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Deutsch-türkische Begegnungen Alman Türk Tesadüfleri
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Die Frauen des Kitab-i Dede Korkut / The Women of the Kitab-i Dede Korkut (in German)

Jan 25, 2023

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Theo Marinis
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Page 1: Die Frauen des Kitab-i Dede Korkut / The Women of the Kitab-i Dede Korkut (in German)

Deutsch-türkische BegegnungenAlman Türk Tesadüfleri

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Page 2: Die Frauen des Kitab-i Dede Korkut / The Women of the Kitab-i Dede Korkut (in German)

Herausgegeben von Stephan Conermann

Bonner Islamstudien

Band 30

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Page 3: Die Frauen des Kitab-i Dede Korkut / The Women of the Kitab-i Dede Korkut (in German)

Hedda Reindl-Kiel – Seyfi Kenan (Hg.)

Deutsch-türkische BegegnungenAlman Türk Tesadüfleri

BERLIN

EBVerlag

Festschrift für Kemal BeydilliKemal Beydilli’ye Armağan

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Page 4: Die Frauen des Kitab-i Dede Korkut / The Women of the Kitab-i Dede Korkut (in German)

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Copyright: EB-Verlag Dr. BrandtBerlin 2013

Druck und Bindung: CPI, Birkach

Printed in Germany

[email protected]

Rainer Kuhl

Internet:E-Mail:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Buch, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen bedürfen der schriftlichen Genehmigung des Verlags.

ISBN: 978-3-86893-113-6

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Page 5: Die Frauen des Kitab-i Dede Korkut / The Women of the Kitab-i Dede Korkut (in German)

7Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Hedda Reindl-KielZum Geleit (Giriş) ............................................................................. 11

Seyfi KenanBeydilli’ye Armağan Üzerine (Zur Festschrift Beydilli) ....................... 15

Schriftenverzeichnis Kemal Beydilli/Kemal Beydilli’nin Yayınları ... 21

I. Deutsch-türkische und türkisch-deutsche BegegnungenAlman Türk ve Türk Alman Tesadüfleri

Hans Georg Majer Timur, Bayezid, die Dame und der Käfig im Bild (Resimdeki Timur, Bayezid, Hatun ve Kafes) ....................................... 33

Michael WeithmanEin Baier unter “Türcken und Tataren”: Hans Schiltbergers unfreiwillige Reise in den Orient (Türk ve Tatarlar Arasında bir Bavyeralı: Hans Schiltberger’in Zoraki Doğu Yolculuğu) .................. 63

Abdullah GüllüoğluBüyük Bozgun’un İlk Senelerinde Osmanlı Diplomasisi (1683–1685). (Die osmanische Diplomatie nach der großen Niederlage vor Wien) .......................................................................... 88

Hedda Reindl-Kiel Das Ende einer Kavaliersreise – Beginn einer osmanischen Karriere? (Bir ‘Grand Tour’ Seyahatinin Sonu Bir Osmanlı Kariyerin Başlangıcı mı?) ................................................................................... 106

Alte handgefertigte türkische Fliesen. © Muharrem Zengin, www.123rf.com‣

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8 Inhaltsverzeichnis

Klaus KreiserPreußen und Osmanen – Wahrnehmungen und Begegnungen. (Prusyalılar ve Osmanlılar – Algılama ve Karşılaşmalar) ...................... 188

Hans-Peter Laqueur“Die Türken in Angora”: Zum Verhältnis von Liman von Sanders zu Atatürk und İnönü (“Ankara’daki Türkler”: Liman von Sanders’in Atatürk ve İnönü ile İlişkisi) ............................... 210

II. Ansichten aus der Osmanischen Politik und Kulturgeschichte

Osmanlı Siyaset ve Kültür Tarihinden Görünümler

Şevket KüçükhüseyinDie Frauen des Kitāb-ı Dede Korkut oder: Im Osten nichts Neues: Überlegungen zum Frauenbild im Kitāb-ı Dede Korkut und seiner Rezeption (Kitāb-ı Dede Korkut’ta Kadınlar veya Doğu’da Yeni Bir Şey Yok: Kitāb-ı Dede Korkut’taki Kadın İmgesi Üzerinde Okumalar) ......... 225

Machiel Kiel Wein, vakf, die islamische und die christliche Kultur auf dem Balkan: Bemerkungen zu Wirtschaft, Kunst und Siedlungsgeschichte (Balkanlar’da Şarap, Vakıf, Müslüman ve Hristiyan Kültürü: Ekonomi, Sanat ve Yerleşme Tarihi Hakkında Fikirler) ........... 273

Feridun M. Emecen Kanuni Sultan Süleyman’ın Şehzadelik Dönemine Ait Bazı Yeni Tespitler ve Notlar (Einige neue Befunde und Bemerkungen über die Prinzenzeit Süleymans des Prächtigen) ........................................... 342

Claudia Römer Bāqī nedėmek lāzımdur – zur alttürkischen/tocharischen Wurzel einer osmanischen Briefabschlußformel (Bāqī nedėmek lāzımdur – Bir Osmanlı Mektup Sonu Kalıbının Eski Türkçe/Toharca Kökeni Hakkında) .............................................................................. 358

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9Inhaltsverzeichnis

Henning SievertEbū Sehl Nuʿmān Efendis Treffliche Maßnahmen gegen die Arglist der Anderen und die Torheit der Vorgesetzten in Iran und an der Donau (Ebū Sehl Nuʿmān Efendi’nin, İran ve Tuna Nehrinde, Öbürlerin Hilekârlığı ve Amirlerin Akılsızlığına Karşı ‘Beğenilmiş Tedbirleri’) ....................................................................... 366

İsmail E. Erünsal Osmanlı Sahhaflık Tarihine Dair Notlar: II – Osmanlılarda Sahhaflık Mesleği ve Sahhaflar (Bemerkungen über die Geschichte des osmanischen Buchhandels: II – Der Beruf des Buchhändlers bei den Osmanen und die Buchhändler) .......................................................... 402

Aysel Yıldız Şehzade (III.) Selim’in XVI. Louis ile Yazışmaları ve Doğu Sorunu (Die Korrespondenz von Prinz Selim (III.) mit Ludwig XVI. und die Orientalische Frage) ............................................................................ 417

Seyfi Kenan – İshak GüvenIII. Selim Döneminde Medreselere Çekidüzen Verme: 1792’de İstanbul Medreseleri’nin Denetimi (Ordnung schaffen in den Medresen zur Zeit Selims III.: Die Kontrolle der Istanbuler Medresen 1792) ......... 439

Fatih Yeşil Osmanlı İmparatorluğunda Nâzırlıkların Yükselişi (1789–1826).Karşılaştırmalı Bir Analiz Denemesi (Die Entstehung der Nâzırlık-Institutionen im Osmanischen Reich (1789–1826). Versuch einer vergleichenden Analyse) ................................................ 465

Mustafa Aydın Arşiv Belgelerinin Işığında Osmanlı Devleti’nde Kazaklar (1779–1838) (Die Kosaken im Osmanischen Reich im Lichte der Archivdokumente) ........................................................................ 491

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10 Inhaltsverzeichnis

Ali AkyıldızOsmanlı Saltanat Veraseti Usulünü Değiştirme ve Sultan Abdülaziz’in Yusuf İzzeddin Efendi’yi Veliaht Yapma Çabaları (Versuche, die Erbfolge für den osmanischen Sultan zu ändern und İzzeddin Efendi zum Thronfolger zu machen) ...................................... 510

Mahir Aydın Savaşın Bitirdiği Doğu Açılımı: Tahsin (Uzer) Bey’in Van Valiliği (1913/1914) (Die Öffnung nach Osten, die vom Krieg beendet wurde: Tahsin (Uzer) Bey im Amt des Gouverneurs von Van (1913/1914)) ...................................................................... 539

Selçuk Akşin Somel 1980 Sonrasında Taşra Maarifi ve Gayrı Müslim Mekteplerinin Historiyografik Bir Analizi: Abdülhamit Devri Eğitim Tarihçiliğine Bir Bakış (Eine historiographische Analyse des Provinz-Unterrichtswesens und der nicht-muslimischen Schulen nach 1980. Ein Blick auf die Geschichte der Pädagogik in der Epoche Abdülhamids). ........................................................................ 572

Bibliographie/Bibliyografya ............................................................. 594

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225Im Osten nichts Neues

II. Ansichten aus der Osmanischen Politik und Kulturgeschichte

Osmanlı Siyaset ve Kültür Tarihinden Görünümler

Die Frauen des Kitāb-ı Dede Korkut oder: Im Osten nichts Neues

Überlegungen zum Frauenbild im Kitāb-ı Dede Korkut und seiner Rezeption

Şevket Küçükhüseyin, Bamberg

Das Kitāb-ı Dede Korkut (im Folgenden KDK) gehört zweifellos zu den meistbearbeiteten literarischen Erzeugnissen türkischer Sprache. Dabei liegt die Erzählsammlung bislang nur in zwei Handschriften vor. Diese weisen Unterschiede in Umfang, Sprache und einigen Details auf, was nahelegt, dass sie unabhängig voneinander entstanden, mithin jeweils eigene Versionen sind.1 Das Fehlen weiterer Handschriften scheint auf einen bedeutenden Umstand hin zu deuten, nämlich dass die zum KDK zusammengeführten Überlieferungen offensichtlich kein dauerhaftes Inte-resse literater Kreise des turkophonen Anatoliens (und anderer Teile der türkisch-islamischen Welt) auf sich zogen.

Sowohl die Dresdner als auch die vatikanische Handschrift weisen in ihren Einleitungen auf eine Prophezeiung des Eponymos Dede Kor-kut hin, wonach die Herrschaft über die Oġuzen dem Stamm der Kayı bzw. dem Hause Osman zustehe. Das Verhältnis zwischen dieser Einlei-tung und den Versionen des eigentlichen KDK lässt sich nicht klären. Eine mögliche Deutung wäre, dass es sich hierbei um Effekte der osmanischen

1 Vgl. Semih Tezcan, Hendrik Boeschoten (Hg.), Dede Korkut Oğuznameleri. İstanbul: YKY 2001 (im Folgenden DKO), S. 11.

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Oġuzenrezeption des 15. Jahrhunderts handelt.2 Auch scheinen propagan-distische Elemente eine Rolle zu spielen, insoweit als die Osmanen die Notwendigkeit verspürten, ihren zunehmenden Herrschaftsanspruch auf die Territorien der turkmenischen Fürstentümer zu legitimieren bzw. aus ihrem Sieg über die Aqqoyunlu dauerhaft politisches Kapital zu schlagen. Beide Handschriften lassen sich folglich als osmanische Redaktionen ver-stehen; demnach müssten ältere bzw. nichtosmanische Niederschriften – dies betrifft vor allem das Dresdner Manuskript – durch die Hand eines Kopisten gegangen sein, der entweder ein Selbstverständnis als Osmane hatte oder von einer solchen Person mit der Kopie respektive Bearbei-tung beauftragt wurde. Ein hiermit durchaus vergleichbares Projekt war beispielsweise der Auftrag Cem Sultans an Abu’l-Hayr-i Rumi, die Über-lieferungen über Sarı Saltuk zu sammeln und nieder zu schreiben. Auch hier spielten propagandistische und legitimatorische Elemente eine nicht unwesentliche Rolle.

Der Name des Dede Korkut blieb unter Turkmenen gewiss noch lange unvergessen. Doch zeigt bereits ein Blick in das Anfang des 16. Jahrhun-derts verfasste Vilayetname des Hacı Bektaş, dass er durchaus nicht immer und überall als halb-sakrale Figur, sondern durchaus auch als profane Herr-schergestalt (mit marginaler Bedeutung) erinnert wurde. Die Bedeutung des KDK als Legitimationsinstrument und Propagandamedium nahm indes mit dem zunehmenden Erfolg des osmanischen Projekts rapide ab. Es hatte sozusagen ausgedient, und da es auch literarisch keine Rolle spielte, wurde es schließlich vergessen. Dass dies nicht allein für die Osmanen, sondern für ganz Anatolien gilt, belegt auch der Umstand, dass allein die “stofflich am wenigsten epische” Erzählung von Bamsı Beyrek “in das Repertoire der anatolischen Volkserzähler eingegangen”3 ist, wenn diese denn überhaupt zum originalen Bestand der Dede Korkut-Erzählungen gehört.4

2 Vgl. hierzu auch Şevket Küçükhüseyin, “Die osmanische Hofgeschichtsschreibung im Dienste von Identitätskonstruktion und Herrschaftslegitimation”, Michael Borgolte et al. (Hg.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter. (Europa im Mittelalter; 18), Berlin Akademie-Verlag 2011, S. 151–165. Siehe auch idem, S. 165–181.

3 Pertev N. Boratav, Türkische Volkserzählungen und die Erzählerkunst. (Halk Hikâyeleri ve Halk Hikâyeciliği), übers. v. Wolfram Eberhard (Asian Folklore and Social Life Mono-graphs; 78), Bd. I, Taipei: Orient Cultural Service 1975, S. 62.

4 Vgl. hierzu auch İlhan Başgöz, “Dede Korkut in Yunus Emre’s Poetry”, Aldo Galotta – Ugo Marazzi (Hg.), Studia Turcologica memoriae Alexii Bombaci dicata. Napoli: Istituto Universitario Orientale, Seminario di Studi Asiatici 1982, hier insb. S. 26–28.

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Aus der Perspektive der mediävistischen Literaturwissenschaft unter-strich Franz H. Bäuml, dass “das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit […] sich nicht auf einer imaginären Ebene ‘immanenter’ Werte [abspielt], sondern […] gesellschaftliche, auch politische Phäno-mene [darstellt], indem es dabei um die Festigung sozialer Macht” gehe.5 Sicherlich lassen sich die Ergebnisse und methodischen Instrumentarien solcher mehrheitlich innerhalb der europäischen Mediävistik angesiedel-ten Forschungen nicht ohne weiteres auf nicht-europäische Quellen über-tragen, bei welchen mitunter “ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu Faktoren wie Konzeption, Auktorialität und textueller Kohärenz”6 voraus-zusetzen ist. Ausgehend von den besagten Osmanenbezügen, die in beiden Handschriften vorliegen und zumindest auf ein osmanisches Interesse der Aneignung und mithin auch der politischen Instrumentalisierung hindeu-ten, erscheint Bäumls Feststellung jedoch durchaus zutreffend.

Auf der anderen Seite richten seine Überlegungen zum Verständnis der Rezeption mittelalterlicher Texte unser Augenmerk auch auf grundlegende Probleme, die bei der Interpretation des KDK auftreten. Nach Bäumls Vor-stellung muss “unser Weg zum Verständnis der Rezeption [der] Texte […] von der Evidenz des Textes – und zwar der handschriftlichen Evidenz – über theoretische Erkenntnisse von mündlicher Überlieferung – und zwar einschließlich der Performanz – zur gesellschaftlichen Funktion des Textes führen.”7 Die recht beschränkte handschriftliche Evidenz des KDK ver-deutlicht bereits die begrenzten Möglichkeiten etwa eines synchronen und / oder diachronischen Vergleichs.8 Hinzu kommt, dass das KDK in der uns vorliegenden Form selbst das Produkt eines gesellschaftlichen Wand-lungsprozesses ist. So betonte beispielsweise der Kulturgeograph Xavier de Planhol den transitionalen Charakter des Werks und verwies auf den zum Zeitpunkt der Verschriftung laufenden Prozess des Übergangs der Träger

5 Franz H. Bäuml, “Verschriftlichte Mündlichkeit und vermündlichte Schriftlichkeit. Be-griffsprüfungen an den Fällen Heliand und Liber Evangeliorum”, Ursula Schaefer (Hg.), Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. (ScriptOralia, 53), Tübingen: Narr 1993, S. 255.

6 Claudia Ott, Metamorphosen des Epos. Sirat al-Mudjahidin (Sirat al-Amīra Dāt al-Himma) zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. (CNWS Publications; 119), Leiden: CNWS 2003, S. 139.

7 Bäuml, “Verschriftlichte Mündlichkeit”, S. 256 f.8 Zur Frage von Diachronie und Synchronie vgl. z.B. Roger D. Abrahams, “After New Per-

spectives: Folklore Studies in the late Twentieth Century”, Western Folklore 53 (1993), S. 379–400.

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dieser Überlieferungen vom nomadischen zum sesshaften Leben.9 Aus literaturhistorischer Perspektive hatte Pertev Naili Boratav bereits dreißig Jahre zuvor auf den “Übergangscharakter”10 des KDK hingewiesen. Das Werk gehe zwar auf älteres, mündlich überliefertes Material zurück und vereine in sich mithin drei historische Schichten. Letztlich entspreche es jedoch “den neuen sozialen Bedingungen” der Zeit der Verschriftung, in welcher “das Epos in die roman-novellenhafte Form” überging.11 Nicht zuletzt deutete Boratav das KDK auch als “eine originale Leistung des Autors”, der sich nicht auf die reine Kompilation und schriftliche Fixierung mündlicher Überlieferungen beschränkt, sondern das Material bewusst gestaltend in eine literarische Form gegossen habe.12

Boratavs Befund hat auf den ersten Blick viel für sich. Er wird jedoch relativiert durch die jüngeren Forschungsergebnisse von Semih Tezcan und Hendrik Boeschoten, die für die 2001 erschienene Edition der beiden KDK-Handschriften verantwortlich zeichnen.13 Diese philologisch aus-gerichtete Arbeit ist indes nicht nur für den Sprachwissenschaftler von Belang.14 Vielmehr liefert sie neue Interpretationen bislang ungeklärter Begriffe, die auch für die Frage der im KDK vermittelten Wertemuster Bedeutung haben, etwa was das Frauenbild oder kindliche Pietät bzw. das Generationenverhältnis15 anbelangt.16 Öfter als ihre Vorgänger haben Tez-can und Boeschoten zudem Mut zur Lücke bewiesen und eine Reihe von ungeklärten (und unlösbaren) Problemen herausgearbeitet, die von großer

9 Vgl. Xavier de Planhol, “La signification géographique du Livre de Dede Korkut”, Journal Asiatique 254 (1966), S. 225–244.

10 Er bezog sich hierbei auf den Prozess, in welchem “das Epos in die roman-novellenhafte Form übergeht”. Vgl. Boratav, Türkische Volkserzählungen, S. 55–65.

11 Vgl. Pertev N. Boratav – Wolfram Eberhard, Typen türkischer Volksmärchen. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur; Veröffentlichungen der Orientalischen Kommis-sion; 5), Wiesbaden: Steiner 1953, S. 59 f.; vgl. hierzu auch Michail M. Bachtin, Un-tersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Berlin – Weimar: Aufbau-Verlag 1986, S. 465–506.

12 Boratav, Türkische Volkserzählungen, S. 60.13 DKO.14 Vgl. hierzu auch die Rezensionen von Mark Kirchner in Turkic Languages 6 / 2 (2002),

S. 300–304, und Sigrid Kleinmichel, Orientalische Literaturzeitung 97 (2002), S. 297–304.15 Vgl. hier z.B. die Diskussion bei Galip Güner, “Dede Korkut Oğuznameleri’nde köri ~

közi ~ göri” sorunu”, http: /  / turkoloji.cu.edu.tr / ESKI%20TURK%20DILI / galip_guner_dede_korkut_oguz_name.pdf (Abruf 23.06.2011).

16 Diese Erkenntnisse wurden von Hendrik E. Boeschoten indes nicht alle in seine 2008 erschienene deutsche Übersetzung übernommen, vgl. Idem, Das Buch des Dede Korkut. Heldenerzählungen aus dem türkischen Mittelalter. Stuttgart: Reclam 2008.

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Bedeutung hinsichtlich der Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des KDK sind und einige althergebrachte Interpretationen des Werks in einem neuen Licht erscheinen lassen:17 Unklar sind (und bleiben) hiernach u. a. der Anteil gebundener Sprache in den mündlichen Überlieferungen und das ursprüngliche Verhältnis der einzelnen Erzählungen zueinander. Des-weiteren, welche Veränderungen diese durch die Verschriftung erfuhren, wann und durch wen die ersten Niederschriften erfolgten und ob über-haupt alle Erzählungen zum ursprünglichen Überlieferungsbestand gehö-ren.18

Auch aus diesen Gründen erlaubt das KDK nur in sehr begrenztem Maße Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Geltungsrahmen der artikulierten Haltungen und Wertemuster. Denn die im KDK vergegenwärtigte Welt ist das Ergebnis einer ganz spezifischen historischen Situation, die darin zur Sprache kommenden Haltungen und Beispiele von Welt- und Lebens-bewältigung sind das Ergebnis eines ganz bestimmten räumlichen und zeitlichen, lebensweltlichen Zusammenhangs, der ausschließlich auf den “Standpunkt einer [ganz bestimmten] wirklichen und lebendigen Gruppe bezogen ist.”19 Diese lässt sich aber nicht mit endgültiger Bestimmtheit identifizieren. Was bleibt, sind also lediglich zwei handschriftliche Texte, von denen wir nicht mit Sicherheit wissen, wann und wo sie entstanden sind, wer sie niedergeschrieben bzw. verfasst hat, ob irgendwelche Absich-ten hiermit verfolgt wurden, und wenn ja, welche, sowie schließlich, wel-che konkreten Gruppen die vornehmlichen Rezipienten waren.20

Trotz all dieser Unwägbarkeiten übt das Werk heute eine starke Fas-zination aus. Diese Anziehungskraft ist in der Türkei, in Aserbeidschan21 und in verstärktem Maß auch in den mittelasiatischen Turkrepubliken22

17 Diese finden sich in Semih Tezcan, Dede Korkut Oğuznameleri Üzerine Notlar – İnceleme. İstanbul: Yapı Kredi Yayınları 2001. Vgl. auch Idem, “Oğuznameler”, Talat S. Halman et al. (Hg.), Türk Edebiyatı Tarihi. Bd. I, Ankara: T.C. Kültür ve Turizm Bakanlığı 2006, S. 611–612.

18 Vgl. Tezcan, “Oğuznameler”, S. 611–612.19 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen

Hochkulturen. 4München: Beck 2002, S. 39.20 Eine nachvollziehbare Einschätzung liefert indes Michael Meeker, “The Dede Korkut

Ethic”, International Journal of Middle East Studies 24 (1992), S. 395–417.21 Als ein Beispiel unter vielen sei genannt: Şamil A. Cemşidov, Kitab-ı Dede Korkut. Üçler

Bulduk (Übers. ins Türkeitürkische) (=Türk Dünyası Edebiyatı Eserleri Dizisi; 7), Anka-ra: Kültür Bakanlığı 1990, hier insb. S. 51–57.

22 Vgl. z. B. Abdimalik Nysanbaev, Korkyt Ata. Entsiklopedijalyk zhynak, kazak zhane orys tilinde. Almaty: Kazak Enciklopedijasy 1999.

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oft eng mit nationalistischen Tendenzen verknüpft.23 Zentral ist hierbei die Interpretation des KDK als einer aus ethnologischer und sozial- und kulturgeschichtlicher Sicht dokumentarischen Quelle ersten Ranges,24 die tiefe Einblicke in die gesellschaftliche Organisation zulasse, in die sozio-kulturellen und -ökonomischen Lebensbedingungen, die Weltwahrneh-mung und Wertemuster, kurz die lebensweltlichen Realitäten ‚der Türken’ bzw. Oġuzen25 oder, wie u. a. der Aserbaidschaner Memmed Dadashzade meinte, in “the true spiritual world, way of life, traditions, and customs of our people.”26

Die historischen Wurzeln der KDK-Erzählungen werden mitunter in eine Vergangenheit von 1.300 Jahren zurückgeführt,27 oder es wird auf das

23 Siehe hierzu vor allem JoAnn Conrad, “Dede Korkut. Reintegrating the Historic, the Heroic and the Marvelous”, Turcica 33 (2001), S. 243–275.

24 Zu diesem Problem vgl. z. B. die Diskussion bei Vladimir Propp, Theory and History of Folklore. Ariadna Y. Martin et al. (Übs.), (= Theory and History of Literature; 5), Minne-apolis: University of Minnesota Press 1984, S. 16–38.

25 Dede Korkut Destanları, Türk dilinin ve edebiyatının, Türklerin örf ve âdetlerinin, Türk ahlâk ve türelerinin, inançlarının, kahramanlıklarının, kısacası su katılmamış Türk hayatının olduğu gibi verildiği bir eserdir. Orhan Ş. Gökyay, Dede Korkut Hikâyeleri. İstanbul: Kabalcı 2006 (erw. Neuaufl. d. Ausg. 1976), S. 7. Jüngere Beispiele für diese Haltung bieten z.B. Dilek Tüfekçi Can und Metin Ekici: “Dating back to the ninth century [the KDK] represents the superior structure of Turkish nation providing clues on the origin of social and cultural values in contemporary Turkish communities […]. The intangible cultural heritage of Turkish nation such as its oral traditions, ethics, feasts, ritual practises, eating and drin-king habits and dressing styles are all presented. In other words, the epic story book is […] a special historical book and a national cultural encyclopedia.” Idem, “The Book of Dede Korkut: the Villains within and out of Turks”, Dana Lori Chalmers (Hg.), Villains, He-roes or Victims. Oxford: Inter-Disciplinary Press 2010, S. 14–20, hier S. 15, e-Publikation: http: /  / www.inter-disciplinary.net / wp-content / uploads / 2010 / 10 / vav1ever1201010.pdf (Abruf 24.10.2011). Vgl. auch Hülya Taflı, “The Alp and the Monster in pre-Islamic Epic (The Book of Dede Korkut) and Beowulf.” S. 1–28, e-Publikation: http: /  / www.inter-disciplinary.net / ati / Monsters / M4 / tafli%20paper.pdf (Abruf 24.11.2011). Seljuk Fatima Tomek, “Women as described in the Dede Korkut Epic from medieval Turkic oral histo-ry”, Pakistan Journal of Women’s Studies: Alam-e Niswan, 4 / 1 (1997), S. 1–11. Eine recht abseitige Interpretation bietet Eleonora Babayeva, “The Book of Dede Korkut”, Journal of Graduate School of Social Sciences / Sosyal Bilimler Enstitüsü Dergisi 9,1 (2007), S. 135–148.

26 Memmed Dadashzade, “Ethnographic Information Concerning Azerbaijan Contained in the Dede Korkut Dastan [sic]”, Soviet Anthropology and Archeology, 29–1 (1990), Reprint: Hasan B. Paksoy (Hg.), Central Asia Reader. The Rediscovery of History. Armonk / NY: Shar-pe 1994, S. 59–76.

27 “The Book of Dede Korkud is […] significant since it reflects and affirms a 1300 year period of Turkish history, and it shows rich Turkish culture and the origin of Oghuz [sic] to the world.” Babayeva, “The Book of Dede Korkut”, S. 135. Noch weiter geht Taflı, “The Alp and the Monster”, S. 6: “The Book of Dede Korkut was composed between the fifth century B.C. and the thirteenth century A.D.”

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231Im Osten nichts Neues

5. bis 7.,28 das 9. bis 11. oder 13. Jahrhundert29 als Entstehungszeitraum verwiesen. Dabei werden die Wertungen und Deutungen im KDK mitunter in eine Kontinuität gesetzt, die bis in unsere Gegenwart hineinreicht,30 ja sogar in die Zukunft weist.31 Diese transhistorischen Interpretationen und Bewertungen des KDK als Spiegel sozialer Wirklichkeiten sind oft ideolo-gischen Motivationen weitaus stärker verpflichtet als wissenschaftlichen Kriterien.32

Die Wurzeln dieser Haltung reichen zurück bis ins späte 19. Jahrhun-dert, als die ideologischen Grundlagen des türkischen Nationalismus und die ersten Ansätze der türkischen Volkskunde entwickelt wurden. Den bedeutendsten Impuls leistete zweifelsohne Ziya Gökalp, auch mit seinen frühen folkloristischen Arbeiten. Dem europäischen Zeitgeist der Jahrhun-dertwende entsprechend, interpretierte auch er Folklore im Sinne einer

28 Dadashzade, “Ethnographic Information”, S. 59. Bekir Nebiyev, “Kitab-ı Dede Korkut Ansiklopedisi”, Bilge Dergisi 25 (2000), S. 66–69.

29 Vgl. Faruk Sümer – Ahmet E. Uysal – Warren S. Walker, The Book of Dede Korkut. A Tur-kish Epic. Austin – London: University of Texas Press 1972. Can-Ekici, “Villains.” Tomek, “Women.” Taflı, “The Alp and the Monster.”

30 “In my opinion, universal messages given to the 21st century people increased the value and importance of this masterpiece”, Engin Yılmaz, “Dedem Korkut Kitabı’nda Tasvir Dünyası”, e-Publikation: http: /  / turkoloji.cu.edu.tr / ESKI TURK DILI / engin_yilmaz_dede_korkut_tasvir.pdf (Abruf 24.10.2011), S. 1.

31 “This work is also important because it shows the way to the future of Turkish peop-le.” Babayeva, “The Book of Dede Korkut”, S. 135. Süleyman Kaan Yalçın und Murat Şengül, “Dede Korkut hikayeleri’nin çocuk eğitimi açısından öne sürdüğü değerler ve ortaya çıkarmak istediği tip üzerine bir değerlendirme / The values that Dede Korkut’s stories put forward for Child Education and an Evaluation on a Character they aimed at raising in them”, [sic], Fırat Üniversitesi Sosyal Bilimler Dergisi (Fırat University Journal of Social Science) 14 / 2 (2004), S. 209, betonen dagegen nicht nur einen vermeintlichen pädagogischen Mehrwert des KDK, sondern empfehlen es auch als staatsbürgerkundliche Lektüre: “Child is a social personality who has a tightly relationship with his environ-ment. The greatest effect in order to acquire the formation of his character is the society living in it, because the society is in its body, the only institution that has the best value to bring up their individuals. In this study, we aimed at studying Dede Korkut’s stories that reflect the natural, moral and social-cultural values of Turkish society and achieved with common-world conception of Turkish society under the point of messages related to child education, because the childhood period plays a vital role for a child to acquire the formation of his personality. If our children are educated with genetic code of our society, they will be a very good citizen and we think that they will also transform our traditions to our next generation well. In our opinion, commenting on the educational aspects of Dede Korkut’s stories in a manner of update will show the best way to our children.” [sic].

32 Für die vergleichbare griechische Entwicklung vgl. Evangelos Gr. Avdikos, “Continuity, Identity and Folks Studies in Greece”, Folklore 44 (2010), S. 157–170.

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Kunde über das Volk.33 In den volkstümlichen mündlichen Überlieferun-gen (halk masalları), die er u.a. in der Region von Diyarbakır sammelte, erkannte Gökalp einen Schatz, in welchem die ureigensten moralischen Haltungen und ethischen Ideale ‘des Volkes’ über die Zeitläufte hinweg in unverfälschter Form bewahrt worden seien.34 Gleichzeitig verwies er auf die Bedeutung dieses Materials als pädagogisches Instrument zur Vermitt-lung einer nationalen Gesinnung an die künftigen Generationen.35 Aller-dings, so sein Einwand, eigne sich nicht jede Erzählung für diesen Zweck. So sollten allein diejenigen, die diesem Ziel dienlich seien gepflegt, die übrigen hingegen verworfen werden.36

Gökalps Appell wurde durch national gesinnte Intellektuelle tatkräf-tig umgesetzt.37 Unter anderen tat sich Mehmed Fuad Köprülü besonders hervor. Vor allem sein wissenschaftliches Frühwerk ‘Türk Edebiyatında İlk Mutasavvıflar’38 bildete einen Meilenstein in der Konstruktion und Etablie-rung einer nationalen türkischen Identität. Köprülü zeichnete hierin nicht nur die Entwicklung einer spezifisch türkisch-islamischen (mystischen) Literatur nach,39 vielmehr spannte er einen weiten Bogen von Zentralasien 33 Zu den Begriffe Folklore, Folkloristik und Volkskunde vgl. beispielsweise Hermann Bau-

singer, “Zum Begriff des Folklorismus”, idem, Der blinde Hund. Anmerkungen zur Alltags-kultur. Hgg. v. Eckardt Frahm, Wolfgang Aber Tübingen: Verlag Schwäbisches Tagblatt 1991, S. 92–103. Hermann Bausinger – Wolfgang Brückner (Hg.), Kontinuität? Geschicht-lichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Hans Moser zum 65. Geburtstag gewidmet. Berlin: Schmidt 1969. Vgl. auch Propp, Theory, S. 3–15. W. F. H. Nicolaisen, “Academic Programms in Folklore”, Thomas A. Green (Hg.), Folklore. An Ecyclopedia of Beliefs, Cu-stoms, Tales, Music and Art. 4 Bde., Santa Barbara u. a. 1997, hier Bd. I, S. 3–5 und Barbro Klein, “Folklore”, ibidem, S. 331–337.

34 Vgl. Ziya Gökalp, “Masalları nasıl toplamalı?” Halk Bilgisi Mecmuası (osmanisch) 1 (1928), S. 23.

35 Vgl. Gökalp, “Masalları”, S. 24.36 Vgl. Gökalp, “Masalları”, S. 24.37 Vgl. hierzu İlhan Başgöz, “Folklore Studies and Nationalism in Turkey”, Felix J. Oinas

(Hg.), Folklore, Nationalism and Politics. (Indiana University Folklore Institute Monograph Series; 30), 3Columbus, Ohio: Slavica 1978, S. 123–137. Siehe a. M. Öcal Oğuz, “Araştırmaların Tarihi”, idem (Hg.), Türk Halk Edebiyatı El Kitabı. 5Ankara: Grafiker Yayıncılık 1997, hier insb. S. 1–10, 15–31.

38 Vgl. Mehmed F. Köprülü, Türk Edebiyatında İlk Mutasavvıflar. 9Ankara 2003.39 Durch die zunehmende Beschäftigung mit Fragen der Islamisierung Zentralasiens und

der bedeutenden Rolle der historischen Figur Ahmad Yasawi und der Yasawiyya inner-halb dieses Prozesses beginnt das Werk Köprülüs zunehmend seinen – insbesondere in der Türkei geltenden ikonengleichen – Status einzubüßen. Eine fundamentale Kritik an Köprülüs wissenschaftlichem Erstlingswerk liefert Devin DeWeese, für den grundlegende Arbeiten zur “Yasawiyya”-Frage, insbesondere im Hinblick auf die Wirkung Köprülüs, weiterhin ein Desiderat sind. Vgl. Devin DeWeese, “Foreword”, Gary Leiser – Robert Dankoff (Hg. u. Übs.), Mehmed Fuad Köprülü: Early Mystics in Turkish Literature. London-

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bis Anatolien. Er kontextualisierte eine Unmenge von Quellen aus ver-schiedenen Perioden und unterschiedlicher genremäßiger Zugehörigkeit und thematisierte schließlich die Rolle dieses Materials für die Entwick-lung und Tradierung türkisch-islamischer Kultur einerseits und für die Bil-dung einer nationalen türkischen Identität andererseits. Die Diskussion des Umfangs und der Bedeutung persischer und arabischer Einflüsse diente dabei oft dem Zweck, diese Einflüsse zu isolieren und aus den Quellen das spezifisch Türkische herauszuschälen. Schließlich sei die (eigentliche) türkische islamische Kultur durch die jahrhundertelang herrschende volks-fremde osmanische Hofkultur mit ihrer stark persischen Prägung einerseits und dem seit der Tanzimat-Periode dominierenden europäischen Einfluß andererseits verschüttet bzw. vergessen, und jede Äußerung dieses volks-eigenen Wesens vernachlässigt, ja geradezu verachtet worden.40 Sowohl in diesem Werk als auch in einer Vielzahl anderer Beiträge postulierte Köprülü somit die Existenz und Wirkmacht eines genuin türkischen Natio-nalcharakters. Wie Gökalp plädierte auch er dafür, diese türkische Geistes- und Wesensart wieder zu entdecken und als gesellschaftliche Wirkmacht neu zu beleben.

Als politisches Programm wurde diese Absicht von Gökalp in seinem 1923 erschienenen Werk “Die Grundlagen des Türkentums”41 ausformu-liert. Der als untürkisch und dekadent wahrgenommenen osmanischen Kultur stellte Gökalp ein ethisch und moralisch überlegenes Türkentum gegenüber. Diese Dichotomie wollte er in allen Bereichen des gesellschaft-lichen Lebens erkannt haben. Er illustrierte dies mit der Gegenüberstel-lung der Komplexe “Kultur” (hars)42 und “Zivilisation” (medeniyet).43 Unter Kultur (hars) wollte er dabei die Summe der einer Nation jeweils eigenen Werte und Institutionen verstanden wissen. Diese erstreckten sich nach ihm auf die Bereiche des Glaubens (dinî hayat), der Ethik und Moral (ahlâki hayat), des Rechtswesens (hukukî hayat) und Geisteslebens

New York: Routledge 2006, S. iix–xxvii. Zu betonen ist allerdings, dass DeWeese nicht der erste ist, der sich aus dieser Perspektive kritisch mit Köprülü bzw. seinem genannten Werk auseinandersetzt, so etwa A. Yaşar Ocak. Vgl. z.B. idem, “Anadolu Halk Sûfîliğinde Ahmed-i Yesevî ve Yesevîlik Problemi”, idem (Hg.), Türk Sufîliğine Bakışlar, 6İstanbul: İletişim 2002, S. 51–63.

40 Vgl. Köprülü, İlk Mutasavvıflar, S. 35. 41 Ziya Gökalp, Türkçülüğün Esasları. Hazırlayan: Mehmet Kaplan. (Kültür Bakanlığı, Ziya

Gökalp Yayınları; 7 / I. seri; 7), İstanbul: M.E.B. Kültür Bakanlığı 1976. 42 Zu Gökalps Kulturbegriff vgl. idem, Türkçülüğün Esasları, S. 96–102.43 Gökalp, Türkçülüğün Esasları, S. 25.

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(muakalevî hayat), der Ästhetik (bediî hayat) und Wirtschaftsweise (iktisadî hayat), der Sprache (lisanî hayat) und der Wissenschaften (fennî hayat). Die Schwerpunkte legte Gökalp freilich auf die Komplexe Sprache und Ethik.44 Letzteres ist von besonderem Interesse, da Gökalp den Türken die größten Leistungen im Bereich von Ethik und Moral attestierte,45 und weil diese Postulate bis heute nachwirken und sich auch (in offener oder versteckter Form) in wissenschaftlichen Arbeiten niederschlagen.46

Bei der Diskussion des ethischen Fundaments des Türkentums widmete Gökalp seine größte Aufmerksamkeit wiederum der Familienethik (aile ahlâkı) und der Sexualmoral (rahtî ahlâk) und verwies auf das Vorhanden-sein eines genuin “türkischen Feminismus” (Türk feminizmi). Bezüglich der Rolle der Frauen in der (vorislamischen) türkischen Gesellschaft kam er u.a. zu der Feststellung, dass die alten Türken (eski Türkler) Feministen und grundsätzlich monogam gewesen seien. Ein weiterer charakteristischer Wesenszug der Türken sei die Höflichkeit gegenüber Frauen (şövalyelik).47 Die türkische Frau wiederum sei im Allgemeinen eine Amazone gewesen, die ihren männlichen Genossen im Reiten, in der Waffenkunst und im Vollzug anderer Heldentaten in nichts nachgestanden und sich ansonsten vollkommener Freiheit erfreut habe.48 Freilich galt Gökalps Interesse nicht der historischen Forschung, sondern der Umsetzung einer bestimmten Zukunftsvision, der Schaffung des neuen türkischen Menschen.49 Folglich beschäftigte er sich auch weniger mit den strukturellen Bedingungen, die

44 Vgl. hierzu auch Fevziye A. Tansel, Ziya Gökalp Külliyatı – I.: Şiirler ve Halk Masalları. 2Ankara: TTK 1977, S. xxiv.

45 Vgl. Gökalp, Türkçülüğün Esasları, S. 144. 46 Vgl. z.B. Abdülkadir Donuk, “Çeşitli Topluluklarda ve Eski Türklerde Aile”, Tarih Dergisi

33 (1982), S. 147–168. İbrahim Kafesoğlu, Türk bozkır kültürü, Ankara: Türk Kültürü-nü Araştırma Enstitüsü 1987. Mehmet Eröz – Ali Güler, Türk Ailesi. (Türk Kültüründen görüntüler dizisi; 39), 2Ankara: M.E.B. 1998. Babayeva, “The Book of Dede Korkut.” Şeyma Güngör, “Women who save their husbands from difficult situations in the Book of Dede Korkut”, Kadın / Woman 2 / 2 (2001), S. 25–47.

47 Vgl. Gökalp, Türkçülüğün Esasları, S. 160.48 Eski Türklerde kadınlar umumen (amazon) idiler. Cündîlik, silahşörlük, kahramanlık Türk

erkekleri kadar Türk kadınlarında da vardı. Kadınlar, doğrudan doğruya, hükümdar, kale muhafızı, vali ve sefir olabilirdi. […] Erkek daima karısına hürmet eder, onu arabaya bindire-rek kendisi arabanın arkasında, yaya yürürdü. Şövalyelik, eski Türklerde umumî bir seciye idi. Feminizm de, Türklerin en esaslı şiarı idi. […] Eski kavimler arasında, hiç bir kavim türkler kadar, kadın rahtına (raht = sexe) hukuk vermemişler ve hürmet göstermemişlerdir. Gökalp, Türkçülüğün Esasları, S. 159 f.

49 Vgl. hierzu auch Nurettin Gemici, 17. Yüzyılda Kadınlar, Evliya Çelebi’nin gözlemleriyle. 2İstanbul: Lamure 2010, S. 14 f.

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dem Unterschied der Rolle der Frau in den nomadischen Gesellschaften Zentralasiens zu derjenigen in den sesshaften islamischen Gesellschaften zu Grunde lag.

Die Vorstellung, dass bei den Türken grundsätzlich eine mehr oder weniger egalitäre Geschlechterbeziehung geherrscht habe, die durch den Islam und andere kulturelle Einflüsse verschüttet bzw. korrumpiert wurde, ist im Zusammenhang des Türkismus (Türkçülük) zu sehen, einem Phäno-men des Verwestlichungsprozesses, mit dem bestimmte westliche Werte als urtürkisch interpretiert wurden.50 Die Verwestlichung bzw. Moderni-sierung der Türken bildete demnach keine Entfremdung von ihrem urei-genen Wesen, sondern bedeutete im Gegenteil eine Rückkehr zu demsel-ben. Das “türkische Volk” sei durch den Einfluss fremder, dem Türkentum entgegenstehender Kulturen, Religionen und politischer Gebilde seiner Grundsubstanz beraubt worden.51 Insbesondere im Bereich der Frauen-frage bekannte sich Gökalp deutlich zu diesem türkischen Fundamenta-lismus, d.h. zur vermeintlichen Rückkehr zu den alten, eigenen Werten:

“[Aus den vorausgegangenen Ausführungen geht deutlich hervor], wie überlegen die Türken [gegenüber anderen Völkern] sowohl hinsichtlich der Familienethik als auch der Sexualmoral waren. Die Türken unserer Zeit haben diese ihre ehemaligen ethischen Grundsätze indes vollkommen verloren. Unter dem Einfluss der persischen und griechischen Kulturen sind die Frauen in die Skla-verei geraten und auf einen rechtlich niederen Status abgesunken. Als unter den Türken das Ideal der nationalen Kultur aufkam, stand es da nicht an, an diese guten Normen der alten Türken zu erinnern und ihnen zur Wiedergeburt zu verhelfen? Dies ist denn auch die Ursache dafür, dass mit dem Aufkommen der (nationalen) türkischen Bewegung in unserem Land, auch das Ideal des Femi-nismus geboren wurde. Die Türkisten sind Populisten und Feminis-ten nicht etwa, weil diese beiden Ideale in diesem (gegenwärtigen) Jahrhundert besonders geschätzt werden, sondern weil Demokra-tie und Feminismus die beiden Hauptsäulen im Leben der alten

50 Vgl. hierzu Mualla Türköne, Eski Türk Toplumunun Cinsiyet Kültürü. Ankara: Ark 1995, hier insb. S. 185–223.

51 Vgl. hierzu auch Deniz Kandiyoti, Cariyeler, Bacılar, Yurttaşlar. Kimlikler ve toplumsal dönüşümler. (=Kadın Araştırmaları dizisi; 11), 3İstanbul: Metis 2011, S. 133–153.

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Türken waren. Während andere Nationen genötigt sind auf ihre Vergangenheit zu verzichten, um an der modernen Zivilisation teilzunehmen, müssen wir Türken lediglich zu unserer ureigenen Vergangenheit zurückkehren.”52

Die Ausführungen des Ägyptologen und Kulturhistorikers Jan Assmann zur Frage der Vergangenheitsbildung sind in diesem Zusammenhang beson-ders erhellend. Nach der banal anmutenden, aber treffenden Feststellung, “daß Vergangenheit dadurch entsteht, daß man sich auf sie bezieht” erklärt er: “Damit man sich auf die Vergangenheit beziehen kann, muß sie als solche ins Bewußtsein treten. Das setzt zweierlei voraus: a) sie darf nicht völlig verschwunden sein, es muß Zeugnisse geben; b) diese Zeug-nisse müssen eine charakteristische Differenz zum “Heute” aufweisen. […] Jeder tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch kann zur Entstehung von Vergangenheit führen, dann nämlich, wenn nach solch einem Bruch ein Neuanfang versucht wird. Neuanfänge, Renaissancen, Restaurationen tre-ten immer in der Form eines Rückgriffs auf die Vergangenheit auf. In dem Maße, wie sie Zukunft erschließen, produzieren, rekonstruieren, entde-cken sie Vergangenheit.”53 Ein Umstand, den Cemal Kafadar, bezogen auf die osmanische Oġuzenrezeption als “creative rediscovery” bezeichnet.54

Assmanns Ausführungen zur Vergangenheitsbildung lassen sich ebenso hervorragend auf die türkische (bzw. aserbaidschanische) Rezepti-onsgeschichte des KDK anwenden wie Kafadars schöpferische Wiederent-deckung. Bereits Gökalp stützte sich bei seinem Entwurf des neuen (alten) türkischen Menschen, der Schaffung einer nationalen Identität, auch auf das

52 Türklerin, gerek aile ahlâkında ve gerek rahtî ahlâkta ne kadar yüksek olduklarını yukarıki fasıllarda gördük. Hâl-i hazırda, Türkler tamamiyle bu eski ahlâkı kaybetmişlerdir. İran ve Yunan medeniyetleri tesiriyle kadınlar, esarete düşmüşler, hukukça dûn bir derekeye inmişlerdir. Türklerde, millî hars mefkûresi doğunca, eski Türklerin bu güzel kaidelerini hatırlatmak ve diriltmek lâzım gelmez miydi? İşte bu sebepledir ki memleketimizde Türkçülük cereyanı doğar doğmaz, feminizm mefkûresi de beraber doğdu. Türkçülerin hem halkçı, hem de kadıncı olmaları, yalnız, bu asrın bu iki mefkûreye kıymet vermesinden dolayı değildir; eski Türk hayatında demokrasi ile feminizmin iki başlıca esas olması da bu hususlarda büyük bir âmildir. Başka milletler, asrî medeniyete girmek için, mazilerinden uzaklaşmağa mecburdur-lar. Halbuki, Türklerin asrî medeniyete girmeleri için, yalnız eski mazilerine dönüp bakmaları kâfidir. Gökalp, Türkçülüğün Esasları, S. 163.

53 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 31 f. 54 Cemal Kafadar, Between Two Worlds: The Construction of the Ottoman State. Berkeley – Los

Angeles: University of California Press 1995, S. 122.

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KDK.55 Eine bis heute nicht abbrechende Reihe vor allem türkischer und aserbaidschanischer Interpreten der Erzählsammlung folgen ihm auf die-sem Weg und nutzen das Werk als wichtigen Baustein einer spezifischen Vergangenheits-, ergo Identitätskonstruktion. Besondere Aufmerksamkeit wird hierbei auch der Frage nach der Beziehung der Geschlechter bzw. dem Frauenbild historischer türkischer Gesellschaften zuteil.

Bereits Köprülü wollte in den Heldinnen des KDK einen Prototyp der türkischen Frau erkennen. Er ordnete die Frauengestalten jedoch einer bestimmten historischen Epoche (alplar devri) zu, nämlich der für die Oġuzen (Turkmenen) durchaus prekären Phase der Wanderung aus Mit-telasien nach Anatolien, ihrer dortigen Landnahme und der hiermit ver-bundenen permanenten kriegerischen Zustände, die ihre Lebenswelt in dieser Periode maßgeblich bestimmte. Die Herausforderungen und Not-wendigkeiten dieser Lebenswelt hätten einen Typus von Frau bedingt, der von den kämpfenden Männern nicht zu unterscheiden gewesen sei. Das KDK wiederum belege, dass genau dieser Typ Frau dem zeitgenössi-schen männlichen Frauenideal entsprochen habe.56 Orhan Şaik Gökyay wiederum wollte an Hand des KDK erkannt haben, dass die Frau in tür-kischen Gesellschaften den höchsten Rang einnehme, wie bereits bei den Wu-Sun in vorchristlicher Zeit, den Hunnen Attilas und den Göktürken.57

Allgemein herrsche kein signifikanter Unterschied zwischen Männern und Frauen, beide seien gleicher Gesinnung und gleichermaßen heldenhaft.58 Zu dieser spezifisch türkischen, geschlechterübergreifenden heroischen

55 Vgl. Başgöz, “Folklore Studies”, S. 126.56 Kitâb-ı Dede Korkut hikâyelerindeki […] kadınlar, hakikatte bir alp’tan başka bir şey değildir.

[…] O devir alplarının istediği kadın […] cengâverlik hisleri bakımından erkeklerden tamâ-men farksız bir kahramandır, hakikatten, alplar devrinin, yani ozanlar zamanının kadınları ancak böyle destânî bir seciyede olabilirlerdi. Köprülü, İlk Mutasavvıflar, S. 235, Anm. 93.

57 Toplumda en yüksek mevki kadına aitti, Orhan Şaik Gökyay, Dedem Korkut Kitabı. İstanbul: Kabalcı 2007 (Neuaufl. d. Ausg. 1973), S. 1082–3. Bei seiner Übersicht über die wissen-schaftlichen Positionen zur Frage der gesellschaftlichen Position der Frau in türkischen Gesellschaften, verweist Nurettin Gemici, 17. Yüzyılda Kadınlar, S. 22 u.a. auch auf die Orkhon-Inschriften, in denen sich kein einziger Hinweis auf Mehrehen finden lasse. Dies stimmt nachweislich nicht. Die Kül Tigin-Inschrift erklärt: “Da waret ihr, meine Mutter, die Chatun, und mit ihr meine Stiefmütter, meine älteren weiblichen Verwandten, meine Frauen und jüngeren weiblichen Verwandten, ihr, alle meine Prinzessinnen, in Gefahr, entweder lebend in Gefangenschaft zu geraten oder tot auf den Wegen und in den Wohn-plätzen liegen zu bleiben.” W. Radloff, Die alttürkischen Inschriften der Mongolei. Bd. II, Osnabrück: Zeller 1987 (Neudruck d. Ausg. St. Petersburg 1897), S. 147.

58 Bu destanların kadınları da erkekleri gibi, aynı karakterde ve aynı derecede kahramandır. Gökyay, Dedem Korkut Kitabı, S. 1084.

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Grunddisposition geselle sich eine hohe moralische Integrität der Türken im Allgemeinen und der türkischen Frau im Besonderen. Folglich finde sich auch im KDK weder eine Spur von Lüsternheit, noch der Lüge.59 Bei alledem sollten aber die erzieherischen Ambitionen des Lehrers Gökyay nicht vergessen werden, die er etwa in folgender wertender Beobachtung erkennen ließ: “Zwar finden sich auch im KDK Stellen, in denen intime Aspekte ehelichen Lebens vorkommen, diese Schilderungen sind jedoch weit entfernt von den ausgearteten Formen, denen wir in der gegenwärti-gen Literatur begegnen.”60

Zwar interpretierte auch Köprülü die Dede Korkut-Erzählungen als Widerspiegelungen einer konkreten Lebenswirklichkeit. Er trug mit seiner Zuordnung der Frauen- bzw. Heldinnenbilder in einen – wenn auch sehr vagen – Zeitabschnitt, jedoch auch der Tatsache Rechnung, dass gesell-schaftliche Zusammenhänge und die hieraus resultierenden Haltungen, Wertungen und Deutungen variabel sind. Dies gilt auch für das Verhält-nis der Geschlechter bzw. das Männer- und Frauenbild einer jeweiligen Kultur. So betonen die Ergebnisse der Frauenforschung aus den letzten dreißig Jahren, dass der gesellschaftliche Konsens darüber, was und wie Männer und Frauen sind bzw. zu sein haben, immer wieder neu konst-ruiert werde, wobei vor allem Veränderungen in der gesellschaftlichen Organisation den Ausschlag geben. Dennoch, “eine präzise Kenntnis der zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten gefundenen Übereinkünfte darüber, was Männer und was Frauen sind, fehlt uns bis heute ebenso, wie uns Informationen darüber fehlen, auf welche Weise und von wem, unter welchen Bedingungen und mit welchem Ergebnis solche Übereinkünfte ausgehandelt, wie sie schließlich wirkungsmächtig wurden.”61

59 Vgl. Gökyay, Dedem Korkut Kitabı, S. 1085.60 Dede Korkut destanlarında kadın-erkek ilişkisinin mahrem yönlerini anlatan yerler yok

değildir; fakat bunlar bugünün edebiyatında rastladığımız soysuzlaşmış tasvirler olmaktan uzaktır. Gökyay, Dedem Korkut Kitabı, S. 1085. Bei aller Kritik an Gökalp, Gökyay u. a., sei an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen, dass die Anerkennung der Frauenfor-schung als gleichberechtigtes Arbeitsfeld in den westlichen Folklore-Studies erst mit dem von Claire R. Farrer herausgegebenen Band “Women and Folklore: images and genre”, Journal of American Folklore. 88 / 347 Austin u. a. 1975, einsetzte.

61 Christiane Eifert u.a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktion im historischen Wandel. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1996, Einleitung, S. 7–11, hier S. 8. Vgl. hierzu auch Christine Haag, “Das Ideal der männlichen Frau in der Literatur des Mittelalters und seine theoretischen Grundlagen”, Ingrid Bennewitz – Helmut Tervooren (Hg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper’ und ‚Geschlecht’

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Der vermeintliche Wandel in der gesellschaftlichen Position der türkischen Frau bzw. ihr sozialer Abstieg wurde bereits bei Gökalp als Resultat fremder, d.h. nicht-türkischer kultureller und religiöser Einflüsse gewertet, wobei er die räumliche Segregation (harem, selâmlık) und den Schleier (çarşaf, peçe gibi âdetler) auf byzantinisch-christliche und zoroas-trisch-persische Traditionen zurückführte, die durch die Araber den Tür-ken vermittelt worden seien.62 Faruk Sümer, Ahmet E. Uysal, Warren S. Walker63 und Geoffrey Lewis64 führen die Entwicklung dagegen direkt auf die Islamisierung zurück, wobei sie sich in ihren Argumentationen durchaus der Trennlinie zum Kulturalismus nähern.65 Weit jenseits dieser Grenze bewegen sich indes Metin Ekici und Dilek Tüfekçi Can. Sie kom-men zu der unhaltbaren Behauptung, im Gegensatz zum (türkischen) KDK seien die Frauengestalten in arabischen, iranischen und indischen Epen und Mythen und besonders in griechischen Epen “nothing other than a means of eroticism.”66 An Punkten wie diesen macht sich das weitgehende

in der deutschen Literatur des Mittelalters. (Internationales Kolloquium der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft Xanten, 1997), Berlin: E. Schmidt 1999, S. 229–248.

62 Gökalp, Türkçülüğün Esasları, S. 55.63 ”Turkish women originally had almost equal status with men, the veil, the harem, and

polygamy being Arabian institutions imported some time after the adoption of Islam.” Sümer – Uysal – Walker, The Book of Dede Korkut, S. xvii.

64 ”It is above in the status of women that the mode of life depicted in the stories differs from the Islamic norm; the Oghuz women have great freedom and […] do not sit passively in their tents.” Geoffrey Lewis, “Heroines and others in the heroic age of the Turks”, Gavin R. G. Hambly (Hg.), Women in the Medieval Islamic World. Power, Patrony and Piety. (The New Middle Ages; 6), Basingstoke – London: Macmillan 1998, S. 149.

65 Dies lässt sich recht bequem mit der Vorstellung verbinden, dass die Integration der Türken in die islamische Welt einen tiefen kulturellen Bruch herbeiführte, der die Verschlechterung des sozialen Standes der türkischen Frau zur Folge hatte. Vgl. hierzu die äußerst lesenswerte Arbeit von Nilgün Dalkesen, Gender roles and women’s status in Central Asia and Anatolia between the thirteenth and sixteenth centuries. Diss. Orta Doğu Teknik Üniversitesi, Ankara 2007, e-Publikation: etd.lib.metu.edu.tr / upload / 12608663 / index.pdf (Abruf 14.03.2012).

66 Can-Ekici, “Villains”, S. 4. Besonders schwer wiegt, dass die Autoren ihre Behauptung durch kein einziges Beispiel veranschaulichen. Doch folgt auch dies einer gewissen Logik oder Konsequenz. Schließlich läuft ihre vollmundige “Feststellung” ja auf eine pauschale Disqualifizierung nicht-türkischer epischer Traditionen hinaus, die bereits aufgrund ih-rer Absolutheit auf weitere Spezifikationen verzichten kann, ja sogar muss. Folglich ist man in Bezug auf die in Frage kommenden weiblichen Figuren aus den genannten epi-schen Traditionen auf Mutmaßungen angewiesen. So lässt sich etwa die tragische Gestalt der Prinzessin Draupadi im Mahabharata, die zeitgleich mit den fünf Pandava-Brüdern verheiratet ist, auch beim besten bzw. schlechtesten Willen nicht zu einem Lustobjekt de-gradieren. Ebenso lässt sich fragen, welche der tragenden Frauengestalten der Illias und der Odyssee tatsächlich Objekte männlicher Lustphantasien sind? Helena als Schönste

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Ausbleiben komparatistischer Arbeiten, die das KDK mit anderen Helden-erzählungen insbesondere aus dem iranischen, byzantinischen und arabi-schen Kulturraum vergleichen, schmerzlich bemerkbar.67

aller Weiber taugt genauso wenig dazu, wie Circe, die Odysseus quasi zwangsweise zu beschlafen hat. Noch weniger Penelope, das Beispiel der treuen und tugendhaften Gattin, die auch dem KDK zur Ehre gereichte. Nur mit einigen Verrenkungen ließe sich etwa Briseis zum Gegenstand erotischer Vorstellungen stilisieren oder die Mägde im Hause Odysseus’, die von den verkommenen Freiern als Beischläferinnen mißbraucht werden. Die Frauen des Şahname wiederum spielen gewiss oft lediglich die Rolle der Empfänge-rin bzw. Mutter des Helden (z.B. Tahmine, Farangiz oder Nahid), aber sind sie deshalb gleich Sexobjekte? Eine Diskussion der unterschiedlichen Frauengestalten des Şahname lieferte unlängst Mehri Talkhabi, Šāhnāme va Faminizm. Tehran: Tarfand 1384 / 2005; vgl. insb. den Abschnitt zu Gordafarid, S. 177–180. Auf die Rolle weiblicher Kriegerge-stalten in zwei weiteren persisch-islamischen Heldenerzählungen geht beispielhaft ein: Marina Gaillard, “Héroïne d’Exception: Les femmes ‘Ayyār dans la prose romanesque de l’Iran médiéval,” Studia Iranica 34 (2005), S. 163–198. Zu den arabischen Heldinnen Dhat al-Himma und Aluf in der ‘Sirat al-Amīra Dāt al-Himma’ vgl. Claudia Ott, Der fal-sche Asket. Ursprung und Entwicklung einer Romanfigur aus der sirat al-amira Dat al-Himma. Tübingen: Univ., Magisterarb. 1992, S. 18. Vgl. auch Remke Kruk, “Warrior Women in Arabic popular Romance: Qannasa bint Muzahi and other valiant Ladies”, Journal of Arabic Literature 24 (1993), S. 213–230. Harry T. Norris, “The Rediscovery of the Anci-ent Sagas of the Banu Hilal”, Bulletin of the School of Oriental and African Studies 51 / 3 (1988), S. 462–481. Eine Bestandsaufnahme weiblicher Heldengestalten in islamischen Literaturen bietet John Renard, Islam and the Heroic Image: Themes in Literature and the Visual Arts. Columbia University of South Carolina Press 1993.

67 Auf dieses und weitere Desiderate in der KDK-Forschung machte zuletzt aufmerksam Conrad, “Reintegrating the Historic”, z. B. S. 245, 251, 262. Gleichzeitig warnt sie aber auch vor rein typologischen Analysen, die zu nicht mehr als einer Aneinanderreihung scheinbarer Ähnlichkeiten führten. Ibidem, S. 260–262. Ein Beispiel hierfür liefert Taflı, “The Alp and the Monster.” Sie vergleicht das KDK mit dem Beowulf-Epos, kommt dabei aber über eine ebensolche Motivsammlung nicht hinaus: Ihr zufolge handelt es sich in beiden Fällen um Überlieferungen tribal organisierter Gesellschaften aus ihren jeweili-gen Migrationsperioden. Eine weitere Gemeinsamkeit der Texte sei, dass sie Einblicke in bestimmte lebensweltliche Umstände dieser Gesellschaften vermittelten, wie etwa deren jeweilige Migrationsmedien: “Oğuz society used horses, and Geats and Danes used ships. Although this is a similarity, the tool that they used is different depending upon their geographical locations. The common point is that both groups migrated and they used the migration vehicles appropriate for the terrain they covered.” Ibidem, S. 6. Nach der gleichen Logik wären die migration vehicles etwa der Inka oder Massai schlichtweg Füße oder Schuhwerk. Zu bemerken ist, dass weder die Gesellschaft des KDK noch diejenige des Beowulf migrieren! Die einen sitzen auf ihren Almen und ziehen lediglich dann und wann zur Jagd oder zu einem Kriegs- bzw. Rachezug. Beowulf wiederum ist der Führer einer Söldnerbande, die sich nun einmal irgendwie an den Ort ihres Engagements zu begeben hat. Aus diesen kurzfristigen Bewegungen und temporären Ortswechseln gleich auf eine migrierende Gesellschaft zu schließen, ist nicht gerechtfertigt, auch wenn die ältere Forschung in beiden Fällen die Erzählungen in einen solchen Kontext stellte.

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Joachim Hein erklärte in den fünfziger Jahren “die Mutterliebe, die Gattenliebe, die ausharrende Liebe der Braut, die Sohnes- und Bruder-liebe [zu] Grundthemen der einzelnen Erzählungen, denen gegenüber die kriegerischen Heldentaten einen weitaus geringeren Raum einnehmen.”68 Michael Meeker wiederum stellt in seiner Diskussion der ethischen Grund-lagen des KDK die Integrität der Familie als zentralen Wert in den Vor-dergrund. Demnach vermitteln die Erzählungen in erster Linie moralische Botschaften, in dem sie die Selbstaufopferung der Helden für Familie und Gemeinschaft verherrlichen. Die Persönlichkeit und Identität der jeweili-gen Helden, ihre Erfahrungen und Gefühle seien stets auf die Familie und die Gesellschaft bezogen, deren prägendes Element die gegenseitige Liebe und Fürsorge sei.69 Zwar lassen sich all diese Elemente tatsächlich erken-nen, dies erlaubt es jedoch nicht, die Erzählungen als Projektionsflächen eines einzigen Themas bzw. eines fest umgrenzten Katalogs moralischer Verhaltensmaximen zu deuten. Dies vor allem auch, da wir nicht wis-sen, wer genau die Rezipienten der uns vorliegenden Erzählungen waren, in welchen Zusammenhängen sie vorgetragen wurden, welchen Sinn sie überhaupt zu erfüllen hatten.

Gewiss, die Erzählungen spielen in einer feudalen Stammesgesellschaft, wobei die Darstellung der einzelnen Gestalten und die in den Erzählungen vermittelten Verhaltens- und Wertemuster Einblicke in zentrale Vorstel-lungen und Normen dieser entsprechenden Gesellschaft zulässt. Ebenso gilt, dass die jeweiligen Helden die ethischen Forderungen der sie vereh-renden Gesellschaft in idealer Weise erfüllen. Sie folgen in ihrer Daseins-bewältigung einer Motivation, die sich mit der Vorstellungswelt und den Wertemustern ihrer Verehrer deckt. Es liegt zudem nahe, in den Erzäh-lungen auch Medien der Selbstvergewisserung zu erkennen, die u.a. der Vergegenwärtigung gemeinsamen historischen Wissens dienten. Solche Erinnerungen70 (d. h. eigentlich Geschichte), sind wichtige Bestandteile

68 Joachim Hein (Übs.), Das Buch des Dede Korkut. Ein Nomadenepos aus türkischer Frühzeit. Zürich: Manesse 1958, S. 335.

69 Vgl. Meeker, “Dede Korkut Ethic”, S. 399. 70 Erinnerung wird hier verstanden als “eine partielle Rekonstruktion der Vergangenheit,

die Gedächtnisspuren nach Maßgabe gegenwärtiger Bedürfnisse und Deutungen berück-sichtigt und verknüpft.” Donald E. Polkinghorne, “Narrative Psychologie und Geschichts-bewußtsein. Beziehungen und Perspektiven”, Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. (=Er-innerung, Geschichte, Identität; 1), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 24.

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kollektiver Identitätsbildung, schließlich wird ‚historisches Wissen’ “auf grundsätzliche Weise [für] die Zwecke der Identitätsbildung genutzt.”71 Als Erfahrung lässt sich Geschichte allerdings nicht ohne die Subjekte den-ken, die sich jene erzählen, sie vergegenwärtigen. Sie existiert folglich nicht an sich, “sondern ist das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion und Repräsentation[, die] von den Bezugsrahmen einer Gegenwart geformt”72 sind. Dies verweist wiederum auf ein grundsätzliches Problem der mentali-tätsgeschichtlichen Analyse historischer Quellen, mithin auch der Analyse des uns heute vorliegenden KDK und der verschiedenen Deutungen, denen es unterworfen wird. Man ist oft verleitet, den intellektuellen Konsens einer historischen Gesellschaft zu überschätzen, da sie umso homogener erscheint, je weniger wir über sie wissen.73 So hört sich beispielsweise die Forderung von Jerome S. Brunner, sich bei der Analyse historischer Quel-len “eine Kultur anzueignen, mit all den verbundenen, “nicht-rationalen” Sinnbildungen und Bedeutungskonstruktionen, die zu einer kulturellen Praxis gehören”,74 zwar verlockend an. Sie bleibt für uns aber schlichtweg unerfüllbar und dies nicht nur aufgrund der zeitlichen Alterität, die uns von der einst “lebendigen und wirklichen Gruppe” trennt, der wir das KDK in der heute vorliegenden Form zu verdanken haben. Schließlich gilt, dass “Bedeutungen [von Aussagen] sich in der Dynamik einer sozialen Begeg-nung [entwickeln]: im Zuge gegenseitiger Unterstellungen von Intersub-jektivität, durch die Erfordernisse der Praxis, durch die Bezugnahme auf normative Maßstäbe[, und] dass das Zuschreiben von Bedeutung [selbst] durchtränkt ist von “Alltagspsychologie”, vom Praktischen des Handelns und von den Normen der [jeweils] eigenen Kultur.”75 Wie bereits mehrfach angedeutet, wissen wir jedoch weder etwas über die individuelle Motiva-tion derjenigen Personen, die die vorhandenen KDK schriftlich fixiert bzw. verfasst haben, noch haben wir exakte Kenntnisse über die kollektiven Motivationen, und erst recht nicht über die Alltagspsychologie derjenigen

71 Jörn Rüsen, Geschichte im Kulturprozess. Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2002, S. 113.72 Rüsen, Geschichte im Kulturprozess, S. 88.73 Peter Burke, “Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte”, André Burguière

– Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin: Wagenbach 1987, S. 133.

74 Jerome S. Bruner, “Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen. Was ist gewonnen und was verloren, wenn Menschen auf narrative Weise Sinn bilden?” Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, S. 51 f.

75 Bruner, “Vergangenheit und Gegenwart”, S. 46 f.

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Gruppen, die sich in die Verehrung der im KDK präsentierten Heldenfigu-ren teilten,76 auch wenn dies in einer Vielzahl von Arbeiten über das KDK immer wieder vollmundig behauptet wird.77

Zu bedenken ist ferner, dass die bewunderns- bzw. nachahmenswerten Verhaltensweisen in den einzelnen Erzählungen bereits als Tugenden einer guten, alten Oġuz enzeit (Oğuz zamanında78), d.h. einer imaginierten Ver-gangenheit vorgestellt werden. Die Alterität wird jedoch nicht nur auf der zeitlichen Ebene (Oğuz zamında), sondern auch in Bezug auf die Sitten und Gebräuche hergestellt. So heißt es etwa, dass zur Zeit der Oġuzen der Held bzw. junge Oġuze sein Brautzelt dort aufzubauen pflegte, wo sein Pfeil niederging,79 dass die oġuz ischen Kämpen seinerzeit einen sehr festen Schlaf hatten und ihnen Unglücke nur währenddessen widerfuhren,80 und dass es unter den Oġuzenbegs keine Lüge gegeben habe,81 letzteres frei-lich nur im Vatikan-Manuskript. Die uns vorliegenden KDK-Handschriften geben also ihrerseits nicht mehr als Konstruktionen einer bestimmten Ver-gangenheit, ein historisches Imaginaire wieder.

Die Frauenfiguren des KDK

Der Aussagegehalt des KDK über soziale Wirklichkeiten bzw. die sozio-kulturelle und -ökonomische Verfasstheit oġuzischer / turkmenischer Grup-pen ist verhältnismäßig gering. Die Erzählungen spielen in der Welt der aristokratischen Oberschicht, d.h. der Bege bzw. Begsöhne und deren Ehe-frauen, Bräuten, Müttern und Töchtern. Sieht man von den Einleitungen ab, werden insgesamt fünf namentlich erwähnte Frauenfiguren aufgeführt, von denen allerdings nur vier Oġuzinnen sind: Borla Hatun (HS-Dresden:

76 Ansätze hierfür liefern z.B. Antony Bryer, “Greeks and Türkmens: The Pontic Exception”, Dumbarton Oaks Papers 29 (1975), S. 113–148; Meeker, “Dede Korkut, Ethic”, S. 395–417.

77 Vgl. z.B. Dadashzade, “Ethnographic Information”, S. 72: “The information contained in the Dede Korkut dastans is very interesting for the study of the spiritual civilization of the Azerbaijan people in the ninth-eleventh centuries”, vgl. auch S. 64, 65, 69–71. Taflı, “The Alp and the Monster”, z.B. S. 2, 4 f. Güngör, “Women who save their husbands”, z.B. S. 26–28.

78 Vgl. DKO, z. B. S. 68, 77, 124, 133.79 Vgl. DKO, S. 77.80 Vgl. DKO, S. 133.81 Vgl. DKO, S. 225.

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Erzählung II und III), Banı Çiçek (III), Kısırca Yenge (III) und Boğazca Fatma (III). Die fünfte Gestalt, Selcan Hatun (VI), ist keine Oġuz in, sondern eine trapezuntische Prinzessin, d.h. eine Vertreterin des alteren Gegenübers.

Daneben kommt eine Reihe von Frauenfiguren vor, deren Namen wir nicht erfahren. Dies sind die Mutter des Boğaç, des Sohnes des Dirse Han (I), die Mutter des Kazan (II), die beiden Schwestern des Bamsı Beyrek (III)82 und die jungfräuliche Tochter des Burgherrn von Bayburt (III), die ebenfalls keine Oġuzin ist. Zu nennen sind noch zwei Frauenkategorien, die indes nur als Kollektiv vorkommen: Das Gefolge von Borla Hatun, bestehend aus vierzig Zofen, ein Pendant zu den vierzig Kriegern (nöker, yiğit), die das Gefolge des jeweiligen Helden bilden, wobei die Zahl Vierzig ein Topos ist, der in vielen Kulturen symbolische Bedeutung hat. Schließ-lich gibt es noch die Gruppe der Sklavinnen, die vor allem bei den Gelagen der Begs eine Rolle spielen. Der Frauenkatalog umfasst somit folgende, stets durch ihr Verhältnis zu Männern definierte Typen: die Gattin, die Braut, die Mutter, die Tochter, die Schwester, die Sklavin (bzw. Beischlä-ferin) und schließlich zwei weitere Frauentypen innerhalb der Wir-Gruppe (Kısırca Yenge, Boğazca Fatma), deren erzählimmenante Funktion aus gesellschaftlich definierten geschlechtsspezifischen Dispositionen besteht, welcher ihrerseits aus einer stark männerzentrierten Perspektive diskutiert werden.

Von keiner dieser Frauengestalten ist in den Titeln der einzelnen Erzählungen die Rede. Diese sind vielmehr dem im Zentrum der Erzäh-lung stehenden jugendlich-männlichen Helden gewidmet, der in den meis-ten Fällen wiederum als Sohn eines Mannes vorgestellt wird. Es sind also Geschichten, die in erster Linie Männern widerfahren, nahezu ausschließ-lich aus der Perspektive von Männern erzählt werden und dabei ein klar umrissenes Männlichkeitsbild präsentieren. In neun der zwölf Erzählungen steht das Heranwachsen dieser Helden, ihr Übergang vom Stammesnovi-zen in die Welt der vollgültigen Männer im Vordergrund, wobei der Name, der dem Helden am Ende durch Dede Korkut verliehen wird, sowohl sein Mannes- als auch Kampfname ist. Als unabdingbare Eigenschaften eines solchen vollgültigen Mannes, der mit seinen entscheidungsberechtigten Stammesgenossen auf gleicher Augenhöhe verkehren kann, werden Ent-schlusskraft und Kampfesmut, Waffenfähigkeit, das Abschlagen von Fein-

82 Die Vatikan-Handschrift führt sieben Schwestern auf.

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desköpfen und das Vergießen von Blut,83 aber auch karitative Handlungen zu Gunsten bedürftiger Vertreter des Eigenen und, last but not least die Elternschaft, insbesondere über männlichen Nachwuchs, herausgestrichen.

Die Beziehung der Geschlechter in dieser Gesellschaft ist unzweifelhaft dominiert von der körperlichen, sozialen und moralischen Superiorität des Mannes. Frauen befinden sich – bei genauerem Hinsehen – in allen Fällen unter dem Patronat eines Mannes, der nicht immer ihr Ehegatte sein muss, sondern auch der Vater, Bruder oder Sohn sein kann. Diese Männer sind es auch, die den höchsten Rang in der Gesellschaft des KDK einnehmen und keinesfalls, wie seinerzeit von Gökyay behauptet, die Frauen. Letztere werden vielmehr entsprechend einem Normen- und Tugendkatalog bewer-tet, der gleichfalls das Ergebnis männlich dominierter Perspektivierung ist.

Es nimmt daher auch nicht Wunder, wenn die Frau in der Rolle der Mutter die größte Achtung genießt. Doch ist auch dies an ganz bestimmte Verhaltensweisen gebunden, die die männlich dominierte Gesellschaft der Frau als Gattin abverlangt, nämlich die bedingungslose Unterwerfung unter den männlichen Wertekanon, dessen zentraler Wert die (vor allem auf der den Normen der Religion entsprechend gelebten Sexualität basie-rende) Ehre (namus) ist.84 Diese männliche Ehre, vor dem die Mutterschaft ebenso wie die Gattenschaft und die kindliche Pietät verblassen, aufrecht zu erhalten und zu schützen wird der Frau auch bei Lebensgefahr abver-langt. Diese, als gesellschaftliche Norm vorausgesetzte Opferbereitschaft zu Gunsten des Ehegatten bzw. seiner Ehre, ist neben der Mutterschaft ihr höchster Adel. Am deutlichsten wird diese Grundforderung an die ehrbare Frau in der zweiten Erzählung von der Plünderung des Zelts Salur Kazans ausformuliert:

Bei einem der üblichen fürstlichen Gelage fordert Kazan seine Bege zur Jagd auf. Man bricht zur fürstlichen Unterhaltung auf. Zum Schutz des Lagers (und der Frauen) bleibt Urus, der junge Sohn Kazans mit drei-hundert Kämpen zurück. Die Ungläubigen unter ihrem König Şökli (melik)

83 Vgl. hierzu DKO, insb. S. 97.84 Vgl. hierzu z. B. Hüseyin Kuzkaya, Ehre und Scham in der türkischen Sprache. Prototy-

pische Weltkonstruktion einer traditionellen ländlichen Gesellschaft. Hamburg: Diss. Univ. Hamburg 2001. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. Siehe auch John G. Peristiany (Hg.), Honour and Shame. The Values of Mediteranean Society. London: Weidenfeld & Nicolson 1966 und Frank Henderson Stewart, Honor. Chicago: University of Chicago Press 1994.

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überfallen das Lager und führen Urus mit seinen Kriegern und die Frauen in die Gefangenschaft. Unter den Damen befinden sich die hochgewach-sene Borla Hatun, Gattin Kazans, nebst ihren vierzig schmalhüftigen Zofen und die alte Mutter des Fürsten. In ihrer Burg beraten die Feinde, wel-chen Schimpf sie Kazan noch antun können und verfallen auf die Idee, dass Borla Hatun ihnen beim Gelage die Trinkschale reichen solle.85 Bei dem anschließenden Dialog zwischen Mutter und Sohn wird deutlich, was unter einer Gesellschafterin beim Gelage zu verstehen ist, und was von einer ehrbaren Frau verlangt wird. Borla Hatun erklärt:

“Die Ungläubigen haben Unerhörtes vor. Sie sagten: “Holt Kasans Sohn Urus aus dem Kerker. […] Schneidet Streifen aus seinem weißen Fleisch, röstet es gar und tischt es […] auf. […] Diejenige, die nicht davon isst, das ist Kasans Gattin. Schleppt sie auf unser [Lager], wir werden sie die Becher rundreichen lassen.” Muss ich nun von deinem Fleisch essen, Sohn, oder soll ich mich auf [das Lager] der Ungläubigen […] begeben? Soll ich die Ehre deines Herrn Kasan besudeln? Was soll ich tun, mein Sohn?”86

Der Sohn schilt die Mutter heftig wegen ihrer Frage:

“Dass dein Mund verdorre und deine Zunge verrotte, Mutter!Wäre Mutters Anrecht nicht Gottes Anrecht, ich würde mich von meinem Platz erheben,ich würde dich an deinem Kragen und deiner Kehle fassen, dich unter meine dicke Ferse werfen und dein weißes Antlitz in die schwarze Erde treten.Ich würde Blut aus deinem Mund und deiner Nase spritzen lassen und dir zeigen, wie süß das Leben ist. Was sind das für Worte? Hüte dich davor, Frau Mutter, zu mir zu kommen und meinetwe-gen zu weinen. […]

85 Şökli Melik […] eydür: “Begler, bilürmisiz Kazana nece hayf eylemek gerek? Boyı Uzun Borla Hatunını getürüb sağrak sürdürmek gerek” dedi. Boyı Uzun Borla Hatun bunı eşitdi. Yüregiyile canına odlar düşdi. DKO, S. 58.

86 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 52.

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Die Ungläubigen sollen dich nicht enttarnen, sodass du nicht auf [ihrem Lager] landest und ihre Becher herumreichst. Dass du ja nicht Kasans Ehre besudelst.”87

Diese Stelle ist in vielfacher Hinsicht aussagekräftig. Der jugendliche Held Urus vollführt in vorbildlicher Weise die Forderung nach kindlicher Pietät, indem er sich für seinen Vater Kazan, genauer für dessen (auf Sexualität basierende) Ehre (namus) opfert. Vor diesem Hintergrund verschwindet indes die Pietät gegenüber der Mutter, von der Urus vielmehr in äußerst heftiger Weise fordert, über ihren mütterlichen Schatten zu springen und sich dem Gebot, die Ehre des Mannes nicht zu verletzen, völlig zu unter-werfen. Allein die, eindeutig islamischen Vorstellungen entstammende, Gleichstellung der Schuldigkeit gegenüber der Mutter und Gott hindert den Jüngling daran, seine Mutter arg zu misshandeln, weil sie es in Erwä-gung zog, ihren Sohn zu retten, anstatt dessen Vater davor zu bewahren, eine vergewaltigte Ehefrau zu haben.

Kazan ist indes nicht untätig. In Begleitung des Hirten Karacuk Çoban gelangt er vor die Festung der Feinde und bittet Şökli Melik, ihm sein Liebstes auszuliefern. Auf sein Fürstenzelt, seine gefüllte Schatztruhe, seine Pferde- und Kamelherden, verzichtet er dabei ebenso ausdrücklich, wie auf Borla Hatun und seinen Sohn Urus. Das Schicksal seiner Frau, die allein seinetwegen vergewaltigt werden soll, bedrückt ihn nicht. Allein seine Mutter will er nicht missen: “Heda Şökli Melik, meine alte Mutter hast du geraubt, oh du Ungläubiger, gib mir meine Mutter zurück, und ich ziehe ohne Kampf wieder ab.”88

Die Beziehungen Kazans und Urus’ zu ihren jeweiligen Müttern sind jedoch nur scheinbar ungleich. Urus wird nur durch eine religiöse Norm davon abgehalten, seine Mutter zu misshandeln, während Kazan Ehefrau und Sohn zu Gunsten seiner betagten Mutter opfert. Kazan handelt unzwei-felhaft richtig, ist doch die Mutter der Mensch zu dem die festeste Bindung besteht, u.a. weil sie einen mit ihrer Milch genährt hat, wie der Fürst in der Vatikan-Handschrift erklärt.89 Allein die (männliche) Ehre (namus) ist ein höheres Gut als die Liebe zwischen Kind und Mutter. Der junge Urus

87 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 52 f.88 Mere Şökli Melik, […] Karıcuk anam getürübdürürsin, mere kafir, anamı vergil mana,

savaşmadın urışmadın kaydayım, gerü döneyim, gedeyim, bellü bilgil, DKO, S. 62. 89 Vgl. DKO, S. 252.

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hat diese kollektive Forderung in vollendeter Weise verinnerlicht und ent-spricht ihr in buchstäblich heldenhafter Manier bis zur Selbstaufgabe.

Pierre Bordieu verwies bei seiner Diskussion des Habitus-Begriffs auf den Umstand, dass die kultivierte Disposition des Ehrgefühls den Einzelnen nicht einfach einer zwanghaften Regelhaftigkeit unterwerfe, sondern viel-mehr einen nicht beliebigen Katalog von Interpretations- und Handlungs-mustern bereitstelle, der ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlich, d.h. erwartbar mache.90 Was den Held Urus auszeichnet ist, dass er dieser prin-zipiell gegebenen Erwartungshaltung bis in die letzte Konsequenz hinein entspricht, d.h., dass er sich bei seiner Wahl aus dem Katalog der gege-benen Muster besonders radikal verhält. Abgesehen von der Darstellung dieser verehrungswürdigen Haltung, erklärt die Erzählung aber auch, dass es sich für die (ehrbare) Frau, hier in der exemplarischen Gestalt der Borla Hatun geziemt, in allen Lebenslagen zuerst an die Unversehrtheit der Ehre (des Mannes) zu denken. Von Männern wird eine solche Solidarität gegen-über ihren Frauen im KDK übrigens nirgends verlangt.

In der ersten Erzählung von Boğaç, des Sohnes des Dirse Han, gelangt der Beg Dirse Han zum Festmahl, das der Fürst Bayındır alljährlich für die Oġuz enbege ausrichtet. Diesmal hat er sich allerdings etwas Besonderes einfallen lassen. Er trennt die Bege in drei Kategorien auf, denen er jeweils eine symbolische Farbe zuordnet: Väter von Söhnen werden in ein weißes Zelt auf weiße Filze gesetzt, und ihnen wird das Fleisch weißer Tiere vor-gesetzt. Bei den Vätern von Töchtern ist alles in rot gehalten. Für die Kin-derlosen ist schließlich die Unglücksfarbe schwarz vorgesehen, denn “den Kinderlosen hat Gott verflucht, und wir verfluchen ihn mit ihm, dass er das nur wisse.”91 Angesichts dieser unerhörten Schmach verlässt Dirse Han das Festmahl und reitet nach Hause. Nach dem er seine Frau ehrerbietig und liebevoll begrüßt und ihr sein Leid geklagt hat, sucht er jedoch nach einem Ausweg, die Schande der Kinderlosigkeit loszuwerden.92 Er ist dabei zwar durchaus im Zweifel, ob er oder seine Gattin für das Unglück verantwort-lich ist.93 Die einzige Bewältigungsstrategie die ihm angesichts des in aller

90 Vgl. hierzu Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grund-lage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, S. 143–145.

91 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 16.92 Vgl. hierzu die Diskussion bei Metin Ekici, Dede Korkut Hikâyeleri tesiri ile teşekkül eden

Halk Hikâyeleri. Ankara: Atatürk Kültür, Dil ve Tarih Yüksek Kurumu Atatürk Kültür Merkezi 1995, S. 14–18.

93 Vgl. DKO, S. 36.

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Öffentlichkeit stattgefundenen Gesichtsverlusts einfällt, ist letztlich jedoch die Bestrafung der Frau:

“Fürstentochter, soll ich mich erheben?Soll ich dich am Kragen und an die Kehle fassenund unter meine dicke Ferse werfen?Soll ich meinen trefflichen Säbel aus dunklem Stahl zur Hand neh-menund dir den Kopf vom Leibe schlagen?Soll ich dich spüren lassen, wie süß das Leben ist?Soll ich dein rotes Blut über die Erde ergießen?Fürstentochter, nenne mir den Grund (der Kinderlosigkeit, der Ursache meiner Schande)!Jetzt bin ich wütend auf dich.”94

Seine Frau erweist sich als schlauer und bietet ihm eine andere Lösung an. Dirse Han soll für die Oġuz enbege ein großes Festessen ausrichten, Bedürf-tige speisen und bekleiden und die Eingeladenen um ein kollektives Bittge-bet ersuchen. Diesem Gebet verdankt der besagte Held Boğaç schließlich seine (mehr oder weniger) wundersame Empfängnis und Geburt.

Der Sohn erweist sich bereits im Kindesalter als wahrer Recke, erschlägt einen Stier (boğa) und erhält darauf hin von Dede Korkut seinen Mannes-namen Boğaç. Nach seiner Initiation wird Boğaç selbständig, er verfügt über ein eigenes Gefolge von vierzig Kämpen (yiğit) und schert sich nicht mehr um die Gefolgsleute seines Vaters. Damit sie ihren Status beibehal-ten, beschließen diese, Boğaç bei seinem Vater als angeblichen Schand-täter anzuschwärzen. Er habe sich jedes schöne Mädchen, das er finden konnte, genommen, ehrwürdige Greise beschimpft und alten Frauen in die Brust gekniffen. Zu allem Übel habe er sich im Rausch auch noch an seiner Mutter vergreifen wollen.95 Als Strafe wird der Jüngling von seinem Vater mit einem Pfeil tödlich verwundet. Als Dirse Han schließlich ohne Sohn ins Lager zurückkehrt, beginnt die Mutter eine Klage um ihren Sohn und sagt u. a.:

94 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 19.95 Vgl. DKO, S. 39.

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“Mein einziger Sohn ist nicht zu sehen, meine Leber brennt.Ich habe Arbeiter in die ausgetrockneten Kanäle geschickt,Ich habe die schwarzrockigen Derwische wie versprochen beschenkt.Sah ich einen Hungrigen, ich habe ihn genährt;sah ich einen Nackten, ich habe ihn bekleidet.Ich habe einen Berg Fleisch aufgestapelt,ich habe einen See qimiz melken lassen,und nach all den Anstrenungen bekam ich einen Sohn auf unsere Bitte hin.Sag mir, Dirsä Chan, was mit meinem Sohn geschah! […]Hast du meinen einzigen Sohn von den schwarzrockigen Ungläu-bigen fangen lassen […]!Ich gehe zu meinem Vater, dem Fürsten,um mir eine gut gefüllte Kasse und viele Soldaten zu holen und selbst gegen die Ungläubigen mit ihrem Irrglauben zu ziehen”96 usw.

Nach der Interpretation von Geoffrey Lewis offenbart diese Stelle den großen Unterschied zwischen der Lebenswirklichkeit des KDK und der “islamischen Norm”. Anders als in den “meisten traditionellen islamischen Gesellschaften” erfreute sich die oġuzische Frau demnach großer Freihei-ten, saß nicht passiv im Zelt (!) und verfügte zudem frei über ihren eigenen Besitz.97 Diese Deutung ist einerseits nicht frei von einem pauschalisieren-den Orientalismus, der Frauen in islamischen Gesellschaften per se eine passive Rolle zuschreibt und in ihnen durchweg unselbständige Objekte männlicher Macht erkennen will. Andererseits eignet sich weder das obige Beispiel, noch der Rest des KDK dazu, den oġuzischen Frauen die von Lewis attestierten Eigenschaften zu zuschreiben. Zu bedenken ist erstens, dass die Frau in nomadischen, in transhumanten, in bäuerlichen Gesellschaften es sich kaum leisten konnte (und kann), passiv im Zelt, in der Hütte, im Haus oder sonst wo zu sitzen, sondern dass sie ihren Teil zum alltäglichen Über-leben beizutragen hatte, der zudem den Löwenanteil der gesamten Arbeit ausgemacht haben dürfte. Zweitens verhält es sich so, dass Dirse Han und seine Frau Angehörige der herrschenden Oberschicht, mithin in der Lage

96 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 27 f.97 Lewis, “Heroines”, S. 149.

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und in der Pflicht sind, die genannten “Opfergaben”, Speisungen und andere öffentliche Wohltaten wie die Erneuerung von Bewässerungskanä-len zu leisten, wobei gerade Letzteres auf eine ackerbautreibende Gesell-schaft deutet. Von einem vermeintlich eigenen Besitz der Frau ist indes nirgends wirklich die Rede. Die von ihr aufgezählten sozialen Wohltaten sind prinzipiell dieselben, die sie am Beginn der Erzählung ihrem Mann vorgeschlagen hat, also gemeinsame Leistungen des Fürstenpaars. Hinzu kommt, dass sie sich wegen der notwendigen Mittel (Geld, Krieger) für eine etwaige Befreiung des Sohnes aus der Hand der Ungläubigen an ihren fürstlichen Herrn Vater wenden muss,98 was wiederum nahelegt, dass sie als weibliche Angehörige der aristokratischen Oberschicht durchaus nicht über die notwendigen materiellen Machtmittel verfügt wie ein Mann. Die mit Verweis auf diese Stelle aufgestellte Behauptung Lewis’ sowohl von der finanziellen Freiheit als auch der Selbständigkeit der oġuzischen Frau erscheint damit hinfällig.

Nicht anders verhält es sich mit dem Argument, dass es in der Gesell-schaft des KDK keine räumliche Geschlechtertrennung gegeben habe. Das Gegenteil belegt die Erzählung von Bamsı Beyrek, welche, mit der Erzäh-lung von Kan Turalı, die deutlichsten Aussagen zum Frauenbild vermittelt. In beiden Erzählungen spielen Kampfjungfrauen die tragende weibliche Rolle. In der Erzählung von Bamsı Beyrek ist es Banı Çiçek, die Tochter des Fürsten Bay Bican, in der Erzählung von Kan Turalı Selcan Hatun, die kämpferische Tochter des Herrn von Trapezunt. Die Erzählung von Bamsı Beyrek ist dabei die komplexeste der gesamten Sammlung und vereint in sich mehrere Erzählstränge und Motive, was als Hinweis dafür gewertet werden kann, dass sie nicht zum originalen Bestand des KDK gehört.

Bamsı Beyrek und Banı Çiçek sind einander bereits vor ihrer Geburt durch ihre Väter versprochen (beşik kertmesi). Beider Geburt ist das Ergeb-nis des kollektiven Gebets der Oġuz enbege um Nachwuchs für deren Väter, die ihrerseits Bege sind. Bamsı Beyrek entstammt den İç Oġuz ‘ Banı Çiçek den Taş Oġuz .99 So verwundert es nicht, dass sie sich bei ihrer Begegnung, beide sind mittlerweile in heiratsfähigem Alter, nicht persönlich kennen. Selbstverständlich wissen sie aber von ihrer vorbestimmten Verlobung.

98 Han babamın katına ben varayım, ağır hazine, bol leşker alayın, DKO, S. 42.99 Dies wird in der letzten Erzählung vom Kampf der Taş-Oġuz mit den İç-Oġuz deutlich, als

Aruz, der Herr der Taş-Oġuz ‘ Beyrek als Schwiegersohn bezeichnet: begler, Beyrek bizden kız almışdur, güyegümüzdür, DKO, S. 189.

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Ihre erste Begegnung findet während einer Jagd Bamsı Beyreks statt, er ist immerhin Aristokrat.100 Der fliehende Hirsch führt den Helden vor das Zelt der Dame. Die Jungfrau ist kämpferisch veranlagt und beschwert sich bei ihrem weiblichen Anhang in unfeinen Worten über das angebe-rische Verhalten des Jünglings. Beide erfahren nun durch die Vermitt-lung der Zofen die Identität des jeweils Anderen. Beyrek zieht sich dar-auf mit Anstand vom Zelt seiner (vorbestimmten) Braut zurück.101 Banı Çiçek dagegen lässt ihn herbeirufen, tritt ihm jedoch nicht entgegen, ohne sich züchtig zu verschleiern.102 Sie gibt sich als ihre Zofe aus und fordert Beyrek zum Kampf. Erst wenn er sie besiege, dürfe er Banı Çiçek entge-gentreten. Beyrek gewinnt mit Leichtigkeit im Reiten und Bogenschießen. Schwieriger wird es beim Ringen. Erst die Befürchtung, von den Oġuzen verachtet zu werden, weil er von einer Frau besiegt wurde,103 verleiht Beyrek die nötige Kraft und den nötigen Witz. Er greift seiner Gegnerin an die Brust, was sie derart verschreckt, dass er sie auf den Rücken wer-fen kann. Sie gibt sich zu erkennen, wohl um eine mögliche Schandtat zu verhindern. Beyrek küsst sie dreimal und beißt sie in die Lippe. Er nimmt sie durch diesen Akt förmlich in Besitz, denn er steckt ihr anschließend einen Ring an den Finger und erklärt wie selbstverständlich, dass nun bald Hochzeit gehalten werde.104

Beyrek reitet heim und bedeutet seinem Vater, dass es nun für ihn Zeit sei, zu heiraten. Als der Vater ihn fragt, ob es ein bestimmtes Mädchen sein solle, verlangt er nach einer Braut, die noch vor ihm aufstehe, vor ihm auf dem Pferd sitze und ihm Feindesköpfe bringe, bevor er den Feind erreicht habe.105 Die Reaktion des Vaters ist besonders beredt: “Sohn, du willst wohl gar keine Braut, du wünschst dir einen (kriegerischen) Kameraden.”106 Diese Stelle ist es wohl auch, die beispielsweise Köprülü, Gökyay oder Lewis sowohl dazu verleiteten, in Banı Çiçek (neben Selcan Hatun) das Frauenideal der Oġuzen zu erkennen, oder zu behaupten, dass

100 Er spricht von sich selbst als Beg oğlı begem, DKO, S. 72.101 Edebile yab yab gerü döndi, DKO, S. 72.102 Banı Çiçek yaşmaklandı, haber sordı, DKO, S. 72.103 Bu kıza basılacak olurısam kalın Oğuz içinde başuma kakınç, yüzüme tokınç ederler, DKO,

S. 73.104 Dügün kutlu olsun, han kızı, DKO, S. 73.105 Baba mana bir kız alı ver kim men yerümden turmadın ol turmak gerek, men kazağuç atuma

binmedin ol binmah gerek, men karimüme varmadın ol mana baş getürmek gerek, DKO, S. 73.106 Oğul, sen kız dilemezsin, gendüne hampa istermişsin, DKO, S. 73.

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es bei den Oġuzen (Türken) eine nahezu gleichberechtigte Geschlechter-beziehung gegeben habe. Der umfang- und ereignisreiche Rest der Erzäh-lung von Bamsı Beyrek zeigt uns jedoch, dass in der Gesellschaft, aus der unsere KDK-Handschriften hervorgingen, vielmehr das Gegenteil der Fall war.

Die Hochzeit Beyreks mit Banı Çiçek scheint durch das Gelöbnis der Väter nur scheinbar problemlos zu sein. Das letzte Wort hat nämlich Deli Karçar, der Bruder der Braut, der “jeden tötet, der um die Hand seiner Schwester anhält.”107 Tatsächlich ist er es, der die Verfügungsgewalt über Banı Çiçek hat. Von deren einst so kämpferischer Haltung bleibt ebenso wenig übrig, wie von der postulierten Selbstbestimmtheit. Als Brautwerber wird Dede Korkut ausgeschickt, und es gelingt ihm mit einigen Mühen, deren Schilderung zu den besonders unterhaltsamen Elementen der Erzäh-lung gehört, die Zustimmung des Bruders zu erlangen. Allerdings wundert man sich bei seiner Rückkehr, dass er mit heiler Haut davongekommen ist. “Sag Großväterchen, bist du Männlein oder Weiblein? […] Wie bist du denn Deli Karçar entkommen?”108 Schließlich tötet dieser ja jeden Mann, der ihm zu nahe kommt. Aber eben nur jeden Mann und nicht etwa auch Frauen, die als Brautwerberinnen um die Hand seiner Schwester hätten ersuchen können. Eine Auseinandersetzung mit einer Frau, ob körperlich oder verbal, scheint undenkbar, da sie unter der Würde eines Mannes steht. Wenn Deli Karçar Frauen nichts tut, dann, weil sie nicht Gegenstand seiner Männlichkeitsbeweise sein können. Der Vergleich mit “der nicht vorhandenen Duellfähigkeit der Frauen [in Europa] bis ins 20. Jahrhun-dert hinein”,109 ist hier durchaus angebracht und relativiert ein weiteres Mal die vermeintliche Exzeptionalität und Exklusivität des KDK.

Wie dem auch sei, der Bruder wird überzeugt, die Eheschließung ist beschlossen, doch Beyrek wird in der Hochzeitsnacht vom ungläubigen Fürsten von Bayburt verschleppt110 und schmachtet sechzehn Jahre lang

107 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 74.108 Dede, oğlanmısın kızmısın? […] pes nece kurtıldun Deli Karçarun elinden? DKO, S. 75.

Boeschoten übersetzt “bist du ein Junge oder ein Mädchen?” Dass er die Bedeutung dieser Redewendung in diesem Zusammenhang mit “Ist es dir gelungen?” wiedergibt, kann ich mir nicht erklären. Vgl. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 77, Anm. 8. In der Version der Vatikan-Handschrift wird Dede Korkut übrigens gefragt, ob er “Wolf oder Schaf” sei, vgl. DKO, S. 222.

109 Ludgera Vogt, Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Differenz – Macht – Integration. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 115.

110 Nach Auskunft des Spähers des Fürsten hat Banı Çiçeks Vater sie auch ihm versprochen!

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in Gefangenschaft. Sechzehn Jahre sind eine lange Zeit, nicht etwa für die treue Braut, die am Ende mit ihrem Bräutigam vereint wird, sondern für ihren Bruder Deli Karçar. Er will demjenigen, der ihm Nachricht vom lebenden Beyrek bringt, Gold, dem Überbringer einer Todesnachricht indes die Hand seiner Schwester geben. Dieser, im Deutschen mittlerweile etwas veraltete Ausdruck passt in diesem Zusammenhang tatsächlich recht gut, denn es ist der Bruder, der über das Schicksal Banı Çiçeks entschei-det – und nicht etwa sie selbst. Es liegt ihm offensichtlich viel daran, seine Schwester endlich unter die Haube zu bringen, denn mit einer unverhei-rateten Tochter (oder Schwester) im Hause, gerade in einem Haushalt mit hohem gesellschaftlichen Status, entstehen auf Dauer immense materielle und immaterielle Kosten. So muss das unverheiratete Familienmitglied nicht nur standesgemäß unterhalten werden, die Familie ist vielmehr weiterhin in der Pflicht, die latente Bedrohung der Ehre durch mögliches unsittliches Verhalten der Frau oder durch mögliche Übergriffe von Män-nern zu verhindern bzw. abzuwehren.111 Deli Karçars Angebot ist also der dauernden nervlichen und materiellen Belastung geschuldet, die auf ihm als Hauptverantwortlicher der (männlichen) Familienehre, als Vormund, aber auch als Versorger der Frauen lastet.

Ein gewisser Yalancıoğlı Yaltacuk, kein eigentlicher Name, sondern ein Typ ähnlich wie Boğazca Fatma und Kısırca Yenge, auf die noch ein-zugehen ist, begehrt Banı Çiçek zur Frau. Er täuscht überzeugend den Tod Beyreks vor und erhält die Hand der Banı Çiçek. Was aber ist aus der einst so stolzen Kampfjungfrau geworden, die so gern als Beispiel für die Frei-heit der oġuz ischen (d.h. türkischen) Frau angeführt wird, die nicht passiv in ihrem Zelt gesessen habe. Banı Çiçek tut genau das, sie erduldet passiv ihr von Männern bestimmtes Schicksal. Jedenfalls wird an keiner Stelle irgendeine Reaktion ihrerseits thematisiert. Das Publikum begegnet ihr erst auf der Hochzeitfeier wieder, zu der sich Beyrek (mit Hilfe der jung-fräulichen Tochter des Burgherrn von Bayburt) hat durchschlagen kön-nen. Die Schilderung der Rückkehr Beyreks und der Ereignisse auf dieser Hochzeitsfeier, die im übrigen starke Parallelen zur Heimkehr Odysseus’ aufweist, verrät Weiteres zur gesellschaftlichen Position der Frau.

111 Zu den Begriffen Ehre, Ehrgefühl (Habitus) und symbolisches Kapital bei Bourdieu vgl. Vogt, Logik der Ehre, S. 116–152. Ehre ist demnach “verletzlich, aber das Ehrgefühl ist in der Lage, diese verletzte Ehre wiederherzustellen.” Ibidem, S. 121.

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Beyrek gelingt es, sich in der Verkleidung eines närrischen Barden in die Festgesellschaft einzuschleichen. Wegen verschiedener Taten und einer Lobrede erhält er von Kazan die Herrscherrechte für jenen Tag, es wird also ihm buchstäblich Narrenfreiheit gewährt. Es sei ihm erlaubt, “zu gehen wohin immer er will, und zu tun, was immer ihm einfällt.”112 Was im Folgenden geschieht, zeigt eindeutig, dass zumindest auf dieser Veranstaltung sehr wohl eine klare Geschlechtertrennung herrscht, d.h. dass Männer und Frauen strikt voneinander getrennt sitzen und feiern. Denn nachdem Beyrek die Kessel mit den Festspeisen umgeworfen hat, begibt er sich ins Lager der Frauen und Mädchen. Er erregt hierdurch den Unmut der Männer, die Kazan Beg sofort vom ungebührlichen Verhalten dieses Fremden unterrichten.113 Kazan erteilt dem närrischen Ozan jedoch die ausdrückliche Erlaubnis, sich auch bei den Frauen frei zu bewegen.114 Was Kazan hierzu veranlasst, ist Beyreks vollkommene Verstellung. Für Kazan ist der Ozan ein verrückter, unzurechnungsfähiger, d.h. kein voll-gültiger Mann und stellt so keine Gefahr für die Ehre der Männer dar, wenn er sich ihren Frauen nähert. Allein hieraus erklärt sich seine groß-mütige Laune und es ist anzunehmen, dass das Publikum an dieser Stelle genau aus diesem Grund gelacht hat. Hieraus ließe sich schließen, dass in der Gesellschaft für die die Handschrift spricht, durchaus eine strenge Geschlechtertrennung herrschte und es einem Mann, insbesondere einem fremden Mann, in diesem Fall auch einem Ozan, durchaus nicht gestattet war, freien Umgang mit den (doch angeblich so freien und selbstbestimm-ten) Frauen zu pflegen. Umgekehrt kann davon ausgegangen werden, dass es auch den Frauen nicht zustand, sich mit anderen, schon gar nicht mit fremden Männern zu unterhalten oder sonst irgendwelchen Kontakt zu pflegen.

All die Frauen und heiratsfähigen Mädchen, denen sich Beyrek nun nähert, sitzen deutlich abseits der männlichen Festgesellschaft. Dabei befinden sie sich sogar in einem geschlossenen Zelt, denn Beyrek muss erst in ein solches eintreten, um auch den Unmut der Borla Hatun zu erregen, die über der Frauengesellschaft thront.115 Sie schilt den tollen Barden, was

112 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 98.113 Kazan bege haber oldı: Sultanum, delü ozan heb yemegi dökdi […] şimdi kızlar yanına varmak

ister. DKO, S. 89.114 Mere kon, kızlar yanına da varsun, DKO, S. 89.115 Kızlar oturan otağa geldi, eşiğin aldı, oturdı, DKO, S. 89.

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ihm den einfalle, in ihr Zelt hineinzuplatzen. Auf die Antwort des Ozan, dass er die Erlaubnis des Kazan habe und dass ihm daher keiner etwas könne, kann sie nur schmallippig entgegnen: “Wenn es denn Kazan Begs Befehl ist, dann lasst ihn sich setzen.”116 Von der vielgerühmten Frauen- und vor allem Fürstinnenherrlichkeit, wie sie etwa Gökyay gerade im KDK sehen will, ist auch an dieser Stelle nicht viel zu erkennen. Ebenso wenig von der den Türken angeblich eigenen egalitären Geschlechterbeziehung, von der Lewis ausging und deren Reste er in den gemischtgeschlechtlichen Reigen der Bektaschiyya erkannt haben wollte,117 von denen es im KDK übrigens auch nicht die geringste Spur gibt.

Stereotype zeichnen sich bekanntlich durch besondere Langlebig-keit und eine relativ starke Resistenz gegen Veränderungen aus. Dies gilt auch für dieses u.a. bei Lewis durchscheinende Vorurteil,118 dass das Geschlechterverhältnis bei Angehörigen der Bektaschiyya (und den Ale-witen), aufgrund ihrer Nähe zu vorislamisch-türkischen sozio-religiösen Vorstellungen und Praktiken, durch eine islamuntypische größere Gleich-berechtigung von Mann und Frau gekennzeichnet sei. Diese Pauschalisie-rung hat es im Übrigen auch bis in die Integrationsdebatte in Deutsch-land mit ihren vielen berufenen und unzähligen selbsternannten Experten geschafft, in der Alewiten als in die moderne europäische Kultur leichter zu integrierende, ja nicht selten sogar als die besseren Muslime vorgestellt werden.119 Mit Blick auf die Frage der Geschlechterbeziehungen sei es in diesem Zusammenhang daher auch erlaubt, auf eine Arbeit der Ethnologin Jutta Borchhardt aufmerksam zu machen, die sich intensiv mit dem alewi-tischen Stamm der Saçıkaralı aus der Provinz Antalya befasste, und mit der

116 Mere cünkim Kazan Begden buyruk alubdur, kon otursun, S. 89.117 Lewis spricht von “equal terms”, Lewis, “Heroines”, S. 149.118 In Anlehnung an die Linguistin Uta Quasthoff wird das Stereotyp bzw. Vorurteil hier

verstanden als eine “verbale Äußerungsform von Überzeugungen, die sich auf soziale Gruppen beziehen” bzw. um den “verbale[n] Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichtete Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht.” Siehe Uta Quasthoff, Soziales Vorurteil und Kommu-nikation – Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Ein interdisziplinärer Versuch im Bereich von Linguistik, Sozialwissenschaft und Psychologie, Frankfurt a. M.: Athenäum-Fischer-Taschenbuch-Verlag 1973, S. 27 f.

119 Zuletzt in recht diplomatischer Weise geschehen durch den gegenwärtigen deutschen Innenminister Hans-Peter Friedrich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 31.03.2011.

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Frage, wie sich Transformationsprozesse von nomadischer zu sesshafter Lebensweise auf die soziale Organisation entsprechender Gruppen auswir-ken.120 Gewiss lassen sich die Ergebnisse ihrer Untersuchung nicht a pri-ori auf historische “wirkliche und lebendige Gruppen”, wie diejenige, der wir das KDK in den uns vorliegenden Formen verdanken, übertragen. Sie zeigen jedoch durchaus, dass die Vorstellung einer grundlegenden Dicho-tomie zwischen islamischer und türkischer Geschlechterordnung121 nicht so ohne weiteres haltbar ist.

Kommen wir jedoch wieder zurück zum KDK: Dass Banı Çiçek (ursprünglich) eine wehrhafte Maid ist, sollte nicht zu der Annahme verlei-ten, dass es sich hierbei um die Abbildung einer idealen Frau oder um eine “oġuz ische” Wunschvorstellung handelt. Im Gegenteil, Held und Heldin stellen in ihrer kriegerischen Haltung und Konsequenz Ausnahmeerschei-nungen dar. Dies gilt auch für Selcan Hatun, die zweite Kampfjungfrau des KDK und Heroine der Erzählung von Kan Turalı. Bei ihr gilt es zuerst zu betonen, dass sie überhaupt keine Oġuzin ist. Als Tochter des griechisch-christlichen Fürsten von Trapezunt entstammt sie den Reihen des Ande-ren. Geoffrey Lewis unterstreicht in seiner kursorischen Darstellung des Frauenbildes des KDK zwar, dass “wir sie nicht als Oġuzin bezeichnen kön-nen.” Im Anschluss hieran meint er jedoch, dass Selcan Hatun zweifellos ein oġuz isches (!) Ideal repräsentiere.122 Er führt dies vor allem auf ihre Eigenschaft als Kriegerin bzw. Amazone zurück. Bei näherer Betrachtung löst sich jedoch auch dieser Befund in Luft auf:

Der alte Kanlı Koca will seinen erwachsenen Sohn Kan Turalı noch zu seinen Lebzeiten verheiraten.123 Kan Turalı hat indes ganz eigene Vor-stellungen von seiner Zukünftigen. Er fordert von seinem Vater, übri-gens in wortgleicher Entsprechung zu Beyrek, eine Braut, die noch vor

120 Jutta Borchhardt, Von Nomaden zu Gemüsebauern. Auf der Suche nach der yörük-Identität bei den Saçıkaralı in der Südwest-Türkei. (=Göttinger Studien zur Ethnologie; 5), Münster – Hamburg – London: Lit 2001; hier sei insbesondere auf die Kapitel 5.2. “Geschlechter-rolle und Geschlechteridentität” und 5.3. “Geschlechterverhältnis, Ehre und Ansehen” verwiesen. Empfohlen sei auch die Studie über Aydın von Ilona Möwe, Umstrittene Gren-zen. Untersuchungen über Geschlecht und sozialen Raum in einer türkischen Stadt. (=Inte-rethnische Beziehungen und Kulturwandel; 39), Hamburg: Lit 2000, hier insb. Kapitel 9. “Der Wert der Ehre”, S. 264–293.

121 Vgl. hierzu die äußerst lesenswerte Arbeit von Nilgün Dalkesen, Gender roles and women’s status in Central Asia and Anatolia.

122 Lewis, “Heroines”, S. 157.123 DKO, S. 124.

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ihm aufstehe, noch vor ihm auf dem Pferd sitze und ihm bereits Fein-desköpfe bringe, bevor er den Feind erreicht habe. Besonderen Wert legt der kraftstrotzende Jüngling dabei auf eine kräftige körperliche Konsti-tution, denn er befürchtet, dass der Vater ihm eines der üblichen süßen, zarten Turkmenenmädchen zur Braut holt, das den Geschlechtsakt mit ihm womöglich nicht ohne innere Blutungen übersteht.124 Ähnlich wie Boğaçs Vater entgegnet Kanlı Koca: “Sohn, du suchst nicht nach einer Braut, du suchst nach einem tapferen Kämpen, [auf den du dich verlassen und] hinter dem du es dir gut gehen lassen kannst.”125 Doch dem Vater ist es recht. Der Sohn soll seine Traumfrau finden, er als Vater will die entsprechenden Unkosten für Brautpreis, Hochzeitsfeier und Gründung des Hausstands tragen. Der Sohn scheint jedoch etwas beschränkt oder nicht wirklich erpicht zu sein. Er reitet lediglich ein paar Stunden herum und findet unter den Oġuzen kein Mädchen, das seinen Anforderungen entspricht. Der Vater wiederum hört von der kampfkräftigen Tochter des Herrn von Trapezunt, die zu erlangen eine rechte Herausforderung dar-stellt. Der Freier muss nämlich drei Bestien besiegen, einen Stier, einen Löwen und einen Kamelhengst. Der Sieg verheißt die Hand der Prinzes-sin, die Niederlage bringt den Tod. Als der Sohn hiervon hört, hält es ihn nicht länger. Dabei kommt es ihm allerdings nicht so sehr auf die Braut an. Vielmehr ist es seine männliche Kriegerehre, die ihn geradezu zwingt, sich der gefahrvollen Herausforderung zu stellen:

“Vater, das hättest du nicht erzählen sollen. Jetzt, wo du es getan hast, muss ich unbedingt gehen. Ich will keine Scham über mein Haupt und Schande über mein Gesicht bringen.”126 Kanlı Koca versucht seinen Sohn durch die Schilderung der Gefahren von der Fahrt abzubringen, stößt dabei jedoch auf den heftigen Widerstand Kan Turalıs, der seinem Vater sogar ungebührliches Verhalten vorwirft:

124 Pes varasin bir cici bici Türkman kizi alasin, negahindan tayanam, üzerine düsem, karni yarila, DKO, S. 124; vgl. hierzu auch Türköne, Cinsiyet Kültürü, S. 209.

125 Oğul kız istemezmişsin, bir cılasun bahadur istermişsin, anun arkasında yeyesin, içesin, hoş geçesin. DKO, S. 124.

126 Baba, bu sözi sen mana dememek gerek idün. Çünki dedün elbetde varsam gerek. Başuma kakınç, yüzüme tokınç olmasun, DKO, S. 125.

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“Was sagst du [da], wie sprichst du da [lieber Vater]?Welcher [junge] Krieger schreckt zurück vor solch einer Lappalie?Es gehört sich nicht, einem Heldenmutigen Angst einzujagen”.127

Die besorgten Eltern sehen ein, dass der Sohn bei seiner Kriegerehre keine Abstriche zu machen bereit ist und geben ihren Widerstand schließlich auf.128 Die Kriegerehre wird hier im Übrigen ebenfalls mit dem Begriff namus bezeichnet und verweist damit auf den Katalog männlicher Verhal-tensvorgaben.129 Dieser fordert vom Mann die unbedingte und allzeitige Bereitschaft, sich einer Herausforderung zu stellen, auch wenn diese nur in einer unbedachten Äußerung des eigenen Vaters besteht. Hätte sich Kan Turalı von den elterlichen Warnungen beeindrucken lassen, hätte er eine Angst zugegeben, eine offene verwundbare Stelle gezeigt, oder noch schlimmer, sich der Gefahr ausgesetzt, dass die Öffentlichkeit von dieser Angst, d.h. von einer, wenn auch nur an eine ganz spezifische Ausnahme-situation gebundenen Unmännlichkeit erfährt. Dieser in höchstem Maße gesellschaftliche Sachverhalt spielt in der Geschichte noch eine tragende Rolle, und zwar im Kampf Kan Turalıs mit dem Kamelhengst. Der Held gelangt mit seinen vierzig Gefolgsleuten in die Festung der Ungläubigen, fordert die Braut und stellt sich dem Kampf mit den Bestien. Die schöne Selcan Hatun hat sich bereits beim ersten Anblick in den Helden verliebt. Das KDK illustriert dies mit recht drastischen Formulierungen, die die Frau als unfähig zur männlichen Tugend der Selbstbeherrschung, ja als lüsternes Weib darstellen. Selcan Hatun betrachtet Kan Turalı aus ihrem erhöhten Pavillon: “Das Wasser lief ihr [im] schmalen Mund [zusammen], ihr Kätz-chen miaute und sie geiferte wie ein Kalb mit Maul- und Klauenseuche”!130

Die vierzig Gefolgsleute Kan Turalıs sitzen indes am Rand des Kampf-platzes und feuern ihn an. Stier und Löwe werden vom Helden dank sei-ner Kraft, seines Verstandes und des Beistands Gottes besiegt. Schließlich

127 Ne söylersin, ne eydürsin, canum baba? Bu kadar işden korkan yigitmi olur? Alp ere korku vermek ayb olur. DKO, S. 126.

128 Gördiler ki namus için beklemez, DKO, S. 127.129 Dies könnte man als ein Indiz dafür werten, dass zur Zeit der Niederschrift des KDK die

heutige Trennung zwischen namus, der auf Erfüllung der gesellschaftlichen Normen im sexuellen wie religiösen Bereich basierenden kollektiven Familienehre (vgl. Kuzkaya, Ehre und Scham, passim.) und şeref, der erworbenen individuellen Ehre noch nicht voll-zogen war.

130 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 159. Kız köşkden bakarıdı. Tar ağzından kıllığı boşaldı, kedisi mavladı, avsıl olmış tana gibi ağzınun suyı akdı. DKO, S. 128.

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muss er sich noch dem Kamel stellen. Beim Kampf mit diesem fürchter-lichen Tier strauchelt der Kämpe und fällt hin. Das KDK hat hierfür auch eine Erklärung parat: “Dem Jungen war schwindlig, er hatte ja schon mit zwei Bestien gekämpft.”131 Die Gefährten feuern ihn auch diesmal an. Ihre Argumente einerseits und deren Interpretationen durch den Helden andererseits sind hierbei von besonderer Aussagekraft. Die Gefährten ver-weisen Kan Turalı nämlich auf die Schande, die eine Niederlage mit sich bringt, d.h. auf die Gefahr zum Gespött der Leute zu werden:

“Jetzt, wo der schwarze Kamelhengst kommt, warum schwindelt es dir? […]Die Nachricht wird dem Volk der strammen Oghusen zu Ohren kommen.Sie werden sagen: Was hat [Kan Turalı], [Kanlı Kocas] Sohn, nur getan? […]Wieso wurde ihm schwindlig, als der schwarze Kamelhengst kam?Groß oder klein, niemand wird schweigen,Mann oder Weib, alle werden ihr Scherflein beitragen”.132

Aus ihrem Vortrag erfährt der Held zudem, dass die Prinzessin Selcan Hatun ihn die ganze Zeit auf die Schwachstelle des Tiers aufmerksam macht:

“Schau doch mal nach oben! […][Selcan Hatun] im gelben Kleid gibt dir ein Zeichen, siehst du es nicht?Sie bedeutet dir, dass die Schwachstelle des Kamels die Nase ist, bemerkst du es nicht?”133

Dieser Hinweis hilft dem Helden jedoch erst über einen Umweg:

131 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 163. Serhoş yiğit hem iki canverile savaşmışıdı, tayındı düşdi, DKO, S. 131.

132 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 164. Kalın Oğuz eline haber vara […]. Ulu kiçi kalmaya söz edine, karı koca kalmaya kov edine, DKO, S. 131.

133 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 164 f. Aşağadan yokarı bakmazmısın? […] Sarı Tonlu Selcan Hatun işaret eder, görmezmisin […]? Deve burnından zebun olur dedi, bilmezmisin, DKO, S. 131.

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“Verdammt, wenn ich mich an die Nase dieses Kamels hänge, wer-den sie sagen, dass ich das auf Anweisung des Mädchens tat. Und morgen bekommt das Volk der [Oġuzen] zu hören: Er war in der Macht des Kamels, aber das Mädchen hat ihn gerettet.”134

Kan Turalı sammelt seine letzten Kräfte, nutzt den Hinweis bewusst nicht und kann das Kamel schließlich mit seiner ganz eigenen Methode zur Stre-cke bringen. Niemand kann ihm nachsagen, dass er die Hilfe eines ande-ren und erst recht nicht die einer Frau in Anspruch genommen hat, seine männliche Ehre ist gerettet! Diese panische Angst des Helden, vom Bei-stand einer Frau zu profitieren bzw. hierdurch ins Gerede zu kommen – die einzige Angst der oġuzischen Helden – kehrt später wieder, wodurch die starre und strikte Geschlechtergrenze ein weiteres Mal bekräftigt wird:135

Kan Turalı bekommt die Hand der Braut, versagt sich aber in vorbildli-cher kindlicher Pietät den Vollzug des Eheakts, d.h. des ersten Geschlechts-akts, bis er vor seine Eltern getreten ist. Gemäß der patrilokalen Ordnung reitet das junge Paar in die Heimat des Helden. Unterwegs kommen sie an einen schönen Platz und rasten. Kan Turalı wird vom Schlaf übermannt, dem kräftigen Männerschlaf, wie es ihn nur in der oġuzischen Vorzeit gab, der Achillesferse der oġuzischen Kämpen. In der Zwischenzeit bereut der Brautvater, seine Tochter vergeben zu haben und setzt dem Paar mit sechs-hundert seiner ohnehin missgünstigen Krieger nach. In weiser Vorahnung rüstet sich Selcan Hatun und hält Wache. Als der Feind herannaht weckt sie pflichtschuldigst ihren Bräutigam:

“Hüte dich, hebe dein Haupt, Krieger! […]Der Feind ist da, sie kommen!Was liegst du da, stehe auf![Held, sei nicht nachlässig, erhebe dein schwarzes Haupt!]Der Feind ist da, sie kommen!Was liegst du da, stehe auf!”136

134 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 165. Mere, men bu devenün burnına yapışacak olurısam ol kız söziyile yapışdı derler. Yarın Oğuz eline haber vara: Deve elinde kalmışıdı, kız kurtardı deyeler. DKO, S. 132.

135 Vgl. hierzu z. B. Maisun Sharif, “We are men, and we are able to bear – Die (De)Konstruktion von Männlichkeit in Bram Stokers Dracula”, Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 27 (2002), S. 15–35.

136 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 168.

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262 Şevket Küçükhüseyin

Kan Turalı ist noch schlaftrunken und begreift nicht auf Anhieb:

“Was sagst du da, meine Schöne?”

Die Antwort der Selcan Hatun bringt nun nicht nur den Helden zur Besin-nung, sondern offenbart in deutlichsten Worten die Forderung, die an eine Frau gestellt werden:

“Mein Held, der Feind bedroht dich. Dich zu wecken war meine Aufgabe, deine ist es, dich im Kampf zu bewähren.”137

Selcan Hatuns Worte betonen hier in exemplarischer Weise die gesell-schaftliche Vorstellung vom sekundierenden Charakter des Weibes. Sie unterwirft sich dem Gebot, dem Manne bei der Bewältigung seines Daseins dienlich zu sein. Die Lebensbewältigung des Mannes und sein Stand in der Gesellschaft sind der Maßstab an dem sich ihr Leben ausrichtet. Selbstver-ständlich handelt es sich um eine fiktive Erzählung und nicht um einen historischen Bericht. Daher ist es dieser Frauengestalt auch möglich, dieses enge Korsett gesellschaftlicher Zuschreibung ein wenig zu modifizieren. Sie will nicht, um Lewis zu zitieren, passiv im Zelt sitzen und den Erfolg oder Misserfolg des Mannes abwarten, sondern selbst tatkräftig in das Geschehen eingreifen. Sie überrascht Kan Turalı in ihrer vollen Rüstung reitend, den Speer in der Hand: “Meine Schöne, wo reitest du [denn] hin?” Sie erwidert: “Mein edler Held, kommt ein gesunder Kopf ohne Mütze aus?”138 Selcan Hatun überschreitet mit ihrem Verhalten zwar die Gren-zen der gesellschaftlichen Norm, bekräftigt in ihrer Argumentation jedoch ihre Assistentenrolle und mildert so den möglichen Vorwurf der Devianz. Nach der bewegenden Schilderung vom Kampf und Sieg des Paares ist die Erzählung jedoch nicht zu Ende.

Kan Turalı denkt an das buchstäblich normale Leben, das jetzt vor dem Paar steht und wird von seiner Angst erneut eingeholt:

“Wenn du an der Schwelle des Fürstenzeltes meines Vaters absteigst,

137 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 168. Yigidüm, üzerüne yağı geldi. Oyarmak benden, savaşuban hüner göstermek senden, DKO, S. 134.

138 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 169.

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wenn [die] Töchter und Schwiegertöchter [der Oġuzen] sich treffenund alle zum Klatsch beitragen,dann wirst du dich erheben und dich brüsten:Kan Turalı war am Ende, ich habe ihn hinten auf meinem Pferd gerettet. [Das halt’ ich nicht aus,] ich werde dich töten!”139

Diese Sätze Kan Turalıs machen Verschiedenes deutlich. Zuerst das bereits beim Kampf mit dem Kamel aufgetretene Problem, durch die Hilfe einer Frau in den Ruch zu gelangen, den Anforderungen der Männlichkeit nicht gerecht und hierdurch zum Gespött zu werden. Zweitens wird über Frauen das in vielen Kulturen anzutreffende Urteil der geschlechtstypischen Geschwätzigkeit gefällt. Hierbei aber äußert Kan Turalı, stellvertretend für seine Geschlechtsgenossen, zugleich auch ein grundlegendes Misstrauen der Männer gegenüber den Frauen. Erstere können sich offensichtlich nie wirklich sicher sein, dass die Frauen ihre Existenz bedingungslos und voller uneigennütziger Hingabe der Sicherung von Ehre und Ruhmgewinn ihrer Männer widmen. Viertens kommt die bereits in der Episode von Boğaç durch Dirse Han geäußerte Möglichkeit hinzu, eine drohende Befleckung der männlichen Ehre durch Tötung der (Ehe-)Frau abzuwenden.

Die Frauen des KDK stehen folglich unter der absoluten Verfügungsge-walt der Männer und sind ihnen in allen Belangen, also körperlich, sozial und moralisch untergeordnet. Gerade letzteres wird aus dem Mund der Selcan Hatun (!) bekräftigt. Sie versucht, die Befürchtungen Kan Turalıs wie folgt zu entkräften:

“Edler Held, sich zu rühmen steht dem Mann zu, er ist ja ein Löwe.Für Frauen ist die Ruhmsucht schändlich,durch Prahlerei wird eine Frau nicht zum Mann. […]Gott der Allmächtige weiß, daß ich dir hold, daß ich deine Geliebte bin,Verschone mich!”140

139 Übers. Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 172. Beg babamun ag ban evi eşiğine düşdüğünde, Oğuzun ala gözli kızı gelini yığıldukda, her kişi sözin söyledükde sen orada turasın öginesin: ‘Kan Turalı zebun oldı, at ardına aldum, çıkdum’ deyesin. Gözüm döndi, gönlüm getdi, öldürürem seni. DKO, S. 136.

140 Übers. Boeschoten, ebd., S. 172 f. Beg yigit, öginürise er öginsün aslandur, öginmeklik avratlara bühtandur, öginmegile avrat er olmaz, DKO, S. 137.

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Der erste Teil dieses Beschwichtigungsversuchs vermittelt die eigentliche Botschaft, zumindest wenn man die Quelle auch als einen Katalog von Wertungs-, Deutungs- und Handlungsmustern mit lebensweltlich relevan-tem Gebrauchsanweisungscharakter wertet, welcher die Wirklichkeit ord-net “in Freund und Feind, Nützlich und Unbrauchbar, Richtig und Falsch, Gut und Böse.”141 Das durch die Figur Selcan Hatun vermittelte Rollenver-ständnis und die Vorstellung des Verhältnisses von Männern und Frauen zueinander ist durchaus nicht originell, geschweige denn spezifisch tür-kisch. Es entspricht vielmehr in frappanter Weise dem Diktum Aristoteles’, der, im Rahmen seiner Diskussion der staatsbürgerlichen Tugenden, über Männer und Frauen urteilt:

“Ein Mann dürfte nämlich als feige erscheinen, wenn er nur so tapfer sein sollte, wie eine mannhafte Frau, und eine Frau als geschwätzig, sollte sie so bescheiden sein, wie ein guter Mann. […] Auch die Hausverwaltung ist bei Mann und Frau eine verschiedene; denn die Aufgabe des einen ist es, zu erwerben, die der anderen, den Besitz zu wahren. Doch die Einsicht ist die dem Herrschenden allein eigentümliche Tugend.”142

Niemand wollte behaupten, dass die trapezuntische Prinzessin Selcan Hatun über eine klassische Bildung verfügte und Aristoteles gelesen und verinnerlicht hat, was dann zu ihrer freiwilligen Unterwürfigkeit gegen-über ihrem Gatten führte. Vielmehr ist auch sie nicht mehr als eine Figur in einer Sammlung von Erzählungen, die aus einer, in diesem Fall tür-kischsprachigen männerzentrierten Gesellschaft hervorgegangen ist. Auf der anderen Seite lässt sich die Figur der Selcan Hatun auch als Ergebnis einer Integrationsleistung deuten. Dies wird deutlich, wenn man sie z.B. mit ihren engsten literarischen Verwandten, der Aden Banu des Battal-name143 und der Efromiya des Danişmendname vergleicht. Der Begriff der Integrationsleistung ist hier durchaus nicht im Sinne Cemal Kafadars

141 Volker Sellin, “Mentalität und Mentalitätsgeschichte”, Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 580. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Lucien Febvre zum ‚geistigen Werkzeug’ (outillage mentale) in Idem, Le problème de l’incroyance au XVIième siècle:. La religion de Rabelais. Paris: Michel 1968 (Neuaufl. der Ausg. 1942), S. 141–143. Siehe auch Alfred Schütz – Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 30–37.

142 Aristoteles, Politika. III / 1277b, übers. v. Franz F. Schwarz, Stuttgart: Philipp Reclam Junior 1989, S. 163 f.

143 Der Vollständigkeit halber seien an dieser Stelle auch die Figuren Gül Endam, Mah Piruz, Ketayun und Nevruz Banu im Battalname genannt, die ebenfalls zu den ‚integrierten’ Frauen gehören.

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gemeint, der die Figur der konvertierten griechischen Prinzessin Efromiya im Danişmendname in nicht ganz nachvollziehbarer Weise als ein Iden-tifikationsangebot für Christen deutete.144 Vielmehr scheint es sich bei diesen absolut positiv belegten Kampfjungfrauen, die allesamt nicht der Wir-Gruppe entstammen, um narrative Elemente zu handeln, die nicht oġuz en- bzw. turkmenen- bzw. türkenspezifisch, sondern als regionaltypi-sche Besonderheit zu werten sind. Gewiss findet sich der Typ der fremden Kampfjungfrau auch in weiter entfernten Regionen, wie etwa in Skandi-navien und Mitteleuropa.145 Der besondere Typ der kämpferischen Prin-zessin bzw. des kampfkräftigen Burgfräuleins aus den Reihen des alteren Gegenübers, das sich in den Helden verliebt, vom Unglauben zum Islam konvertiert und dann auf Seiten der Wir-Gruppe zu einer wichtigen Stütze des Helden wird, scheint aber weniger das Ergebnis einer konvergenten Entwicklung, sondern mit den Bedingungen im grenz- und glaubenskämp-ferischen Soziotop des Grenzgebietes zwischen byzantinischem und isla-mischem Machtbereich im Südosten Anatoliens zusammenzuhängen und weist somit in die vor-türkische Zeit der islamisch-byzantinischen Ausei-nandersetzungen in und um Rum. Die älteste muslimische mir bekannte literarische Verarbeitung dieser besonderen historischen Situation ist der arabische Volksroman Sirat al-Amira Dhat al-Himma wa’l-Battal. Die sich hieraus entwickelten Überlieferungen von al-Battal bildeten ohne Frage die Vorlage für die Entwicklung der anatolisch-türkischen Überlieferungen von Seyyid Battal Gazi,146 und auch für das Danişmendname, wobei sich in beiden Fällen eine Vielzahl weiterer Elemente, etwa aus dem Şahname und dem Abu Muslimname findet, die die türkischsprachigen Einwanderer nach Anatolien mitbrachten und sie dort mit den vorgefundenen Traditio-nen in eine eigene Form integrierten. Die Figur der Selcan Hatun ist in die-sem Zusammenhang zu sehen, was wiederum bedeutet, dass auch sie, und damit wohl die gesamte Erzählung über Kan Turalı oder Teile davon nicht zum voranatolischen Bestand der Dede Korkut-Erzählungen gehörten.

144 Kafadar, Between, S. 67145 Beispiele sind etwa die Wikingerführerin Hervör aus der ‚Hervarar saga‘, die schwedische

Prinzessin Thornbjörg aus der ‚Hrolfs saga’ oder Brünhilde aus dem Nibelungenlied. 146 Zur Frage der Entwicklung der türkischen Battal-Überlieferungen aus arabischen

Vorlagen vgl. z.B. die unterschiedlichen Positionen von Pertev N. Boratav, “Battal”, İslâm Ansiklopedisi. II, Istanbul: Millî Eğitim Basımevi 1961, S. 348–450, und Marius Canard, “Delhemma, Sayyid Battal et Omar al-No‘man,” Byzantion 12 (1937), S. 183–88.

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Diejenige Figur aus dem arabischen Volksroman auf die es in unse-rem Zusammenhang ankommt, ist allerdings nicht die Titelheldin Dhat al-Himma. Zwar ist auch sie im Hinblick auf das bereits genannte pauschale Vorurteil von der angeblich rein erotischen Funktion von Frauengestalten in der u.a. arabischen epischen Tradition147 von Interesse. Das Gegenstück zu Selcan Hatun ist aber Königin Alūf (al-malika alūf), eine “frisch zum Islam konvertierte ǧihād-Kämpferin” und Ehefrau Maslamas. Wie Selcan Hatun ist auch sie eine heldenhafte Kriegerin, die sich in voller Rüstung allein aufs Schlachtfeld traut, und sich durch besondere “Klugheit und Entschlossenheit” auszeichnet.148

Zu nennen ist auch das byzantinische Digenis Akrites-Epos, das eben-falls ein Produkt des grenzkriegerischen Soziotops ist. Auch hier kommt in Gestalt der Amazonenkönigin Maximu eine Kampfjungfrau vor.149 Das Digenis Akrites-Epos vermittelt allerdings eine andere Moral, die wohl mit seinem christlichen Hintergrund zu erklären ist.150 Auch hier besiegt der Held die Kampfjungfrau. Anschließend schläft er mit ihr. Sie wird hierdurch jedoch nicht in die Wir-Gruppe integriert. Vielmehr tötet der Held die Frau nach dem Geschlechtsakt (zumindest in der Grottaferrata-Version), einerseits weil er bereits verheiratet ist und ihre Beziehung somit keine Zukunft hat, andererseits aber auch aus Wut darüber, dass er dem Reiz der Maximu nicht hat widerstehen können und sich damit der Sünde des Ehebruchs schuldig gemacht hat. Von besonderem Interesse ist indes des Basileios Digenis Rede über Maximu vor seinen Kampfgenossen:

“Als ich Maximu Gewalt antat, schadete ich ihr auf dreierlei Weise, Erstens dadurch, dass ich sie hatte, zweitens, dass sie erniedrigt wurde, Drittens und das ist das Schlimmste, sie verlor ihre Manneskraft”.151

147 Can-Ekici, “Villains”, S. 4.148 Vgl. Ott, Der falsche Asket, S. 18.149 Vgl. John Mavrogordato (Hg. u. Übs.), Digenis Akrites. Oxford: Clarendon Press 1971

(Nachdr. d Ausg. 1956), Buch VI, S. 207–215 (3195–3308) und Elisabeth Jeffreys – Peter Dronke (Hg.), Digenis Akrites. The Grottaferrata and Escorial Versions. (Cambridge Medie-val Classics; 7), 2Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 152–201.

150 Vgl. hierzu beispielsweise Jeffreys, Digenis Akrites, S. 201, Anm. zu V. 798. Siehe a. Udo Steinbach, Dat al-Himma. Kulturgeschichtliche Untersuchungen zu einem arabischen Volksro-man. (Freiburger Islamstudien; 4), Wiesbaden: Steiner 1972, insb. S. 93–113.

151 Übersetzt aus dem Englischen nach Jeffreys, Digenis Akritis, S. 357.

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Augenscheinlich scheint sich der Umgang mit der Kampfjungfrau im akri-tischen Epos deutlich von der Art und Weise sowohl der türkisch-islami-schen Volksromane als auch des KDK zu unterscheiden, aber eben nur augenscheinlich. Im Gegensatz zu Selcan Hatun (und Banı Çiçek) wird Maximu zwar getötet, gemeinsam ist ihnen allen jedoch, dass ihre krie-gerischen, also männlichen Fähigkeiten bzw. Tugenden an ihre Jungfräu-lichkeit geknüpft sind. Sie verlieren ihre Kampftugenden durch die Aus-einandersetzung mit dem Helden, sei es durch den Geschlechtsakt, durch die vollzogene Heirat oder die zwar beschlossene aber noch nicht reali-sierte Eheschließung. Durch all diese Möglichkeiten wird die, ursprünglich oft misogame, virile Kriegerin erst zur Frau, und, das ist das eigentlich Entscheidende, sie fügt sich (offensichtlich freiwillig) in die etablierten Rollenverhältnisse.152 Zumindest ist dies bei Banı Çiçek eindeutig. Bei Selcan Hatun lässt sich dies wiederum aus dem Verweis Kan Turalıs auf ihr zukünftiges frauentypisches Verhalten und ihren ebenso eindeutigen Umgang mit ihren Geschlechtsgenossinnen schließen.

Bei der Verweiblichung dieser Frauen handelt es sich deutlich um die Wiederherstellung der idealen Ordnung. Deutlich wird hierbei, dass auch im KDK am Geschlecht ausgerichtete Ordnungskategorien eine tragende Rolle spielen, und, dass kriegerische Gesinnung auch hier ein Geschlechts-spezifikum, d.h. unmissverständlich männlich ist. Frauen sind Objekte der männlich-heldischen Lebensführung und sind dem Mann grundsätzlich unterlegen. Die beiden Kampfjungfrauen Banı Çiçek und Selcan Hatun stellen diesen Befund nicht in Frage, sondern bestätigen ihn vielmehr.

152 Über die kämpferische schwedische Königstochter Thornbjörg in der isländischen ‚Hrolfs saga Gautrekssona‘, die schließlich von dem gotländischen König und Helden der Saga Hrolf geheiratet wird, stellt Helga Kress, “Taming the Shrew. The Rise of Patriarchy and the Subordination of the Feminine in Old Norse Literature”, Sarah M. Anderson und Ka-ren Swenson (Hg.), Cold counsel: women in Old Norse literature and mythology: a collection of essays. New York – London: Routledge 2002, S. 85, fest: “The saga shows great interest in bringing this wild woman into society, under its rules, order, and control. […] She takes on the woman’s role and becomes a man’s bride.” Dies gilt in abgemilderter Form durchaus auch für Selcan Hatun. Zur Frage der Rolle und Integration der kriegerischen Frau vgl. auch Haag, “Das Ideal der männlichen Frau”. Carol J. Clover, “Maiden Warriors and Other Sons”, Journal of English and Germanic Philology 85 (1986), S. 35–49. Lena Nor-man, “Woman or Warrior? The Construction of Gender in Old Norse Myth”, Geraldine Barnes und Margaret C. Ross (Hg.), Old Norse Myths, Literature and Society, Proceedings of the 11th Intern. Saga Conference 2–7 July 2000. Sydney: Centre for Medieval Studies 2000, S. 375–385. Patrick Geary, Am Anfang waren die Frauen. Ursprungsmythen von den Amazonen bis zur Jungfrau Maria. München: Beck 2006.

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Beide Gestalten sind Ausnahmecharaktere und keine, im wahrsten Sinne des Wortes normalen Frauen. Das muss nicht erst herausgearbeitet wer-den, sondern wird in den Erzählungen selbst durch die Heldenväter (Bay Büre Beg und Kanlı Koca) in aller Deutlichkeit festgestellt. Ihre Exzepti-onalität ergibt sich aus ihrer Übernahme männlicher Verhaltensmuster. Selcan Hatun ist außergewöhnlich, weil sie den doch recht ungewöhnli-chen Anforderungen Kan Turalıs entspricht, der in seiner kraftstrotzen-den Wollust und kriegerischen Gesinnung eine besonders handfeste Frau braucht. Banı Çiçek wiederum ist eine starke, tapfere, kampfkräftige Frau, die sich – abgesehen von der ohnehin göttlichen Vorbestimmtheit – wenn überhaupt, dann nur einem Kämpen wie Beyrek hingeben kann. Diese mas-kulinierten Charaktere sind jedoch alles andere als stabil. Sie lösen sich regelrecht auf, wenn sie von einem Mann, also dem eigentlichen Helden, als Frau erkannt werden. Daher kann Deli Karçar über seine Schwester bestimmen, daher sitzt Banı Çiçek passiv in ihrem Zelt und lässt sich mit Yalancıoğlu Yaltacuk verheiraten. Daher kann Kan Turalı auch davon aus-gehen, dass Selcan Hatun sich mit den anderen Frauen zum Klatsch trifft und frauentypische Geschwätzigkeit zeigt. Nicht zu vergessen ist auch die recht akzentuierte Darstellung der frauentypischen Geilheit Selcan Hatuns beim Anblick des Prachtkerls Kan Turalı.

Selbstverständlich ist die prinzipielle Unterwürfigkeit und die körper-lich, sozial und moralisch mindere Stellung der Frau auch im KDK kein vorgängiges Spezifikum des biologischen, sondern eine konstitutive Eigen-schaft des sozial determinierten Geschlechts (gender).153 So eröffnen sich gerade durch diese beiden Ausnahmegestalten der Banı Çiçek und der Selcan Hatun Einsichten in die Zuschreibungen der im KDK artikulierten Gesellschaft hinsichtlich der spezifischen Eigenschaften von Frauen (und von Männern), ihrer gesellschaftlichen Position, der ihnen zugewiesenen Handlungsräume und vor allem der – im Sinne Bourdieus – zu erwar-tenden, also wahrscheinlichen Verhaltensmuster. Doch auch jenseits der beiden Kampfjungfrauen bietet das KDK Hinweise auf den Katalog solcher weibischer Eigenschaften. Dies geschieht in besonders deutlicher Weise in der letzten Episode, die die Auseinandersetzung zwischen den Taş-Oġuz und den İç-Oġuz und den Tod Beyreks zum Inhalt hat. Als der verräteri-sche Aruz, der Mutterbruder des Kazan, Beyrek in trügerischer Absicht in

153 Vgl. hierzu auch Norman, “Woman or Warrior”, S. 381.

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sein Lager lockt und ihn vor die Wahl stellt, sich entweder mit ihm gegen Kazan zu verbünden oder zu sterben, antwortet ihm Beyrek:

“Einen Mann durch Betrug zu ergreifen, ist Weiberart. Hast du das von deiner Frau gelernt, Halunke?”154 Unmissverständlich werden hiermit List und Verschlagenheit zur weibischen Unart erklärt, und als Mittel im ritterlich-männlichen Kampf verworfen, was wiederum ein eindrückliches Bild des Frauenverständnisses des KDK abgibt.155

Abgesehen von den leuchtenden Beispielen Banı Çiçek, Selcan Hatun und Borla Hatun führt das KDK mit Kısırca Yenge, Boğazca Fatma und den immer wieder genannten Sklavinnen auch einige recht farblose Frauenty-pen auf, die nicht, wie so oft in Diskussionen zum Geschlechterverhältnis im KDK geschehen, unterschätzt oder gar stillschweigend übergangen wer-den sollten.

Gökyay deutete die Oġuzinnen Kısırca Yenge und Boğazca Fatma als seinerzeit real existente Personen, die lediglich aufgrund ihrer Unfrucht-barkeit bzw. Promiskuität erinnert wurden.156 So sei ihr eigentlicher Name vergessen und durch das jeweilige Attribut (Kısırca Yenge = die unfrucht-bare Schwägerin, Boğazca Fatma = die schwangere Fatma) ersetzt wor-den. Gökyay bewertete das KDK also auch in diesen Fällen als Wiedergabe einer historischen Wirklichkeit. Sowohl bei der unfruchtbaren als auch der schwangeren Frau handelt es sich jedoch vielmehr um Typen devianter Frauen, um die Illustration von Anomalien und Verstößen gegen die nor-mativen Vorgaben, wie und was eine Frau zu sein hat.

Wie bereits angemerkt, ist die ideale bzw. vollgültige Frau im KDK stets Ehefrau und Mutter, oder ihre Mutterschaft ist zu erwarten. Kinder-losigkeit ist kein individuelles Schicksal, sondern eine gesellschaftliche Statusfrage, was etwa in dem Ausschluss Dirse Hans aus der Gesellschaft der Bege deutlich wird: Denn “den Kinderlosen hat Gott verflucht, und wir verfluchen ihn mit ihm, dass er das nur wisse.”157 Die Gattin Dirse Hans genießt dabei aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen

154 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 259; Aldayuban er tutmak avrat işidür. Avratundanmı ögrendün sen bu işi kavat? DKO, S. 191.

155 Vgl. hierzu die gegenteilige Interpretation von Türköne, Cinsiyet Kültürü, S. 211.156 Boğazca Fatma […]: Herhalde bu boğazca (gebe) lakabı ona kızlığında işlediği bir hatadan

dolayı verilmiş olmalıdır […] Oğuz içinde adı kötüye çıkmış bir kadın olduğu anlaşılıyor. Kısırca Yenge: adı kötüye çıkmış bir kadındır. Zaten adı unutulmuştur ve yalnızca “Kısırca”

lakabıyla tanınmaktadır, Gökyay, Dedem Korkut Kitabı, S. 881 f. 157 Boeschoten, Buch des Dede Korkut, S. 16.

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Oberschicht eine gewisse Immunität. Anders sieht es dagegen mit den ein-fachen Oġuzinnen aus.

Kısırca Yenge taucht nicht aufgrund des göttlichen Fluchs auf, sondern weil ihre Unfruchtbarkeit gleichgesetzt wird mit einer generellen Bereit-schaft zur Promiskuität. Dies aus dem Grund, weil sie ja nicht schwanger werden kann – man denke in diesem Zusammenhang nur an die gesell-schaftlichen Auseinandersetzungen, die die Einführung der Antibaby-Pille in den Sechziger Jahren mit sich brachte! Nach der Logik (nicht nur) des KDK führt folgenloser Geschlechtsverkehr folglich dazu, dass die ohnehin recht triebhafte Frau ihrer steten sexuellen Lust grenzenlos frönt. So erklärt es sich auch, dass Beyrek die Kısırca Yenge nicht nur mit einer unfruchtba-ren Stute, sondern gleich mit einer Hure vergleicht.158 Dieser Schluss liegt zudem nahe, da Kısırca Yenge als das – aus moralischer Sicht – doppelte Lottchen der Boğazca Fatma fungiert. Dabei stellt sich durchaus die Frage, ob Boğazca einfach nur schwanger bedeutet, oder nicht doch vielleicht für mehrere Schwangerschaften von verschiedenen Männern steht. Jedenfalls dünkt Beyrek auch sie nicht mehr als eine Hure.159 Selbstverständlich wird ein solches Fehlverhalten ausschließlich bei einer Frau konstatiert, wäh-rend die Vielzahl ihrer männlichen Verehrer, für Kısırca Yenge bleiben lediglich Kameltreiber (sarvanlar) übrig, nicht eindeutig bewertet werden. Allein der Umstand, dass Beyrek, als exemplarisches Persönlichkeitsideal, sich brüstet, nie ein Bordell besucht, bzw. unerlaubten Geschlechtsverkehr, d.h. einen solchen, der nicht zur Zeugung einer legitimen Nachkommen-schaft führen kann, vollzogen zu haben, mag als Hinweis darauf gewertet werden, dass auch für Männer gewisse Beschränkungen galten. Allerdings wird dies recht schnell durch die zahllosen griechisch(-christlichen) Skla-vinnen konterkariert, die mit ihren langen Zöpfen, schwarzen Augen und roten Brustwarzen160 ein besonderes Lustobjekt sind und bei den Sitzungen der Männer als Weinschenkinnen, und wie wir aus der vierten Erzählung von der Gefangennahme Urus und seiner Mutter durch Şökli Melik wis-

158 And içmişem kısır kısrağa bindiğim yok, karavata varduğum yok, DKO, S. 90. Zu karavat vgl. Tezcan, Notlar, S. 194–196.

159 And içeyim bu gez, boğaz kısrağa bindügüm yok, binübeni karavata varduğum yok, DKO, S. 90.

160 Tokuz kara gözlü, hub yüzlü, saçı ardına örilü, gögsi kızıl dügmeli, elleri bileginden kınalı, barmakları nigarlı mahbub kafir kızları, DKO, hier S. 50.

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sen, auch als Beischläferinnen dienten.161 Vor diesem Hintergrund ließe sich wiederum fragen, welche Bedeutung der Feststellung beizumessen ist, dass es sich im Fall des KDK um eine “streng” monogame Gesellschaft handele.162 Zumal dieser Befund durch die Vatikan-Handschrift deutlich relativiert wird, in welcher Beyrek, im Gegensatz zur Dresdner Version, wieder nach Bayburt zurückkehrt, um, neben Banı Çiçek, auch die dortige Prinzessin wie versprochen zur Frau zu nehmen.163

Abschließend lässt sich feststellen, dass weder das Gökalp’sche Postulat des türkischen Feminismus, noch das beispielsweise von Gökyay propa-gierte romantische Bild von der Frau als Inhaberin der höchsten gesell-schaftlichen Stellung durch das KDK eine Bestätigung findet. Dies gilt auch für die Absicht, die Frauengestalten bzw. Heldinnen des KDK zu “aktiven Individuen (!) mit starken und positiven Charakteren” zu (v)erklären, die ihre Gatten dank ihres Verstands, ihres Wissens, ihrer Hingabe und ihrer Kampfkünste aus Notlagen zu befreien wissen.164 Es mag verlockend sein, sich bei der Lektüre des KDK eine Brille aufzusetzen, die nur die erwar-teten Wunschvorstellungen zeigt. Für solche Projektionen erscheinen mir diese mitreißenden Erzählungen allerdings zu schade.

161 Vgl. hierzu Can-Ekici, “Villains”, S. 4 und oben Anm. 62! Türköne, Cinsiyet Kültürü, S.  212, wiederum meint: Dede Korkut’un yansıttığı Oğuz toplumunda zina olayına rast-lanmaz. Auf den – auch nach dem Religionsgesetz erlaubten – Geschlechtsverkehr mit Sklavinnen geht auch sie freilich nicht ein.

162 Vgl. z.B. Lewis, “Heroines”, S. 149. Allein Muharrem Ergin, Dede Korkut Kitabı. I: Giriş – Metin – Faksimile. Ankara: Türk Dil Kurumu 1958, S. 27, verweist zumindest darauf, dass die oġuzischen Frauen keinen Anstoß daran nahmen, dass ihre Männer mit den ungläubigen Sklavinnen verkehrten.

163 Dies erklärt wiederum Ergin, Dede Korkut Kitabı. I, S. 27, mit der Notlage Beyreks im Kerker: Esas olarak monogami vardır. Ancak çok zor durumlarda birden fazla kadın alınabilmektedir.

164 So Güngör, “Women who save their husbands”, S. 25.

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