f. 57 Ebd., S. 213.
1 8
selbständige, unabhängige ungarische Staatlichkeit von 1848 sowie die Ideen der Freiheit und
Demokratie als Hauptgesichtspunkt betrachtet werden müssen. Dieser Aspekt fehlt in meinem
Artikel, und aufgrund meines Irrtums schien es so, [...] als ob ich die Feierlichkeiten
verderben wollte. Ich verkünde feierlich, daß mir dies fernsteht und daß es mir sehr leid tut,
daß auch nur der kleinste Verdacht entstanden ist, ich wollte die Ehrung verderben, zu
welcher jeder Ungarn angesichts des 1848er Freiheitsgedankens verpflichtet ist, jener großen
völkischen Bewegung, deren Helden Kossuth und Petõfi waren. Ich bitte den Herrn Minister,
als Generalsekretär der Historischen Gedenkkommission, meine obige Erklärung als
ausreichend anzunehmen.“
Am nächsten Tag antwortete der Minister, Dr. Ernõ Mihályfi58: „Herr Lehrer, ich freue mich,
daß wir durch Ihren Brief diese Sache als abgeschlossen betrachten können, der ich mich,
auch als Generalsekretär der Historischen Gedenkkommission, der Nation gegenüber
verpflichtet fühlte. Es ist sehr schade, daß der Artikel erschien und zum einzigen die Feier
verderbenden Zwischenfall des Centenariumsjahres führte. Wie Sie in Ihrem Brief schreiben:
1848 verkörpert für uns am heiligsten die Ideen von Demokratie und Freiheit, denen zu folgen
jeder Ungar verpflichtet ist.“59
Zur Herstellung der geschichtspolitischen Einheitsfront waren Selbstkritik und versöhnliche
Wiederaufnahme in die einheitlichen Reihen der Nation wesentlich wirkungsvoller als
Bespitzelung, Folter und Zuchthaus − Mittel, welche die KP nur gegen einige Tausend
Unbeugsame innerhalb der katholischen Kirche anwenden mußte.
60
Trotz einiger Schwierigkeiten fühlte sich die reformierte Kirche dem neuen offiziellen
Geschichtsbild wesentlich enger verbunden. Schon im Dezember 1944, nachdem die rote
Armee die ungarische Grenze überschritten und die Errichtung einer provisorischen
ungarischen Nationalversammlung angeordnet hatte, schien die reformierte Kirche Ungarns
einen neuen politischen Stellenwert erlangt zu haben.
58 Ernõ Mihályfi, eines der führenden Leitungsmitglieder der evangelischen Kirche Ungarns, war bis 1945
Redakteur der „Magyar Nemzet“ und gehörte der gemäßigten Opposition an. Vgl. Bucsay, Geschichte,
S. 178. 59 Ebd., S. 216. 60 Innerhalb der DDR-Geschichtswissenschaft funktionierte die Diskurskontrolle ähnlich, vgl. Martin Sabrow,
Der „ehrliche Meinungsstreit“ und die Grenzen der Kritik. Mechanismen der Diskurskontrolle in der
Geschichtswissenschaft der DDR, in: Die Mauern der Geschichte. Historiographie in Europa zwischen
Diktatur und Demokratie, hrsg. v. Gustavo Corni /Martin Sabrow, Leipzig 1996, S. 79-117.
1 9
So hatte der sowjetische Kommandeur angeordnet, die Konstituierende Nationalversammlung
in Debrecen, dem geistigen und politischen Zentrum des ungarischen Kalvinismus,
einzuberufen, weil dieses 1848/49 eine bedeutende Rolle gespielt hatte. 61 In der dortigen
großen reformierten Kirche hatte der Lutheraner Kossuth 1849 die Absetzung der Habsburger
vom ungarischen Thron erklärt.62 Das Gebet des Debrecener reformierten Bischofs Imre
Révész, das die erste Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung feierlich einleitete,
begann mit folgenden Worten: „Unser Herr, unser Gott! Mit der Gewißheit als Bekenner
beten wir zu Dir, weil Du, Der Du gerade aus schierer Gnade das Gespenst der Sklaverei von
den ungarischen Seelen vertrieben hast; Du, der Du in unserer größten Katastrophe, mit so
großer Hoffnung, wie vielleicht seit 400 Jahren nicht mehr wie heute, unsere Freiheit
erstrahlen läßt [...] außerdem erlaubt hast, daß wir uns in dieser uralten Behausung zu Deiner
Anbetung versammeln dürfen, wo vor kaum 100 Jahren Du schon einmal Deiner Nation
erlaubt hast, ihre größten Träumer zu versammeln“.63
Révész' Gebet bietet ein anschauliches Beispiel für die gegenseitige Durchdringung
reformierter und nationalistischer Vorstellungen. Analog zum versklavten Volk Israel habe
Gott den Ungarn Hoffnung für ihren Freiheitskampf gegeben und ihnen erlaubt, sich zweimal
innerhalb von einem Jahrhundert an einem heiligen Ort zu versammeln.
64 Imre Révész war
seit August 1938 Bischof von Debrecen, hatte als Kirchenhistoriker Berühmtheit erlangt und
war auch an den erwähnten Auseinandersetzungen um das Stephansjahr 1938 beteiligt
gewesen.65
61 So zumindest die Behauptung des (katholischen) Privatgelehrten József Varga, Schuldige Nation oder Vasall
wider Willen? Beiträge zur Zeitgeschichte Ungarns und des Donauraumes, 2 Bde., Wien 1989, hier: Bd. 2,
S. 351 f.
Bei Kriegsende hatte er seine Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit mit den
62 Der Kossuth-Kult wurde besonders in protestantischen Kreisen gepflegt. Zu den protestantischen Versuchen,
1848/49 national-konfessionell zu deuten, vgl. Juliane Brandt, Die Würdigung des großen Toten. Kossuth in
protestantischen Predigten und in der protestantischen Presse im Jahr 1894, in: Berliner Beiträge zur
Hungarologie 9 (1996), S. 63-111. 63 Ideiglenes Nemzetgyûles Naplója, Budapest 1946, S. 2. 64 Die „symbolische Bedeutung“ des Zusammenhangs zwischen der konstituierenden Sitzung der Provisorischen
Nationalversammlung und der Wahl Kossuths zum Gouverneur hebt auch hervor: Imre Kádár, Die Kirche
im Sturm der Zeiten. Die Reformierte Kirche in Ungarn zur Zeit der beiden Weltkriege, der Revolutionen
und Konterrevolutionen, Budapest 1958, S. 105. 65 Imre Révész d. J. (1889-1967), Enkel des gleichnamigen Debrecener reformierten Theologen und Dechanten
(1826-81), studierte in Kolozsvár (Cluj) und Montauban. Seit 1920 Pfarrer in Debrecen, Habilitation 1930.
Seit 1928 Mitglied der Budapester Synode wurde er 1938 zum Bischof von Debrecen ernannt.
2 0
demokratischen Kräften erklärt und sich damit klar von Mindszenty abgesetzt. Doch trat er im
September 1949 enttäuscht von seinem Amt zurück, als ihm klar wurde, daß in einer
stalinistischen Diktatur die Mitarbeit der Kirchen nur in einer sehr beschränkten Weise gefragt
war.
Nur beim Widerstand gegen die Versuche der Regierung im Frühjahr 1946, den
Religionsunterricht in ein fakultatives Fach umzuwandeln, gab es eine gemeinsame Aktion
beider Kirchen, die Mindszenty und Ravasz koordinierten. Der Gesetzesentwurf wurde
einstweilen zurückgezogen. Doch blieb dies die einzige solidarische Aktion der Kirchen in
diesem Zeitraum.
Andere reformierte Kirchenmänner, wie Albert Bereczky und Péter János, traten nun in den
Vordergrund. Sie standen auf dem Standpunkt, die Kirchen hätten wegen ihres Versagens
während des Krieges und der Judenverfolgung ihr Recht verwirkt, das neue politische System
zu kritisieren.66 Sie betrachteten die sowjetische Besatzung und die Herrschaft der
Kommunisten als göttliche Strafe. Ihr „schmaler Weg“ zwischen völliger Anpassung und
Konfrontation fand die Unterstützung Karl Barths (einer der „schweizer Protestanten“, die
Mihalovics meinte). In seinem Reisebericht von 1948 beschrieb er den Weg der ungarischen
Kalvinisten als eine radikale Abkehr von der Vergangenheit. Zugleich kritisierte er den
ungarischen Katholizismus: „Als ich 1936 das letzte Mal in Ungarn war, fand ich dieselben
Personen und Kreise, mit denen ich es jetzt wieder zu tun hatte, in einem nationalistischen
Fieberzustand, neben dem mir sogar das, was ich damals eben in Deutschland miterlebt hatte,
blaß und jedenfalls künstlich vorkam. Auch die ungarische reformierte Christenheit tobte
damals gegen den Vertrag von Trianon, schwärmte von der Wiederherstellung der
tausendjährigen Stephanskrone und überschäumte von gelbem Haß gegen die Tschechen und
Rumänen, die damals (wie heute wieder) die glücklichen Gewinner waren. [...] Aber gerade
die in der ungarischen reformierten Kirche und Theologie verantwortlichen und führenden
Menschen sind heute bestimmt nicht mehr auf der Linie dieser Tradition zu suchen. Ihre
Pflege scheint heute weithin die Sache bzw. die Sache der Taktik des römischen Katholizismus
geworden zu sein.“67
Mitherausgeber von „Református Élet“ (1934-39) und der „Protestáns Szemle“ (seit 1924), 1935
korrespondierendes, 1946 ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
66 Kádár, Kirche im Sturm, S. 108. 67 Eig. Hervorh., zit. n.: Karl Barth, Christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen. Dokumente einer
Ungarnreise 1948, Zürich 1948, S. 56.
2 1
Die Einschätzung des Basler Theologen war allerdings durch den von den Kalvinisten
vertretenen „Freiheitskampfgedanken“ beeinflußt, den er in seiner Schrift unkritisch
übernimmt, wenn er schreibt: „Die Vorfahren dieser Leute haben Jahrhunderte lang die
Türkenherrschaft und dann die der Habsburger durchgestanden.“68
Den konzilianteren Kurs der Reformierten erleichterte allerdings auch die Tatsache, daß die
neuen Machthaber die Konfrontation eher mit der katholischen Kirche suchten.
Als Beispiel dafür kann etwa die am 15. März 1945 verkündete Bodenreform dienen. Die
Maßnahme wurde als Erfüllung eines „hundertjährigen Traumes“, als Vollendung der 1848
proklamierten Bauernbefreiung propagiert. Während Mindszenty und der katholische
Episkopat die Bodenreform als schweren Schlag empfanden, hielten sich die Klagen von
Seiten der Kalvinisten in Grenzen. Denn die reformierte Kirche behielt 60% ihres
ursprünglichen Besitzes, die katholische Kirche, bis dahin der größte Grundbesitzer des
Landes, dagegen nur ganze 15%.69
Auch von den weiteren Maßnahmen, mit denen der Einfluß der Kirchen aus der Gesellschaft
zurückgedrängt werden sollte, war die katholische Kirche ungleich härter betroffen − sie
verkörperte die „klerikale Reaktion“, die es zu bekämpfen galt.
Damit zogen beide Kirchen fast gleich, denn die
Kalvinisten verfügten nun über 30 000, die Katholiken noch über 50 000 Hektar Land.
Zudem waren Reformierte in der Koalitionsregierung, die nach den Wahlen vom September
1945 regierte, überrepräsentiert. So stellte es zumindest Ministerpräsident Ferenc Nagy dar. In
einer Sitzung des Kabinetts am 6. November 1946, in der die Besetzung des Kulturministers
besprochen wurde, sagte er: „Der Präsident der Republik ist reformiert, der Ministerpräsident
ist reformiert und in der gesamten Regierung sind die Minderheitenkonfessionen
überrepräsentiert. Eine solche Position, die traditionell immer der größten Konfession zustand
[mit einem nicht-katholischen Politiker zu besetzen, Anm. d. V.], wäre meiner Meinung nach
eine Verletzung des Katholikentums.“70
Das Verhältnis zwischen den beiden großen christlichen Kirchen hatte sich seit 1945 also
grundsätzlich verändert, der Einfluß der Katholiken war zurückgegangen, der der Protestanten
kaum. Diese Veränderung läßt sich auch an der Geschichte der Stephans-Feiern in den Jahren
nach 1945 ablesen.
68 Ebd. 69 Kádár, Kirche im Sturm, S. 107. 70 Mit anderen „Minderheiten“ waren v.a. die Juden gemeint. Politikatörténeti Intézet Levéltár (PIL), 274f./7cs.
155. öe. Pártközi értekezlet jegyzõkönyve, 6. November 1946, S. 3.
2 2
Am letzten Stephanstag vor Kriegsende (1944) konnte aufgrund der Bombardierungen des
von deutschen und ungarischen Truppen besetzten Budapest keine Prozession stattfinden. In
Anwesenheit deutscher Offiziere fand die Festmesse wie zuvor in der Krönungskirche (später
Matthiaskirche) statt. Bischof Hamvas betonte in seiner Predigt die Gefahr, welche durch
„fremde Lehren im Inneren“ des ungarischen Volkes drohten, womit zweifellos die Ideologie
der Verbündeten gemeint war. Doch gingen seine letzten Worte, wie der „Magyar Kurir“
meldete, im Sirenengeheul des Fliegeralarms unter.71
Wenige Monate später stand die Rote Armee in Pest und belagerte Buda. Anfang 1945 floh
die an der Seite der Deutschen ausharrende ungarische Pfeilkreuzlerregierung unter Szálasi
nach Österreich. In ihrem Gepäck befanden sich neben der Stephanskrone auch die Heilige
Rechte sowie andere Symbole ungarischer Staatlichkeit. Im Juni 1945 wurde der Staatsschatz
von Einheiten der US-amerikanischen Spionageabwehr (C.I.C.) in Mattsee bei Salzburg
entdeckt.
72
Die Nachricht von der Auffindung der Heiligen Rechten durch US-amerikanische Truppen
traf am 25. Juni 1945 in Budapest ein.
73
Inmitten der zerstörten Stadt fand die Prozession unter Teilnahme von Vertretern der
provisorischen Regierung und der Alliierten statt.
Schon zuvor hatten die Leiter der Actio Catholica
und der Vorsitzende des ungarischen Bischofskollegiums, Erzbischof Grõsz von Kalocsa,
vereinbart, den Stephanstag 1945 auch ohne die Reliquie zu feiern. Nachdem Zeitungen
bekannt machten, die Heilige Rechte sei in Salzburg beim Fürsterzbischof, bat die A.C. den
Ministerpräsidenten, den Kultusminister sowie den Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, sich
für die Rückgabe der Reliquie einzusetzen. Als schließlich die US-Regierung, der Vatikan
und die vom sowjetischen General Woroschilow geleitete Alliierte Kontrollkommission in
Budapest ihr Einverständnis erklärt hatten, wurde die Reliquie von US-amerikanischen
Offizieren am Vorabend des Stephanstages nach Budapest gebracht.
74
71 Magyar Kurir, 34. Jg., 20. Aug. 1944, S. 3.
Nach Angaben des katholischen
Nachrichtenblattes „Magyar Kurir“ nahmen 100 000 Menschen daran teil. Priester des
barmherzigen Ordens trugen die Reliquie, rechts von ihnen schritten die Vertreter der Stadt,
links die Dekane der Universität (wie bereits im 19. Jahrhundert), an den Seiten die
Parlamentswache und die Polizei. Die Predigt hielt Bertalan Badalik, Landesprior der
72 Konsistorialarchiv Salzburg [i.f. KAS], Fsz. 12/4 Rf2. 73 EPL 791/1945, 5: 1353/1945, Brief von Béla Witz an Dr. János Drahos, Statthalter des Primas in Esztergom,
vom 30. Juni 1945. 74 Zum folgenden: Magyar Kurir, 20. August 1945, S. 3-5.
2 3
Dominikaner und Leiter der Andachtsabteilung der A.C. In seiner Rede bedankte sich Badalik
bei den USA für die Rückführung der Reliquie. Zugleich betonte er die Notwendigkeit der
Buße: „Wir müssen bekennen, daß einige Dich [die Heilige Rechte] in Deiner Abwesenheit
durch Respektlosigkeit geschmäht haben. Doch jene gehören nicht zu Deinen treuen
Gläubigen; es waren entartete Kinder gefühllosen Geschreis. Deshalb konnten wir Deine
Ankunft nicht mit dem traditionellen Pomp gestalten.“75
Die Veranstaltung unterschied sich deutlich von den vorherigen Prozessionen. Mit
Reichsverweser Horthy waren auch die Repräsentanten des Hochadels in ihren „historischen“
Prunkgewändern sowie andere Symbole des einstigen Königreichs (wie etwa die Burgwache)
verschwunden. Die Repräsentanten des Staates und der Nation traten nun deutlich hinter die
Geistlichkeit zurück, während die Vertreter der Stadt ihre Position an der Seite der Reliquie
behielten.
Dennoch erhoben die Reformierten erneut Bedenken gegen die Feier. Am 1. September 1945
erschien in ihrer Zeitung „Élet és Jövõ“ (Leben und Zukunft) ein Artikel unter dem Titel
„König Stephan und die Reformation“. In diesem versuchte der Autor in einem historischen
Rückblick nachzuweisen, daß die Reformierten diejenigen ungarischen Christen seien, die
ihren Glauben bewußt nicht von Deutschland, sondern aus Genf und Frankreich, später aus
Schottland und Holland übernommen hätten. Selbst die ungarischen Lutheraner hätten sich
mehr am finnischen und schwedischen als am deutschen Beispiel orientiert. Die
Gegenreformation sei dagegen unter „germanischem“ Einfluß ins Land gekommen und habe
dem ungarischen Wesen zutiefst widersprochen. Daraus schließt er, daß man als Ungar die
Tat König Stephans, die Christianisierung, nur dann wirklich würdigen könne, wenn man sie
vom schädlichen deutschen (Habsburger) Einfluß reinige. Dies müsse auch bei der Stephans-
Prozession berücksichtigt werden.
Die sich hier erneut ausdrückende Distanz der Reformierten zur höchsten katholischen
Nationalfeier sollte sich − nicht zuletzt infolge des Verhaltens der katholischen
Kirchenführung − in der Folgezeit nicht wesentlich verändern.
Im Jahr 1947 mobilisierte Kardinal Mindszenty eine halbe Million Menschen für die
Stephans-Prozession, die damals im Rahmen des von ihm kurz zuvor ausgerufenen
„Marienjahres“ stattfand. Der Kardinal gab der Feier den Charakter einer
antikommunistischen, christlich-nationalen Demonstration. In seiner Predigt auf dem
Heldenplatz, wo auch 1938 die große Abschlußfeier stattgefunden hatte, erinnerte er an den
75 Ebd.
2 4
Eucharistischen Weltkongreß und rief die Gläubigen dazu auf, die vom Heilige Stephan
begründete Tradition zu befolgen, deren größte und ewige Werte „die Heilige Mutter Kirche,
die Marienverehrung und die christliche Erziehung“ seien.76
Wenige Wochen später fanden Parlamentswahlen statt, aus denen die Kommunistische Partei
(auch mit Hilfe von Wahlbetrug und Einschüchterung) als knapper Wahlsieger hervorging.
Ein Jahr später wurde der A. C. von den Polizeibehörden die Abhaltung der Prozession auf
der gewünschten Route verweigert. Der Polizeipräsident ließ verlauten, daß auf der
Andrássyallee und auf dem Heldenplatz, wo die Prozession ein Jahr zuvor stattgefunden hatte,
in diesem Jahr das „Fest des Neuen Brotes“ gefeiert würde.
77
Die Ungarische Kommunistische Partei hatte erstmals am 20. August 1945 in Kecskemét eine
solche „Brotfeier“ abgehalten.
78 Dies war eine in protestantischen Gegenden verbreitete
ländliche Tradition, die am Stephanstag gefeiert wurde. Da es offenbar unmöglich war, den
Stephanstag abzuschaffen, wurden zusätzliche Bedeutungsschichten über dessen religiösen
Ursprung gelegt. So organisierte die KP am 20. August, wie andere Parteien auch, Sport- und
Folkloreveranstaltungen und hielt im ganzen Land Versammlungen ab. 79 Doch war dies keine
radikale Neuerung, da schon um die Jahrhundertwende wichtige Fußballspiele am
Stephanstag abgehalten worden waren. Auch die Rote Armee nutzte die Symbolik des Tages,
indem sie am 20. August 1947 „Festliche Begräbnisse der Helden der Sowjetarmee, die im
Kampf um Budapest gefallen waren“, abhielt.80
76 EPL, 5583/1947, S. 3.
Schließlich wurde auch die neue stalinistische
Verfassung am 20. August 1948 verabschiedet, um die staatliche Kontinuität mit dem
früheren Ungarn zu betonen, ohne jedoch die christliche Bedeutung des Tages zu
übernehmen. So konnte ab 1949 der ehemalige Tag des Heiligen Stephan in „Tag der
Verfassung und des neuen Brotes“ umbenannt werden. Mit der Etablierung der stalinistischen
Diktatur wurde dann auch der 48er-Kult zurückgedrängt. 1951 erklärte der Ministerrat den 15.
77 Am darauffolgenden Tag entzog der Polizeipräsident auch die Genehmigung für die Strecke von 1946.
Daraufhin sagte die A.C. die Feier ab. Erst 1988 konnte die Heilige Rechte wieder im Freien gezeigt
werden. Siehe: MOL, M-KS-276-67/214, 17. 78 Zum „Brotfest“: Peter Niedermüller, Die Volkskultur und die Symbolisierung der Gesellschaft: Der Mythos
der Nationalkultur in Mitteleuropa, in: Tübinger Korrespondenzblatt 40 (1991), S. 27-43. Zur politischen
Situation: Gyarmati, A nemzettudat-hasadás, S. 89 ff. 79 PIL 274.4/74 (Anweisungen des Sekretariats der KP). 80 Zu den Veranstaltungen vgl. BFL XXIV, 1947, A 1- 240, Nr. 185/1947, 19. Aug. 1947.
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März zu einem ordentlichen Feiertag. In der neuen Ordnung sollte weder eine katholische
noch eine protestantische nationale Identität Platz haben.