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Schick / Ziegler (Hrsg.) Die innere Logik der Kreativität
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Die Erfindung der Offenheit: Kreatives Handeln im Ausgang von Gilbert Simondon

Jan 28, 2023

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Frank Förster
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Schick / Ziegler (Hrsg.) —

Die innere Logik der Kreativität

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Die innere Logik der Kreativität

Herausgegeben von Johannes F.M. Schick Robert Hugo Ziegler

Königshausen & Neumann

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlaggestaltung: Dr. Andreas Rauh Umschlagabbildung: Mandarinenbaum, Dr. Andreas Rauh Bindung: Zinn – Die Buchbinder GmbH, Kleinlüder Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 978-3-8260-5285-9 www.koenigshausen-neumann.de www.libri.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

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Inhaltsverzeichnis

VorwortJohannes F.M. Schick/Robert Hugo Ziegler 7

Blütenlese(n)

Der MandarinenbaumDie innere Logik kreativer Plakatgestaltung?Andreas Rauh 15

Der LeserGregor Eisenhauer 23

Zeit-Schöpfungen

Zur Philosophie der KreativitätHistorische und interdisziplinäre AspekteKarl-Heinz Brodbeck 41

Imagination und Invention in der Malerei BotticellisKategorien des Kreativen in der Florentiner RenaissanceDamian Dombrowski 69

Kosmogonien und die Kreativität der ParadoxienEin religionswissenschaftlicher EssayJürgen Mohn 101

Erfundenes

„Ich sehe was, was Du nicht siehst.“Zu den transzendentalen Grundlagen der KreativitätRobert Hugo Ziegler 135

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Die Erfindung der OffenheitKreatives Handeln im Ausgang von Gilbert SimondonJohannes F.M. Schick 153

Cut

Logik der cinematographischen Schöpfung bei DeleuzePierre Montebello 183

Filmgeschichte und FilmschnittKollektive Kreativität bei der Erkundung eines Neuen MediumsKlaus Wyborny 191

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Die Erfindung der OffenheitKreatives Handeln im Ausgang von Gilbert SimondonJohannes F.M. Schick

Systematische Vorbemerkung

Das Runde muss ins Eckige.– Sepp Herberger

Für jeden Menschen, der mit den wesentlichen Begriffen des Fußballs ver-traut ist, scheint dieses Zitat Sepp Herbergers an Trivialität nur durch denebenfalls auf Herberger zurück gehenden analytischen Satz „Der Ball ist rund“übertroffen zu werden. Dennoch verbirgt sich darin nicht nur die Wesensbe-stimmung des Fußballspiels, sondern auch die Notwendigkeit aller taktischerund spielerischer Finesse. Sepp Herberger formuliert im obigen Zitat eineSpannung, die zwischen zwei geometrischen Formen besteht: Das Runde unddas Eckige. Beide scheinen inkompatibel zueinander zu sein. Wie gelangt alsodas Runde ins Eckige?

Kreatives Handeln wird dann notwendig, wenn sich ein Problem stellt,das sich nicht unmittelbar lösen lässt. Nun verharmlost Herberger in gewis-ser Hinsicht die tatsächliche Schwierigkeit des Spiels: So stellen sich dem BallGegenspieler entgegen1 und es muss ein Weg zum Tor gefunden werden (wenndie gegnerische Abwehr Lücken offenbart) oder man muss einen Weg erfin-den, der die gegnerische Abwehr öffnet, um Möglichkeiten zu schaffen.

Die Spannung, die zwischen Rundem und Eckigem, Angriff und Abwehrsowie zwischen Ball und Körper besteht, erfordert von den jeweilig beteilig-ten Akteuren, ein System der Kompatibilität zu (er)finden. Besonders deut-lich wird dies, wenn wir den Ausspruch Herbergers noch weiter strapazierenund im Wortsinne nehmen: Stellen wir uns vor, wir stehen vor der Aufga-be, tatsächlich das Runde in das Eckige zu befördern: Die Aufforderung seihierbei allerdings nicht auf das Fußballspiel bezogen, sondern wir sollen ineinem Steckwürfel das Runde ins Eckige befördern. Nun mag diese Tätigkeitsolange nicht von besonderer Intelligenz zeugen, als wir nicht erkennen, dass

1An dieser Stelle muss der Essay mit einer weiteren Fussballweisheit angereichert werden.Bereits Jean-Paul Sartre wies darauf hin, dass im Fussball alles durch die Anwesenheit des Gegnerverkompliziert werde.

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die Formen nicht zueinander passen. Es wird jedoch vorausgesetzt, dass wirdieses Problem erkennen und wissen, dass das Runde nicht ins Eckige passt.Als Ausweg kann uns die Gewalt dienen: Wir drücken, schlagen und häm-mern auf das Runde ein, bis es mehr oder weniger problemlos in die dafürnicht vorgesehene Aussparung passt. Allerdings haben wir nun eine der bei-den Formen gewaltsam verändert. Echte Kompatibilität zwischen den For-men wurde nicht hergestellt.

Zugegebenermaßen, das Beispiel mag auf den ersten Blick roh und un-geschliffen wirken, aber man kann gerade daran ablesen, dass es einen ele-ganteren Weg geben muss, die Kompatibilität zweier Formen herzustellen,als bloße Gewaltanwendung. Das Ziel muss über Umwege erreicht werden.Gewaltanwendung versucht auf direktem Wege Kompatibilität herzustellen,erreicht dies aber nur bedingt: Die zwei heterogenen Formen finden nichtzueinander. Das Problem ist nicht gelöst, sondern die eine Form wird auf dieandere reduziert.

Die folgenden Überlegungen versuchen sich an einer Darstellung der Er-findung als kreativer Handlung. Die Erfindung zeichnet sich auf den verschie-denen Ebenen, auf denen sie stattfindet, dadurch aus, dass sie Offenheit er-zeugt bzw. erfindet. Diese Offenheit zeigt sich bereits an den von uns gewähl-ten Beispielen. Indem ein Weg gefunden wird, der zum Tor führt, wird aucheine neue Möglichkeit erfunden, die nicht vorhersehbar war.2 Die erfundeneOffenheit besteht nun nicht nur in der Situation, in der sich der Weg öffnet,sondern geht über die Situation hinaus. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus,dass sie Anlass zu weiteren Analysen der Laufwege der einzelnen Spieler, dertaktischen Formation usw. gibt. Hierdurch werden wiederum Verteidigungs-und Angriffsstrategien möglich.3 Die Erfindung geht immer über die aktuelleHandlung hinaus.

Selbst wenn wir eine Lösung für das Problem des Steckkastens erfinden,die dafür sorgt, dass das Runde problemlos ins Ecke passt, geht die Lösungüber die einmalige Handlung hinaus. Die gewaltsame Rückführung des Run-den auf das Eckige kann nur einmal stattfinden (der Steckkasten wäre ka-putt), wohingegen die Erfindung der Kompatibilität nicht nur Wiederholungmöglich macht, sondern die Lösung könnte auch auf Anderes angewendetwerden. Man kann sich die Lösung für unser Problem durch Elastizität des

2Ab einem gewissen Zeitpunkt sind natürlich die Abläufe vorhersehbar. Man erkennt alsZuschauer und als Spieler, dass gelungene oder misslungene Handlungen nun zu Möglichkeitenführen, aber dann war der Weg bereits ge- bzw. erfunden und wurde dadurch sichtbar.

3Ein Beispiel liefert das sogenannte Gegenpressing, das darin besteht unmittelbar nach Ballver-lust den Gegner in dessen Hälfte unter Druck zu setzen. Die Phase der Neuordnung der gegne-rischen Mannschaft, die notwendig wurde, weil sie nun in Ballbesitz ist, soll ausgenutzt werden,um etwaige Lücken in der Hintermannschaft zu finden oder zu erzeugen. Der Verlust des Balleskann somit zur eigenen Spieleröffnung dienen. Diese zunächst kontraintuitive Taktik konden-siert der deutsche Fussballtrainer Jürgen Klopp in einem Vortrag an der Kölner Sporthochschule,wo er das Gegenpressing als „den besten Spielmacher der Welt“ bezeichnete. Im Gegensatz zumam Ballbesitz orientierten Systemfussball, öffnet die taktische Variante des Gegenpressings folg-lich neue Wege, um zum Torerfolg zu kommen, die durchaus auch darin bestehen können, denBall zu verlieren.

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Materials denken: Das Runde würde seine Form verändern, um ins Ecki-ge zu passen. Diese Elastizität wäre dann wiederum anwendbar auf andereProblemfelder und ist ein Kennzeichen von Kreativität: So zeichnet sich derMangel an Kreativität immer auch durch einen Mangel an Elastizität, sei esim Denken, Handeln oder Fühlen, aus.4

Die Erfindung erschöpft ihr Potential nicht einmalig in einer Handlung,sondern ihr Wesen besteht darin, dass sie über die einmalige Anwendung hin-aus geht. Die kreative Handlung erfindet folglich immer etwas, worin sich dieKreativität der Handlung fortsetzt. Die kreative Handlung schlechthin gibt esals diese eine Handlung nicht. Vielmehr offenbart sich die Kreativität einerHandlung in den Effekten, die sie hervorruft. Diese wesentliche Eigenschaftder Erfindung ergibt sich aus der Situation, in der sich das vor das Problemgestellte Individuum befindet: Das Individuum, das ein Problem lösen muss,findet sich selbst und das Problem in einer Umwelt, einem Milieu, vor.

Der Begriff des Milieus, der hier eingeführt und mit Umwelt wiedergege-ben wird, entstammt der Tradition der französischen Epistemologie im all-gemeinen und dem Denken Gilbert Simondons im besonderen. Neben derBedeutung der Umwelt konnotiert der Begriff auch die chemische Bedeutungdes Mediums. Gerade bezüglich der Erfindung, die eine Lösung (solution) ei-nes Problems ist, ist es notwendig, diese Doppeldeutigkeit mitzudenken: EinProblem taucht in einer Umwelt auf. Die Umwelt ist aber gleichzeitig auchdas Medium, in der sich das Problem lösen lässt, um in einen neuen Zustandzu gelangen. Das Milieu ist entscheidend für die Problemlösung. Die Erfin-dung muss sich dort behaupten. Dies heißt, dass das Milieu nicht nur dasProblem stellt, sondern auch die Lösung ermöglicht. Das Resultat einer Er-findung zeichnet sich daher durch die Möglichkeit aus, Offenheit in einemMilieu zu erzeugen. Die kreative Handlung gilt es folglich in der Spannungdes handelnden Individuums zu seinem Milieu zu erläutern. Das Individuum

4Zwar ist das hier gegebene Beispiel konstruiert, aber es gibt tatsächlich Erfindungen, diesich gerade durch die Elastizität des Materials auszeichnen. Gilbert Simondon erläutert in Ima-gination et Invention die Erfindung des Spannbetons, um ein solches Zusammenspiel zu veran-schaulichen: „Ainsi, lorsqu’on a voulu remplacer la construction en pierres par du beton, on s’estheurté à des effets négatifs qui empêchaient le remplacement direct, non-amplifiant (possibilitésde fissures, jeu de la dilatation, mauvaise résistance des blocs aux efforts de traction); il a falluarmer le béton en lui adjoignant des barres métalliques; des éléments élastiques, travaillant entraction, jouaient au mieux leur rôle s’ils restaient perpétuellement en traction, d’où résulte latechnique du béton non seulement armé mais précontraint, réalisant l’enjambement amplifiantcaractéristique de l’objet inventé: le béton précontraint permet de réaliser non seulement ce quel’on aurait pu construire en pierres, mais aussi des poutres et des porte-à-faux que seuls le boisou le métal auraient permis de réaliser, avec le gain de raccordements homogènes à l’ensemblede la construction, et avec le bénéfice de l’identité des coefficients de dilatation; le bâtiment enbéton précontraint dépasse celui qui aurait été possible en pierre, bois, et fer.“ SIMONDON, G.,Imagination et Invention, Chatou: 2008, S. 174. Aber nicht nur in technologischer Hinsichtist eine ständige Anpassung und Neuerfindung der Beziehung zur Umwelt notwendig. HenriBergson kennzeichnet die Elastizität des Denkens und Handelns als eine wesentliche Eigenschaftdes menschlichen Lebens: BERGSON, H.; SIBERTIN-BLANC, G. (Hrsg.), Le rire (édition critique),Paris: 2007/BERGSON, H., Das Lachen, Jena: 1921

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tritt nicht als reines Subjekt auf, sondern immer als Paar mit seinem Milieu(couple individu-milieu).

Aber bereits innerhalb des Individuums vermuten wir eine wesentlicheInkompatibilität, die es erst auf Probleme stoßen lässt. Das Potential mög-licher Problemlösungen erschöpft sich im Akt, der im Anschluss an die Be-stimmung der ontologischen Situation des Individuums in den Fokus genom-men werden wird.

Open Source: Metaphysik und Kreativität

Woher kommt der Drang kreativ tätig sein zu wollen? Woher der Wunschsich zu verewigen? Bereits in Platons Symposion wird das Begehren (eros) alsDrang zur Schöpfung (poiesis) thematisiert. Platon lässt dort Diotima auf-treten, um Sokrates in „Liebesdingen zu unterweisen“.5 Der Eros wird vonihr als Dämon beschrieben, der als Sohn des Poros und der Penia die eigen-tümliche Situation des menschlichen Daseins abbildet, die sich zwischen denbeiden Polen des Erfindungsreichtum (den der Eros von Vater Poros erhaltenhat) und des Mangels (den Penia ihrem Sohn vererbt hat) entspannt. Der Erosmuss ständig neue Wege (poros) (er)finden, um den Mangel zu überwinden,denn:

was er aber gewinnt, verrinnt ihm stets wieder, sodass der Eros weder je-mals Mangel leidet noch reich ist und auch in der Mitte zwischen Wissenund Unwissenheit steht.6

Dieser Zustand zwischen Erfindungsreichtum und Mangel, Wissen und Un-wissenheit sowie Sterblichkeit und Unsterblichkeit ist das Wesen des Erosund verweist uns auf die psychologische Situation des menschlichen Indivi-duums.7 Die Spannung zwischen dem Übermaß an Geschick und der Ar-mut bildet ein System der Inkompatibilität innerhalb des Subjekts.8 BeideMomente tauchen aber niemals getrennt voneinander auf, sondern bilden,wie die Metapher der Spannung suggeriert, die beiden Pole der menschlichenExistenz. Sie bedingen das menschliche Denken und Tun. Die Begriffspaare,zwischen denen sich die Inkompatibilität entfaltet, sind Ausdruck der grund-legenden Spannung des Subjekts. Der Erfindungsreichtum, die Unsterblich-keit und das Wissen drücken sich im technischen Vermögen des Menschenaus, wohingegen der Mangel, die Sterblichkeit und das Unwissen die organi-

5PLATON, Symposion (übers. und hrsg. v. Thomas Paulsen und Rudolf Rehm), Stuttgart: 2009,201d.

6Ebd., 203d.7Für Platon strebt der Eros nach der Idee des Schönen. Die psychologische Betrachtung ist

folglich in Platons Ontologie eingebettet. Wir werden in der Folge sehen, dass die psychologischeSituation auch in unseren Überlegungen ontologische Konsequenzen hat bzw. aus der ontologi-schen Situation entspringt.

8Ich werde in der Folge die Begriffe Individuum und Subjekt im Ausgang von Gilbert Si-mondon nahezu gleichbedeutend gebrauchen.

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sche Bedingtheit des Menschen kennzeichnen. Der Eros ist also ein System,das das organische und das technische Wesen des Menschen vereint.

Das organische Wesen des Menschen steht für seine Sterblichkeit, die, wieuns Jorge Louis Borges sagt, ihn erst „wertvoll und anrührend“ macht.9 Wennder Mensch nämlich nicht durch das organische, verwesende Sein geprägt wä-re und „nur“ unsterblich wäre, gäbe es die Einzigartigkeit des Werkes nicht.Alles würde sich wiederholen und nichts wäre von echtem Wert.10 Die ein-zelne Handlung würde, da das Leben ewig weiter geht, irgendwann erneutgetan werden oder wäre in der Vergangenheit bereits einmal ausgeführt wor-den, was ihre „gebrechliche“ Einzigartigkeit untergraben würde.11

Dieser organischen Armut steht die technische Überfülle12 gegenüber.Dank der intellektuellen und technischen Möglichkeiten kann das Leben nichtnur verlängert und verbessert werden, sondern es kann uns gelingen etwaszu schaffen, das selbstständig und losgelöst von unserer organischen Gebun-denheit existieren kann. Zugleich wird durch die Technik ein Interesse fürdie Welt entwickelt, das losgelöst von organischen Bedürfnissen besteht. DasVerlangen nach Wissen und Weisheit übersteigt die organische Gebundenheitund steht ihr diametral gegenüber: Man kann sich gar durch die organischeGebundenheit gefangen fühlen und sich nach Aufhebung derselben sehnen,um ganz in der vermeintlich rein geistigen Kontemplation zu leben.

Beide der menschlichen Existenz innewohnenden und simultan auftre-tenden Modi bestimmen den Grad der Spannung, in dem sich das Subjektbefindet. Der Sinn dieser Spannung liegt in ihrer Lösung. Lediglich der Aktvermag diese Inkompatibilität zu lösen, die das Subjekt in seinem Wesen aus-macht. Allerdings bleibt das Subjekt mit sich selbst inkompatibel. Es ist ledig-lich im Akt, in der Handlung, dazu in der Lage über seine Situation hinauszu-gehen. Deshalb antwortet Diotima auf die gerechtfertigte Frage des Sokrates,

9„Der Tod (oder die Anspielung auf ihn) macht die Menschen wertvoll und anrührend. DasBewegende an ihnen ist ihr gespenstischer Zustand; jede Handlung, die sie ausführen, kann dieletzte sein; es gibt kein Gesicht, das nicht bald zerfließen wird wie das Gesicht in einem Traum.Alles hat bei den Sterblichen den Wert des Unwiederbringlichen und des Gefährdeten.“ BORGES,J. L., Der Unsterbliche, in: Das Aleph (übers. v. Karl August Horst und Gisbert Haefs), Frankfurt a.M.: 2007, S. 9–29, hier: S. 25.

10„Bei den Unsterblichen dagegen ist jede Handlung (und jeder Gedanke) das Echo von an-deren, die ihr in der Vergangenheit ohne ersichtlichen Beginn vorangingen, oder zuverlässigeVerheißung anderer, die sie in der Zukunft bis zum Taumel wiederholen werden. Es gibt keinDing, das nicht gleichsam verloren wäre zwischen unermüdlichen Spiegeln. Nichts kann nur eineinziges Mal geschehen, nichts ist auf kostbare Weise gebrechlich.“ Ebd.

11Nun könnte man einwenden, dass gerade die Philosophie und der größte Teil des literari-schen Schaffens darin besteht, die wesentlichen Fragen der menschlichen Existenz immer wiederaufs Neue zu wiederholen, was sicherlich in gewisser Hinsicht zutreffend ist, aber, wäre derMensch unsterblich, dann wären diese Fragen vom selben Individuum wiederholt worden. DieKreativität des Individuums besteht nicht darin, die Spannung einer Kultur zu lösen, sonderndie Spannung, die in ihm selbst besteht. Der Wert der Handlung misst sich folglich an dem Span-nungsgrad, das im Individuum vorhanden ist, und nicht am sozialen Hintergrund, vor dem sichzweifelsohne die Handlung abspielt.

12Wir verstehen hier „Technik“ im Sinne Simondons in einem sehr weiten Sinn, der alle intel-lektuelle Fähigkeit auch als technische auffasst.

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worin der Nutzen des Eros bestehen soll, der zwar das Gute begehrt, es abernicht erreicht, dass die Tätigkeit des Eros in der Hervorbringung bzw. derGeburt im Schönen besteht. Der Akt selbst liefert Befriedigung und ist dieForm der Unsterblichkeit, die den geschaffenen Wesen zukommt. Das Zieldes Eros liegt in gewisser Hinsicht nicht außerhalb seiner selbst, sondern istdie Hervorbringung im Schönen. Das Schöne fungiert also als Ziel, da manetwas schönes zeugen will, und als Milieu, da das Schöne vermag, Schöneshervorzulocken:

Daher entsteht beim Schwangeren und schon Übervollen große Erre-gung beim Anblick des Schönen, weil es den in Geburtswehen Liegen-den von großen Schmerzen befreit. Denn die Liebe trachtet nicht nachdem Schönen, wie Du glaubst, Sokrates.

Aber wonach sonst?

Nach der Geburt und der Hervorbringung im Schönen (Tes gennéseoskai toi tokou en toi kalloi).13

Für Platon hat dies freilich ontologische Konsequenzen, da der Eros letzt-endlich das Gute begehrt und von der Idee des Guten seine ordnungsstiften-de Kraft erhält.14 Allerdings wird an der ontologischen Figur der Idee desGuten und Schönen ein weiteres Spannungsfeld deutlich. Die Spannung derInkompatibilität des Subjekts ist nicht nur innerlich und psychologisch, son-dern sie spiegelt sich auch auf ontologischer Ebene wider. Die Idee des Gutenist jenseits des Seins (epekeina tes ousias). Selbst die Götter besitzen keine voll-ständige Erkenntnis der Idee des Guten, sondern sie stehen auf dem „Rückendes Himmels“ und betrachten die Idee des Guten, solange bis sie wieder vonihr fortgerissen werden.15

Auch das Schöne kann zwar mittelbar über die geschaffenen Dinge be-rührt werden, aber, steigt man die Stufen der Erkenntnis empor, die Platonin der Diotima-Rede formuliert, dann erscheint das Schöne nicht als „irgend-ein Gedanke oder irgendeine Erkenntnis und nicht als etwas, das irgendwiein einem anderen ist, [. . . ] sondern als ein für sich Seiendes, immer in einerGestalt mit sich selbst“.16

Der Akt der Hervorbringung vollzieht sich aus einer inneren, psycholo-gischen Spannung heraus und in einer ontologischen Spannung. Das Indivi-duum steht der Idee des Guten, dem Prinzip des Seins und aller Individuati-on, als ein Anderes gegenüber. Diese ontologische Spannung ist notwendig,dass das Subjekt etwas erzeugen kann, und sorgt dafür, dass das Subjekt et-was erzeugen muss. Die Lösung der Spannung, wie Platon sie sich vorstellt,vollzieht sich nach Maßgabe seiner Ideenlehre. Das Subjekt schafft die Ideen

13PLATON, Symposion, 206d.14Ebd., 207a.15PLATON, Phaidros, in: Werke (übers. v. Friedrich Schleiermacher), Band 5, Darmstadt: 62011,

S. 1–193, hier: 247b-e.16PLATON, Symposion, 211a-b.

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nicht selbst, sondern erzeugt mittels der ontologisch vorrangigen Ideen Kon-kretes.17 Das Prinzip der Kreativität ist nicht im Akt selbst angelegt, sondernliegt außerhalb des Aktes.

Gilbert Simondon formuliert eben diese Kritik an den klassischen In-dividuationsmodellen. Der Hylemorphismus des Aristoteles wie das Modelldes Archetyps bei Platon verlagern das Individuationsprinzip außerhalb desAktes. Individuation wird in diesen Modellen vom geschaffenen Individuumausgehend, dem ein ontologischer Vorrang zugestanden wird, gedacht. Da-bei wird versäumt, eine echte Ontogenese vorzunehmen, die es erlaubt dasIndividuum innerhalb der Realität zu denken, in der die Individuation sichvollzieht.18 Wie aber das Sein ohne Prinzip denken und wie kann man dieOntogenese adäquat beschreiben?

Das Verhältnis des Individuums zu seinem Sein und zum Sein zielt auf deninneren Kern der Kreativität. Das Subjekt muss in sich die Fähigkeit besitzenkreativ zu sein und muss in einer ontologischen Struktur verwurzelt sein,die Neues zulässt. Das Sein muss eine open source, eine offene Quelle sein,aus der man schöpfen kann, ohne dass die Formen des kreativen Schöpfensbereits vorgegeben sind, da es sonst unmöglich wäre, eine innere und imma-nente Logik der Kreativität zu beschreiben, ohne auf einen der Kreativitätäußerlichen Punkt zu referieren, wie es die Modelle Platons und Aristotelesmit dem Archetyp (Platon) bzw. der Form (Aristoteles) tun.19

Der Akzentverschiebung von der klassischen Ontologie hin zur Ontoge-nese gehen verschiedene metaphysische Annahmen voraus:

1. Die Ordnung, die in der Realität gefunden wird, ist dynamisch. Sie gehtnicht auf ein Prinzip zurück, welches als Form oder Energie vorgängigexistiert. Simondon lehnt auch ein dynamisches, immanentes Prinzip,wie es beispielsweise Bergson mit dem élan vital formuliert, ab.

2. An die Stelle des Prinzips rückt die Individuation selbst. Der Grundhierfür liegt in der Natur des Seins. Das Individuum findet sich immerbereits als Individuum in einer Natur vor und findet als Individuum ei-ne Natur vor. Es besitzt die Fähigkeit, Einzeldinge zu schaffen und zuerkennen. Man kann daher lediglich von Individuationen sprechen, sie

17Zur Kreativität bei Platon und Aristoteles siehe die sehr gelehrten Ausführungen Karl-Heinz Brodbecks in diesem Band, S. 38f.

18„Une telle perspective de recherche accorde un privilège ontologique à l’individu constitué. Ellerisque donc de ne pas opérer une véritable ontogenèse, de ne pas replacer l’individu dans le systè-me de réalité en lequel l’individuation se produit. Ce qui est un postulat dans la recherche du prin-cipe d’individuation, c’est que l’individuation ait un principe.“ SIMONDON, G., L’individuationpsychique et collective à la lumière des notions de Forme, Information, Potentiel et Métastabilité,Paris: 1989, S. 10.

19An die formale Stelle der Form tritt für Simondon die Information. Die Information ist imGegensatz zur Form immanent und ständig veränderbar. Sie wird nicht rein empirisch gedacht,sondern dynamisch. Information ist für Simondon nicht reiner Signalaustausch, sondern immerauch Bedeutungsträger. Der Formbegriff wird dadurch vor einer rein idealistische Reduktion(dem hylemorphen Schema) und vor einer materialistischen Reduktion (Information als reinphysikalisches Signal) bewahrt. Siehe: Ebd., S. 29.

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aber nicht auf ein Prinzip zurückführen, das außerhalb der Individua-tion liegt.

3. Dennoch muss etwas der Individuation vorangehen. Dies ist das nochnicht individuierte Sein: Das Vorindividuelle (préindividuel). Das Indi-viduum ist eine Phase des Seins, das sich individuiert.

Das Sein wird nicht als absolutes Sein gedacht, sondern als Individuation imWerden:

Die Genese des Individuums ist keine Schöpfung, d.h. sie ist kein abso-luter Anfang des Seins, sondern eine Individuation im Schoß des Seins.Der Begriff der Transzendenz hält die Anterioriät für Exteriorität. Dasvollständige Sein, Ursprung des Individuums, existiert nicht, bevor sichdas Sein individuiert. Man kann nicht einmal sagen, dass sich das Sein in-diviuiert hat: Es gab Individuation im Sein und Individuation des Seins.Das Sein hat seine Einheit und seine Totalität, indem es sich individu-iert, verloren.20

Obwohl wesentliche Unterschiede zwischen der Ontologie Simondons undder Seinshierarchie bei Platon bestehen, so fallen strukturelle Gemeinsamkei-ten auf. An die Stelle, an der Platon die Idee des Guten lokalisiert, tritt beiSimondon das vorindividuelle Sein. Das Subjekt sieht sich diesem Sein – wiebei Platon die Idee des Guten – als ein Anderes gegenüber. Dieses Sein machtmöglich, dass das Subjekt sich individuiert. Das Individuum wird als ein We-sen verstanden, das das Sein nicht auf einen Schlag ausschöpft. Im Gegen-teil: Es ist ihm unmöglich all sein Potential auf einmal zu erschöpfen. DieserVorgang käme einer völligen Entspannung gleich, die dem reinen Akt (actuspurus) ähnelt, der in der scholastischen Tradition nur Gott als reinem Seinvorbehalten ist. Diese Einheit und Totalität ist es aber gerade, die das Seindurch die Individuation verloren hat. Das Subjekt muss sich immer wiederaufs Neue aus der Spannung zum vorindividuellen Sein heraus, das es als Po-tentialität und Virtualität in sich trägt, individuieren. Die Quelle, aus der dasSubjekt schöpft, ist es in gewisser Hinsicht selbst. Die kreativen Akte speisensich aus seiner problematischen Existenz:

Das Problem [. . . ] des Subjekts ist jenes der Heterogenität [. . . ] zwi-schen Individuum und Vorindividuellem. Dieses Problem ist jenes desSubjekts als solches: Das Subjekt ist Individuum und etwas Anderes alsIndividuum. Es ist mit sich selbst inkompatibel.21

20„La genèse de l’individu n’est pas une création, c’est-à-dire un avènement absolu de l’être,mais une individuation au sein de l’être. Le concept de transcendance prend l’antériorité pourl’extériorité. L’être complet, origine de l’individu, n’existait pas avant que l’être ne s’individuât;on ne peut même pas dire que l’être s’est individué: il y a eu individuation dans l’être et in-dividuation de l’être; l’être a perdu son unité et sa totalité en s’individuant.“ SIMONDON,L’individuation psychique et collective, S. 136. Die Übersetzungen der Zitate Simondons stam-men, wenn nicht anders gekennzeichnet, vom Autor dieses Textes.

21„Le problème [. . . ] du sujet et celui de l’hétérogénéité [. . . ] entre l’individu et le préindivi-duel; Ce problème est celui du sujet en tant que sujet: le sujet est individu et autre qu’individu; ilest incompatible avec lui-même.“ Ebd., S. 108.

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Das Individuum muss folglich die zweifache Spannung, die innere, wie dieäußere, immer wieder aufs Neue lösen. Zu der inneren Inkompatibilität ge-sellt sich nämlich noch die Inkompatibilität mit dem Milieu, in dem sichdas Subjekt individuiert. Das Individuum befindet sich in Spannung zu Vor-Individuellem Sein, das als Potentialität in ihm vorhanden ist, und Milieu,in dem sich das Individuum behaupten muss. Beide Spannungspole liefernHandlungsaufforderungen, die das Individuum verarbeiten und lösen muss.Die zweifache Problemlösung findet in einem Akt statt, der die Widersprü-che beinhaltet, sie aber nicht auf Termini reduziert, die für sich alleine ste-hen können. Dies bedeutet, dass im Akt weder zwischen Materie und Form,noch zwischen Körper und Geist getrennt wird, sondern dass sich in actu dieGleichzeitigkeit vermeintlich heterogener Realitäten vollzieht. Die Vorausset-zung hierfür ist eine Ontologie des Werdens:

Der Akt ist weder Materie noch Form. Er ist das Werden, das wird (ilest devenir en train de devenir). Er ist das Sein, insofern als es im Werdenbegriffen ist.22

Dieses Zitat von Simondon mag zunächst kryptisch anmuten, verweist unsaber auf den uneinholbaren Charakter des Werdens, der die ontologische Be-dingung der Kreativität ist. Das Subjekt bzw. jedes Individuum ist Teil diesesWerdens. Es ist unmöglich, vor das Werden zurückzugehen, da dieser Rück-gang selbst in das Werden eingebettet wäre. Diese Struktur drückt sich auchauf erkenntnistheoretischer Ebene aus. Simondon zeigt, dass Seiendes durchdie Erkenntnis erfasst werden kann, aber dass die Individuation selbst nurerfasst werden kann, wenn man eine der Individuation analoge Operationvollzieht, die notwendig in der Individuation der Erkenntnis besteht.23 DieErkenntnis besteht in einem Individuationsakt, der als Individuation zumGegenstand gemacht werden muss. Deshalb ist es lediglich möglich am Wer-den durch Individuation teilzuhaben, aber nicht zu einem Prinzip des Wer-dens zurückzugehen, das das Werden erklären kann. Dies heißt auch, dassdas Werden des Subjekts im Werden auf das Subjekt und seine innere Strukturzurückwirkt:

Das Lebende löst Probleme nicht nur, indem es sich anpasst, das heißt,indem es seine Beziehung zum Milieu modifiziert (wie es die Maschi-ne tun kann), sondern indem es sich selbst modifiziert, indem es eineneue interne Struktur erfindet und indem es sich selbst vollständig in dieAxiomatik der Lebensprobleme einführt. Das lebende Individuum ist einIndividuationssystem – ein System, das individuiert und das sich individu-

22„L’acte n’est ni matière ni forme, il est devenir en train de devenir, il est l’être dans la mesureoù il est en devenant.“ SIMONDON, L’individuation psychique et collective, S. 242.

23„L’individuation du réel extérieur au sujet est saisie par le sujet grâce à l’individuation analo-gique de la connaissance; mais c’est par l’individuation de la connaissance et non par la connais-sance seule que l’individuation des êtres non sujets est saisie. Les êtres peuvent être connus parla connaissance du sujet, mais l’individuation des êtres ne peut être saisie que par l’individuationde la connaissance du sujet.“ Ebd., S. 30.

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iert. Die innere Resonanz und die Überführung des Selbstverhältnissesin Information kennzeichnen das System des Lebenden.24

Das Individuum wird von Simondon als ein individuierendes und sich indivi-duierendes System verstanden. Dies bedeutet für Handlungen, dass sie immerauch auf das Individuum selbst zurückwirken. Die neuen Strukturen, die imAußen geschaffen werden, sorgen auch dafür, dass sich neue Strukturen imInneren bilden. Die Individuationsleistung des Subjekts im Milieu vollziehtsich als dynamisches Schema.25 Nicht nur Subjekt und Milieu müssen verän-derbar sein, sondern auch das Schema selbst, dass entworfen wird, um zuindividuieren. Wenn das Schema nicht passt, muss es modifiziert werden, so-dass die Form, die das Schema auf die Realität wirft, durch die Materie, diedas Milieu darstellt, mitbestimmt wird. Der Akt, der das dynamische Sche-ma realisiert, weist beide Eigenschaften auf, da er die Realisation des Schemasist. Je elastischer und je größer die Fähigkeit sich anzupassen und zu lernen,desto größer das Potential an Kreativität.

Echtes Lernen geht jedoch über die reine Anpassung (adaption) hinaus:Lernen heißt seine eigene innere Struktur verändern, wohingegen die Anpas-sung in einer bloßen Veränderung der Umwelt besteht. Der Begriff der In-formation basiert ebenfalls auf dieser Unterscheidung. Die Information darfweder hinsichtlich der Form, noch hinsichtlich des Signals als statisch gedachtwerden. Sie liegt zwischen den Bedeutungen, die die Gestaltpsychologie unddie Technologie der Information als stabile Form bzw. als Signalaustauschder Information geben. Die Information, die Simondon hier im Blick hat,ist echter Bedeutungsträger. Sie geht daher wesentlich über eine rein empi-ristische Bestimmung hinaus, denn durch das Vermitteln der Informationenwerden Beziehungen hergestellt, die die inneren Strukturen des Subjekts unddes Objekts verändern. Aber nicht nur die beiden Pole, an denen die Signaleder Information ankommen, verändern sich, sondern die Information selbst,als Bedeutungsträger, nimmt am dynamischen Prozess teil.

Nun ist diese Seinsauffassung alles andere als unproblematisch. Es stelltsich die Frage, inwiefern man überhaupt kreative Akte klassifizieren kann,wenn alles in das Werden eingebettet sind: Alle Handlungen und Wahrneh-mungen sind aufgrund der trivialen Konsequenzen der Einsicht Heraklits,dass man in denselben Fluss nicht zweimal steigen kann, in gewisser Hin-sicht neu und kreativ, indem sie aus sich heraus die Zukunft gebären und

24SIMONDON, G., Das Individuum und seine Genese, in: BLÜMLE, C. und SCHÄFER, A.(Hrsg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich/Berlin:2007, S. 29–45, hier: S. 35. „Le vivant résout des problèmes, non pas seulement en s’adaptant,c’est-à-dire en modifiant sa relation au milieu (comme une machine peut le faire), mais en se mo-difiant lui-même, en inventant des structures internes nouvelles, en s’introduisant lui-même com-plètement dans l’axiomatique des problèmes vitaux. L’individu vivant est système d’individuation,système individuant et système s’individuant; la résonance interne et la traduction du rapport à soien information sont dans ce système du vivant.“ SIMONDON, L’individuation psychique et collec-tive, S. 17.

25Siehe hierzu: BERGSON, H., L’énergie spirituelle. Essais et conférences (édition critique), Paris:2009 (1918), L’effort intellectuel, S. 181ff.

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Die Erfindung der Offenheit 163

einen Konflikt lösen. Der gesunde Menschenverstand sagt uns hingegen, dasseben nicht alle Handlungen kreativ sind, sondern nur bestimmte, besonde-re Handlungen. Zwar mögen alle Handlungen im Fluss der Zeit angesiedeltsein, aber nicht alle verändern den Lauf des Flusses auf die gleiche Weise. Gibtes ein Kriterium oder Prinzip der Kreativität, das erlaubt, über den Wert einesAktes zu entscheiden?

Das Kriterium kann nicht, wie bereits weiter oben anhand der Indivi-duation gezeigt wurde, vorgängig gedacht werden. Die Idee des Guten undSchönen, die sich in den schönen geschaffenen Dingen nach der platonisch ge-prägten Philosophie realisiert, kann nicht dazu dienen, Aufschluss über denWert des Aktes zu liefern, da in der konkreten Realisation Idealität erst ent-steht, wenn man dem Gedankengang Simondons folgt. In der ontologischenHierarchie, die zweifelsohne dem Platonismus und dem Aristotelismus inne-wohnt, ist der Akt lediglich das Moment, das die Verbindung zwischen Tran-szendenz und Immanenz herstellt, um Normen und Werte zu übertragen. Jeumfassender und universaler diese Übertragungsleistung ist, desto bedeuten-der ist das geschaffene Werk. Allerdings liegt der Wert nicht im Akt selbst,sondern verdankt sich dort dem außerhalb seiner selbst liegenden Prinzip.

Es scheint, als wäre die Annahme eines vorgängigen Prinzips alternativ-los, jedoch liefert die Struktur des Aktes selbst die Lösung unserer Frage.Die Qualität eines Aktes besteht in einer Verdichtung des kreativen Potenti-als, das sich einfügen und fortsetzen kann. Das Potential erschöpft sich nicht,sondern verlängert sich in ein Netzwerk von Akten:

Der Wert eines Aktes ist nicht sein universalisierender Charakter, ge-mäß der Norm/Regel, die er impliziert, sondern die effektive Realitätseiner Integration in ein Netzwerk von Akten, welches das Werden ist.26

Wert (valeur) und Norm (norme) sind Begriffe, die nahezu zwangsläufig zu ge-schlossenen Systemen führen. Je universaler ihr Charakter ist, desto größerist ihre Fähigkeit, alles in ein System zu integrieren. Der wesentliche Faktordes Aktes ist aber nicht die Integrationsfähigkeit des Außens in ein vorhan-denes System, d.h. die Unterwerfung des Milieus, sondern die Fähigkeit sichin ein Netzwerk zu integrieren. Die Offenheit des Aktes, die im Akt verdich-tet wurde, erlaubt es, an anderen Akten teilzunehmen und sich selbst immerwieder über die anderen Akte zu aktualisieren. Kreativ und wertvoll wird derAkt also dadurch, dass er Netzwerke schafft und an ihnen teilnehmen kann.Die Elastizität als Fähigkeit sich einzufügen und die Erfindung der Offenheitsind die wesentlichen Kennzeichen kreativer Akte.

Nun können sich kreative Akte in Technik, Ethik, Philosophie und Kunst(im weitesten Sinne des Wortes) realisieren. Alle Akte sind, indem sie sichrealisieren, normativ und wertgebend, weil sie eine Ordnung in die Realitäteinführen, die vorher noch nicht vorhanden war. Handlungen zeichnen sich

26„La valeur d’un acte n’est pas son caractère universalisante selon la norme qu’il implique,mais l’effective réalité de son intégration dans un réseau d’actes qui est le devenir.“ SIMONDON,L’individuation psychique et collective, S. 242.

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dadurch aus, dass sie als Individuationen wirken. Kreative Handlungen zeich-nen sich dadurch aus, dass sie ihr Potential nicht erschöpfen. Kreativität bietetAnknüpfungspunkte. Wäre dem nicht so, dann würden die Werke kreativerHandlungen dem Subjekt, das sich mit ihnen auseinandersetzt, nichts mehrsagen, sie wären bedeutungslos. Kreative Handlungen rücken somit immer ineinen transindividuellen Bereich vor, wo sich die Produkte kreativer Hand-lungen an der Fähigkeit, Anknüpfungspunkte zu bieten, messen lassen müs-sen. Schöpft sich der Akt aus einer open source, so muss er sich auch wiederin diese einfügen, um kreativ zu sein.27

Diese Offenheit reduziert sich nicht auf die reine Anwendung und denUmgang mit den Produkten, sondern zeigt sich auch in der intellektuellenAuseinandersetzung mit der kreativen Handlung. Kreative Handlungen ru-fen Reaktionen hervor, die nicht vorhersehbar sind und es auch nicht seinsollen. Kreative Handlungen streben nicht nach Zustimmung, sondern da-nach, dass sich mit ihren Ergebnissen auseinandergesetzt wird.28 Eben ausdiesem Grunde besitzen kreative Handlungen auch immer einen ethischenAnspruch. Der ethische Anspruch besteht allerdings nicht in der letztgülti-gen Beantwortung einer Frage, sondern im Wahren der Spannung, in der sichdas Individuum befindet:

27Die Metapher der open source bezieht sich auch auf die sogenannte virtuelle Welt. Die opensource Initiative fordert nicht nur freien Zugang zu Computerprogrammen, sondern in gewis-ser Hinsicht auch eine bestimmte Ethik der Programmierung, die sich als Prinzip die Offenheitnimmt. Die Definition der open source umfasst zehn Kriterien, die open source Programme erfül-len müssen. Der Quellcode muss frei zugänglich sein, die Software darf weitergegeben werdenund muss erlauben, dass auf der ursprünglichen Software aufbauend gearbeitet wird, dass alsodas Programm selbst nicht den Abschluss der Entwicklung bildet, sondern dass es tatsächlich alsÜbergang verstanden wird, der modifizierte Versionen oder neue Programme ermöglicht. Dieweiteren Punkte der Definition sind besonders interessant bezüglich der Konsequenzen, die sichaus ihnen ergeben. Die Open Source Definition beruft sich nicht auf bestimmte ethische, sozialeoder politische Werte, sondern blendet diese geradezu aus. Zwar dürfen keine Personen oderGruppen durch die Software diskriminiert werden, aber gleichzeitig wird auch gefordert, dassder Einsatz des Programms frei sein muss. Dies heißt, dass der Autor weder das Einsatzgebieteinschränken darf (z.B. weil er nicht möchte, dass das Programm für gentechnische Studien ver-wendet wird), noch die Hardware festlegen darf, auf der die Software laufen soll. Open Sourcesoll technologieunabhängig sein. Das wesentliche Kennzeichen, das allen Prinzipien der opensource gemein ist, besteht in der Offenheit. Solange die Offenheit gewahrt wird, kann die Tech-nik nicht missbraucht werden. Die zehn Prinzipien der Open Source Definition lauten: „1. FreeRedistribution. [. . . ] 2. Source Code. [. . . ] 3. Derived Works. The license must allow modifi-cations and derived works, and must allow them to be distributed under the same terms as thelicense of the original software. 4. Integrity of The Author’s Source Code. [. . . ] 5. No Discri-mination Against Persons or Groups. [. . . ] 6. No Discrimination Against Fields of Endeavor.[. . . ] 7. Distribution of License. [. . . ] 8. License Must Not Be Specific to a Product. [. . . ] 9. Li-cense Must Not Restrict Other Software. [. . . ] 10. License Must Be Technology-Neutral. [. . . ]“http://opensource.org/osd (zuletzt aufgerufen am 21.04.2013, 12:46).

28Ein Beispiel auf ethischer bzw. politischer Ebene ist der Kniefall Willy Brandts, der, ob ge-plant oder nicht, widersprüchliche Reaktionen in der Bundesrepublik der 60er Jahre hervorge-rufen hat. Die Geste Brandts war aber vor allem der Kristallisationspunkt der Schuldfrage nachdem zweiten Weltkrieg und hat sich in der Ostpolitiks Brandts fortgesetzt. Dieses Beispiel disku-tiere ich auch in: SCHICK, J. F., Erlebte Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Intuition zu Emotionbei Henri Bergson, Münster-Berlin: 2012.

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Die Ethik erlaubt dem Subjekt Subjekt zu bleiben, indem es sich weigertein absolutes Individuum, welches ein geschlossener Bereich der Rea-lität und eine abgeschiedene Singularität wäre, zu werden. Durch dieEthik bleibt das Subjekt in interner und externer Problematik immergespannt. Das heißt, es ist in einer realen Gegenwart, es speist sich ausder zentralen Zone des Seins (vivant sur la zone centrale de l’être) und willweder Materie noch Form werden. Die Ethik drückt den Sinn der fort-bestehenden Individuation aus, die Stabilität des Werdens, die diejenigedes Seins als vorindividuelles und als sich individuierendes ist.29

Der Ethik des Werdens steht die Verabsolutierung des Individuums gegen-über. Das absolute Individuum entbehrt jeglicher Potentialität und hat sichvollständig verwirklicht. Es ist demnach nicht mehr in der Lage, sich selbstneu zu erfinden und sich dem Milieu anzupassen. Vielmehr hat es sich einMilieu geschaffen, in dem seine Ordnung herrscht, ist aber nicht mehr in derLage, aus diesem Milieu heraus zu finden. Das Netz an Akten und Wegen,die das absolute Individuum geschaffen hat, erschöpft sich und kommt an einEnde. Die Spannung entlädt sich und führt zur vollkommenen Entspannung.Die Lebendigkeit des Subjekts hingegen besteht in der Ethik, die sich als Span-nung offenbart: Sie ist die problematische Existenz des Individuums. Die ethi-sche Einstellung bleibt jedoch eine Forderung, da sie sich nicht automatischrealisiert: Sie benötigt das Individuum, das sich individuiert, das Werte undNormen korreliert. Die Ethik fordert die Teilnahme am Individuationsakt,der Ontogenese.30

Die Resultate, die am Ende der kreativen Handlungen stehen, sind höchstunterschiedlich. So kann eine ethische Geste ihr kreatives Potential entfalten,indem sie sich in weiteren Handlungen fortsetzt. Dies ist auch der Fall, wennwir es mit Kunst zu tun haben: Die Kunst entfaltet ihre Wirkung, indem siezum Nachdenken anregt. Ist es aber auf die gleiche Art und Weise möglich,über die Technik Offenheit zu transportieren? Wie muss das technische Ob-jekt beschaffen sein und wie muss man ihm begegnen?

29„L’éthique est ce par quoi le sujet reste sujet, refusant de devenir individu absolu, domainefermé de réalité, singularité détachée; elle est ce par quoi le sujet reste dans une problématiqueinterne et externe toujours tendue, c’est-à-dire dans un présent réel, vivant sur la zone centralede l’être, ne voulant devenir ni fome ni matière. L’éthique exprime le sens de l’individuationperpétué, la stabilité du devenir qui est celui de l’être comme préindividué et s’individuant.“SIMONDON, L’individuation psychique et collective, S. 245f.

30„L’éthique est l’exigence selon laquelle il y a corrélation significative des normes et des va-leurs. Saisir l’éthique en son unité exige que l’on accompagne l’ontogénèse: l’éthique est le sensde l’individuation, le sens de la synergie des individuations successives.“ Ebd., S. 242.

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Offene Objekte: Technik und Erfindung als ethischeHerausforderung

[. . . ]

– Les hommes ne veulent plus des machines visibles.

– Oui, ne veulent plus des moteurs, ne veulent plus d’actions.

Amen31

Der Film Holy Motors von Leo Carax endet mit dem hier ausschnittwei-se zitierten Dialog zwischen Stretch-Limousinen, die nach getaner Arbeitsich über ihren Status als technische Objekte unterhalten. Der dramatischeSchluss, den Carax die Maschinen Anfang des 21. Jahrhunderts ziehen lässt,verweist uns auf die Haltung, die wir der technischen Welt gegenüber einneh-men. Was sind technische Objekte? Was zeigt uns Carax, wenn er technischeObjekte in Dialog miteinander treten lässt?

Carax zeigt uns etwas Wesentliches der technischen Welt. Er zeigt unsnicht irgendwelche Objekte, sondern Stretch-Limousinen, die nicht nur Ma-schinen sind, sondern vor allem eine Botschaft vermitteln. Sie sind im höch-sten Maße unpraktische und teure Fahrzeuge, mittels derer ihre Passagiereihren sozialen Stand kommunizieren wollen. In technischer Hinsicht sind siewenig spektakulär.32 Vielmehr stellen sie den Fahrer vor Probleme: Das Stra-ßennetz ist nicht immer kompatibel mit dem wenig wendigen Fahrzeug, sodass der eigentliche Nutzen eines Transportfahrzeugs, möglichst schnell dieDistanz zwischen zwei Orten zu überbrücken, konterkariert wird.

Diese Objekte, die keinen wirklichen Nutzen haben und deren Form dieFunktion in keiner Weise in die Länge zieht, werden als lebendige Organis-men präsentiert, die ihre emotionale Erregung über Bremsleuchten kommu-nizieren, um uns den Spiegel vorzuhalten: Was erwarten wir von der Tech-nik? Sie soll möglichst unsichtbar sein und uns aller Handlung entledigen.Tatsächlich offenbart die Unsichtbarkeit der Technik aber die Ohnmacht desUsers. Der gewollte Verlust der Handlung, den Carax im Gebet der Limousi-nen prophezeit, ist auch ein Verlust des Zugriffs auf die technische Welt, derwir scheinbar hilflos ausgeliefert sind.

Das Zitat aus Holy Motors hebt in gewisser Hinsicht auf die Haltung, dieaus dieser Auffassung resultieren kann, ab: Einerseits kann der Mensch dieMaschinen anthropomorphisieren und so behandeln, als wären sie Sklaven,oder er kann sich von den Maschinen versklaven lassen, indem er sich in derIndustrialisierung auf die quasi-mechanische Funktion des Bedieners reduzie-ren lässt. Wir wünschen uns natürlich, dass die Maschinen uns dienen, un-sichtbar werden und wir nicht mehr handeln müssen: dass wir als Bediener

31„– Die Menschen wollen keine sichtbaren Maschinen mehr. – Ja, wollen keine Motoren,keine Handlungen mehr. Amen.“ Aus: Leo Carax, Holy Motors, 2012.

32In den meisten Fällen handelt es sich um im Nachhinein verlängerte Automobile. Lediglichbei den sogenannten Pullman-Fahrzeugen wurde die Überlänge bereits in der Produktentwick-lung geplant.

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aus der technischen Maschinerie ausscheiden. Aber dadurch, dass die Maschi-nen immer kleiner und unsichtbarer werden, entsteht auch die Angst, über-haupt keine Kontrolle mehr über die Maschinen zu besitzen. Dabei geht ver-loren, was technische Objekte eigentlich sind. Technische Objekte sind Ver-längerungen der menschlichen Aktivität in die Wirklichkeit hinein, die imGegensatz zu Werkzeugen, nicht als Ersatzorgane die Extremitäten des Kör-pers verlängern, sondern unabhängig von ihm existieren. Das Werkzeug istdirekt mit dem menschlichen Körper in Kontakt: Information und Energiewerden nicht voneinander getrennt.33 Die Maschine hingegen gewinnt ihrerelative Unabhängigkeit dadurch, dass sie in einen autostabilen Zustand ge-langen kann und muss, um zu funktionieren.34 Diese Unabhängigkeit führtzu einem Status, der Individuen durchaus ähnelt: Technische Objekte sindvermeintlich in sich geschlossen und haben scheinbar die innere Struktur ei-nes Organismus.

Objekte sind jedoch keine Organismen. Ihre innere Struktur verändertsich nicht durch den Umgang mit dem Milieu. Sie sind lediglich dazu in derLage sich anzupassen, besitzen aber nicht die Fähigkeit, zu lernen. Das Sub-jekt kann ihnen den Status eines Organismus verleihen, den es aus sich her-aus nicht besitzt. Der affektive Zugang zur technischen Welt, der so tut, alssei das Objekt ein Lebewesen, erleichtert uns den Umgang mit ihnen, weilwir dadurch eine Ersatzhandlung ausführen können, die es erlaubt, dass wiruns mit dem Objekt nicht wirklich beschäftigen müssen. Wir fluchen undbeschimpfen Computer, weil wir das Problem, das uns der Computer stellt,nicht lösen können. Die Alternativen der Versklavung des Menschen durchdie Technik und die Versklavung der Technik durch den Menschen resultie-ren aus einem Mangel an Reflexion dem technischen Objekt gegenüber: Sieentsprechen einer magischen Haltung. Die Industrie tritt an die Stelle derkosmischen Ordnung, „weil sie die Beziehung Mensch-Natur übernimmt:Tatsächlich ist sie bezüglich des Menschen das, was das Wirkliche kosmischerOrdnung ersetzt (den Wind, den Regen, den Fluss, der über die Ufer tritt,die Viehseuche), indem sie in einem gewissen Maß dessen Unabhängigkeitvom Menschen vermindert, dabei aber die Transzendenz der Dimension undden diskontinuierlichen, irreversiblen Charakter bewahrt“.35 Die Industrieund die Massenproduktion, die das technische Objekt herstellt, um es für dieMasse verfügbar zu machen und zu verkaufen, verstellen die Sicht auf die Hal-

33„Die Maschine unterscheidet sich vom Werkzeug dadurch, dass sie ein Relais ist: Sie hatzwei verschiedene Eingänge, denjenigen für die Energie und denjenigen für die Information;[. . . ] Beim Werkzeug, das in der Hand gehalten wird, vermischen sich der Eingang der Energieund der Eingang der Information oder überlagern sich doch wenigstens teilweise.“ SIMONDON,G., Die technische Einstellung, in: HÖRL, E. (Hrsg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zurBeschreibung der technischen Welt, Frankfurt a. M.: 2011, S. 73–92, hier: S. 81.

34Ebd., S. 78f.35Ebd., S. 83f.

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tung des Menschen zu seinen Schöpfungen.36 Der Mensch tritt zunächst alsKonsument mit dem technischen Objekt in Verbindung und verkennt das,was das technische Objekt ausmachen kann.37 Der Käufer spielt eine Rollein der sozialen Gemeinschaft, die ihm dadurch den Blick auf das technischeObjekt versperrt. Das geschaffene Objekt ist aber mehr als ein Produkt. Inihm steckt die Kristallisation einer kreativen Handlung:

Die Beziehung des Menschen zur Welt kann sich durch die Gemein-schaft und über die Arbeit oder vom Individuum zum Objekt, in ei-nem direkten Dialog, der der technische Aufwand ist, vollziehen: Dastechnische Objekt, wird es auf diese Weise untersucht, bezeichnet einebestimmte Kristallisation der schöpfenden menschlichen Geste und ver-ewigt/erhält sie im Sein.38

Das technische Objekt ist letztlich Ausdruck der Haltung des Menschen derWelt gegenüber. Die Technik und die damit verbundene Einstellung, wie Si-mondon sie formuliert, hat zunächst ein rein wissenschaftliches Interesse.Die ersten Techniker waren für Simondon Thales, Anaximander und Ana-ximenes, die in direkten Kontakt mit der Welt getreten sind, um verborge-ne Objekte aus der Realität herauszuholen und sie verfügbar zu machen.39

Diese Aktivität unterscheidet sich von der Arbeit (travail), weil sie frei vonZielen ist. Die vorsokratischen Techniker waren in ihrer Tätigkeit frei, d.h.sie orientierten sich nicht an der Nützlichkeit, wie es der Spezialist, den wirrufen, wenn unsere technischen Geräte nicht mehr funktionieren, tut, son-dern an der Spannung zwischen organischem und technischen Leben, die esimmer wieder zu lösen gilt. Das technische Objekt erlaubt dem Individuumam Werden teilzuhaben, wenn man sich auf das Wesen des technischen Ob-jekts einlässt und einen Sinn für die Phänomene entwickelt, die mittels derTechnik erfasst werden können. Der Zugang zur Welt, den das geschaffeneObjekt liefert, wird deutlich, wenn wir uns der Photographie zuwenden.

Der technische Kern der Photographie stellt Kompatibilität zwischen ei-nem chemischen und einem physikalischen Prozess her. Licht wird in derdunklen Kammer des Apparates gefangen und dort durch einen chemischenProzess auf eine Platte gebannt. Die einzelnen Teile, die in diesem Prozessverknüpft werden, waren vor der Erfindung bereits bekannt, der Akt des Er-findens hat diese Elemente, das Licht und die photo-sensitive Platte, direktund automatisch aufeinander bezogen, um ein neues Ganzes und ein Bild derDinge zu formen.40

36Dies gilt nicht nur für das technische Objekt, sondern auch für die Kunst und zwar dort,wo Kunst besessen werden will, um sich mit ihr zu dekorieren, oder dort, wo Kunst geschaffenwird, um nur zu dekorieren.

37SIMONDON, Die technische Einstellung, S. 88f.38„Le rapport de l’Homme au monde peut en effet s’effectuer soit à travers la communauté,

par le travail, soit de l’individu à l’objet, dans un dialogue direct qu’est l’effort technique: l’objettechnique ainsi élaboré définit une certaine cristallisation du geste humain créateur, et le perpétuedans l’être.“ SIMONDON, L’individuation psychique et collective, S. 263.

39Ebd., S. 262f.40SIMONDON, Imagination et Invention, S. 169.

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Der Photoapparat ermöglicht dem Subjekt die Teilnahme an der Realitätauf eine besondere Weise. Er erlaubt nicht nur, dass das Individuum sich einBild macht, sondern auch, dass es an einem Prozess teilnimmt, der auf denVorgang des Werdens selbst zielt: Der technische Vorgang der Photographieist eine Individuation, da dort ein metastabiler Zustand, der eine Realitätsebe-ne (die physische) auf eine andere (die chemische) bezieht, stattfindet.41 DieKamera ist dadurch eine Verlängerung in die Realität hinein.

Die Teilhabe an einem Individuationsprozess mittels der Photographiekann – richtig verstanden – der Individuation der Erkenntnis auf wahrneh-mungstheoretischer Ebene entsprechen. Ist, um Zugang zur Erkenntnis zugelangen, die Individuation der Erkenntnis notwendig, so muss man, willman die Wahrnehmung thematisieren, eine Individuation der Wahrnehmungvollziehen. Die Verdopplung der Wahrnehmungssituation ermöglicht dieseIndividuation: Die natürliche, leibliche Wahrnehmung wird um einen Ap-parat ergänzt, der ein Bild des Wahrnehmungsbildes liefert. Dieses Bild mussweder qualitativ noch quantitativ hochwertiger sein, als das der natürlichenWahrnehmung, aber der Prozess der Bildentstehung kann uns etwas Wesent-liches zeigen.

Die Wahrnehmung wird nämlich in zweierlei Hinsicht verdoppelt. In-dem wir durch die Kamera blicken, nehmen wir eine erste Verdopplung vor.Der Blick ist durch ein Medium, die Kamera, auf die Welt gerichtet. Er ist da-durch gleichzeitig eingeschränkt, da er nur einen Ausschnitt sieht, kann sichaber durch eine höhere Auflösung (nicht nur im Sinne der quantitativen Be-stimmung des Bildes, sondern auch durch die Konzentration der Aufmerk-samkeit des Individuums und die Wahl des Bildausschnittes) vertiefen. Diezweite, nachfolgende Verdopplung tritt ein, wenn sich das Individuum aufdas geschossene Bild richtet und erneut im Nachhinein einen Wahrnehmungs-akt vornimmt, um Details zu erkennen, die ihm eventuell entgangen waren.Jeder einzelne Schritt ist ein Individuationsakt, der Einteilungen vornimmtund etwas erzeugt.

Die Wahrnehmung als Reihe von Individuationen ist in einem Universumder Bilder ontologisch verankert. Henri Bergson nutzt diesen Ausdruck unddie Photographie in Matière et mémoire, um zu zeigen, dass es in einem reinphysikalisch determinierten Universum, wo das Licht bis in alle Ecken desUniversums vordränge, ohne aufgenommen zu werden, keine Bilder gäbe:

Aber warum will man nicht sehen, dass die Photographie, wenn es über-haupt eine Photographie ist, von allen Dingen im Raum aus im Inne-ren der Dinge schon aufgenommen und entwickelt ist? [. . . ] Nur liegt,

41Die Digitalphotographie stellt einen weiteren Erfindungsschritt dar: Dort wird aufgrundschon vorhandener Technik, der Computertechnik, ein neues Verfahren entwickelt, welchesLicht umwandelt. Kompatibilität wird mittels Halbleitern zwischen der analogen Welt (Licht)und der digitalen Welt hergestellt. Die analoge Photokamera als solche bleibt virtuell erhalten,indem digitale Spiegelreflexkameras entwickelt wurden, die, ebenso wie es bei analogen Kamerasder Fall war, erlauben, das einzufangende Bild im Sucher sichtbar zu machen. Die Technik deranalogen Kamera ist deshalb nie wirklich veraltet. Es besteht immer wieder die Möglichkeit, dentechnischen Kern zu aktualisieren und dadurch ins Jetzt zu holen.

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wenn man einen beliebigen Punkt im Weltall betrachtet, die Sache so,dass die Wirkung der gesamten Materie ohne Widerstand und ohne Ver-lust hindurchgeht; dann bleibt die Photographie des Ganzen Licht, dennes fehlt die Platte, auf der das Bild aufgefangen wird. Unsere „Zonen derIndeterminiertheit“ übernehmen sozusagen die Rolle dieser Platte. Siefügen dem Vorhandenen nichts hinzu; sie bewirken nur, dass die reelleWirkung durchgeht und die virtuelle bleibt.42

Die Metaphorik der Photographie zeigt, dass das Subjekt bzw. die „Zoneder Indeterminiertheit“ die Rolle der „dunklen Platte“ übernimmt, die denHintergrund bildet, auf dem sich die Bilder einschreiben können. Würde dasgesamte Universums im Sinne der Newtonschen Physik nur rein physika-lisch zusammenhängen, was soviel heißen würde, dass wir von jedem Punktdes Universums ein Bild des gesamten Universums aufnehmen könnten, danichts an Energie verloren geht und das Licht alles durchleuchtet, gäbe es we-der Bilder noch Perspektiven: Es gäbe nur Licht und keine photo-sensiblePlatte, auf der das Licht gefangen werden könnte.

Nun funktioniert weder die subjektive Wahrnehmung noch die Photo-graphie auf diese Weise. Vielmehr ist die Wahrnehmung bereits die Lösung ei-nes Konflikts, eine Erfindung, die auf die Anforderungen des Universums mit-tels einer Individuation antwortet43: Das, was aufgenommen werden kann,wird vom dunklen Schirm der Subjektivität gespeichert, wohingegen das, wasohne Interesse für das Individuum ist, an ihm vorbeigeht. Diese Individua-tionsleistung wird von der Kamera wiederholt und vollendet die Wahrneh-mung. Die Erfindung der Kamera im besonderen und des technischen Ob-jekts im allgemeinen geht über die teleologische Gebundenheit der Wahrneh-mung hinaus. Hat die konkrete Wahrnehmung immer ein Interesse, so kanndieses ursprüngliche Interesse durch die Erfindung auf unvorhersehbare Wei-se verändert werden:

Die Wahrnehmung entspricht der Phase, in denen der Effekt vom Mi-lieu abhängt und vor dem Subjekt entsteht. Durch den Mehrwert der Er-findung, tritt dieser Effekt in das System des geschaffenen Objekts ein.

42BERGSON, H., Materie und Gedächtnis: eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körperund Geist, Hamburg: 1991, S. 23. „Mais comment ne pas voir que la photographie, si photogra-phie il y a, est déjà prise, déjà tirée, dans l’intérieur même des choses et pour tous les points del’espace? [. . . ] Seulement, si l’on considère un lieu quelconque de l’univers, on peut dire quel’action de la matière entière y passe sans résistance et sans déperdition, et que la photogra-phie du tout y est translucide: il manque, derrière la plaque, un écran noir sur lequel se déta-cherait l’image. Nos ,zones d’indétermination‘ joueraient en quelque sorte le rôle d’écran. Ellesn’ajoutent rien à ce qui est; elles font seulement que l’action réelle passe et que l’action virtuelledemeure.“ BERGSON, H.; RIQUIER, C. (Hrsg.), Matière et mémoire: un essai sur la relation ducorps à l’esprit (édition critique), Paris: 2008 (1896), S.35f.

43„La perception n’est pas la saisie d’une forme, mais la solution d’un conflit, la découverted’une compatibilité, l’invention d’une forme. Cette forme qu’est la perception modifie non seu-lement la relation de l’objet et du sujet, mais encore la structure de l’objet et celle du sujet. Elleest susceptible de se dégrader, comme toutes les formes physiques et vitales, et cette dégradationest aussi une dégradation de tout le sujet, car chaque forme fait partie de la structure du sujet.“SIMONDON, L’individuation psychique et collective, S. 76f.

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Die Erfindung berücksichtigt die Natur als notwendigen Zusatz (sup-plément) zur einfachen praktischen und anthropozentrischen Finalität,die nur auf dem kürzesten Weg eine Organisation herbeiführt. DieserZusatz (supplément), der notwendig ist, damit das geschaffene Objektmit sich selbst kompatibel wird, erzeugt eine unvorhergesehene Rekru-tierung im Projekt der Problemlösung und führt zu einer Lösung, diegrößer als das Problem ist. Der Fortschritt im eigentlichen Sinne ist dieFolge von Erfindungsakten. [. . . ]Die Erfindung vollendet die Wahrneh-mung nicht nur, weil sie im Objekt das realisiert, was die Wahrnehmungerfasst, sondern auch weil sie den primitiven Bedingungen Effekte hin-zufügt anstatt Effekte auszuwählen, um Informationen zu entnehmen,wie es die Wahrnehmung macht, die aus den verschiedenen Möglichkei-ten, die die Situation anbietet, auswählt. Aus diesem Grund tragen dieErfindungen, die Objekte schöpfen, dank dieser Rekrutierung der Effek-te, Daten zur wissenschaftlichen Entdeckung bei, die die beobachtendeWahrnehmung nicht aus der Realität extrahieren könnte.44

Das geschaffene, technische Objekt vollendet vor allem deshalb die Wahrneh-mung, weil es – im Gegensatz zur wesentlichen Inkompatibilität des Individu-ums – mit sich selbst kompatibel ist. Wir sehen an dieser Stelle, inwiefern dastechnische Wesen des Menschen sich durch die Erfindung verewigen kann.Aus der Inkompatibilität heraus entsteht durch die Erfindung Kompatibili-tät. Diese Kompatibilität ist jedoch nicht nur im Akt vorhanden, sondernverwirklicht sich im technischen Objekt. Das technische Objekt ist genau indieser Hinsicht die Kristallisation der menschlichen schöpferischen Geste.

Das Objekt holt aus der Natur mehr heraus, als es der einfache Wahr-nehmungsakt möglich macht. Zum einen fängt die Kamera zunächst zwarnur ein Wahrnehmungsbild ein, aber zusätzlich zu diesem Effekt ist es mög-lich, weitere Wahrnehmungsbilder des selben Gegenstandes zu generieren,die nicht durch das aktuelle Interesse der Wahrnehmung gezeugt wurden,sondern nur virtuell vorhanden waren. An dieser Stelle setzen Kunst undWissenschaft ein. Beide sind an einer Wahrnehmung interessiert, die ins Inne-re der Welt45 vordringt und sich von einer durch die Nützlichkeit beschränk-

44„L’invention créatrice d’objet est ainsi la dernière phase d’un processus dialectique qui passepar la perception ; la perception correspond à la phase en laquelle l’effet dépend du milieu, se pro-duit devant le sujet; par la plus-value de l’invention, l’effet entre dans le système de l’objet créé;l’invention tient compte de la nature comme supplément nécessaire à la simple finalité pratiqueet anthropocentrique, qui opérerait seulement, selon la voie la plus courte, une organisation; cesupplément nécessaire pour que l’objet créé soit compatible avec lui-même, opère un recrute-ment imprévu dans le projet de résolution du problème, et amène une solution plus grande quele problème. Le progrès, au sens majeur du terme, est la conséquence des actes des inventions.[...] L’invention complète la perception non seulement parce qu’elle réalise en objet ce que laperception saisit, mais aussi parce qu’elle ajoute des effets aux conditions primitives au lieu desélectionner des effets pour une prise d’information, comme fait la perception, qui choisit parmiles possibles offerts par la situation. Pour cette raison, les inventions créatrices d’objets, grâceà ce recrutement d’effets, apportent à la découverte scientifique des données que l’observationperceptive ne peut extraire du réel.“ SIMONDON, Imagination et Invention, S. 175.

45Das emphatisch formulierte Innere der Welt möchte ich deutlich von dem abgegrenzt wissen,was ein romantisches Kreativitätsverständnis darunter verstehen könnte: Es geht mir darum zu

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ten Wahrnehmung verabschiedet. Zum anderen inkorporiert das technischeObjekt vorherige technische Errungenschaften, um diese auf ein neues, ande-res Niveau zu heben. Die Effekte der Erfindung erschöpfen sich deshalb niein dem einen letztgültigen technischen Objekt, sondern ermöglichen anderetechnische Objekte oder, um allgemeiner zu sprechen, den Fortschritt. Dastechnisch Seiende nimmt am technischen Universum teil. Aus diesem Grundmuss man, will man tatsächlich ein Objekt im Jetzt halten, es offen halten,um die Kommunikation mit der technischen Welt zu ermöglichen. Für bei-de Effekte ist eine Haltung notwendig, die von der Nützlichkeit absieht undimmer wieder den technischen Kern des Objektes freizulegen sucht.

Um den technischen Kern legen sich laut Simondon zwei Schichten, de-nen jeweils eigene Funktionen zukommen: Die Schicht der expression gibtdem Objekt Möglichkeit, am technischen Universum, das durch die Gesamt-heit der technischen Seienden konstituiert wird, teilzunehmen. Der Austau-sch und die Kommunikation zwischen den technischen Seienden äußert sichbeispielsweise in der Verwendung bestimmter Materialien, die zunächst nurin einem Bereich verwendet werden, dann aber auch in anderen technischenObjekten Anwendung finden. Aluminium wurde im Autobau erst verwen-det, als es bereits im Flugzeugbau Standard geworden war. Dem Autofahrerwar es dadurch möglich, durch das verwendete technische Objekt an der Spra-che des Flugbetriebes teilzunehmen, um zum Piloten zu werden.46

Diese Übersetzung und Integration verschiedener Techniken auf andereGebiete führt uns zur äußeren Schicht des technischen Objekts, die der De-monstration (manifestation) dient. Wir werden selbstverständlich nicht zumPiloten, wenn wir ein Auto fahren, das uns mittels Vorsprung durch Techniksuggeriert, zu fliegen, sondern erliegen der Propaganda der Werbemaschine-rie, die durch eine opake Rhetorik einen Hypnosezustand vom Kauf bis zurAnwendung eines Produktes erzeugt.47 Zwar kommuniziert das Auto überdie Verwendung bestimmter Materialien aus der Luftfahrttechnik tatsächlichmit dem Flugzeug auf eine bestimmte Weise, da hier wie dort der technischeKern und dessen Funktionsweise den Ausgangspunkt der Kommunikation

zeigen, dass nicht ein Wesenskern hervorgebracht werden kann, in dem sich ein Weltgeist odereine andere metaphysische Größe idealiter ausdrückt, sondern dass im Inneren der Welt, durchdie innere Logik der Kreativität, Virtualitäten erzeugt und hervorgebracht werden, die kein außersich liegendes Prinzip besitzen.

46SIMONDON, Imagination et Invention, S. 166.47„Or, si nous considérons les machines que notre civilisation livre à l’usage de l’individu,

nous verrons que leurs caractères techniques sont oblitérés et dissimulés par une impénétrablerhétorique, recouverts d’une mythologie et d’une magie collective que l’on arrive avec peine àélucider ou à démystifier. Les machines modernes utilisées dans la vie quotidienne sont pourune large part des instruments de flatterie. [. . . ] L’état d’hypnose s’étend depuis l’achat jusque’àl’utilisation; dans la propagande commerciale elle-même, l’être technique est déjà revêtu d’unecertaine signification communautaire: acheter un objet, c’est acquérir un titre à faire partie detelle ou telle communauté; c’est aspirer à un genre d’existence qui se caractérise par la possessionde cet objet: l’objet est convoité comme un signe de reconnaissance communautaire, un sym-bolon (symbole), au sens grec du terme. Puis, l’état d’hypnose se prolonge dans l’utilisation etl’objet n’est jamais connu dans sa réalité, mais seulement pour ce qu’il représente.“ SIMONDON,L’individuation psychique et collective, S. 280f.

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bilden, aber durch die unwesentlichen Bilder, die dem Objekt auf der äuße-ren Schicht hinzugefügt werden, um es zu verkaufen, wird nicht nur der tech-nische Wesenskern des Objekts, dessen man sich bedient, verstellt, sondernauch der Kern des anderen Objekts mit dem es in Verbindung steht, bzw. zudem man es in Verbindung setzen möchte: Man lässt sich durch das modischeÄußere des Objekts blenden und stellt eine rein äußerliche Verbindung her,ohne überprüfen zu können, ob auch eine innere Verbindung besteht.

Die innere Schicht ist die Bedingung der Möglichkeit für die mittlere unddie äußere Schicht. Sie ist das technische Wesen des Objekts, ohne das Aus-druck und Manifestation nicht möglich wären. Die beiden anderen Schichtenstehen zu ihm in einem parasitären Verhältnis: Äußere und mittlere Schichtbedienen sich des technischen Kerns und können ihn daher verstellen.48 Ins-besondere das durch die Mode bestimmte Design verstellt den Zugang zuminneren Kern des Objekts.49

Das Verhältnis der einzelnen Schichten zueinander entscheidet darüber,wie offen ein Objekt ist. Je weiter man sich von der ursprünglichen Erfin-dung entfernt, desto größer ist die Gefahr, dass die einzelnen Schichten aus-einanderdriften und eine Kluft (clivage) zwischen ihnen entsteht.50 Diese Klu-ft wird anhand der Entwicklung des Photoapparats deutlich. Während zu Be-ginn der Erfindung des Photoapparates die Photographie zumeist von kun-digen Liebhabern (amateurs savant) und Wissenschaftlern betrieben wurde,hat sich mit der Massenproduktion und der allgemeinen Verfügbarkeit desPhotoapparates nicht nur zwischen demjenigen, der den Film entwickelt undder die Photos schießt – der amateur hatte vormals beide Prozesse in derHand – eine Kluft gebildet, sondern dies hat auch zu einer Verringerung derQualität der Kameras und der Photos geführt. Durch die Spezialisierung derKameratypen und deren Produktion wird zwar nicht der technische Kernals solcher beschädigt, aber seine Funktion kommt nicht mehr zur vollenEntfaltung. Zwar wird dem Einzelnen dadurch ermöglicht, am Diskurs dertechnischen Welt teilzunehmen, aber die Kommunikation zwischen Mensch,technischem Objekt und Welt, reduziert sich auf eine bloße Anwendung, dienicht über ihren eigenen Diskurs hinausgelangen kann: Der User bleibt aufeine möglichst einfache Benutzeroberfläche angewiesen, die ihm dazu dienensoll, – ohne intensivere Auseinandersetzung mit dem Gerät selbst – in derWirklichkeit zu handeln. Der User läuft dabei Gefahr, in dreierlei Hinsichtzu scheitern: Er verkennt nicht nur den Zugang (1) zur Wirklichkeit und (2)zum technischen Objekt, sondern auch (3) zu sich selbst, da er keine echteKenntnis davon besitzt, was und wie er es gerade tut. Simondon fordert des-

48„La manifestation (couche externe) et l’expression (couche moyenne) ne pourraient existersi elles n’étaient portées par la couche interne, noyau de technicité productive et résistante, surlaquelle les couches externe et moyenne se développent en parasites, avec une importance variableselon les circonstances sociales et psycho-sociales.“ SIMONDON, Imagination et Invention, S. 167.

49Natürlich führt nicht alles Design zur Verstellung des Objekts. Im Gegenteil: Es ist möglich,und dies zeichnet gutes Design aus, dass durch das Design die Funktion betont wird. Siehe hierzu:Ebd., S. 180.

50Ebd., S. 168.

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halb eine bestimmte Haltung gegenüber der technischen Welt, die von derNützlichkeit absieht, um eine Erkenntnishaltung zu ermöglichen, die denAkt der Erfindung wieder sichtbar macht.

Der Erfindungsakt, der eine Individuation darstellt, zeigt Zustände in ih-rem Übergang. Die Erfindung reduziert sich nicht auf eine versklavende Hal-tung der Natur gegenüber, sondern ist durch den Verzicht auf die Nützlich-keit genuin philosophischer bzw. wissenschaftlicher Natur. Beide Einstellun-gen finden in der Ethik der Offenheit ihre Entsprechung, weil ihr Inter-esse– im Wortsinne als dazwischen Sein – nicht teleologisch, also auf ein Ziel hinausgerichtet ist, sondern am Akt teilhaben möchte. Der Erfinder und derPhilosoph streben daher danach, die Phänomene zu retten:

Jeder Erfinder im Bereich der Kunst ist in gewissem Maße ein Futurist,was so viel heißt, als er das hic et nunc der Bedürfnisse und der Ziele über-steigt, indem er die Quellen der Effekte, die im Werk leben und sich ver-mehren, an das geschaffene Objekt heranzieht. Der Schöpfer hat einenSinn für das Virtuelle, er hat Sinn für das, was, seit Anbeginn der Zeitund aus einer eng mit einem Ort verbundenen Bescheidenheit heraus,nach der Laufbahn der Zukunft und dem Ausmaß der Welt als Ort derManifestation verlangt. Der Schöpfer rettet die Phänomene, weil er sen-sibel für das ist, was in jedem Phänomen ein Verlangen nach verstärkterManifestation und ein Zeichen einer postulierten Überschreitung (en-jambement) hin zur Zukunft ist.51

Die Erfindung versucht sich nicht am äußeren Schein, sondern wird als einAkt verstanden, der Effekte verstärkt, hevorholt und in die Richtung der Zu-kunft trägt. Der Akteur der kreativen Handlung, sei er nun Erfinder, Künst-ler oder Philosoph, geht über die Bestimmungen der Gegenwart hinaus. DasJetzt, in dem die Objekte gehalten werden, bezieht sich gleichzeitig auf dieVergangenheit wie auf die Zukunft. Nur dadurch wird aus dem Moment eineechte Gegenwart, die die Vergangenheit als virtuelle Kraft und die Zukunftals offenen Spielraum der Virtualitäten versteht. Der Sinn für das Virtuelleund für die Phänomene, die es zu retten gilt, entsteht aus der offenen, on-togenetischen Haltung heraus, die gefordert ist, um etwas Neues schaffen zukönnen.

Der Verssprung (enjambement) von Vergangenheit zur Zukunft bedeutetdas sinnvolle Integrieren der Vergangenheit in eine Zukunft, die durch dieVergangenheit strukturiert und gestaltet wird. Die ontologische Konsequenzdieser Aussage Simondons ist gleichzeitig eine ethisch-philosophische. Dasgeschaffene Objekt darf nicht als etwas verstanden werden, das rein physi-kalischer und materieller Natur ist, weil es, wenn es sich darauf reduzieren

51„Tout inventeur en matière d’art est futuriste en une certaine mesure, ce qui veut dire qu’ildépasse le hic et nunc des besoins et des fins en enrôlant dans l’objet créé des sources d’effets quivivent et se multiplient dans l’œuvre; le créateur est sensible au virtuel, à ce qui demande, dufond des temps et dans l’humilité étroitement située d’un lieu, la carrière de l’avenir et l’ampleurdu monde comme lieu de manifestation; le créateur sauve les phénomènes parce qu’il est sensibleà ce qui, en chaque phénomène, est une demande de manifestation amplifiant, le signe d’unenjambement postulé vers l’avenir. SIMONDON, Imagination et Invention, S. 182.

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ließe, keine Bedeutung für uns hätte. Vielmehr sind die technischen Objek-te direkte Erzeugnisse einer Erfindung, die dem Objekt den Charakter einesOrganismus verleiht, indem auf die Suche nach einer internen Kompatibili-tät des Objekts gegangen wird. Das Wesen der Erfindung kondensiert sich imObjekt und bleibt dort erhalten.52 Die Phänomene zu retten bedeutet daherdie schöpferische Geste des Menschen am Leben zu erhalten, die sich im tech-nischen Objekt kristallisiert hat.53 Das Ideal des offenen Objekts ist für Si-mondon folglich eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der eigenenExistenz, die wesentlich durch kreatives Handeln geprägt ist. Die technischeEinstellung gegenüber dem Objekt wirkt gleichzeitig auf Zukunft, wie aufdie Vergangenheit. Das Herausarbeiten des Wesenskerns des technischen Ob-jekts verfolgt ein reines inter-esse: Es hebt nicht auf den Gebrauch des Objekts,um eines anderen Zieles willens ab, sondern versucht, an der Individuationmittels des Objekts teilzuhaben. Aber wie haben wir uns dies vorzustellen?

Das Objekt, soll sich in ihm tatsächlich die kreative Handlung fortsetzen,muss selbst Offenheit aufweisen. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass Si-mondon von offenen Objekten spricht. Was ist jedoch damit gemeint, wennObjekte offen sind? Wir werden unmittelbar an den Steckkasten erinnert,den wir zu Beginn dieses Essays eingeführt haben: ein Objekt, das nach je-der Seite hin Öffnungen besitzt, in die bestimmte Formen passen. Die Form,für die der Steckkasten offen ist, ist jedoch bereits festgelegt und lässt keineandere Möglichkeit zu, als diese Form in diese Aussparung zu stecken.

Die festgelegte Funktionsweise des Steckkasten ermöglichte uns eingangs,die Lösung des Problems der Inkompatibilität durch elastisches Material vor-zustellen, das zwischen beiden Formen vermitteln kann. Wir kehren genauzu diesem Punkt zurück. Zeichnet sich das kreative Handeln auf der Ebe-ne des Individuums durch die ständige Fähigkeit aus, sich zu individuieren,um sich innerlich wie äußerlich neu zu strukturieren, so wird das technischeObjekt durch die Möglichkeit, ständig von einem Individuum aktualisiertwerden zu können, charakterisiert. Es ist ein Anhaltspunkt für Individuati-on und bietet dem menschlichen Individuum die Möglichkeit, sich in seinemMilieu zu individuieren. Das technische Objekt fordert als offenes dazu her-aus, durch eine technische Einstellung im Jetzt gehalten zu werden:

Das Wesentliche aber ist das Folgende: Damit ein Objekt die Entwick-lung der technischen Einstellung ermöglicht und von dieser ausgewähltwerden kann, muss es selbst eine netzförmige Struktur aufweisen: Nim-mt man ein Objekt an, das, anstatt geschlossen zu sein, Teile aufweist,

52„Au contraire, l’organisation de la couche interne et proprement technique fait de l’objetcréé le produit d’une véritable invention qui le formalise concrètement en lui donnant les carac-tères d’un organisme, par la recherche des conditions d’une compatibilité intrinsèque: il ne s’agitplus ici d’un acte de manifestation ni d’une relation sémantique avec l’univers des techniques envoie de progrès, mais d’une adéquation directe et immédiate entre l’acte d’invention et l’objetcréé; l’objet créé est un réel institué par l’invention, en son essence; cette essence est première etpeut exister sans manifestation ni expression.“ SIMONDON, Imagination et Invention, S. 167.

53SIMONDON, L’individuation psychique et collective, S. 263.

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die so konstruiert sind, dass sie sich so weit wie nur möglich der Un-zerstörbarkeit annähern, wohingegen sich in anderen Teilen die feinsteAnpassung an den Gebrauch, der Verschleiß, der mögliche Bruch imFall eines Zusammenpralls oder auch die Fehlfunktion konzentrieren,so erhält man ein offenes Objekt, welches ergänzt, verbessert, in einemZustand der beständigen Aktualität, im Jetzt gehalten [maintenu] wer-den kann.54

Die Offenheit und die maintenance des technischen Objekts referieren auf diezeitliche und ontologische Struktur des Werdens. Das Objekt, das Simondonim Sinn hat, erlaubt dem Individuum, durch den Akt der Aktualisierung amWerden des Universums teilzuhaben. Das Objekt wiederum muss durch seineStruktur die Möglichkeit besitzen, am Netzwerk der technischen Welt teilzu-haben. Ebenso wie der Akt, der sich in ein Netzwerk von Akten einreiht unddadurch offen ist, muss auch das von der Erfindung geschaffene Objekt amNetzwerk der technischen Welt teilnehmen, um Informationen einzuspeisenund zu gewinnen. Dadurch bleibt „das technische Objekt stets Zeitgenosseseiner Verwendung, stets neu“.55 Das Ideal des offenen Objekts reduziert sichdaher auf zwei Schichten (die innere und die mittlere) und vermeidet die Aus-lieferung des Objekts an die Logik der Rendite (rendement).56 Das Objekt hatdadurch die Möglichkeit, immer wieder aufs Neue am Netzwerk der techni-schen Welt teilzunehmen:

Das postindustrielle technische Objekt ist eine Einheit aus zwei Wirk-lichkeitsschichten – eine Schicht, so stabil und dauerhaft wie möglich,die sich dem Benutzer anschmiegt, an ihm haftet und für die Dauer kon-struiert ist; sowie eine Schicht, die beständig ersetzt, ausgetauscht, ver-jüngt werden kann, weil sie aus einander vollständig ähnlichen, unper-sönlichen Elementen gemacht ist, die in Unmengen von der Industriehergestellt und von allen Ersatzteilnetzen verbreitet werden.57

Wir finden an dieser Stelle ein wesentliches Element der kreativen Handlungwieder, das wir zu Beginn dieses Essays eingeführt haben: die Elastizität bzw.die Geschmeidigkeit. Das technische Objekt schmiegt sich mit seinem We-senskern an den Benutzer an, weil es den Akt der Individuation durch dasObjekt hindurch möglich macht. Die Erfindung besteht darin, diese Offen-heit für den Benutzer und die Welt, in der das Objekt Anwendung findet, zugenerieren. Der zweifachen Offenheit des technischen Kerns ist eine dritteEbene der Offenheit beigefügt, die es erlaubt, überholte Teile auszutauschen,um den Wesenskern zu aktualisieren. Auch auf dieser Ebene ist die Beziehungzwischen technischem Kern und technischer Welt geschmeidig. Das Objektmuss dazu in der Lage sein, sich ständig an die sich immer verändernde Rea-lität anzupassen. Dies setzt einen Benutzer voraus, der inmitten der Objekteagiert, indem er sie koordiniert:

54SIMONDON, Die technische Einstellung, S. 90.55Ebd., S. 91.56SIMONDON, L’individuation psychique et collective, S. 288ff.57SIMONDON, Die technische Einstellung, S. 91.

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Also hat der Mensch als Seinsaufgabe/-funktion der Koordinator undständige Erfinder der Maschinen zu sein, die ihn umgeben. Er ist zwi-schen den Maschinen, die mit ihm operieren.58

Die Leistung der Koordination wirkt nicht nur unilateral in Richtung derMaschinen, sondern wirkt auch auf den Menschen selbst zurück. Indem ersich die Individuationsleistung, die die Erfindung darstellt, vergegenwärtigtund inmitten der Maschinen auf die Welt zugreift, gewinnt der Mensch seineRolle als Koordinator und Erfinder zurück, die letztlich sein Wesen als freiesIndividuum, als offenes System, das kreativ tätig ist, ausmacht. Dieses We-sen äußerst sich als Kristallisation der schöpferischen, menschlichen Geste injenen Objekten, die eine offene Beziehung zur Welt möglich machen.59

Schluss: Philosophie der offenen Begriffe

Was macht man, wenn man Philosophie betreibt?

Man erfindet Begriffe.60

Der Anspruch dieses Essays war, die ontologischen und ontogenetischen Be-dingungen des kreativen Handelns auszuloten. Wir sind dabei von einer grund-legenden Spannung des Individuums ausgegangen, die es immer wieder zu lö-sen hat. Die kreative Handlung geht über die Einmaligkeit der Handlung hin-aus und setzt sich in weiteren Akten fort. Die Erfindung der Offenheit galtuns als wesentliches Kriterium der Kreativität. Wir haben Kreativität dort lo-kalisiert, wo Anknüpfungspunkte der Virtualität gesetzt werden, die Anlasszur Aktualisation liefern.

Die so beschriebene Kreativität findet sich in Ethik, Kunst und Technik.Ethische Handlungen setzen sich fort, öffnen Diskurse und können zu neuenpolitischen und sozialen Konstellationen führen. Kunstwerke beinhalten die

58„Ainsi l’homme a pour fonction d’être le coordinateur et l’inventeur permanent des machi-nes qui sont autour de lui. Il est parmi les machines qui opèrent avec lui.“ SIMONDON, G., Dumode d’existence des objets techniques, Paris: 1989, S. 12.

59Als Beispiel eines solchen Objekts nennt Simondon die 1953 von Le Corbusier entworfe-ne und 1959 verwirklichte Abtei in Eveux (siehe hierzu: SIMONDON, Imagination et Invention,S. 91f. und 181f. sowie SIMONDON, Die technische Einstellung, S. 92). Die Architektur Le Cor-busiers zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine bescheidene und ehrliche Haltung gegenüber demverwendeten Material einnimmt. Nichts wird verborgen, der verwendete Beton ist ebenso sicht-bar wie die Kabelschächte. Das eigentlich Erfinderische äußert sich in der Kompatibilität zwi-schen natürlicher Lage des Objekts, den Lichtverhältnissen und den einzelnen Materialien, „alsgäbe es ein Band tiefer und substantieller Einheit zwischen der Natur und der Technizität“ („s’il yavait un lien d’unité profonde et substantielle entre la nature et la technicité.“ SIMONDON, Ima-gination et Invention, S. 92). Le Corbusier schafft mittels dieser Haltung und der Konzeptioneines Gebäudes, das zwar abgeschlossen ist, aber dennoch erweitert und mit neuen Energiefor-men ausgestattet werden kann, Kompatibilität zwischen Natur und Technik.

60„qu’est-ce qu’on fait quand on fait de la philosophie ? On invente des concepts.“ DELEUZE,G., Qu’est-ce que l’acte de création? – Conférence donnée dans le cadre des mardis de la fondation Fe-mis (17.05.1987), hURL: http://www.webdeleuze.com/php/texte.php?cle=134&groupe=Conf%E9rences&langue=1

i – Zugriff am 21.05.2013.

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Möglichkeit, immer wieder aufs Neue, die in ihnen enthaltenen Perspektivenund Geschichten zu aktualisieren und auf die Gegenwart anzuwenden. Dietechnische Erfindung wiederum liefert einen spezifischen Zugang zur Welt,der über den Umgang mit technischen Objekten auf- und entdeckt werdenkann, um Neues zu schaffen. Neben Ethik, Kunst und Technik steht abernoch aus, was die Philosophie zu leisten vermag. Welche Konsequenzen ha-ben die vorangegangenen Überlegungen für die Philosophie?

Das Resultat philosophischer Überlegungen kulminiert, folgt man GillesDeleuze, in der Erfindung von Begriffen. Die Philosophie und ihre Begriffebesitzen Eigenschaften, die analog zu den ontogenetischen Fähigkeiten desIndividuums und den Eigenschaften des technischen, offenen Objektes sind.

Die Philosophie findet in sich eine Spannung zu ihrer eigenen Vergangen-heit vor, die – wie das vor-individuelle Sein – die Bedingung der Möglichkeitihrer kreativen Kraft ist. Nur indem sich die Philosophie an den Begriffen ih-rer Geschichte abarbeitet, kann sie Neues schaffen. Desweiteren besteht phi-losophisches Arbeiten in Individuationsakten, die in einem Milieu stattfin-den, das über den philosophischen Diskurs hinausgeht. Philosophie ist zeit-lich insofern bedingt, als dass ihre Fragen immer vor einem zeitlichen Hin-tergrund erscheinen. Die Fragestellungen der Philosophie werden in einemMilieu gestellt, das durch die Technik, die Wissenschaft und die Gesellschaftbestimmt ist. Die Philosophie und ihre Begriffe müssen daher für die Wissen-schaft und die Technologie offen sein. Die Beziehung zwischen Philosophieund Wissenschaft darf dabei keine hierarchischen Verhältnisse erzeugen, son-dern muss durch gegenseitige Offenheit bestimmt werden. Der Anspruch anden philosophischen Begriff ist, dass er dynamisch und offen ist, um die ausdem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt entsprungenen Ergeb-nisse und Fragestellungen integrieren zu können, ohne seine genuin philoso-phische Struktur zu verlieren.

Der philosophische Diskurs orientiert sich an Begriffen, die immer wie-der ins Jetzt geholt werden können. Philosophische Begriffe unterscheidensich in dieser Hinsicht nur unwesentlich vom Ideal technischer Objekte: Inihrem Kern zielen sie auf die Lösung eines bestimmten, wesentlichen Pro-blems, müssen aber an den zeitlichen Kontext der gestellten Frage angepasstwerden. Die Begriffe der Philosophiegeschichte müssen daher immer wiederim Jetzt gehalten werden, um sie in die sich neu strukturierende Wirklich-keit einzugliedern. Sie beinhalten eine Vergangenheit, die sinnvoll in eineZukunft eingegliedert wird. Dies erfordert, dass die Begriffe offen und ela-stisch sind. Erst die Offenheit und die Elastizität machen es möglich, dass bei-spielsweise scheinbar inkompatible Wissenschaften miteinander kompatibelgemacht werden, ohne dass eine Beschreibungsebene auf die andere reduziertwird.61

61So zielt das philosophische Projekt Simondons unter anderem auf die Erfindung (!) einer all-gemeinen Theorie der Humanwissenschaften, die sich im Gegensatz zu den Naturwissenschaftennoch nicht entwickelt: „L’abscence d’une théorie générale des sciences humaines et de la psycho-logie incite la pensée réflexive à chercher les conditions d’une axiomatisation possible. En vue

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Die Philosophie besteht – wie das Individuum – aus der zweifachen Span-nung Vergangenheit-Gegenwart und Gegenwart-Zukunft: Die Pole, zwischendenen sich das Potential der Philosophie auflädt, sind einerseits ihre eigeneVergangenheit und die Realität, aus der ihr Problem stammt. Das Signumder Philosophie als Wissenschaft ist das Bewahren dieser Spannung. Das Er-finden der Begriffe bleibt aus diesem Grunde eine unabgeschlossene und un-abschließbare Arbeit. In ihnen muss sich die metaphysische und ontologischeSpannung fortsetzen. Es gibt deshalb keinen letztgültigen Begriff der Philo-sophie, der die Weltformel in sich trägt. Vielmehr sind die Begriffe der Philo-sophie Anhaltspunkte, um immer wieder aufs Neue Individuationsprozesseauszulösen. Die Philosophie ist deshalb ein Projekt, dessen erfundene, offeneBegriffe – so alt sie auch sein mögen – wesentlich zukünftig sind.

de ce travail qui comporte nécessairement un certain apport d’invention et ne peut être le ré-sultat d’une pure synthèse conceptuels, il convient de remettre au jour les principaux systèmesconceptuels qui ont été employés, sans accorder de privilège aux plus récents: les découvertes dethéorie chimique au début du XIXième siècle ont repris des schèmes atomistiques définis depuisplus de vingt siècles, et les ont enrichis de l’apport de l’analyse pondérale. Ainsi pourrait-on, defaçon analogue, réévoquer les principes de Dyade indéfinie, d’Archétype, de Forme et de Matiè-re, et les rapprocher des modèles explicatifs récents de la Psychologie de la Forme, puis de ceuxde la Cybernétique et de la Théorie de l’Information, en allant jusqu’à faire appel à des notionstirées des sciences physiques, comme celle du potentiel.“ SIMONDON, L’individuation psychiqueet collective, S. 31.