S. Döpke - Anna und die fliegende Weihnachtspyramide ( eine Hörbuchversion von diesem Text gibt es auch auf der Seite www.youtube.com/SD4785 ) 1. Die Entdeckung Die Schatten der Nacht waren längst aus all ihren Ecken und Ritzen hervorgekrochen, als Anna vor der Haustür ihres Wohnblocks angekommen war. Aufgeregt wühlte sie in den Taschen ihres längst zu klein gewordenen Anoraks nach dem Schlüssel. Sie wollte so schnell wie möglich hinein, denn ein kalter Wind wehte an diesem Tag durch das Land, der sie bis unter die Haut ausgekühlt hatte. Dummerweise konnte sie ihn ausgerechnet jetzt nicht finden. So ein Mist! Dann musste sie wohl bei ihrem Nachbarn klingeln, einem alten grimmigen Herrn, der sich ständig aufregte, wenn man ein klein wenig zu laut das Radio anstellte und ihn dabei beim Mittagsschlaf störte. Immer wenn man ihm
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Die fliegende Weihnachtspyramide (eine Weihnachtsgeschichte)
Anna und die fliegende Weihnachtspyramide - eine Weihnachtsgeschichte Anna glaubt, in diesem Jahr die schrecklichsten Weihnachten ihres Lebens erleben zu müssen. Sie wohnt in einer hässlichen Großstadtwohnung und ihre Mutter hat kaum Zeit, um etwas für das Weihnachtsfest vorzubereiten. Alles wird jedoch anders, als die Figuren ihrer Weihnachtspyramide lebendig werden. Sie erzählen ihr, dass man mit der Pyramide fliegen kann wie mit einem Hubschrauber. Sie können Anna sogar schrumpfen und auf ihre Reisen mitnehmen.
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S. Döpke - Anna und die fliegende
Weihnachtspyramide( eine Hörbuchversion von diesem Text gibt es auch auf der
Seite www.youtube.com/SD4785 )
1. Die Entdeckung
Die Schatten der Nacht waren längst aus all ihren Ecken und
Ritzen hervorgekrochen, als Anna vor der Haustür ihres
Wohnblocks angekommen war. Aufgeregt wühlte sie in den
Taschen ihres längst zu klein gewordenen Anoraks nach dem
Schlüssel. Sie wollte so schnell wie möglich hinein, denn ein
kalter Wind wehte an diesem Tag durch das Land, der sie bis
unter die Haut ausgekühlt hatte. Dummerweise konnte sie ihn
ausgerechnet jetzt nicht finden.
So ein Mist! Dann musste sie wohl bei ihrem Nachbarn
klingeln, einem alten grimmigen Herrn, der sich ständig
aufregte, wenn man ein klein wenig zu laut das Radio anstellte
und ihn dabei beim Mittagsschlaf störte. Immer wenn man ihm
im Treppenhaus oder auf dem Hof begegnete, wurde sein
bitterböses Gesicht noch finsterer. Aber das tat er bei anderen
Leuten auch. Es schien, als würde er alle Menschen dieser Welt
abgrundtief hassen.
Dort wollte Anna auf keinen Fall klingeln, aber bei der netten
Frau Schmidt konnte sie nicht klingeln, denn die war vor
kurzem zu ihrer Tochter nach Braunschweig gefahren, wo sie
die Weihnachtszeit verbringen wollte.
Aber was würde sie dort oben schon erwarten?
Nichts als eine kleine, kalte und hässliche Wohnung. Es würde
lange Zeit dauern, bis es dort oben warm wurde. Da konnte sie
genauso gut hier unten auf dem Hof auf ihre Mutter warten.
Wenn sie zusammen hineingingen, würde es dort wenigstens
nicht ganz so leer und trostlos sein. Außerdem musste sie nach
der Haustür auch noch die Wohnungstür öffnen und da hätte ihr
auch keiner der Nachbarn helfen können. Nur der Hausmeister,
ein äußerst unangenehmer, älterer Herr, der sich ständig über
seine viele Arbeit beschwerte und keine Kinder leiden konnte,
weil sie im Treppenhaus die Wände beschmierten und überall
ihren Kaugummi hinklebten.
Anna schlenderte über den Hof, wo das letzte Herbstlaub auf
den pfeifenden Windböen umhertanzte. Sie fror noch ein wenig
mehr und auch die vielen Lichterketten, Weihnachts- und
Schneemänner, die ihr aus allen Fenstern so warm und hell
entgegenleuchteten, konnten daran nichts ändern. Sie erinnerte
sich an einen singenden Weihnachtsbaum, den sie im Kaufhaus
gesehen hatte. Der Kitsch schien in dieser Weihnachtszeit
wieder einmal grenzenlos zu sein und alles Dunkle und
Grausame zu überdecken, als gebe es kein Leid auf der Welt.
Ihr eigenes Fenster war dagegen völlig dunkel. Nicht einmal
die kleinste Kerze leuchtete ihr entgegen, als ob dort überhaupt
niemand wohnte. Sie ging schnell weiter.
Vor dem Nachbarhaus waren eine Mutter und ihre Tochter
gerade dabei, einen Weihnachtsbaum vom Autodach zu
nehmen. Zwei kleine Jungs hopsten und sprangen singend und
lachend um sie herum. Die Familie war nicht sonderlich
vornehm und doch war Anna voller Neid auf sie. Ihre eigene
Mutter war bisher nicht dazu gekommen, etwas für das
Weihnachtsfest vorzubereiten. Sie musste ständig arbeiten und
am Wochenende lag sie kaputt auf dem Sofa herum.
Geschwister hatte Anna auch keine, dabei wünschte sie sich
nichts sehnlicher als eine Schwester. Eine Schwester, mit der
sie über all ihre Sorgen und Probleme reden konnte. Ihr könnte
sie die Geheimnisse ihres Herzens anvertrauen und wenn es
ihnen schlecht ging, würden sie sich gegenseitig aufheitern und
all die bitteren und traurigen Stunden ihres Lebens wären nicht
mehr ganz so traurig und bitter. Ein großer Bruder, wie
Susanne ihn hatte, wäre allerdings auch nicht übel. Der hatte
sie damals manchmal beschützt, wenn die frechen Kinder aus
ihrer Klasse sie über den Schulhof schubsten und ihnen die
Pausenbrote klauten.
Susanne war Annas beste und einzige Freundin in der Klasse
gewesen, aber vor einigen Wochen war sie weggezogen und
seitdem war sie allein, völlig allein.
Der kalte Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie griff in
ihre Hosentasche nach einem Taschentuch. Und wie sie dort so
herumwühlte, fand sie zwischen all den Tüchern doch
tatsächlich den Hausschlüssel.
Als sie endlich oben war, war es beinahe sieben Uhr. Der Tag
war fast um, wieder einer dieser trüben Tage, der ohne jede
Freude an ihr vorübergezogen war. Und der Anblick der leeren
Wohnung stimmte sie kaum fröhlicher. Da es nur 14°C war,
beeilte sie sich, die Heizung einzustellen.
Ihre Mutter würde erst sehr spät nach Hause kommen, weshalb
sie sich selber Abendbrot machte. Sie holte Brot, Käse und
Wurst aus dem Kühlschrank, in dem ansonsten gähnende Leere
herrschte. Sie stellte das Radio ein. Zu dieser Zeit wurden fast
nur noch Weihnachtslieder gespielt wurden, was ihr allmählich
auf die Nerven, wo ihr selbst doch kein bisschen nach
Weihnachten zumute war. Schweigend kaute sie an einer Stulle
und hörte zu, wie ein paar Kinder ihre Wunschzettel vorlasen.
Mein Gott, was hatten die nur für Ansprüche!
Vor lauter Wut drehte sie wieder ab. Sie selbst wünschte sich
in diesem Moment doch nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter
endlich nach Hause käme.
Sie sah sich in der Küche um und stellte fest, dass ihre
Wohnung von innen genauso unweihnachtlich aussah wie von
außen. Außer einem Schneeflockenbild, das sie in der Schule
gemalt hatte, erinnerte nichts daran, dass Weihnachten vor der
Tür stand. Sie hatte in der Schule zwar auch noch einen roten
Weihnachtsmann aus Pappe mit einem flauschigen Wattebart
gebastelt, aber den hatte Inga, die blöde Ziege, zerrissen.
Einfach nur so aus Spaß. Und auch mit der Ordnung war es
nicht gut bestellt. Auf der Spüle stapelte sich das Geschirr und
geputzt hatte schon lange keiner mehr. Es war ein trauriger
Anblick.
Doch da kam ihr plötzlich eine Idee! Eine Idee, wie ihr
vielleicht doch noch ein wenig weihnachtlich zumute werden
konnte. Ach, es war eine wundervolle Idee, aber zunächst
musste sie das Geschirr abwaschen und ihre Einkaufstaschen
leeren.
Zu der Wohnung, die Annas Mutter gemietet hatte, gehörte
auch ein kleiner Kellerraum. Den benutzten sie zum Abstellen
ihrer Fahrräder, für Lebensmittel und Werkzeuge. Ansonsten
war der ganze Raum voll von gestapelten Kisten und Kartons
aus ihrem alten Haus. Sie hatten in ihrer Wohnung viel zu
wenig Platz und lagerten die meisten ihrer übrig gebliebenen
Habseligkeiten im Keller.
Anna kam manchmal hierher, wenn sie allein sein wollte. Dann
sah sie sich all die alten Sachen an und erinnerte sie sich an die
schöne, alte Zeit zurück, als sie noch alle zusammen auf dem
Bauernhof gelebt hatten: Sie, Mama und Papa, Oma, Tante
Elke und natürlich ihre Cousins Frank und Tom.
Es war eine wirklich tolle Zeit gewesen. Sie war mit ihren
Cousins und den Nachbarskindern durch die Wiesen und
Wälder ihres Dorfes gezogen, hatten Hütten und Staudämme
gebaut und in einem Baggersee das Schwimmen gelernt. Und
dann all die vielen Tiere auf dem Hof. Zu herrlich!
Immer wenn Anna im Keller auf ihrem kleinen Hocker saß,
lebte sie wieder in der alten, heilen Welt, die ihr ansonsten so
unerreichbar weit entfernt vorkam und musste nicht mehr an
die schlimmen Erlebnisse in der Schule denken. Dafür wurde
sie umso trauriger und niedergeschlagener, wenn sie in ihre