Wie das Internet unsere Demokratie verändert Birthe Kretschmer, Frederic Werner ( Hrsg.) Die digitale Öffentlichkeit
Wie das Internet unsere Demokratie verändert
Birthe Kretschmer, Frederic Werner ( Hrsg.)
Die digitaleÖffentlichkeit
Herausgeber:
Birthe Kretschmer,
Frederic Werner
Die digitaleÖffentlichkeitWie das Internet unsere Demokratie verändert
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Editorial 3
Vorwort 4
01/DigitaleÖffentlichkeit–dieÖffentlichkeitderdigitalenGesellschaft/Lars Klingbeil 9
02/Demokratiealsclick’n’go?Bruno Preisendörfer 17
03/DassozialeGehirn–WieMedienunsereEntwick-lungbeeinflussenProf. Dr. Dieter F. Braus 23
04/Medienkompetenz–Herausforderunginderdigitalen Gesellschaft/ Aydan Özoguz 31
05/DemokratischeBeteiligungperWeb/Dr. Kathrin Voss 37
06/DasflüchtigeWissenderWelt/Markus Reiter 45
07/DasRecht,amWissenderMenschheitteilzuhabenSebastian Moleski 53
08/DerWandelderWissens-gesellschaft/ Dr. Astrid Herbold 59
09/BloggerunddieMeinungsvielfaltimInternetAlvar C. H. Freude 65
10/DasdigitaleZeitungshausaufdemWegzum„LocalChampion“/ Meinolf Ellers 73
11/Daten—RohstoffderdigitalenGesellschaftProf. Dr. Johannes Caspar 83
12/DieHoheitderInformationundaußerparlamentarischeKontrolleimdigitalenZeitalterDr. Dieter Wiefelspütz 91
13/GeheimnisseunddieGesellschaftDaniel Domscheit-Berg 99
Literatur,Links 106
Veranstaltungshinweise 108
Impressum 112
Fußnoten
Interessante Webseiten
Literaturempfehlungen
Das Blog zur Veranstaltungsreihe mit weiteren Texten und Dis-
kussionen finden Sie unter: www.julius-leber-forum.de/digi-oeff
ErinnernSiesich:Vor15JahrenmusstenSieeinLexikonindieHandnehmen,wennSieetwasnachschlagenwollten.VorzehnJahrensindSiezurBankgegangen,wennSieeineÜberwei-sungtätigenwollten.VorfünfJahrenhabenSieNachrichtenaufPapiernachgelesen.HeutekönnenSiedasallesauchimInternet.
DieDigitalisierungderGesellschaftisterst20Jahrealt,hatunserenAlltagjedochgrundlegendverändert.EtwadreiViertelderDeutschenkommunizierenüberdasInternetunddamitschnellerundunmittelbareralsjezuvor.SiebeziehendortInformationen,habensozialeKontakteundmischensichein.DiesesveränderteRezeptionsverhaltenstelltauchneueAnsprücheanPolitikundDemokratie.Soist,nichtzuletztmitdenneuenMedien,derPartizipationsanspruchgestiegen.DaskanneineChancesein,obwohlesebensokritischeStimmengibt.
2010hatdasJulius-Leber-ForumderFriedrich-Ebert-Stif-tungdieVeranstaltungsreihe„DiedigitaleÖffentlichkeit“insLebengerufen,umdieAuswirkungendesKommunikations-wandelsaufunsereDemokratiezuuntersuchen.Wir habenunsdemThemavielfältigsowohlvonderwissenschaftlichenSeitealsauchvonderPraxisgenähert.WirwerdendieseDis-kussionsreihefortsetzen,umdieVeränderungenweiterzuver-folgen.DervorliegendeBandistdamiteinZwischenbericht.
WirbedankenunsbeiallenReferentinnenundReferenten,diebeiderVeranstaltungsreihebislangmitgewirkthaben,undvorallembeijenen,diediesePublikationmitihrenBeiträgenmög-lichgemachthaben.EinbesondererDankgiltBirtheKretsch-mer,diedieeinzelnenVeranstaltungenmoderiert,dieInter-viewsgeführtunddieTextebearbeitethat.SusanneWurlitzerhatdiesedannanschaulichgestaltet,damitdieLektürenichtnuranregend,sondernauchangenehmist.
Frederic Werner
Julius-Leber-ForumFriedrich-Ebert-Stiftung
Editorial
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JürgenHabermas’Untersuchung„StrukturwandelderÖffent-lichkeit“erschienerstmals1962.1Wasdamalseineheißdisku-tierteAnalysedermodernenÖffentlichkeitwar,istzueinemSynonymgeworden.DerBegriff„StrukturwandelderÖffent-lichkeit“wirdheuteverwendet,umdenEinflussderdigitalenKommunikationsmittelaufunsereGesellschaft,unsereWirt-schaftundunserVerhältniszumStaatzubeschreiben.WelcheAuswirkungenhatdieserdigitaleStrukturwandelderÖffent-lichkeitaufunseredemokratischenWerte,unseregesellschaft-licheTeilhabeundunserenUmgangmit Informationen?InEssays,Denkschriften,AnalysenundInterviewsbeschäftigensichdieAutorendieserPublikationmitderFrage,wiedasIn-ternetunsereDemokratieverändert.DerMedienkonsum,die-WissensgesellschaftundInternetkampagnensinddavonnurdreiAspekte,dieesunsermöglichen:
ZivilgesellschaftinvirtuellenRäumenzuleben,
die demokratische Beteiligung sowie demokrati-scheBeschlüssetransparenterzumachen,
informierterzuseinals jemalszuvorüberanderePrivatpersonenundstaatlicheInstitutionensowiederenAkteure.
ImanalogenZeitalterbedeutetePartizipationu.a.dasEngage-mentinpolitischenParteien,denGangzurWahlurneoderdasregelmäßigeLesenvonZeitungen.DieseBeteiligungsmöglich-keitensinddurchdasInternetdeutlichvielfältigergeworden,vonE-PetitionenüberTransparenzvonRegierungsdokumen-tenbishinzurMeinungsäußerunginBlogs.DiesesneueVer-ständnisvondemokratischerBeteiligungführtaufdereinenSeitezugroßerBegeisterungobdereinfachenundvielfälti-genPartizipationsmöglichkeiten.AufderanderenSeitefürch-
Vorwort
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tenvieledieVerdummung,dasVersinkeninDetailsoderdieOberflächlichkeit.DieDiskussionsreihe„Die digitaleÖffent-lichkeit“versuchtdaher,eineDiskussionsgrundlagezuschaf-fen,umsoeineBrückezubauenzwischenderanalogenundderdigitalenDemokratie.
Dochwarumsindwireigentlichsounsicher,wennesumdasThemaInternetgeht?
DasWorldWideWebhatnichtnurdieWeltzueinemDorfgemacht,esbringtaucheinenInnovationszyklusmitsich,derschnelleristalsalleZyklenzuvor–odernutzenSienochLy-cos?UnserLebensrhythmushatsichdenInnovationenange-passt.WeilabervieleNeuerungeneinetechnischeKomponen-tehabenundfürunsnichtimmersofortdurchschaubarsind,entstehenÄngste.
EbensogehtesunsmitunsererDemokratie.Waspassiert,wennwirnichtmehrzurDemonstrationgehen,sondernunsperInternetanKampagnenbeteiligen?DieE-PetitiongegenInternetsperrengiltalseinedererfolgreichsten.Plattformenwiecampact.degebenallenMenschen,egalwosiewohnenundwelcheArbeitszeitensiehaben,dieMöglichkeit,sichmitThemenzubeschäftigen,diefürsieganzpersönlichrelevantsind.WährendfrüheralsodieZugehörigkeitzueinerParteioderOrganisationdasEngagementzeitlichundinhaltlichvor-gab,entsprichtdieBeteiligungperWebderflexiblenLebens-weise,dieheutevonunsgefordertwird.DochwelcheQualitäthateineBeteiligungperMausklickfürunsereDemokratie?2
AuchunsereMediennutzunghatsichverändert.YouTube,Mediatheken,NachrichtenseitenunddasmobileInternetfüh-rendazu,dasswiraufInhalte,diefürunsrelevantsind,jeder-zeitundüberallzugreifen.DabeimachenwirkeinenUnter-schiedmehr,obdieNachrichtenum20Uhrlaufenoderobwirsieum21:30UhrimInternetansehen.WirholenunsInforma-tionen,wannwirwollen,vonwowirwollen,undkonsumierensieaufdemEndgerät,welchesgeradeambestenpasst.
1 Habermas, Jürgen: Struk- turwandel der Öffent - lichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin 1962.
2 Siehe dazu in dieser Pu- blikation: Preisendörfer, Bruno: Demokratie als click ’n’ go, S. 17 ff.
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DasInternetbietetunseinenfreien,einfachenundjederzeitnutzbarenZugangzuInformationenundebensozuWissen.WährenddasWissenheuteleichterzugänglichist,alsjemalszuvor,stelltsichdieFrage,welcheAuswirkungendasaufunse-reDemokratiehat.DieArbeitvonPolitikern,vonJournalisten,RichternundBeamtenwirdtransparenterunddamitleichterüberprüfbar.3DermündigeBürgererlangteineÜberprüfungs-macht,dieersichimanalogenZeitalterallerhöchstenserstrei-tenkonnte.GleichzeitigberichtenDozentenanUniversitäten,dassStudentenzunehmendProblemehaben,komplexeTex-tezudurchdringen,verursachtu.a.durchdieVerkürzungderSchuljahreunddieUmstellungaufdasBachelor-undMaster-systemandenUniversitäten,diemehrAuswendiglernendennkritischesHinterfragenhonorieren.EinmündigerBürgermussimdigitalenZeitalterdahermehrkönnen,alsnurWissenaus-zuwählenundzusortieren–ermusssichdieKompetenzerhal-ten,dieseszudurchdringenundzuüberprüfen.Nurdannma-chenOpen-Data-ProjekteunddieRufenachmehrTransparenzvonRegierungshandelnwirklichSinn.4
Das Thema Medienkompetenz führt uns zum Daten-schutz.UnserepersönlichenDatensindderRohstoffdesdigi-talenZeitaltersgeworden.NursosinddieunglaublichenSum-menzuverstehen,mitdenenFirmenwieFacebookbereitsvorBörsengangbewertetwerden.DerDatenschutzbeauftragtederStadtHamburg,Prof.Dr.JohannesCaspar,sprichtvoneinerÜberwachungsgesellschaft, die sich mit privaten Fotos undVideos,NachrichtenaufSocial-Media-PlattformenoderdurchdasGoogelnvonPersonenunddieÜberprüfungvonPlagia-tenselbstüberwacht.5GleichzeitigwerdenunsereDatenauchfürdenStaatimmerrelevanter:beiderSuchenachVerkehrs-sündern, terroristischen Zellen oder Schmuggel.Wie wir inZukunftmitunserenpersönlichenDatenumgehen,welchesVerhältniswirzuInformationenunsererMitbürgerunddesStaatesentwickeln,wirdeinbestimmendesThemableiben.
3 Siehe dazu in dieser Publikation: Wiefelspütz, Dr. Dieter: Die Hoheit der Information und au- ßerparlamentarische Kont rol le im digitalen Zeitalter, S. 91 ff.
4 Siehe dazu in dieser Pu- blikation: Özoguz, Aydan: Medienkompetenz – Her- ausforderung in der di- gitalen Gesellschaft, S. 31 ff.
5 Siehe dazu in dieser Pu- blikation: Caspar, Prof. Dr. Johannes: Daten – Roh- stoff der digitalen Gesell- schaft, S. 83 ff.
6 Ein anschauliches Bei- spiel, was persönliche Da- ten erzählen können, zeigt diese interaktive Gra- fik: ZEIT Online: Verräterisches Handy, 31. 08. 2009. http://www. zeit.de/datenschutz/ malte- spitz-vorratsdaten
7 Einen Überblick über die Veranstaltungen der Reihe „Die digitale Öffent- lichkeit“ finden Sie auf S. 108 ff.
Dieszeigtu.a.diescharfeDiskussionüberdieEU-RichtliniezurVorratsdatenspeicherung.6
NebendemEinflussdesMedienkonsums,derWissensge-sellschaftunddesDatenschutzesaufunsereDemokratiegiltesnochvieleweitereAspektezudiskutieren.DaherkanndievorliegendePublikationkeinenAnspruchaufVollständigkeiterheben.WaskönnenwirzumBeispielgegenCybercrimetunundwieprägtCybermobbingunserenachwachsendenGene-rationen?WiegehenwirmitderVorratsdatenspeicherungum,wiepasstdieOnline-DurchsuchunginunserenRechtsstaat?DieseundweitereFragenwerdenauchinZukunftinderFES-Reihe„DiedigitaleÖffentlichkeit“diskutiert.UnterdenAuto-rendieserPublikationfindensichsowohlGästederDiskussi-onsreihealsauchGastautoren.7AmEndedieserPublikationfindenSieweiterführendeLiteraturundLinks.WennwirSiezumNachdenkenangeregthaben,dannfühlenSiesichherz-lichwillkommen,dieBeiträgezukommentierenoderanei-nerderkommendenVeranstaltungenderReihe„DiedigitaleÖffentlichkeit“inHamburgteilzunehmen.LebenSiemitunsDemokratieimvirtuellenwieimanalogenBereich.AlleInfor-mationen,LinksundTerminefindenSieaufderSeite:www.julius-leber-forum.de/digi-oeff
Birthe Kretschmer
Birthe Kretschmer
ist freie Journalistin, Trai-nerin und Beraterin für crossmedial arbeitende Ver-lage und schult Journalis-ten in Europa und Indien im Umgang mit dem Internet. Für die FES moderiert sie u. a. die Diskussionsreihe „Die digitale Öffentlichkeit“. [email protected]
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„Kein Stein wird auf dem anderen bleiben!“ Mit dieser Quintes-senz wird nicht etwa der Schlussbericht der Enquete-Kommis-sion „Internet und digitale Gesellschaft“ des 17. Deutschen Bun-destags beginnen. Mit diesen Worten beginnt vielmehr das Vorwort des Schlussberichtes der Enquete-Kommission „Zu- kunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutsch-lands Weg in die Informationsgesellschaft“ aus dem Jahr 1998.1
Oft wird der Politik vorgeworfen, die Herausforderungen der digitalen Gesellschaft lange Zeit ignoriert zu haben, um sie dann vor allem als überkomplexes und kaum lösbares Pro-blem zu diskutieren und die Gefahren zu beschwören. Dies stimmt jedoch nur zum Teil. Wenn man sich heute mit einem Abstand von über zehn Jahren die Berichte der Enquete-Kom-mission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ anschaut, dann hat die Politik durchaus bereits damals die richtigen Fragen gestellt und um Lösungsvorschläge gerungen, aber diese sind weitgehend folgenlos geblieben. Umso massiver treten jetzt die Herausforderungen, die mit dem Wandel der digitalen Gesellschaft einhergehen, auf die politische Agen-da und umso hilfloser wirkt manchmal die Politik in dem Ver-such, analoge Lösungsmodelle auf die digitale Welt zu über- tragen.
Nach der desaströsen Debatte über die Netzsperren und dem Achtungserfolg der Piratenpartei bei der Bundestags-wahl hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Frak- tionen im vergangenen Jahr erneut eine Enquete-Kommissi-on „Internet und digitale Gesellschaft“ eingesetzt. Im Einset-zungsbeschluss heißt es wie folgt: „Das Internet ist das freiheit- lichste und effizienteste Informations- und Kommunikations-forum der Welt und trägt maßgeblich zur Entwicklung einer globalen Gemeinschaft bei.“ Dieses Kommunikationsforum steht für den umfassenden gesellschaftlichen Wandel bei der Herausbildung der digitalen Gesellschaft und für einen in sei-
von Lars KLingbeiL
1 Schlussberichtder Enquete-Kommission„ZukunftderMedien
inWirtschaftundGesell- schaft–Deutschlands WegindieInformations- gesellschaft“,BT-Drs.13/ 11004,S.2.
Digitale Öffentlichkeit –
die Öffentlichkeit der digitalen Gesellschaft
01
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nen Auswirkungen kaum überschaubaren StrukturwandelderÖffentlichkeit.
DiesePublikationderFriedrich-Ebert-Stiftungzurdigita-lenÖffentlichkeitrücktdiesengesellschaftlichenWandelunddenStrukturwandelderÖffentlichkeitindenFokus.IndenBei-trägensollendiedemokratischenWerteund ihrderzeitigerWandel,dieFragederGrundrechteimdigitalenZeitalter,Mei-nungsfreiheitundMeinungsvielfaltimNetz,dieneuenMög-lichkeitenundFormenderTeilhabe,dasRechtaufinformatio-nelleSelbstbestimmung,derUmgangmitInformationenund
eineVielzahlandererThemenbehandeltwerden.DurchalleBeiträgeziehtsichbeinahewieeinroterFadendieErkenntnis,dass all diese Chancen und Potenziale der digitalen Gesell-schaftohneMedienkompetenzundohneeinedigitaleSelbst-ständigkeitvertanwerden.DieEnquete-Kommission„Inter-net und digitale Gesellschaft“hat hierzu in ihrem zweitenZwischenbericht„Medienkompetenz“festgestellt:
„DasInternetistzueinerBasistechnologiegeworden,ohne die viele Potenziale nicht mehr erschlossenwerdenkönnen.DiedigitaleSelbstständigkeitallerBürgerinnen und Bürger ist daher ein wichtigesZiel.WelcheMöglichkeitenundFähigkeitengenerellund für bestimmte Lebenslagen erforderlich sind,lässtsichvermutlichnichtsokonkretwiebeieinemWarenkorb bestimmen. Dennoch bedarf es einerKonkretisierung,um feststellen zu können,wann
Digitale Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der digitalen Gesellschaft
Lars KLingBeiL
Diese Chancen gilt es zu nutzen, damit auch die digitale Ge-
sellschaft eine demokratische, offene und pluralistische
Gesellschaft bleibt, denn mit der Digitalisierung einher sind
auch völlig neue Formen von Überwachungsgesellschaft denkbar.
staatliche Fördermaßnahmen unabdingbar sind.Einkompetenter,gestaltenderUmgangmitMedienunddemInternetisteineVoraussetzungzurBeteili-gungdesEinzelnenamgesellschaftlichenDiskurs.Medienkompetenz wird damit zum Schlüssel zurgesellschaftlichenTeilhabeinBildungundAusbil-dung,Arbeit,GemeinwesenundPolitik.Medienkom-petenzisteineBasiskompetenzderGesellschaft!“2
MitdemStrukturwandelderÖffentlichkeiteröffnensichhe-rausragendeChancenfürdiepolitischeKommunikationundfür die Teilhabe an politischen und parlamentarischen Pro-zessen,aberauchfürjedenEinzelnen.DieseChancengilteszunutzen,damitauchdiedigitaleGesellschafteinedemokra-tische,offeneundpluralistischeGesellschaftbleibt,dennmitderDigitalisierungeinhersindauchvölligneueFormenvonÜberwachungsgesellschaftdenkbar.Einegroße,herausragen-deChancederdigitalvernetztenDemokratieistbeispielswei-sedieMöglichkeit,mitdenBürgerinnenundBürgernindenDialogzutreten.WährenddietraditionellenMedienInforma-tionenbereitstellen,bietetdasInternetzahlreicheKommuni-kationsplattformen,woeinAustauschvonInformationenundMeinungen stattfinden kann.3Die neuen Formen von Parti-zipationfasstKathrinVossindiesemSammelbandwiefolgtzusammen:
„DasNetzbietetneueFormenvonPartizipation,so-wohlvonStaatsseitealsauchvonzivilgesellschaftli-chenAkteurenorganisiert.DieChancen,BürgerundBürgerinnenverstärktindenpolitischenProzessein-zubinden,sindalsovorhanden,werdenabervoral-lembeidenTop-down-Möglichkeitenbishernurineinem sehr eingeschränkten Maße von den Men-schenwahrgenommen.Dashatsicherlichzumei-
2 Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Internet und digitale
Gesellschaft“: Medienkom- petenz, BT-Drs. 17 /7286 vom 21.10.2011.
3 Ein Beispiel ist die Betei- ligungsplattform der Enquete-Kommission „In- ternet und digitale Ge- sellschaft“ www.enquete- beteiligung.de
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nenetwasdamitzutun,dassdieseVerfahrennochneusindundmanerstErfahrungendamitsammelnmuss.AufderanderenSeitewirdessicherlichnot-wendigsein,beidenstaatlichenAngeboteneinge-wissesMaßanVerbindlichkeitzuschaffen,umdieBürger und Bürgerinnen zur Beteiligung zu moti-vieren.ImGegensatzdazustelltdieBeteiligungbeiden zivilgesellschaftlichen Angeboten meist keinProblemdar,abereinehoheBeteiligungkannnichtmit einer entsprechenden Wirkung gleichgesetztwerden.BeiderVielzahlvonOrganisationenundEin-zelpersonen,die inzwischendieseKampagnenfor-mennutzen,bestehtdieGefahr,dassdiedamitver-knüpftenBotschafteninderMassederPetitionenundMassen-E-Mailsuntergehen.“4
Dasbedeutet,dassdieTeilhabe-undPartizipationspotenzia-le zwar vorhanden sind,allerdings noch nicht in dem wün-schenswertenUmfangwirklichwahrgenommenundgenutztwerden.Vorallemhatesaberdamitzutun,dassbeivielenAn-gebotenzwareineMeinungabgegebenwerdenkann,esaberdannkeinetatsächlicheRückkopplungundEinbindungindieDiskussions-undEntscheidungsprozessegibt.
DochnichtnurdieTeilhabemöglichkeitenkönnensichverbessern,sondernvorallemauchdieTransparenzvonpoli-tischenundparlamentarischenProzessen.EinStichworthieristOpenData.OpenDatabasiertaufderGrundidee,dassesge-sellschaftlichvorteilhaftwäre,wennDatenfürjedermannfreizugänglichgemachtwerden.GemeintistdamitvorallemdieZugänglichmachungnichtpersonenbezogenerDateninma-schinenlesbarenFormatenausPolitikundVerwaltung.DabeiistdieseIdeenichtneu,neusindallerdingsderBegriff,dieMa-schinenlesbarkeitunddiegeforderteReichweite.DieZugäng-lichmachung von Dokumenten und Datenbeständen wird
4 Dr. Kathrin Voss: Demokra- tische Beteiligung per Web, in diesem Band, S. 43.
Digitale Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der digitalen Gesellschaft
Lars KLingBeiL
seitvielenJahrenunterdemTerminus„Informationsfreiheit“diskutiert.Notwendigwäreesalso,dieOpen-Data-Debattemit der Informationsfreiheitsdebatte zu verknüpfen, dennOpenDataistohneeineentsprechendeRechtsgrundlagenichtmöglich.DieÖffnungvonPolitikundStaatgehtnur,wenndieInformationsfreiheit weiterentwickelt und mit Open-Data-Strategien kombiniert wird.Die bestehenden Informations-
freiheitsgesetze des Bundes und in zahlreichen Bundeslän-dernwareneinwichtigerersterSchrittzurÖffnungvonpoli-tischenInstitutionenundVerwaltungen.DiesemüssenweiterausgebautundmitOpen-Data-Strategienverknüpftwerden.Dies ist auch aus wirtschaftlicher Sicht notwendig, um dieRessourcenInformationundDateninderöffentlichenHandzuhebenundzuveredeln.HierliegenerheblichePotenzialefür kreative und innovative Ideen sowie für neue Business-Open-Data-Geschäftsmodelle.
DasInternetermöglichtesdarüberhinausjedemEinzel-nen,vielfältigeKommunikationsmöglichkeitenzunutzenundvorallemauchseineMeinungzuäußern.Wobislangüberwie-gendklassischeMedienzurMeinungsäußerungundBericht-erstattunggenutztwurden,kommtnundasNetzalsweitereundvorallemalsumfassendvernetztePlattformhinzu.JederEinzelnekannsichdurcheigeneWebseiten,Blogs,Forenetc.präsentierenunderklären.ZubeobachtenisthiereineneuedemokratischeVielfaltderMeinungsbildung.ImweltweitenNetzhabenauchsolche(politischen)AkteureeineChancezurArtikulation,diebeidenklassischenMedienoftmalskeinGe-hörfanden.ZudemverweisenzunehmendetwaWeblogsauf
Wo bislang überwiegend klassische Medien zur Meinungsäußerung.
und Berichterstattung genutzt wurden, kommt nun das Netz als.
weitere und vor allem als umfassend vernetzte Plattform hinzu.
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WebseitendertraditionellenMedienundumgekehrtrichtenauchdieklassischenMassenmedienihreAufmerksamkeitaufdieBlogosphäre.Ermöglichtwerdenkannsoeinkommunika-tivesWechselspielzwischendenklassischenMedienunddersich kommunikativ betätigenden„Bürgergesellschaft“.DieswirdauchAuswirkungenhabenaufdiebisherigeAgenda-Set-ting-FunktionderMedienunddasstrenge„Gatekeeping“dermassenmedialenÖffentlichkeit.AuchwirddietraditionelleUnterscheidung zwischen Sender und Empfänger oder zwi-schenMedienundNutzervielleichtnichtgrundsätzlichhin-fällig,aberdurchlässigerundnebendievondentraditionel-lenMedienverfasstenÖffentlichkeitentretenneue,digitaleÖffentlichkeiten – auch Gegenöffentlichkeiten.Gleichzeitigbedeutetdies,dassdieAuswahlausdieserVielzahlanInfor-mationenundvorallemdasEinordnenundBewertenimmerwichtigerwerden,womitderBogenerneutzurMedienkom-petenzundderdigitalenGesellschaftgespanntist.
NetzpolitischeThemenerfahrenimMomenteinegroßeAufmerksamkeit.Diesistauchdringendgeboten,dennallzulangehatmandieDigitalisierungunddiedamitverbundenenFragestellungen ignoriertoderaberdenVersuchunternom-men,derdigitalenWeltmitanalogenRegelungenbeizukom-men–undistdamitnatürlichoftkläglichgescheitert.Wennman in einigen Jahren auf diese netzpolitische Debatte zu-rückschaut,dannwirdmanvielleichtsagen,dassdieDebat-teüberdieNetzsperrensoetwaswiederStartschusswarfürdasZeitaltereinerdigitalenDemokratie.DieNetzaktivistenund viele, die sich ihnen angeschlossen haben, haben demDeutschenBundestaginderNetzsperren-DebatteordentlichdieLevitengelesen,weilesdarumgehenmuss,dieAuswir-kungenderDigitalisierungzubegreifenundpolitischdamitumzugehen.DieDigitalisierungverändertallesundwirkön-nennichtnurmitsymbolischwirksamenMechanismenwieStoppschildern oder unverhältnismäßigen Strafen wie der
Digitale Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der digitalen Gesellschaft
Lars KLingBeiL
Kappung des Internetzugangs arbeiten.Wir brauchen neueAntworten,diedentechnischenundgesellschaftlichenUm-brüchen,diemitderDigitalisierungeinhergehen,gerechtwer-den.DasistausmeinerSichtdiewahrenetzpolitischeAufga-bederkommendenJahre.Esgehtnichtnurdarum,TwitterzuverstehenoderFacebookrichtigzunutzen.Esgehtdarum,dassdiePolitikinderLageistunddienotwendigeBandbrei-tehat,ummitderDigitalisierungSchrittzuhaltenunddenGestaltungswillen und den Gestaltungsanspruch nicht zuverlieren.
Lars KLingBeiL
ist Mitglied des Deutschen Bundestages und vertritt die SPD in der Enquete-Kom-mission „Internet und digi ta- le Gesellschaft.“ Klingbeil lebt in Munster in der Lüne-burger Heide und führt dort die SPD im Landkreis Soltau-Fallingbostel. www.lars-klingbeil.de
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Demokratie als click ’n’ go?
02Anfangdes19.JahrhundertshatderdeutschePhänomenologeGeorgWilhelmFriedrichHegelgeschrieben,dassdieEulederMinervaihrenFlugbeiEinbruchderDämmerungbeginnt.An-fangdes21.JahrhundertshatdasamerikanischePhänomenSteveJobsdieSacheetwasverständlicherausgedrückt:Wennmannachvorneblickt,erkenntmankeineMuster–siezeigensicherstimRückblick.
AlsoindenApfelgebissen(densauren?)undzurückge-blickt:Vor45Jahren,alsdasFernsehennochjungwar,obwohles von heute aus betrachtet alt aussieht, erklärte MarshallMcLuhan:„Themediumisthemassage“–dasMediumistdieMassage.EigentlichwardaseinSatzfehler.Ursprünglichsoll-teesheißen:„Themediumisthemessage“–dasMediumistdieBotschaft.AberMcLuhanübernahmdenFehler,weildie„mas-sage“diehandgreiflicheWirkungder„message“enthüllte:Mo-derne Massenmedien verbreiten nicht einfach Botschaften,sondernmassierenGeistundSeelederEmpfänger.
WasMcLuhanvordemFernsehgeräterahnte,dassoin-teraktivwarwieeinKnopfzumEin-undAusschalten,erlebenwirheute,wennwironlinesind,vonWebseitendigitalbetat-scht,vonReklamefingernmentalbefummelt,vonEyecatcherngeblendet,vonButtonszuLinksundvonLinkszuButtonsge-schubst.Wirsindaußengeleitetwiedie„einsameMasse“,diederamerikanischeSoziologeschon1956beklagthat;undweilGooglesAlgorithmusfürunsimmerdaspräferiert,waswirbeimletztenMalschonpräferierthaben,gehörenwirzude-nen,„dienichtsBesonderesvonsichfordern,diesichbegnügen,voneinemAugenblickzumandernzubleiben,wassieschonsind“,wieOrtegayGassetinAufstand der Massenhöhnte-1929!
Undheute,dadieMedienimmermassiverunddieMas-sen immer massierter geworden sind? Haben die Skeptikerrecht,dieausdemOffderaltenMediendasPublikumdesWelt-netzesalsglobalenPöbelbeschreiben,demesnurumBrotundSpielezutunist,umKonsumundUnterhaltung?Oderkom-
von Bruno
preisendörFer
1918
tiker befürchten, das Vordringen dieser Partei ins parlamen-tarische Herz der Demokratie werde dort zu Rhythmusstörun- gen führen; die Euphoriker wiederum verwechseln das Twit - tern aus den demokratischen Institutionen mit der Arbeit, die in ihnen zu leisten wäre.
Ein anderes, nicht bloß lokal amüsantes, sondern global relevantes Beispiel ist der „arabische Frühling“. Hier dominie-ren auch in den traditionellen Medien die Euphoriker. Die Re- volutionen, so scheint es, werden auf Facebook gemacht, die Bastillen unserer Tage mit dem „Gefällt mir“-Daumen gestürmt. Dass die Toten auf den Straßen gestorben sind, nicht auf den
Displays, rutscht da seltsam aus dem Blick, genau wie die Tatsa-che, dass es in Ägypten um Brot ging, nicht um Bytes. Die stei-genden Lebensmittelpreise und die sinkenden Einkommen der Mittelschichten haben zum Sturz Mubaraks geführt, nicht die „basisdemokratische“ Organisation der Demonstrationen im Internet oder per Handy. Außerdem gingen dem angeblich so schnellen Umsturz zahllose lokale Brotrevolten voran, die bis in die frühen 90er-Jahre zurückreichen. Aber das haben die Internetdemokraten und Facebook-Revolutionäre nicht „auf dem Schirm“.
Die Euphoriker der digitalen Demokratie sind von den elektronischen Möglichkeiten dermaßen elektrisiert, dass sie Öffentlichkeit mit Demokratie verwechseln und Meinungsaus- tausch mit politischer Partizipation. Demokratie ist ohne Öf- fentlichkeit nicht möglich, aber sie ist nicht mit ihr identisch. Politische Partizipation ist auf Meinungsfreiheit angewiesen, aber erschöpft sich nicht darin.
Die demokratische Legitimation wiederum ist ein mehr-stufiger Prozess, der sich keineswegs in der engherzigen Alter - native erschöpft: Ja oder Nein, „Gefällt mir“ oder „Gefällt mir
Ist das Internet gut für die Demokratie – ja oder nein?.
men die Onliner der Wahrheit näher, für die nicht der Plebs, sondern das Plebiszit die virtuelle Öffentlichkeit bestimmt? Um es weniger diskursiv und analog, sondern mehr binär und digital zu formulieren: Ist das Internet gut für die Demokratie – ja oder nein?
Ungefähr zur gleichen Zeit, als McLuhan seine Massage-Theorie der Medien entwickelte, publizierte Umberto Eco, der damals noch keinen Namen als Rosenromancier hatte, einen Aufsatzband über Massenkultur, in dem er zwischen „Apoka-lyptikern“ und „Integrierten“ unterschied:
„Die Apokalypse ist eine Besessenheit des Anders-denkenden; die Integration ist die konkrete Realität derjenigen, die nicht abweichen, nicht anderer Mei-nung sind. Das Bild der Apokalypse zeichnet sich ab, wenn man die Texte über die Massenkultur liest; das Bild der Integration entsteht bei der Lektüre der Texte aus der Massenkultur.“
Man braucht „Massenkultur“ nur durch „Internet“ zu ersetzen, schon wirkt Ecos alter Aufsatz wie neu geschrieben. Texte über das Internet kündigen die Apokalypse an oder warnen vor der „Zeitbombe Internet“. Texte aus dem Internet verkün-den die Utopie einer globalen Explosion an Demokratie. Weil das in heller Begeisterung geschieht, könnte man die Anhän-ger des Internets im Unterschied zu den Apokalyptikern auch als Euphoriker bezeichnen.
Beiden Haltungen mangelt es wie jedem digitalen Den-ken, wie jeder Codierung der Wirklichkeit nach „Ja oder Nein“,
„Null oder Eins“, „Plus oder Minus“, „Pro oder Kontra“ an der Fä-higkeit, sich der Komplexität der sozialen Tatsachen und der Kompliziertheit des menschlichen Verhaltens zu stellen. Re-flexion verwandelt sich in Reflexe: Zum Beispiel lässt eine die 5-Prozent-Hürde überspringende Internetpartei die Apokalyp-
Demokratie als click ’n’ go?
bruno Preisendörfer
2120
es mehr um den Stil der Öffentlichkeitsarbeit als darum, für welche politischen Ziele die Öffentlichkeit gesucht und die Arbeit gemacht wird. So schiebt sich das Mittel vor den Zweck und monopolisiert die Aufmerksamkeit, die Symbole verdrän- gen das Symbolisierte, und die Symbolfiguren wachsen derma- ßen über sich hinaus, dass ihr quadratmetergroßes Lächeln auf den Plakaten kaum noch Platz für politische Botschaften lässt, nur noch für Parolen. Je indifferenter die Politik, desto impertinenter ihr Personal.
Ändert sich daran etwas, wenn die großen Gesichter nun auch bei Facebook grinsen? Zirkus bleibt Zirkus. Die viel bere-dete „Arroganz der Macht“ bei den Etablierten lässt sich durch
„Chatten“ so wenig korrigieren wie durch „Talken“, Kinderküs-sen oder Kugelschreiberverteilen. Aber die Boygroup unter der Piratenflagge muss auch erst beweisen, ob sie ihre parodisti-sche Lachkompetenz während des Wahlkampfs in parlamen-tarische Sachkompetenz während der Legislaturperiode um-setzen kann.
Die Antwort auf die Frage, ob das Internet gut für die De-mokratie ist, lautet also: Kommt darauf an. Im Unterschied zu den Apokalyptikern, die alles den Bach oder den Mainstream runtergehen sehen, und im Unterschied zu den Euphorikern mit ihrem Schwärmen im Chor und im Schwarm vermute ich, dass das, was schwierig ist an der Demokratie, durch das Inter-net nicht leichter, sondern eher noch schwieriger wird. Wäh- rend das, was ganz gut klappt, sich durch das Internet weiter verbessern lässt. Die schwingenden Netze der virtuellen Öf-fentlichkeit gefährden die Demokratie nicht, erfinden sie aber auch nicht neu. Doch sind sie mächtige, vielleicht eines Ta-ges auch übermächtige Tendenzverstärker – im Guten wie im Schlechten.
bruno Preisendörfer
lebt als Schriftsteller und Herausgeber der Netz -zeitschrift fackelkopf in Ber-lin. Zuletzt erschien sein satirischer Globalisierungs-roman Candy oder Die unsichtbare Hand im Verlag Das Arsenal. www.fackelkopf.de
nicht“. Nicht einmal dann, wenn sich diese binäre Meinungs- und Geschmacksabstimmung als permanenter Prozess orga-nisieren ließe. Das „click ’n’ go“ eines Konsumenten ist etwas anderes als die verantwortliche Teilnahme an öffentlichen
Diskussions- und Entscheidungsprozessen. Beim Wählen gilt: Eine Bürgerin/ein Bürger – eine Stimme, jeder Mensch zählt gleich viel. Bei Meinungen ist das nicht so. Wer demokratische Legitimation will, muss ohne Wertung die Stimmen der Leute zählen. Wer demokratische Partizipation will, muss die Mei-nungen der Leute bewerten, Interessen abwägen, Argumente prüfen. Denn nicht alles, was vorgebracht wird, hält dem Nach- denken stand. Über die Richtigkeit von Argumenten entschei- det nicht der Daumen, sondern der Kopf. Dass es auch im Par-lament kopflos zugehen kann, steht außer Frage. Doch ist es immerhin demokratisch legitimiert, was sich selbst vom intel-ligentesten Schwarm im Internet schwerlich behaupten lässt. Die Meinungsführer der parlamentarischen Hinterzimmer kann man abwählen, die Meinungsmenge eines Chatrooms nicht.
Das unter dem Label „Politikverdrossenheit“ viel disku-tierte Demokratiedefizit lässt sich vielleicht mildern, wenn der
„citizen“ auch als „netizen“ aktiv wird. Doch muss zwischen ge- fühlter Partizipation und tatsächlicher unterschieden werden. Das Abfragen politischer Kundenzufriedenheit über Clicks oder Rankings hat mehr mit dem Generieren virtueller Gefolg- schaft auf Zeit zu tun als mit realer Teilhabe. Wenn die traditio-nellen Medien, wie während der Wahlkämpfe inzwischen üb-lich, die „Internetauftritte“ der Parteien kommentieren, geht
Demokratie als click ’n’ go?
bruno Preisendörfer
Das „ click ’n’ go “ eines Konsumenten ist etwas anderes als
die verantwortliche Teilnahme an öffentlichen Diskussions-
und Entscheidungsprozessen.
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03Das soziale Gehirn —
Wie Medien unsere Entwicklung beeinflussen
ein intervieW mit
proF. dr. dieter F. Braus
(Januar 2012)
Unser Gehirn durchläuft einen individuellen Entwicklungs-prozess,derimMutterleibbeginntundmitdemTodendet.Be-sonderswichtigfürdenUmgangmitdenMedienunddieTeil-habeineinerZivilgesellschaftistindiesemEntwicklungspro-zessdieZeitderfrühenKindheitbiszumEndederPubertät.GleichzeitigistdiesdieZeit,inderderMedienkonsumdieEnt-wicklungeinesMenschenfürseinLebenprägenkann.
Prof.Dr.DieterF.Braus,DirektorderKlinikfürPsychia-trieandenDr.HorstSchmidtKliniken(HSK)inWiesbaden,erklärt,wiewir lernen,dievirtuellevonderrealenWeltzuunterscheiden,undwarumKinderwissbegierigsind.
Welchen Einfluss haben die Informationen unserer Umge-bung auf die Entwicklung unseres Gehirns?
DerEinflussdigitalerMedienaufdiekindlicheEntwick-lungistandersalsbeiSenioren.DaszweijährigeKindhatnochkeinenfunktionierendenkognitivenKontrollappa-rat.BeiihmflutendieInformationenungefiltertinsGe-hirn.ErstinderPubertät,diebiszum26.Lebensjahrandau-ert,entwickelnwirnachundnachunserenkognitivenApparat.DieserhilftunszumBeispiel,dievirtuelleReali-tätalssolchebesserzubewerten.KleineKindersindda-gegenemotionalgesteuert,ihnenfehltweitgehenddie-se Kontrollfunktion des Frontalhirns. Ein zehnjährigesKindhatdeshalbnochgroßeSchwierigkeiten,einevirtu-elleWeltvondereigenenzuunterscheiden.
Was passiert, wenn Kinder unkontrolliert digitale Medien konsumieren?
Untersuchungenzeigen:WennKinder,diejüngersindalszweiJahre,Fernsehenschauen,verzögertsichdieEntwick-
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lungihrerSprache,währendihre ImpulsivitätundAg -gressivitätsteigen.DieVielfaltvonInformationenbindetzwardieAufmerksamkeitdesKindes,eskanndabeiabernichtslernen,weildasHirnnichtdafürausgestattetist,diesevirtuelleWeltzuverarbeiten.
Ist das Gehirn des Kindes also durch die Informationen überfordert?
Ein Kind lernt in den ersten Lebensjahren vorrangigdurchsozialeInteraktionundamModell.IneinemExpe-rimentwurdeeineFraubeimVorleseneineschinesischenKinderbuchesgefilmt.AnschließendspieltemaneinemKinddieseAufzeichnungenvor.Eshatdabeinichtsge-lernt.LasdiegleicheFraudemKinddasBuchaberrealvor,lernteeschinesischeWörter.KleineKindersindmiteinerbiologischenLernmaschinevergleichbar,daraufausge-legt,denganzenTagzulernen.DieZeit,diedaswacheklei-neKindmitMedienverbringt,hatdagegenkeinenrele-vantenLerneffekt.
Kinder, die viel fernsehen, haben außerdem eineschlechterePrognoseimHinblickaufsogenannteExeku-tivfunktionen.DerMenschmusslernen,Regelnzuver-stehen,RegelwechselzubeachtenundsichkontrolliertineinesozialeGemeinschafteinzubringen.DasnenntmanExekutivfunktion und Selbstkontrolle, deren Entwick-lungmitdemFrontalhirnzusammenhängt.DasFrontal-hirnwirdabernichtgefördert,wenneinKinddreiStun-denproTagmitMedienverbringt.AlsErgebnishatdasKinddannmit28JahreneinewesentlichgeringereChan-ce,einenHochschulabschlusszuschaffen,sowieeinewe-sentlichgeringereWahrscheinlichkeit,zufriedenunder-folgreichzuleben.
Das soziale Gehirn – Wie Medien unsere Entwicklung beeinflussen
Prof. dr. dieter f. Braus
In dieser Publikation schreibt die Bundestagsabgeordnete Aydan Özoguz über Medienkompetenz aus Sicht der Gesell- schaft und der Politik. Wie würden Sie Medienkompetenz aus neurologischer Sicht definieren?
MedienkompetenzbeginntschonimKindesalterbeimModelllernen,wennicherfahre:MultitaskingistUnsinn,dennichhabenurzweiGehirnhälften.IchkannnurzweiDinge,diegleichwichtigsind,gleichzeitigguttun.Einwe-sentlichesElementvonMedienkompetenzistes,Begren-zungzulernen.Außerdemgehörtdazu,einenAnfangundeinEndezuerfahrenundzurespektieren.Wirsindnichtdaraufoptimiert,multisensorischstundenlangmitMe-dienumzugehen,dienichtsweitersindalsdieWeiterent-wicklungvonantikemDramaundTragödie,alsoeineAkti-vität,dieMenschenverbindet,Emotioneninduziertundverändert.
DievulnerablePhasefürdasGehirnistdieZeitbiszum Ende der Pubertät, ganz besonders bis zum 17. Le-bensjahr. In diesen Entwicklungszeitraum müssen wiralsGesellschaftunsereEnergiestecken.WirmüssendenElternklarmachen,dassMedieninAbhängigkeitvomLe-bensaltereinenvollkommenanderenEffektaufKinderhaben,dersichsogaraufdasErnährungsverhaltenaus-wirkenkann.SowissenwirzumBeispiel,dassMultiuservonVideospielenkontinuierlichanGewichtzunehmen.
Woran liegt das?
ZumeinenstörensiedurchtagelangesComputerspielenihrenSchlaf-wach-Rhythmus.DamitverändernsichihrEnergieverbrauchundihreEnergiezufuhr.GleichzeitigistderMenschdaraufoptimiert,zuüberleben.WennerNah-rungangebotenbekommt,nimmterdieseauf.Normaler-
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weisehörenwiraufzuessen,wennwirsattsind.DieseBremsewirdaberabgeschwächt,wennmanparallelMe-dienkonsumiert.Wirkönnennichtessenundgleichzeitigetwastun,waseinegroßeAufmerksamkeitfordert.DieMultiusernehmenalsoauchanGewichtzu,weilsiekeineKontrolledarüberhaben,wievielsiewährenddesSpie-lensessen.
Haben aus neurowissenschaftlicher Sicht analoge und digitale Medien einen unterschiedlichen Effekt auf die veränderte Energiezufuhr?
BücherhabendiesenEffektnicht.WennsiedasBuchauf-schlagen,gibtesdortnurschwarzeZeichen.DasisteineextremeReizreduktionfürdasHirn.Videospielesinddage-geneineReizvermehrung.WennsieFernsehenkombinie-renmitAktivität,wieesbeiVideospielenderFallist,hatdaseinengroßenEffektaufdasBelohnungssystemimHirn–wasschonlangebekanntist.
Welche Funktion hat dieser Belohnungseffekt?
WirhabeninunseinBelohnungssystem,dasfürSpaßundpositiveEmotionenzuständigist.MotorikundLustsindüber das gleiche Neurotransmissionssystem, den StoffDopamin,gesteuert.DiesesBelohnungssystemistenormwichtigfürunsereMotivationundunsereEntwicklung.EsreagiertaufselteneÜberraschungen.
HiersetzenVideospielean,indemsieMotorikmitunerwartetenReizenundBelohnungkombinieren.DasSystemistjedochnichtdaraufausgelegt,allezweiMinu-tenbelohntzuwerden,sondernüberraschende,nichter-warteteEreignissezuverarbeiten,sonstwirdesdesensi-tiviert.LebenwiralsMenschenimÜberfluss,könnenwir
Das soziale Gehirn – Wie Medien unsere Entwicklung beeinflussen
Prof. dr. dieter f. Braus
unserBelohnungssystemnichtmehraktivieren,weilunsnichtsmehrüberrascht.
Warum freue ich mich dann immer wieder, wenn ich ei-nen Blumenstrauß von meinem Mann bekomme?
Wenner ihnendenBlumenstraußimmerfreitagsgibt,dannfreuensiesichimmerweniger.Auchnicht,wennIhrMannIhnenimmermalwiederzehnEurofüreinenBlumenstraußschenkenwürde.ErhaltenSiedenBlumen-straußaberunregelmäßig,freuenSiesich.Wahrschein-lichverändertderBlumenstraußüberdasJahrauchseineZusammenstellung und Farbe.Der Blumenstrauß odereinLächelnsindprimäreVerstärker,währendGeldeinse-kundärerVerstärkerist.UnserNervensystempasstsichraschansekundäre,nichtanprimäreVerstärkeran.Me-diengehöreninderRegelzudensekundärenVerstärkern.
Wenn wir die Auswirkungen der Neuen Medien auf un-sere Zivilgesellschaft betrachten, würde es einen Unter-schied machen, ob wir uns im Internet an einer Kampagne beteiligen, anstatt auf die Straße zu gehen?
WennichzujederbeliebigenZeitimInterneteinBuchbestellenkann,istdaseinandererFall,alswennichzuei-nerbestimmtenZeitausdemHausgehenmuss,mirimBuchladeneinBuchansehe,mitanderenMenschenin-teragiereunddortentscheide,obicheskaufeodernicht.Menschen können sich im Internet anonym und ganzschnellanetwasbeteiligen.SiehabenabergrößereHür-denzuüberwinden,wennsiebeieinerMontagsdemons-trationinLeipzigoderStuttgartmitgehen.
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Verursacht diese größere Hürde ein tiefer liegendes, inten-siveres Engagement?
VonNaturaussindwiralleAngsthasen.InderAnonymi-tätsindwirmutig,aberinderÖffentlichkeitsindwireherscheu.WennMenschenfüretwasaufdieStraßegehen,mussetwaspassieren,dassiedazuemotionalbewegt.DassehenwirauchinSyrien,woMenschentrotzgefährlicherBedingungenaufdieStraßegehen.WenneinMenschdastut,dannistderinnereDrucksehrgroßunddamithatauchdasEngagementeineandereNachhaltigkeit.
Welchen Einfluss haben soziale Netzwerke auf unser Verhalten?
Die sozialen Netzwerke bedienen unsere archaischenStrukturen.WelchelangfristigenAuswirkungensieha-ben,weißbisherniemand.EsgibtkeineStudiendazu.Wirwissenerstheute,nach20Jahren,welchenEffektderBe-sitzeinesVideospielsaufSchulkinderhat.Solangeistdie-seStudiegelaufen.1WennachtbiszehnJahrealteKindereinVideospielgeschenktbekommenundesregelmäßigspielen,werden innerhalbvondrei Monaten ihre Leis-tungeninderSchuleinSchreibenundLesensignifikantschlechter,währendihreMathematikleistungenundih-reAufmerksamkeitgleichbleibenoderetwasbesserwer-den.WirhabenabernochkeineAhnung,welchenlang-fristigenEffektsozialeNetzwerkeaufMenschenhaben.
Bitte erklären Sie noch einmal, warum die sozialen Netz-werke unsere archaischen Strukturen bedienen.
JederMenschhatGrundbedürfnisse.DieprimärenGrund-bedürfnissesindEssen,Trinken,Schlafen.Außerdembe-
1 Weis, R. / Cerankosky, B. C.: Effects of video-game ownership on young boys‘ academic and behavioral functioning: a rando- mized, controlled study. In: Psychological Sci- ence, April 2010, 21 (4), S. 463–470.
2 Salganik, M. J. / Dodds, P. S. / Watts, D. J.: Experimental study of inequality and unpredictability in an artificial cultural market. In: Science, 10.02.2006, 311 (5762), S. 854–856.
Das soziale Gehirn – Wie Medien unsere Entwicklung beeinflussen
Prof. dr. dieter f. Braus
Prof. dr. dieter Braus
ist seit 2006 Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychia trie an der HSK in Wiesbaden und lehrt an der Universitätsklinik Mainz. Zuvor forschte Braus u.a. an der Harvard Medical School Boston zum Thema „Funktionelle Bildgebung“. www.hsk-wiesbaden.de
sitzenwirsekundäre,zumBeispielSicherheit,Ordnung,Sinn,undsozialeGrundbedürfnisse,wiediesozialeBin-dungoderdensozialenVergleich.InsozialenNetzwerkenhabensie„Freunde“,mitdenensiedigitalinteragieren.DadurchentstehteinesozialeBindung.Dasistherausfor-dernd, sie wollen immer mehr„Freunde“, wollen gese-henwerdenaufBildernundschauen,wasdieanderenmachen.SozialeNetzwerkebedienendasuralteBedürf-nisderMenschennachTratschundKlatsch,derunsereAufmerksamkeitlenkt,aberauchschützenkannundver-bindet.
Sie haben in einer Präsentation eine Studie zitiert mit dem Satz: „Die Weisheit einer Menschenmenge nimmt ab, je mehr die Individuen der Menge voneinander wissen.“ Könnten sie dieses Zitat im Hinblick auf die Wissensgesell-schaft und die Idee von Wikipedia erläutern?
DiesesZitatstammtauseinerStudie.Dabeispieltmanzum Beispiel einer Menschengruppe einen Sänger vorundmöchtewissen,obsiediesengutoderschlechtfindet.WenndieseMenschennichtwissen,wasdieanderenden-ken,dannistdieBeurteilungderGruppeimVergleichzuExpertenrelativgut.DasistderGrund,warumbei„WerwirdMillionär?“dasErgebnisderPublikumsfrageinderRegelrichtigist.SageichdenMenschenaber,bevorsieihrUrteilabgeben,wasandereüberdenSängerdenken,verändertsichdasUrteilsvermögen,derarchaischeHer-dentriebkommtdurch,dieUrteilskraftwirdmanipuliertundinderRegelschlechter.2
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Medienkompetenz —
Herausforderung in der digitalen Gesellschaft
04DasWort„Medienkompetenz“löstmittlerweilehöchstunter-schiedlicheReaktionenaus:Dieeinenkönneneskaumnochhören,beschäftigensichseitJahrzehntendamit.Dieanderenfinden,dassesnochvielzutungebeundwirgeradeinvielenBildungseinrichtungen,aberauchinElternhäusern,erstamAnfangdesWegesstünden.BeidehabenrechtundnureineVer-bindungderbereitsgemachtenErfahrungensowieeineziel-gerichteteStrategiefürdieZukunftkönnendenKreisdurch-brechen,indemmansichmituntermiteinanderdreht.
Unbestrittenist,dassderBegriff„Medienkompetenz“indenletztenJahrenreichlichinflationärgebrauchtwurde,al-lerdingshabenviele,dieihnverwenden,wohlnureinrelativvagesBild,wasdamitgenaugemeintseinkönnte.Medienkom-petenzgiltvielenalsAllheilmittelfürdiverseProblemeundPhänomeneimUmgangmitdemInternet.HiernureinpaarBeispiele,zuwelchenGelegenheitengernenachmehrMedi-enkompetenzgerufenwird:SeniorinnenundSenioren,dieinAbofallentappen,SchülerinnenundSchüler,diezuMobbing-opfernimInternetwerden,Eltern,diefürdieillegalenDown-loadsihrerKinderaufkommenmüssen,undnatürlichderKlas-sikerallerBeispiele,diewildenPartyfotosdesNachwuchsesbeiFacebookoderanderensozialenPlattformen,diedannir-gendwann hervorgeholt werden könnten, wenn es um denerstenJobgeht.
WasbeinhaltetdieservageBegriff„Medienkompetenz“undwiewirdmanzummedienkompetentenNutzerineinerGesellschaft,dieganzselbstverständlichmehrundmehrauchimdigitalenRaumzuHauseist?KannalleinmitMedienkom-petenzallenUnwägbarkeitenvorgebeugtwerden?Wersichlänger mit dem Begriff „Medienkompetenz“ befasst, wirdfeststellen, dass es in der Wissenschaft zahlreiche Begriffs-bestimmungen und Eingrenzungen gibt. Am bekanntestenistwohldasBielefelderModellvonDieterBaacke1,dasindenletzten Jahren von vielen Wissenschaftlerinnen und Wis -
von aydan özoguz
1 Vgl. Baacke, Dieter: Me- dienkompetenz als Netz- werk. Reichweite und Fokussierung eines Be- griffs, der Konjunktur hat. In: Medien praktisch, Heft 2 / 1996, S. 4–10.
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senschaftlernaufgegriffenundweiterentwickeltwurde.ErstkürzlichhatdieProjektgruppeMedienkompetenzderEnquete-Kommission„Internet und digitale Gesellschaft“des Deut -schen Bundestages den Versuch unternommen,den Begriff
„Medienkompetenz“fürihreArbeithandhabbarzumachen:„Medienkompetenzwird inderwissenschaftlichenDis-
kussionkeineswegsreduziertauftechnisch-manuelleFertig-keitenverstanden,sondernbezeichneteineSpannbreitevonkognitiven,affektivenundkonativen(alsodasDenken,FühlenundHandelnbetreffende)Fähigkeiten,dieeinmedienkompe-tentesIndividuumaufweisensollte.Dazugehörenbeispiels-weisedasLesenvonTexten,dieKenntnistechnischerZusam-menhänge,dasWissenumökonomischeoderrechtlicheStruk-turenvonMedien,aberauchdieFähigkeit,aufeinerSocial-Media-PlattformeinKontoeinzurichtenundkritischzuhin-terfragen,welcheAuswirkungendiesaufdieeigenePersön-lichkeithabenkann.
Die bei der Informations- und Wissensbeschaffung so-wie bei gesellschaftlicher Teilhabe nötige SelbstständigkeithinsichtlichderFilterung(vondersinnvollenSuchanfragebiszur sinnvollen Auswahl) und die Notwendigkeit, hierbei le-benslangmitdensichstetigwandelndenFormenneuerMe-dienSchrittzuhalten,machenaufeinProblemdesBegriffsMedienkompetenzaufmerksam:DieseKompetenz istkeine,dieeinmalfür immererworbenwird,sondernsiemussaufdauernderFortbildungberuhen.“2
Die Zusammenfassung der Enquete-Kommission zeigt:UmwirklichkompetentimUmgangmitdigitalenMedienzusein,bedarfeseinerReihevonunterschiedlichenFähigkeitenundKenntnissen,dieüber einrein technisches Wissenhin-ausgehenunddiedauerhafterFortentwicklungbedürfen.DasIdealbildistderinformierte,selbstbestimmteundsouveräneNutzer–gleichwelchenAlters.Diesbeinhaltetnichtnurdaspassive Konsumieren von Informationen, sondern auch die
Medienkompetenz — Herausforderung in der digitalen Gesellschaft
aydan özoguz
2 Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommis- sion „Internet und digita- le Gesellschaft“: Medien- kom petenz, S. 5, BT-Drs. 17 / 7286 vom 21.10.2011. Vgl. auch: Groeben, Nor- bert: Anforderungen an die theoretische Kon- zeptualisierung von Medienkompetenz. In: Groeben, Norbert / Hurrel mann, Bettina ( Hrsg.): Medienkompetenz. Vor- aussetzungen, Dimen- sionen, Funktionen, Wein- heim 2002, S. 11–22, und Jarren, Otfried / Wassmer, Christian: Medienkom- petenz – Begriffsanalyse und Modell. In: medien + erziehung, Heft 3 /2009, S. 46–51.
Fähigkeit,selbstInhaltezuproduzierenundzuverbreiten.DieEnquete-Kommission führt zur Rolle der Nutzerinnen undNutzer ineinerdigitalenÖffentlichkeitweiteraus:„AlsZielhatdieEnquete-KommissiondaherdieaufgeklärtenNutzer-innenundNutzerimBlick,diesichbeispielsweisedurchkre-atives Schaffen der Medien bedienen und dabei verantwor-tungsvoll mit eigenen persönlichen Daten und respektvollmitdenDatenandererNutzerindenMedienumgehen.DieEnquete-KommissionbetrachtetdieNutzer interaktiverMe-dienausdrücklichmehrdimensional:alsSenderundEmpfän-ger,alsKonsumentenundProduzenten,alsWissendeundLer-nende.“3MedienkompetenzistsomitnichtnurderSchlüsselzurTeilhabeanderdigitalenGesellschaft–Medienkompetenzbzw. fehlende Medienkompetenz hat auch ganz konkreteAuswirkungen auf die „Offline-Welt“: auf gesellschaftlicheTeilhabe,aufBildungoderaufsozialenAufstieg.SobietetdasInternetinvielfacherWeisedieMöglichkeit,gesellschaftlicheDebatten zu verfolgen und sich dort selbst einzubringen.EbensoistMedienkompetenzmittlerweileunverzichtbarfürdenErfolginSchule,AusbildungoderBeruf.InderEnquete-Kommission„Internet und digitale Gesellschaft“haben wirdafür den Begriff der„digitalen Selbstständigkeit“geprägt.DamitistdasZielgemeint,dassjederBürgerundjedeBürge-rininderLageseinsoll,alleMöglichkeitender„digitalenGe-sellschaft“möglichst selbstständig zu nutzen und – anders-herum–sichvorallendamitverbundenenRisikenmöglichstgutzuschützen.
NatürlichstehenimFokusderBemühungenvonWissen-schaftundPolitikoftmalsKinderundJugendliche4,diezwarheute–imGegensatzzuihrenEltern–alsDigitalNativesher-anwachsenundihrenErziehungsberechtigtenteilweisetech-nisch weit überlegen sind, denen es aber oftmals noch anWissenüberStrukturenundZusammenhängefehlt,waseineAuswahlausderVielfaltunddiegrundlegendeBeurteilung
3 Ebd., S. 8.
4 Die Projektgruppe Medi- enkompetenz der Enquete- Kommission „Inter net und digitale Gesellschaft“ hat insgesamt zwölf unterschiedliche Zielgrup- pen für die Vermittlung von Medienkompetenz herausgearbeitet und eine entsprechende Bedarfs- analyse je nach Gruppe durchgeführt: Kinder im vorschulischen Alter, Schülerinnen und Schüler, Studierende, pädago- gische Fachkräfte, Hoch- schullehrende, Eltern, Menschen mit Migrations- hintergrund, Menschen mit Behinderung, Senio- rinnen und Senioren, Journalistinnen und Jour- nalisten und Multipli- katoren, Erwerbslose und Berufstätige.
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vonInformationenerschwert.NebenderBewertungistaberauchdasAbwägenderWeitergabe–teilsdereigenenundper-sönlichenInformationen–einwichtigerAspektaufdemWegzumLeitbildder„digitalenSelbstständigkeit“.VieleNutzerin-nenundNutzer,unterihnenverstärktKinderundJugendliche,pflegen einen eher unbedarften und unkritischen UmgangmitihrenDatenundstellenweiseauchmitdenpersönlichenDatenvonDritten.Oftmalserkennensieweder,„dassperso-nenbezogene Daten anfallen, noch die Reichweite und diemöglichenFolgenderSammlungundVerarbeitungderange-gebenenDaten.OhnedieseErkenntnisisteinbewussterUm-gangmitDatenabernichtmöglich.DahermussdenNutzernsowohldaspraktischeundtechnischeVerständnisfüreinensorgfältigen Umgang mit den eigenen personenbezogenenDaten(z.B. auch deren Schutz vor unerwünschtem ZugriffoderWeitergabe)alsauchdieFähigkeit,möglicheFolgenundKonsequenzenderNutzungentsprechenderAngebotezuer-kennen,vermitteltwerden.Dieshilftnichtnur,datenschutz-rechtlicheRisikenfürdenEinzelnenzuminimieren,sonderneröffnetzugleichauchdieChance,seinRechtaufinformatio-nelleSelbstbestimmungbewusstauszuüben.NebenanderenVoraussetzungenermöglichtdieKenntnisderProzessederDa-tenverarbeitung einen eigenverantwortlichen Umgang mitdenDaten.“5
KinderundJugendlichebrauchendeshalbkonstruktiveAnleitungdurchEltern,LehrerundGesellschaft,umihrenPlatzinderderdigitalenÖffentlichkeitunddenrichtigenUmgangmitihrzufinden.UndhierschließtsichwiederderKreis:NurEltern,LehrerinnenundLehreroderweitereBezugspersonen,die selbst medienkompetent sind, können diese Anleitungleisten.BeiderVermittlungvonMedienkompetenz inKitasundSchulenwirdinDeutschlandmitunterschiedlichemTem-po und unterschiedlichem Engagement gearbeitet.Die En-quete-KommissionschließtsichdeshalbdenzentralenForde-
Medienkompetenz — Herausforderung in der digitalen Gesellschaft
aydan özoguz
5 Enquete-Kommission „In- ternet und digitale Ge- sellschaft“: Datenschutz und Persönlichkeits- rechte, Ausschussdruck- sache 17 (24) 042, S. 39 f. http://www.bundestag.de/ internetenquete/doku - men tation/Sitzungen/2011 1017/Ausschussdrucksa- che_17_24_42.pdf
6 Initiative „Keine Bildung ohne Medien“, Bildungspo- litische Forderungen: Medienpädagogischer Kongress 2011, S. 9, http:// www.keine-bildung- ohne-medien.de/kongress- dokumentation/keine- bildung-ohne-medien_bil- dungspolitische-forder- ungen.pdf., vgl. auch Deut- scher Bundestag, BT-Drs. 17 / 7286, S. 35.
rungenderInitiative„KeineBildungohneMedien“an:„IndenBildungsplänenfüralleSchularten,auchderberuflichenBil-dung,sindmedienpädagogischeThemenverbindlichindenCurriculaundPrüfungenzuverankern.“6Ebensoisteinestär-kereVerankerungvonmedienpädagogischenInhalteninderAus-undWeiterbildungvonErzieherinnenundErziehernundPädagoginnenundPädagogenallerSchulformen,einschließ-lichderHochschule,dringendgeboten.UndauchdieElternmussdiePolitikindenBlicknehmen:HierbedarfeseinesBe-wusstseinsderElternfürihremedienpädagogischeVerantwor-tung und eines niedrigschwelligen Beratungsangebots fürhilfesuchendeEltern.Natürlichsinddie dargestelltenForde-rungennureinTeilaspektderanzustrebendengesamtgesell-schaftlichenMaßnahmen.Klar ist:DerErwerbvonMedien-kompetenzwirdfürjedeNutzerinundjedenNutzerindividu-ellablaufenundsichanseinenBedürfnissenundGrundkennt-nissenorientieren.
Und doch wird Medienkompetenz nicht alle ProblemeimInternetundimUmgangmitdigitalenMedienlösenkön-nenundauchnichtmüssen.DiePolitikhatdieAufgabe,opti-maleAusgangsbedingungenzuschaffen,dassjedeundjederdie Fähigkeit erlangt, sich selbstbestimmt und verantwor-tungsbewusstinderdigitalenGesellschaftzubewegen.DiePolitik hat aber auch die Aufgabe, Rahmenbedingungen indieserdigitalenGesellschaftzuschaffen:MedienkompetenzkannkeinErsatzfürDaten-,Verbraucher-oderJugendschutz,fürsozialeKompetenzoderdenRespektvordergeistigen(Ei-gen-)Leistunganderersein–sieistimmerdiezweiteSeitederMedaille.
aydan özoguz
ist stellvertretende Bundes-vorsitzende der SPD. Als Mitglied des Deutschen Bun-destages arbeitet sie u. a. in der Enquete- Kommission „Internet und digitale Ge-sellschaft“ und ist zuständig für den Jugendschutz. Özoguz lebt in Hamburg. www.oezoguz.de
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Demokratische Beteiligung per Web
05E-Democracy,E-Voting,E-Partizipation,OpenGovernment–esgibtvieleSchlagworte,mitdenenversuchtwird,dasdemokra-tischePotenzialdesInternetszuerfassen.Eineshabensieallegemeinsam: Sie beschreiben unterschiedliche Formen undMöglichkeitenderEinbindungvonBürgernundBürgerinnen,derdemokratischenBeteiligungimWeb.Nichtalles,wasmög-lichist,wirddabeiheuteauchschongenutzt.SoistdasE-Vo-tinginDeutschlandzurzeitkeinThema,dadieSicherheitderdafür genutzten Systeme noch nicht gewährleistet werdenkann.AndereOptionenwieE-PetitionenoderelektronischeAnhörungsverfahrensindhingegenbereitsaufunterschiedli-chenEbenenzufinden.DerfolgendeBeitragwilleinenÜber-blick über die vorhandenen Möglichkeiten geben und ihreChancenundRisikenaufzeigen.DabeiwerdennichtnurdieAnwendungenvorgestellt,dievomStaatinitiiertwerden,alsodieTop-down-Möglichkeiten,sondernauchdieAnwendun-gen,dieihrenUrsprunginderZivilgesellschafthaben,alsoaufEngagementvonEinzelnenoderzivilgesellschaftlichenOrga-nisationenzurückgehen–dieBottom-up-Möglichkeiten.
TOP-DOWN – wie der Staat das Internet für Bürgerbeteiligungen nutzt
Aufseiten des Staates gibt es eine ganze Reihe von Beteili-gungsmöglichkeiten,dieaufunterschiedlichenEbenen,beimBund,indenLändernoderauchindenKommunen,eingesetztwerden.MeistwerdendafürbereitsvorhandeneVerfahreninsInternetübertragen,wiebeispielsweisePetitionenoderAnhö-rungen.ZumTeilwerdenaberauchganzneueMöglichkeitenausprobiert,wieetwamitderDiskussionssoftwareDEMOS.
ImBereichdesPetitionswesensbestehtbeimDeutschenBundestagbereitsseit2005dieMöglichkeit,PetitionenauchonlineeinzureichenundüberdasInternetportalUnterschrif-tenzusammeln.UndauchwenndasPetitionsverfahrenan
von dr. Kathrin voss
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sich nicht neu ist, so vereinfachen die E-Petitionen zumin-destdieTeilnahmeunddieMobilisierung.AllerdingswerdennachAuskunftdesBundestagsnur30bis35ProzentderPeti-tionenonlineeingereicht.AuchderErfolgvonE-Petitionenisthöchstunterschiedlich.SoerreichtnureinekleineAnzahlvonE-Petitionendie50.000Unterzeichner,dienotwendigsind,umeineöffentlicheAnhörungvordemPetitionsausschusszube-kommen.AbereinigeE-Petitionenunddiedamitverbunde-nenKampagnenhabenbereitsgezeigt,dasseinzelneBürgeroderkleinereOrganisationenaufdiesemWegeihreThemeneinerbreiterenÖffentlichkeitbekanntmachenkönnen.2008zeigtediePetition„KeineIndizierungundSperrungvonInter-netseiten“,welcheResonanzeineE-Petitionhabenkann.NachnurvierTagenwarendie50.000Unterzeichnererreicht,amEndederZeichnungsfristwaren134.000digitaleUnterschrif-tenzusammengekommen.ZudieserhohenResonanzhabenverschiedene Faktoren beigetragen.Die Initiatorin der Peti-tionwarzwareineEinzelperson,abersiewurdevonvielenOrganisationenunterstützt.EntscheidendwarenzudemdiehohemassenmedialeAufmerksamkeitfürdasThemaInter-netzensur und die hohe Affinität der Internetnutzer zu die-semThema.
Online-KonsultationensindeinanderesBeispielfürdieÜbertragung von vorhandenen Verfahren auf das Netz.SiewurdenbereitsinverschiedenenZusammenhängengenutzt,wenn auch mit recht unterschiedlichem BeteiligungsgradundunterschiedlicherVerbindlichkeit.Wieschwierigesseinkann, Konsultationen ins Netz zu übertragen, zeigt aktuelldieEnquete-Kommission„InternetunddigitaleGesellschaft“.UnterdemStichwort„18.Sachverständige“solltenBürgeranderArbeitderEnquete-Kommission beteiligtwerden.DochnochbevordasPortalAnfang2011onlinegehenkonnte,wur-devieldiskutiert,überdieKostenderSoftware,überdieRegis-trierungsverfahrenfürdieBürgerund–hintervorgehaltener
Habbel, Franz-Reinhard /Huber, Andreas ( Hrsg.): Web 2.0 für Kommu nen und Kommunalpolitik – Neue Formen der Öffentlichkeit und der Zusammenarbeit von Politik,Wirtschaft, Ver-waltung und Bürger, Boi- zenburg 2008.
Kleinsteuber, Hans J. / Voss, Kathrin: abgeordneten-watch.de – Die Stärkung der repräsentativen Demokra-tie durch das Internet. In: Vorgänge, Heft 4 / 2010, S. 75–84.
Riehm, Ulrich / Coenen, Christopher / Lindner, Ralf /Blümel, Clemens: Bürger-beteiligung durch E-Petitio-nen – Analysen von Kon-tinuität und Wandel im Pe-titionswesen (Studien des Büros für Technikfolgen-Ab-schätzung beim Deutschen Bundestag, 29), Berlin, 2009.
Demokratische Beteiligung per Web
dr. Kathrin voss
Hand–auchüberdenSinneinessolchenVerfahrensgenerell.BeinahedrohtedasVorhabenzuscheiternunddieDiskussio-nenerwecktenbeivielenBeobachterndenEindruck,dassdiePolitikerAngstvordenneuenBeteiligungsmöglichkeitenha-ben. Inzwischen wird die sogenannte Adhocracy-Softwareeingesetzt,aberdieBeteiligungszahlensindtrotzderinternet-affinenThemenderEnquete-Kommissionbegrenzt.
EinfacherwirddieImplementationvonOnline-Konsul-tationen,wenndarunterlediglichüberdasNetzstattfinden-deDiskussionenzubestimmtenThemenverstandenwerden,diekeineformaleVerbindlichkeithabenundauchnichtanvorhandenenGremienstrukturenangebundensind.EinesdererstenProjektedieserArtinDeutschlandstellendieDEMOS-SoftwareundihreAnwendungdar.DEMOS,dasstehtfür„Del-phiMediationOnlineSystem“,istimGrundegenommennichtsanderesalseineInternetplattform,aufderimgrößerenUm-fang moderierte Diskussionen stattfinden können. Die Ent-wicklersprechenvoneinem„neuentwickeltenVerfahrenfürdieaktiveEinbeziehungderBürgerinpolitischeGestaltungs-undEntscheidungsprozesse“undvon„Bürgerdialogen“.Ange-wendet wird DEMOS zum Beispiel immer wieder für soge-nannteBürgerhaushalte.HamburggehörtezudenerstenStäd-ten,diedieseSoftwareeinsetzten,undließBürgerinnenundBürgeronlineüberdieNeuausrichtungundmittelfristigePla-nung des Hamburger Haushalts diskutieren. Bei weiterenDEMOS-EinsätzenwurdeinHamburgvorallemüberstädte-baulicheProjektediskutiert.DieBeteiligungbliebdabeimeistehergering.EshabensichjeweilsnureinigeHundertBürgeraufderPlattformregistriert,umaktivandenDebattenteilzu-nehmen. Entsprechend blieb auch die Zahl der Diskussions-beiträgebegrenzt.ZwargibtesinzwischendurchausDEMOS-EinsätzeundähnlicheVerfahrenmitbeiWeitemhöhererRe-sonanz.Doch im Verhältnis zur wahlberechtigten Bevölker-ungistdieBeteiligungimmernochrechtgeringunddamit
Schweiger, Wolfgang / Beck, Klaus ( Hrsg.): Handbuch Online-Kommunikation, Wiesbaden 2010.
Voss, Kathrin: Grassroots-campaigning und Chancen durch neue Medien. In: Aus Politik und Zeitge-schichte, „Lobbying und Po-litikberatung“, Ausgabe 19 / 2010, S. 28–33.
Zerfaß, Ansgar / Welker, Martin / Schmidt, Jan ( Hrsg.): Kommunikation, Partizipation und Wir-kungen im Social Web – Band 1 und 2, Köln 2008.
4140
schwindetauchdieVorstellung,übersolcheOnline-Forenpo-litischeEntscheidungenlegitimierenzukönnen.
Aber warum beteiligen sich nur wenige Menschen andiesenPartizipationsmöglichkeiten?EinGrundkönntesein,dassdieseneuenOnline-Verfahrenebennichtformalveran-kertsindunddamitmeistnureinensehrbegrenztenEinflussaufdiefolgendenpolitischenEntscheidungenhaben.Zuwei-lenlassendiegewähltenThemenunddieparallelaufpoliti-scherEbenestattfindendenDiskussionenauchdenVerdachtaufkommen,dieOnline-DiskussionenmitdenBürgernerfül-lenlediglicheineAlibifunktion.SobleibtdieMotivation,sichzu beteiligen, eher gering. Denn wenn der Einfluss von Bei-trägenindiesenoffiziellen,staatlichenOnline-DiskussionenkaumgrößeristalsderinjedembeliebigenanderenOnline-Forum,dannstelltsichinderTatdieFrage,warumsichBür-gerbeteiligensollten.
BOTTOM-UP – wenn die Zivilgesellschaft Partizipation organisiert
Neben den staatlichen Beteiligungsmöglichkeiten nutzenauchvielezivilgesellschaftlicheAkteuredasInternet,umMen-schenfürbestimmteThemenzuinteressieren,zumobilisierenundihnenMöglichkeitenzurPartizipationundInteraktionan-zubieten.
ÜberdieunabhängigeWebseiteabgeordnetenwatch.dekönnenBürgerbeispielsweisemitihrenAbgeordnetenKon-taktaufnehmen,FragenstellenundStellungnahmenverlan-gen.DasBesondereistdabei,dassdiesöffentlichundtranspa-rentstattfindet,dasowohldieFragenalsauchdieAntwortendauerhaftaufderWebseitezufindensind.NebendenAbgeord-netendesBundestagessindinzwischenauchsiebenLänder-parlamenteundzahlreicheKommunendortvertreten.Zwaristabgeordnetenwatch.dekeinedirekteBeteiligungsmöglich-
E-Petitionen beim Bundes-tag: https://epetitionen.bundestag.de
Der „18. Sachverständige“ bei der Enquete-Kommissi- on „Internet und digitale Gesellschaft“: https://www. enquetebeteiligung.de
DEMOS-Projekte: http://www.demos-deutsch-land.de
Abgeordnetenwatch: http://www.abgeordneten-watch.de
GreenAction – Kampagnen-portal von Greenpeace :http://www.greenaction.de
Kampagnenportal der Ta-geszeitung taz: http://bewe-gung.taz.de
MoveOn.org – amerikani-sche Kampagnenorganisati-on: http://front.moveon.org
Campact – deutsche Kampa-gnenorganisation: http://www.campact.de
Avaaz – weltweit operieren-de Kampagnenorganisation:http://avaaz.org
Demokratische Beteiligung per Web
dr. Kathrin voss
keit,aberdieöffentliche InteraktionzwischenBürgernundBürgerinnenaufdereinenSeiteunddengewähltenVolksver-treternaufderanderenSeitezeigtdochdasinteraktivePoten-zialdesInternetsfürdenpolitischenProzess.
EineBeteiligungderanderenArtbietenGrassrootskam-pagnenimNetz,alsoKampagnen,beidenenMenschenmobi-lisiertwerden,sichaufunterschiedlicheArtundWeisefüreinbestimmtesThemaoderVorhabeneinzusetzen.Darunterfal-lenzumBeispielE-Mail-Kampagnen,beidenenBürgergezieltPolitikeranschreibensollen,umaufbestimmteProblemeauf-merksamzumachen,genausowieauchPetitionskampagnen,dieimNetzUnterschriftenfürodergegenbestimmteAnlie-gensammeln.InitiatorendieserArtvonOnline-Aktionensindvielfach etablierte Nichtregierungsorganisationen wie bei-spielsweise der Bund für Umwelt und Naturschutz(BUND)oderAmnestyInternational,aberauchkleinereBürgerinitia-tivennutzenauflokalerEbenedasPotenzialdesInternetsfürdieMobilisierung.InzwischengibtesauchübergreifendeWeb-seiten,dieeinzelnenBürgern,aberauchkleineren Gruppenermöglichen,onlinenachUnterstützernzusuchen.SobietenGreenpeacemitGreenActionunddieTageszeitungtazmitbe-wegung.taz.dejeweilseigeneOnline-Community-Seitenan,aufdenenjedereineeigeneKampagneeinstellenkann.Darü-berhinausgibtesneutraleInternetportale,dieeinfachnurPe-titionenvonunterschiedlichenAkteurensammeln,wieopen-petition.deoderpetitiononline.com.
DesWeiterenhabensicheineReihevonOrganisationengegründet,diesichaufdieseArtvonOnline-Kampagnenspe-zialisierthaben,wiebeispielsweiseCampactinDeutschlandoderAvaazauf internationalerEbene.DasVorbildfürdieseund ähnliche netzbasierte Hybridorganisationen ist Move-On.orgausdenUSA.1998stelltenzweiPersoneneinePetitiongegendasAmtsenthebungsverfahrengegenBillClintoninsNetzunderreichtendamiteineerstaunlicheResonanz.Aus
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dereinenPetitionwurdeeineOrganisation,diebisheuteon-lineProtesteorganisiertundimmerwiederMillionenAmeri-kanermobilisiert,sichfürbestimmteThemenzuengagieren.WelcheThemendassind,wirdvielfachauchonlinediskutiert.
WährenddieBeteiligungbeidenstaatlichenAngebotenbisherehergeringist,verzeichnendiegroßenOnline-Kampag-nenvonCampactundanderenOrganisationenoftmalseinehoheResonanz.DochdieseResonanzistnatürlichnichtgleich-zusetzenmiteinerpolitischenWirkung.SozeigenStudienausverschiedenenLändern,dassdieseFormdesMausklick-Akti-vismusbeidenPolitikerndurchauskritischgesehenwird,und
dasnichtnur,weilbeispielsweiseMassen-E-Mail-KampagnenfürderenBüroseinenerheblichenArbeitsaufwandbedeuten,sondern auch, weil die Beteiligung an solchen PetitionenlängstnichtvonallenalswirklicheszivilgesellschaftlichesEn-gagementangesehenwird.DafürhatsichderBegriff„Slack-tivism“ durchgesetzt. Zusammengesetzt aus den Wörtern
„slacker“(englischfür„Faulpelz“)und„activism“(Aktivismus)werdendamiteinfacheProtestformenbezeichnet,dienichtvielmehrAufwandalseinMausklickerfordern.HinterSlack-tivismstehtauchdieBefürchtung,dassMenschensichimmermehr imInternet engagieren unddasdannfüreineausrei-chendeFormdesProtesteshaltenundsichnichtmehrdauer-haftundaußerhalbdesInternetsengagieren.
Demokratische Beteiligung per Web
dr. Kathrin voss
Dafür hat sich der Begriff „Slacktivism“ durchgesetzt.
Zusammengesetzt aus den Wörtern „ slacker “ (englisch für „Faul-
pelz“) und „ activism “ (Aktivismus) werden damit einfache
Protestformen bezeichnet, die nicht viel mehr Aufwand als ein
Mausklick erfordern.
Resümee
DasNetzbietetneueFormenvonPartizipation,sowohlvonStaatsseitealsauchvonzivilgesellschaftlichenAkteurenorga-nisiert.DieChancen,BürgerundBürgerinnenverstärktindenpolitischenProzesseinzubinden,sindalsovorhanden,werdenabervorallembeidenTop-down-MöglichkeitenbishernurineinemsehreingeschränktenMaßevondenMenschenwahr-genommen.Dashatsicherlichzumeinenetwasdamitzutun,dassdieseVerfahrennochneusindundmanerstErfahrun-gendamitsammelnmuss.AufderanderenSeitewirdessi-cherlichnotwendigsein,beidenstaatlichenAngeboteneingewissesMaßanVerbindlichkeitzuschaffen,umdieBürgerundBürgerinnenzurBeteiligungzumotivieren.
ImGegensatzdazustelltdieBeteiligungbeidenzivilge-sellschaftlichenAngebotenmeistkeinProblemdar,abereinehoheBeteiligungkannnichtmiteinerentsprechendenWir-kunggleichgesetztwerden.BeiderVielzahlvonOrganisatio-nen und Einzelpersonen, die inzwischen diese Kampagnen-formennutzen,bestehtdieGefahr,dassdiedamitverknüpftenBotschafteninderMassederPetitionenundMassen-E-Mailsuntergehen.
dr. Kathrin voss
ist Lehrbeauftragte am Insti-tut für Journalistik und Kommunikationswissenschaf-ten sowie am Institut für Po litische Wissen schaften der Universität Hamburg. Als freie Beraterin unter stützt sie Non-Profit-Organisa-tionen u. a. bei der Öffentlich-keitsar beit. www.kathrinvoss.de
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Das flüchtige Wissen der Welt
06DasWissenimInternetistdynamisch.Esistflüchtig.Esistvo-latil.EsändertjedenTagseineGestalt.WirwissenwenigüberseineQuellen,überdiedahinterstehendenInteressenundsei-neGlaubwürdigkeit.Gewiss:DieTatsache,dassWissensichän-dertundaufeinenaktuellenStandgebrachtwerdenmuss,istnichtneu.DasTempo,indemessichändert,hingegenschon.DerNutzerdesInternetsverliertdadurchdieSicherheitunddasVertrauenindenStandseinesWissens.UnserWissenhatnurbiszumnächstenKlickBestand.
DasbesteundanschaulichsteBeispielistWikipedia:BeieinemWikipedia-Artikelwissenwir–andersalsbeieinemEin-traginderEncyclopaedia BritannicaoderdemBrockhaus –zukeinem Zeitpunkt,ob das,was wir gerade lesen,Unsinn istundineinigenSekunden,MinutenoderStundenvoneinemanderenUserkorrigiertwird.Essprichteinigesdafür,dassdieBehauptungderBetreibervonWikipediastimmt:FehleroderfalscheAussagen,dieeinAutoreingestellthat,werdenvonan-derenAutorenmitderZeitkorrigiert.ImDezember2005ver-öffentlichtedieangeseheneWissenschaftszeitschriftNatureeineStudie.ExpertenhattenArtikelinderEncyclopaedia Bri-tannica und in Wikipedia auf Fehler untersucht.Wikipedia-ArtikelenthieltendurchschnittlichvierFehler,solcheinderEncyclopaedia Britannicadrei.
AllerdingskannderLeserderEncyclopaedia Britannicadavonausgehen,dassbiszurnächstenAuflagedesLexikonsdieZahlderFehlerzujedemgegebenenZeitpunktstabilist.Gedruckte Enzyklopädien repräsentierten nach ihrem eige-nenSelbstverständnisstetsden„StanddesWissens“.Dasistvorbei,dennesgibtkeinen„StanddesWissens“mehr.DerNut-zergehtzueinembestimmtenZeitpunktinsNetzundschlägtbeiWikipedianach.ObereinenMomenterwischt,indemeraufeinefalscheBehauptungstößt,odernicht–daskannernichtwissen.WährendderNutzeralsoandenBrockhausmiteinem (später vielleicht enttäuschten) Grundvertrauen her-
von marKus reiter
Warum wir in der Informationsflut
Selektionsmechanismen brauchen
4746
antretendarf,müssteeranWikipediamiteinemgrundsätz-lichenMisstrauenherantreten.Ichwagezubezweifeln,dassderdurchschnittlicheUserdastut.ImGegenteil:ErüberträgtdasVertrauen,daserbisherineinLexikonwiedenBrockhaus hatte,aufeineInternetenzyklopädiewieWikipedia.Dasbestä-tigenzahlreicheStudienzurInternetnutzung.WoherdasWis-senkommt,darübermachensichvieleInternetnutzerkeineGedanken.DieDigitalNativesnicht,weilsiesichsolcheFragensowiesoseltenstellen,dieDigitalImmigrantsnicht,weilsieausGewohnheitWikipediagenausobehandelnwieeinLexi-kon,dasvoneinerwissenschaftlichenRedaktionbetreutwird.NachdemTodderaltenMedienwieBücher,ZeitungenundZeitschriftendrohenjedochzwischengeschaltetenInstanzenwieRedaktionen,aufdiesichderUserinderaltenWeltver-lassenhat,zuverschwinden–eristinmittenderFülleeinersichstetswandelndenInformationkünftigaufsichalleinge-stellt.
NatürlichmussmaneinesolcheEntwicklungnichtnegativse-hen.EinigeVertreterderneuenInternetweltfreuensich,dassmitdemEndederaltenMedienangeblicheinInformations-monopolgefallensei.SoschreibtzumBeispielderBloggerAle-xanderKahlinseinemBlogmitdemTitel„ProbefahrersPony-hof“imtypischenBlog-Ton(SchreibungwieimOriginal):
„EinefreieMeinungsäußerungscheinteinigenHerr-schaftenausderJournalismusbranchenurrechtzusein,solangesiedieEinzigensind,diesieimgroßenStilinAnspruchnehmendürfen.Mitdenbröckeln-dentechnischenHürden,schnellererVerbreitungs-zeitundgroßerReichweitevonBlogs,TwitterundCo.ist die Meinungsäußerung und -bildung nichtmehrnurderschreibendenZunftüberlassen.Klar,dassdasnichtgernegesehenwird.“
Das flüchtige Wissen der Welt
marKus reiter
IndiesemZusammenhangführendieApologetenderneuenMedienweltoftdasWort„Zensur“imMunde.NatürlichkannmandieSelektion,diedurchdiealtenMedienvorgenommenwurde,alseineFormderZensurbetrachten.EskameninderTat nicht jede Meinung und jede Information durch und esgabzahlreicheFälle,indenentatsächlichInformationenauspolitischen oder wirtschaftlichen Interessen verschwiegenodermanipuliertwurden.Daswarimmerschoneineindeu-tigerMissbrauchdesSystemsJournalismusundwidersprachseinen ethischen Grundsätzen.Man muss zwei Fälle unter-scheiden,indeneneineMeinungindentraditionellenMedi-enverschwiegenwurde:
Echte Zensur.OffeneZensuristineinemdemokra-tischenRechtsstaatwiederBundesrepublikselten.Niemandwirdjedochbestreiten,dassmächtigeIn-teressengruppenvorderdrittenMedienrevolutionunliebsameInformationenundMeinungenunter-drückenkonnten.VieleZeitungenundZeitschriftenwarenzumBeispielvonAnzeigenkundenabhängig,dieungnädigzustimmennichtratsamerschien.Ver-legermitMonopolzeitungenneigtengelegentlichdazu, unliebsame Ansichten in ihren Blättern zuverbieten.InformationsmonopolewerdendurchdiedritteMedienrevolutionverschwinden.Jeder,deret-waszusagenhat,kannes–imRahmenderGeset-ze–ineinemBlogoderaufeinerWebsiteveröffent-lichen.DasistgutsounddieseFreiheitsolltemital-lemNachdruckverteidigtwerden.
Vermeintliche Zensur.Viele Menschen sind mitdemVorwurfderZensurschnellbeiderHand.Meis-tenswirdesalsZensurempfunden,wenndieeigene Meinung nicht oder nicht gebührend berücksich-tigtwird.
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Ein Beispiel aus meinem Wohnort Stuttgart mag dies illus-trieren.DortsollineinemGroßprojektmitdemNamen„Stutt-gart21“derHauptbahnhofunterdieErdeverlegtunddieBahn-streckenachUlmausgebautwerden.Seitdemwerdendiebei-denörtlichenTageszeitungenmitLeserbriefenundForums-einträgenauf ihrer Internetseiteüberhäuft, indenendieei-nenderRedaktionvorwerfen,einseitigfürStuttgart21zuseinundGegenstimmenböswilligzuverschweigen,unddiean-deren,einseitiggegenStuttgart21zuseinundallePro-Argu-mentezuignorieren.
EsgibtnichtallzuvieleMenschen,dielautwegenangeb-licherZensurprotestieren,wenndieGegnerdereigenenAn-sichtnichtausreichendzuWortkommen.InderneuenInter-netweltstehtallesnebeneinander,scheintallesaufdenersten
Blickgleichberechtigt,allesgleichwertvollzusein.Eindubio-ser Beitrag über Bachblüten-Therapie steht neben einemanspruchsvollenmedizinischenFachartikel,wüsteBeschimp-fungensämtlicherPolitikernebenklugenAnalysen,wirreVer-schwörungstheoriennebenerhellendenunddurchdachtenEr-klärungen.Werwill,magdasalsradikaleDemokratiebezeich-nen.ImGrundgesetzderBundesrepublikDeutschlandstehtderwunderbareSatz:„EineZensurfindetnichtstatt.“DieInter-netapologeten würden vermutlich am liebsten dazuschrei-ben:„EineSelektionfindetnichtstatt.“
FürdenNutzerwirddasLebendadurchnichteinfacher.EsistnämlichweiterhinbeidenmeistenMenschenunbestrit-ten,dassesgutbegründeteundwenigergutbegründeteMei-
Das flüchtige Wissen der Welt
marKus reiter
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht der wun-
derbare Satz: „ Eine Zensur findet nicht statt.“ Die Internet-
apologeten würden vermutlich am liebsten dazuschreiben: „ Eine
Selektion findet nicht statt.“
nungengibt,dassesFaktengibt,diemitderrealenWeltüber-einstimmen,undsolche,dienichtrichtigsind.IrgendjemandmussdieseunterschiedlicheQualitätvonInformationerken-nenundnachdemAschenputtel-Prinzipbewerten:dieGutenins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.Wenn dieser Ir-gendjemandnichteinVertreterderaltenMedienoderderkul-turellenInstanzenist,denenwirdiesbislanganvertrautha-ben,dannmussesderInternetnutzerselbstmachen.Ansätzedazusindbereitszubeobachten:VielejüngereUserbenutzensozialeNetzwerkewieFacebookalsSelektionsmechanismusnachdemMotto:„WennmeineFreundemichdortdaraufauf-merksammachen,wirdeswohlwichtigsein.“
WirhabenesalsonuninderneuenInternetweltmitzweiAs-pektenzutun:mitderVolatilitätdesWissensundmiteinemUser,dermitderFüllederInformationenfertigwerdenmuss,dersortierenundeinordnensoll,waserausdemNetzerfährt.In dieser Situation bedarf der Internetnutzer der Entschlie-ßungunddesMutes, sichseineseigenenVerstandes zube-dienen,undeinesWissensdarüber,wiemanInformationenverifiziert.AußerdemkostetesvielZeitundeineMengeMühe,dieserAufgabegerechtzuwerden.Umalldassinnvollzukön-nen,istalsGrundlagevorallemeinesnötig:Bildung.
BildungbezeichnetnichtnurWissen,sondernauchdieFähigkeit,neuesWissenaufderGrundlagealtenWissensinei-nenKontexteinzuordnen.Ironischerweisezertrümmertgera-dedasInternetunserebisherigeVorstellungvonBildung.DieEntwicklungandenSchulenundUniversitätenerreichtgenaudasGegenteildessen,wasinderInternetweltnachdemSter-benderaltenMediennotwendigwäre.Bildung inDeutsch-landwirdkurzatmigerundorientiertsichstärkeranWissenalsanVerstehen.
DasWissenistausderSichteineseinzelnenMenschenunendlich.EbensobietetdasInternetnahezuunendlichviel
5150
Platz,umalldiesesWissenabzulegen.Nichtunendlichisthin-gegendieFähigkeitdesMenschen,diesesWissenauszuwer-ten,zubewertenundesletztlichfürseineZweckezunutzen.InmanchenFällenfehltihmdieKompetenz,indenmeistenFäl-lendieZeit.InWirklichkeitistderInformationsüberflussimInternetkeinSegen,sonderneinFluch.SowiederTraumvomSchlaraffenlandzumAlbtraumwird,weildortdieMenschen
fettundbräsigwerden,soleidendieMenschendurchdasIn-ternetanÜberfütterungmitWissenundInformation.EsistkeinZufall,dasssichdieInternetnutzerfastausschließlichandenerstendreibisfünfFundenbeiGoogleorientieren.Dabeiistesfraglich,obessichbeieinemsolchenVorgehenumeineklugeStrategiebeimUmgangmitInformationhandelt.InderTathatderInternetuserkaumeineandereMöglichkeit,alsir-gendeinenSelektionsmechanismuszunutzen.
DieMenschenjammernseitderAntike,dasseszuvielWisseninderWeltgebeundmaneskaumnochüberblickenkönne.Heuteabergibtesviel zu vielWissen.MeineTantehateinmalmirgegenübergeklagt,siehabedenFocusabbestellenmüssen.ErseieinfachzudickundsiefindenichtdieZeit,ihnzulesen.AuchalsVolontärderFuldaer ZeitungundalsFAZ-RedakteurtrafichgelegentlichMenschen,diesichbeschwer-ten,dieZeitungseivielzudick,umsiemorgenszulesen.
Der Internetnutzer heute hat nur zwei Möglichkeiten,ummitderFülleanWissenfertigzuwerden:EntwederermussZeitundMüheinvestieren,umselbstdasGutevomSchlech-ten, das Wichtige vom Unwichtigen, das Lesenswerte vomSchrottzutrennen.Oderermussanderedamitbeauftragen.Daskann,wiegesagt,überdieFreundebeiFacebookgesche-henoderindemmanGeldfür journalistischeDienstleistun-
Das flüchtige Wissen der Welt
marKus reiter
Kostenloses, selektiertes und aufbereitetes Wissen kann es
auf Dauer nicht geben!
genausgibt.WasvieleMenschen,besondersdieApologetendesfreienInternets,nochnichtverstandenhaben:Kostenlo-ses,selektiertesundaufbereitetesWissenkannesaufDauernichtgeben!GeradeweildasSortierenundAufbereitenvonWissenZeitundMühekostet,mussderEinzelnedafürbezah-len,wenneresnichtselbermacht.Solltesichniemandfinden,derbereitist,fürdieseDienstleistungzubezahlen,wirdsienichtangebotenwerden.DannmüssenwiralledieseAufga-beselbstübernehmen–undwerdenimZweifelaufdieerstendreiFundevonGooglezurückgreifen.
marKus reiter
unterstützt mit seinem Stuttgarter Büro „Klardeutsch“Zeitungen, Zeitschriften und Internetredaktionen beim Medienwandel. Sein Buch Dumm3.0–WieTwit-ter,BlogsundNetworksunsereKulturbedrohen er-schien 2010 im Gütersloher Verlagshaus. www.klardeutsch.de
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Das Recht, am Wissen der Menschheit teilzuhaben
07Das gesamte Wissen der Menschheit sammeln und jeder-mannfreizugänglichmachen–mitdieserIdeestartete2001dasPortalWikipedia.InzwischenistdieOnline-Enzyklopädiemitweitmehrals450MillionenBesuchernimMonatdiewelt-weitgrößteWissenssammlungundwirdvonSchülern,Leh-rern,Politikern,Wissenschaftlern–kurz–vonunsallengenutzt. DochwiefunktioniertWikipedia?WelcheBedeutunghatderfreieZugangzuWissenfürunsereGesellschaftundwiegehenwirkritischmitWahrheitundWissenum?
IndenvergangenenzehnJahrenistdasInternetzumzen-tralenMediumder Informationsbeschaffunggeworden.1Zu-vorbestand dieHerausforderung darin,Quellen zubeschaf-fen,umWissenzuerhalten.HeuteliegteinweithöhererAn-spruchaufdemFiltern,AuswählenundBewertendermeistumfangreich vorhandenen Informationen.2Im Hinblick aufbildungsrelevanteInhalteistwohlkeinePlattformimInternetvonsolcherBedeutungwiedieWikipedia.IndeutscherSpra-chebietetsie inzwischenweitüber 1,3MillionenEinträge–ausgedrucktsinddiesmehrals670BändeimLexikonformat. WerkzeugewieWikishabenesleichtgemacht,überDin-ge zu schreiben und dieses Wissen zu veröffentlichen. DerGrundgedankeeinesWikisistes,dassjederallesbearbeitenkann,jederkannzugleichLeserundAutorsein.InderWiki-pediazumBeispielspielteskeineRolle,wereinenEnzyklopä-dieartikelangefangenhat.DerNutzerbrauchtnurauf„Bear-beiten“zuklicken,Änderungenvorzunehmen,zuspeichernundschonisteinTextveröffentlicht.DiesekollaborativeAr-beitsweisemachtWikissoreizvoll.MitArtikelnzuThemenwiederNuklearkatastropheinFukushima,denAnschlägenin Norwegen oder den landesweiten Aufständen in Libyenzeigtsich,dassWikiseineeinfache,aberweitreichendeGele-genheit zum Veröffentlichen und Austauschen von Infor-mationen bieten. Damit erzeugt Wikipedia eine Umlaufge-schwindigkeitvonInformationen,diekeineRedaktionindie-
Unterschätze nie, was eine kleine Gruppe engagierter Menschen
tun kann, um die Welt zu verändern. Tatsächlich ist das das
Einzige, was je etwas bewirkt hat. (Margaret Mead)
von seBastian
moLesKi
1 Siehe dazu in dieser Publi- kation: Herbold, Dr. Astrid: Der Wandel der Wissens- gesellschaft, S. 59 ff.
2 Siehe dazu in dieser Publi- kation: Özoguz, Aydan: Medienkompetenz – Her- ausforderung in der di- gitalen Gesellschaft, S. 31 ff.
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serSchnelligkeitundmitvergleichbaremFachwissenleistenkönnte.NachrichtenmeldungenwerdeninBlogsundDiskus-sionsbeiträgenverarbeitet,perE-MailundChatweitergelei-tetundinWikipedia-Artikeleingebaut.
MitdieserneuenInformationsweltgehteinParadigmen-wechselfürunsereGesellschafteinher.NeueKompetenzenwerdengefordert,diebishernurwenigenvermitteltwurden.Das Zauberwort heißt: Medienkompetenz.Richtige von fal-schenInformationenunterscheidenzukönnenverlangtKom-petenzen,dieerlerntundangewendetwerdenmüssen.Früher
hießes,manmussnichtalleswissen,manmussnurwissen,woessteht.Inunsererstarkdezentralisierten,digitalenInfor-mationsweltmussmannichtnurwissen,woetwassteht:Manmussauchwissen,wiemanmitdieserInformationumgehtbzw.wievieldieInformationwertist.
WikimediaDeutschlandsiehtsichhierinderVerpflich-tung,denkritischenBlickvorallemaufdieimRahmendeseigenen Angebots bereitgestellte Information zu schärfen,undhatu.a.dasWikipedia-Schulprojekt insLebengerufen.DasProjektsollSchülernwieLehrerndieStärkenundSchwä-chenderWikipediaverständlichmachen.Zielistes,durchAuf-klärungfürdenAbbauvonVorurteilenzusorgen,ersteKennt-nissezudenMethodenundStrukturenderWikipediazuver-mittelnunddenrichtigenundkritischenUmgangmitdemOnline-Lexikonzuschulen.
Damit erzeugt Wikipedia eine Umlaufgeschwindigkeit von
Informationen, die keine Redaktion in dieser Schnelligkeit
und mit vergleichbarem Fachwissen leisten könnte.
Nachrichtenmeldungen werden in Blogs und Diskussionsbeiträgen
verarbeitet, per E- Mail und Chat weitergeleitet und in
Wikipedia-Artikel eingebaut.
Das Recht, am Wissen der Menschheit teilzuhaben
seBastian moLesKi
Der Umgang mit der Wissensquelle ist nach wie vor ein schwieriges Thema
WährendWikipediavielWertdarauf legt,diezitiertenWis-sensquellenanzugeben,übernehmendieMedienhäufigunge-nanntFaktenausdemLexikon.WerdendabeiFehlergemacht(BeispielfalscherGuttenberg-Vorname),istdieKritiküberdiemangelndeQualitätundZuverlässigkeitvonWikipediagroß.DabeigibtesMöglichkeiten,sichalsJournalistderZuverläs-sigkeitderAngabenzuversichern–selbstwennkeineande-renQuellenzurVerfügungstehen.Dassetztabervoraus,dieFunktionsweisedesLexikonszuverstehen.Diesebestehtda-rin,diefalschenAngabeneinesArtikelsselbstzukorrigieren.Wer einen Fehler entdeckt und diesen verbessert, tut nichtnursichunddennachfolgendenLeserndamiteinenGefallen.ErverstehtaufdieseWeiseauchbesser,wiedasLexikonfunk-tioniertundwoHinweiseaufweitereQuellenzufindensind. SchautmanbeispielsweiseindieVersionsgeschichteei-nesArtikels,sokanndieHistorieAuskunftdarübergeben,wel-cheAutorenbestimmteEinträgegemachthaben.DortkannderLeseraußerdemganzgenausehen,welcheÄnderungenvorgenommenwurden.InhaltlicheKontroversenoderderAus-tauschüberRelevanzsindhäufigThemaaufderDiskussions-seite,dieeszujedemArtikelgibt.Darüberhinaussinddievonder Autorengemeinschaft gewählten„exzellenten“und„le-senswerten“ArtikelvonguterQualitätundbesitzenhoheVer-trauenswürdigkeit,dasiemeistvonzahlreichenAutorenüber-prüftwurdenundQualitätskontrollendurchlaufenhaben.
Die internationale Bewegung wächst weiter
Der Zugang zu freiem Wissen ist längst nicht überall eineSelbstverständlichkeit.Wikipedia,inzwischeneinEnzyklopä-dieprojekt mit über 20 Millionen Artikeln in 280 Sprachen,
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stehtnocheine langeExpansionsphasebevor. InvielenGe-gendenistderZugangzuWissenundBildunghistorischbe-dingtimmernochLuxus.MenscheninEntwicklungsländern,diedurchdieneueKenntnismodernererProduktionsmetho-deneffizienterarbeitenundihreneigenenStatusverbessern,durcheineumfassendereBildungihreGesellschafttransfor-mierenundweiterentwickelnwollen,diemitdemEhrgeizaus-gestattet sind, ihre Umgebung positiv zu beeinflussen, kön-nenmitdenneuenWerkzeugendesInternetszumerstenMalindieLageversetztwerden,diesenTraumzurealisieren.Esliegtnunanuns,dafürzusorgen,dassihnendieseMöglichkeitnichtverwehrtwird.DiegroßeHerausforderungfürunsallewirdessein,diejenigenindieneueWissensgemeinschaftzuintegrieren,dietraditionellkeinenZuganghaben.Auchhier-fürsetztsichWikimediaDeutschlandeinundunterstütztin-ternationale Projekte wie den Fotowettbewerb‚„Wiki lovesMonuments“odervergibtStipendienanehrenamtlicheMit-arbeiterzurTeilnahmeanglobalenTreffen.
Das Recht, am Wissen der Menschheit teilzuhaben
seBastian moLesKi
Wikimedia Deutschland wurde im Mai 2004 von Autoren der Wikipedia in Berlin gegründet. Heute hat der gemeinnüt-zige Verein über 1.400 Mitglieder, eine effizient arbeitende Ge-schäftsstelle und ein umfangreich ausgebautes Rechenzent- rum, das Nutzern nicht nur europa-, sondern weltweit den Zu-gang zu freiem Wissen im Internet ermöglicht. Rund 20 Mitar-beiter kümmern sich bei Wikimedia Deutschland hauptamt-lich um Spendengewinnung, Presse- und Öffentlichkeitsar beit, Erstellung von Informations- und Aufklärungsmaterial, Frei-willigenförderung, Planung und Organisation von Veran stal-tungen zur Förderung freien Wissens sowie der technischen Infrastruktur. Auf Basis dieser schlanken Personaldecke unter-stützt der Verein das rasante Wachstum der Wikipedia und der weiteren Wikimedia-Projekte. Wikipedia und die Schwesterpro- jekte sind werbefrei und unabhängig und basie ren ausschließ- lich auf ehrenamtlichem Engagement und Spenden.
Eine Bewegung für freies Wissen ist eine Bewegung für Men-schenrechte und für soziale Veränderung. Jeder kann dazu et-was beitragen: ob durch Geld-, Zeit- oder Wissensspenden.
Helfen Sie uns in unserer Mission, den freien Zugang zu Wis-
sen und Bildung überall zur Selbstverständlichkeit zu machen.
seBastian moLesKi
ist Vorsitzender des gemein-nützigen Vereins Wiki-media Deutschland – Gesell-schaft zur Förderung frei-en Wissens e. V. Moleski lebt in München und ist dort seit 2009 Geschäftsführer des Domain-Registrars Net-Service24. www.wikimedia.de
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Der Wandel der Wissensgesellschaft
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08WirlebenineinerWissensgesellschaft.Odergenauergesagt:WirlebenineinerGesellschaft,dieübersichselbstgernebe-hauptet,dasssieeineWissensgesellschaftist.Wissensgesell-schaft klingt ja auch deutlich besser als Halbwissensgesell-schaft.OderSpektakelgesellschaft,Eventgesellschaft,Konsum-gesellschaft.Dasistmöglicherweiseauchzutreffend,aberal-lessowahnsinnignegativkonnotiert.DerRufderWissensge-sellschaftdagegenisttadellos–unddabeiangenehmschwam-mig. „Relativ sorglos“, schreibt der Philosoph Konrad PaulLiessmann,„wirddeshalbauchinderpolitischenRhetorikderBegriffderWissensgesellschaftdemderInformationsgesell-schaftgleichgesetzt.“2
DeröffentlicheMythosgehtso:MenschplusEndgerätplusfreieInformationausdemWWWgleichWissensgesell-schaft.DieOnline-EnzyklopädieWikipediahatdaraussogarihrenSchlachtrufgemacht:FreiesWissenfüralle!Wasgenauistdamitgemeint?IstWissen„frei“,wennesunterfreierLi-zenzveröffentlichtwird,alsoungestraftkopiertundweiter-verwendetwerdendarf?Odermeint„frei“inersterLinieum-sonst,ohneZugangs-,Erwerbs-oderAbokosten?AberwasistdannmitdenMenschenohneFlatrateundEndgeräte?NochimmerhabenlautStatistischemBundesamt17ProzentallerDeutschenzwischen17und74JahrenkeinerleiKontaktzumInternet.Essindvorallemältere,bildungsferneundeinkom-mensschwache Bevölkerungsschichten.3Für sie ist der Zu-gangzumNetznichtfrei,sondernteuer.Zuteuer.
WerüberdenSiegeszugderWissensgesellschaftredenwill,derdarfüberaltegesellschaftlicheGräbennichtschwei-gen.DenndieGrenzenverlaufennicht,wieoftsuggeriert,zwi-schendenFacebook-begeisterten„DigitalNatives“undihrenumDatenschutzbesorgtenEltern,sondernzwischendemgutsituierteniPhone-BesitzerundderHartz-IV-Rentnerin.Oderzwischen dem Blogger mit Hochschulabschluss und demHauptschülermitDyslexie.
von dr. astrid herBoLd
1 http://re- publica.de/11/ blog/panel/das-inter- net-als-gesell schafts be- triebs system/
2 Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Halbbil dung. Die Irrtümer der Wis- sensgesellschaft, Mün-
chen 2008, S. 27.
3 http://www.golem.de/ 1109/86222.html
„Glauben Sie nicht, wenn jemand eine Krankheit hat, dass
der dann zehnmal mehr weiß nach zwei Stunden surfen als sein
Arzt?“ ¹ Gunter Dueck, re:publica 2011
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Der Wandel der Wissensgesellschaft
Trotzdemleugnetniemand,dassfürdiejenigen,dieüberei-nenZugangverfügen–undzwarnichtnurüberdentechni-schen,sondernauchüberdenintellektuellenZugang, Infor-mationen,Fakten,Datenbanken,TexteundStudiendurchdasNetz leichterzugänglich sind.„Wissen“muss nichtmehr inFoliantenformbeimBrockhausVerlaggekauftoderausStadt-büchereiennachHausegeschlepptundfürdieakademischeWeiterverwendungmühsamexzerpiertwerden.Dasgehtjetztschneller.Let’sgoogle,let’süberflieg,let’scopy&paste.
Neulich saß sie abends bei mir am Küchentisch, dieseneueWissensgesellschaft.SiehatteHausaufgabenauf,einRe-feratübereineBerlinerSehenswürdigkeit.„GucktmalimNetz“,hattedieGrundschullehrerinsorglosindenKlassenraumge-rufen.EineMutter(ichwar’snicht!)versuchtedennoch,dieTochter zu einem Besuch des Baudenkmals zu überreden.DieSiebenjährigeweigertesich,ausdemAutoauszusteigen.Schrie immer nur: Im Internet solle nachgeschaut werden,nichtin echt.EndevomLied:WermitMamasHilfeFotosundTextbausteineausdemNetzauszudruckenundaufeinenbun-tenDIN-A3-Kartonzuklebenverstand,bekameineZwei.Werkrakeligselberbuchstabierteundmalte,eineDreiminus.
NatürlichbeweisenpersönlicheAnekdotenerstmalgarnichts.AbersiehelfenbeiderVeranschaulichung.Inderdigita-lisiertenWissensgesellschafthatsichdieBeziehungvonTextundRezipientfundamentalverändert,eswirdandersgesucht,erfasst,verarbeitet.VieleStudierende,konstatiertMedienwis-senschaftlerundPlagiatsforscherStefanWeber,„arbeiten[…]nichtmehrimsemantischenoderpragmatischenBereich,indenBereichenderWortbedeutungoderdesTextverstehens.IhreBeziehungzumTextistnichtmehrinhaltlich-kontextu-eller,sondern‚syntaktisch-editorischer‘Natur.“4WieWikipe-dia das gedruckte Lexikon abgelöst hat und die Google-Re-cherchedenBibliotheksbesuch,soistdieStichwortsucheandieStelledesLesensgetreten–unddieSatzmontageandie
dr. astrid herBoLd
StelledeseigenenSchreibens:„GooglealsTorzurWirklichkeitundCopy/PastealsneueKulturtechnik,diedasgenuineFor-mulierenablöst,beginnenbereitsflächendeckendbeiRefera-tenundschriftlichenArbeiteninderSchule“5,schreibtWeber.
DieSachehat,nebendenimmensenVorteilenfürdasper-sönlicheZeitmanagement,aucheklatanteNachteile.Wernurnochlernt,vorhandeneTextbausteine,dieimschlimmstenFallaus ihren argumentativen Zusammenhängen gerissen undverfälschend weiterverarbeitet werden, zu neuen Collagenzusammenzusetzen,derentwickeltkaumeigeneSprachkom-petenz.AbgesehendavontritteraucherkenntnistheoretischaufderStelle.FüreinenGrundschülermagdasnochkeinBein-bruchsein,füreinenDoktorandenkannesschnellzueinemwerden.
AberdiepolitischenNebenwirkungenvonCopy-&-Paste-PublikationensindnichtdaseinzigeProblemdergoogelndenWissensgesellschaft.DennwasdasgroßeOrakelbeidenMil-lionenSuchanfragentäglichzutagefördert,istjawederzufäl-lignochgleichrangig.DieLeistungdesglobalenMarktführersbestehtinderSortierung.Algorithmenentscheiden,wasre-levantist.SielotendazubekanntermaßenvorallemVernet-zungscluster und Zugriffszahlen aus. Inhalte kann Googlenicht prüfen. Die Qualität kann nur abgeleitet werden ausQuantität:WasvieleNutzeranklickenundvieleWebseitenver-linken,scheintrichtigundwichtigzusein.ErgostehtesaufderErgebnislisteoben.
Hier kommt die Ameisenmetapher ins Spiel. Ameisensinddumm,aberschwarmintelligent.AufderSuchenachdemkürzestenWegzurNahrungsquelleundzurückmarkierensieihreWegemitPheromonen.DerkürzesteWegduftetbaldamintensivsten.UndlocktdamitimmermehrAmeisenan.Bisal-leaufdergleichenStraßehin-undherrennen.MitderGoogle-Wikipedia-Wissensstraßeverhältessichähnlich:WeilWiki-pediaregelmäßigunterdenerstendreiTreffernaufderErgeb-
4 Weber, Stefan: Das Google - Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbil- dung und Wissen gefähr- den, Hannover 2009, S. 40.
5 Ebd., S. 10.
6 Der Journalist Andreas Kopietz hat mit Einfügung des Begriffs „Stalins Bade- wanne“ in den Wiki- pedia- Eintrag zur Berliner Karl-Marx-Allee einen solchen Verselbstständi- gungsvorgang ausge- löst und beobachtet: „Wie ich Sta lins Badezimmer erschuf“, Berliner Zeitung, 24. 03.2011. http://www. berlin- online.de/berliner- zeitung/archiv/.bin /dump.fcgi/2011/0324/me- dien/0012/index.html
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nislisteauftaucht,alsodort,wostatistischgesehendiemeis-tenMenschenhinschauenund-klicken,wirddasLexikonimUmkehrschlussfürdieSuchmaschineautomatischimmer„re-levanter“–undbleibtimRankingbeharrlichoben,auchwennsich möglicherweise irgendwo in den Weiten des InternetsbessereoderaktuellereQuellenfindenlassenwürden.
DiePlatzierunghatalsoFolgenfürdieVerbreitung.Jehö-herdieSuchmaschinenposition,destohöherdieWahrschein-lichkeit,dassderentsprechendeWissensschnipsel,egalobsorg-fältigverifiziertodernicht,sichausbreitetundbinnenkurzerZeitdurchunzähligeweitereTextemäandert.6DieSchwarm-intelligenzforschungnenntdaspositiveRückkopplungoder
„Matthäus-Effekt“:Werhat,demwirdgegeben.Die Wissensgesellschaft spricht gerne von Schwarm-
intelligenz, es ist eines ihrer Lieblingswörter.Aber wer dieSchwarmintelligenzbeschwört,dermussauchdieEffektederviralenAusbreitungerwähnen.ErmussübergoogelndeBlick-feldverengungdiskutierenundanfangen,überdieKanonisie-rungdurchQuantifizierungzustreiten.Dieneuen„Wissens-arbeiter“,egalobSchüleroderDoktoranden,müsseneinVer-ständnis dafür entwickeln, wie im Netz aus individuellenTrampelpfadenAutobahnenderMassenwerden.WiedieAuf-merksamkeit gelenkt, wie Quellen „gerankt“werden. WieMathematik (Algorithmen) und Psychologie (Ungeduld) zu-sammenwirken–undzwaroftzuungunstendeskritischenHinterfragensoderderjournalistischenoderwissenschaftli-chenGenauigkeit.7
Gegen Suchmaschinen-Halbwissen helfen nur Akribie,Vertiefung,Serendipity.Nötigseivorallem„eineWiederan-eignungvonZeit“,schreibtMedientheoretikerGeertLovink.Zeitaberist–wieAufmerksamkeit–inderdigitalenGesell-schaftteuerundrar,eineharteWährungeben:„Unseretech-nokulturelle Grundhaltung ist eine zeitliche Intoleranz. […]Wennwirunzufriedensind,klickenwirweiter.“8Undsuchen
7 Eine Studie von James A. Evans kommt sogar zu dem Schluss, dass wissen - schaftliche Untersuchun- gen, die hauptsächlich auf digital verfügbare Se- kundär literatur zurück- greifen, eher dazu neigen, mit weniger (und immer mit den glei chen) statt mit mehr und unterschied- lichen Quellen zu arbeiten. Vgl. Evans, James A.: Elec- tronic Publication and the Narrowing of Science and Scholarship. In: Sci- ence, Vol. 321, 18. 07. 2008. 8 Lovink, Geert: Die Gesell- schaft der Suche. Fragen oder Googeln. In: Becker, Konrad / Stadler, Felix ( Hrsg.): Deep Search. Poli- tik des Su chens jenseits von Google, Bonn 2010, S. 53– 63, hier 62.
9 Bei dem Berliner Schrift- steller Wolfgang Herrndorf wurde im Februar 2010 ein unheilbarer Gehirntu- mor festgestellt, seitdem führt er ein Online-Tage- buch. http://www. wolfgang-herrndorf.de/ 2010/04/vier/
Der Wandel der Wissensgesellschaft
dr. astrid herBoLd
lieber nach Abkürzungen. Für Ameisen mag das eine guteÜberlebensstrategiesein,alsGrundlageeinerproduktivenBil-dungs-undForschungsgesellschafttaugtdieHaltungnicht.
WasalsobleibtvomMythosderneuen,digitalenWissens-gesellschaft?JosephWeizenbaum,derskeptischgewordeneIT-Pionier,plädiertdafür,nichtdieServer,sonderndieRezipien-tenindenFokuszurücken:„DieSignaleimComputersindkei-neInformationen.Essind‚nur‘Signale.UndesgibtnureinenWeg,ausSignalenInformationenzumachen.NämlichdieSi-gnale zu interpretieren.“Wissen hätte demnach nur wenigmitdemvielbeschworenen„Wissen-wo-es-steht“zutun.EsistvielmehreinezeitaufwendigeStrategie,Informationenzufinden,zuverstehen,zuüberprüfen,zubeurteilen,zufiltern,zureflektierenundzukritisieren.WissenisteinBündelhoch-komplexerKulturtechniken.NiemanderwirbtdasinzweiStun-dennebenbei.Genausowenig,wiemandurcheinbisschenGoo-gelnFranzösischlernt.OderKlavierspielen.OderKrebsheilen.
„ Der Onkologe Dr. Vier nimmt die Studie zu Cilengitid, Oncovir
und Talampanel auseinander, die ich ihm ausge druckt habe.
Phase-II-Studie mit noch nicht zugelassenen Medikamenten, wa-
rum ist das am Ende nicht mal nach Medikament aufgeschlüs-
selt? […] Er spricht von Avastin, ebenfalls Angiogenesehemmer
und ohne Zulassung in Deutschland, das er, wenn es so weit
ist, mit Ausnahmeregelungen bei der Krankenkasse beantragt.
Aber es ist gut, daß ich gefragt habe. Ich habe das Gefühl, in
guten Händen zu sein und mich mit der Sache nicht mehr be-
fassen zu müssen. […] Ende des Googelns.“9(Wolfgang Herrndorf)
dr. astrid herBoLd
arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. 2009 erschien ihr Buch DasgroßeRauschen–DieLebenslü-gederdigitalenGesellschaft im Droemer Verlag. Herbold schreibt u. a. für den Ta-gesspiegel,ZEITOnline sowie SpiegelOnline. www.astrid-herbold.de
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Blogger und die Meinungsvielfalt im Internet
09Bertolt Brecht hätte sicherlich große Freude am Internet.Denn es bricht die Sender-Empfänger-Beziehung des Rund-funksaufundlässtBrechtsVision,dassjederEmpfängerauchSenderseinkann,realistischerscheinen.TeilweiseistdiesauchtatsächlichbereitsheuteRealität.SchließlichistesprinzipielljedemNutzermöglich,mitrelativwenigtechnischemundfi-nanziellemAufwandselbstInhaltezuerstellenundzupubli-zieren.EinWeblog(kurz:Blog)lässtsichinwenigenMinuteneinrichtenundbefüllen.Dasalleinjedochgenügtnicht,umdieherkömmlicheSender-Empfänger-Hierarchieaufzubrechen–nicht,wenn es zwar viele Sender gibt, der Empfänger aberstummerKonsumentbleibt.
Es ist die Gesamtkonstellation der Blogs, ihrer Verbin-dungen und ihrer lebhaften Kommentarkultur, die BrechtsWunschnachKommunikationundAustauschvonSenderundEmpfängerermöglicht.Blogs,dieüblicherweisenichtnurein-fachInhaltehinausposaunen,sondernuntereinandervernetztsind,bildeneineVielzahlanGemeinschaften,diesogenannteBlogosphäre.SozialeNetzwerkeundMikroblogging-DienstewiederKurznachrichtendienstTwitterverstärkendiesenEf-fekt.GleichzeitigsindBlogsgeprägtvoneinernahezuunglaub-lichenVielfaltderThemen:vonderSelbstreflexionderSzeneüberNetzpolitik,Wirtschaft,Wissenschaft,Mode,Prominente,TechnikbiszuPolitikundvielemmehrspiegelnsiedasZeit-geschehenunddenZeitgeistwiderunderlaubenesdenver-schiedenstenSubkulturen,sichuntereinanderzuvernetzen.DarüberhinauserfährtmanprivatesKleinklein,eineMengeUnfugodereinfachdas,wasmanfrüherdenFreundenanver-traute–undheuteebendemöffentlichenTagebuch.AlldasbietetbislangMöglichkeitenfürdieMeinungsvielfalt,Plura-litätunddemokratischeTeilhabe.
Dasalleinwürdevielleichtungelesenverhallen,dochdiezuvorerwähnten,oftkritischenundmanchmalexzellentenBetrachtungenüberPolitik,GesellschaftundandereThemen,
von aLvar c. h. Freude
Über den freien Zugang zu Wissen und
die kritische Einordnung von Blogs
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Die Furcht des Journalisten vor dem Blogger ist oftmals auch
die Angst der Zeitungsmacher vor dem Medium Internet.
Freier Zugang zu Wissen! Jederzeit, kostenlos! Das kann doch
nichts sein! Die Tageszeitungs- und Magazinpresse betrachtet
sich als selbst ernannten Gralshüter der Wahrheit.
denensichindenJahrenundJahrzehntenvordenBlogsnurJournalistenimweiterenSinnewidmeten,machtebenjenenheute hin und wieder Angst. Spricht man mit JournalistenüberBlogs,entfährt ihnenhäufigeinreflexartiges„NurwirsindechteJournalisten“,geradeso,alswürdenBloggerdiesvonsichzuhäufigbehaupten.AndereVorurteilederanverschie-densteDruckwerkegewöhntenBerufsschreiberumfassendieangeblich mangelnde Recherchefähigkeit der Blogger, odermanbemängelt,dieseseiennichtausgewogenoderneutralgenug. Allerdings haben auch diesen Anspruch die wenigs-tenBloggeransichselbst.
DieFurchtdesJournalistenvordemBloggeristoftmalsauchdieAngstderZeitungsmachervordemMediumInternet.FreierZugangzuWissen!Jederzeit,kostenlos!Daskanndochnichtssein!DieTageszeitungs-undMagazinpressebetrachtetsichalsselbsternanntenGralshüterderWahrheit.Schonal-lein,wievieleZeitungsmacher–kurzvormBeißkrampf–von
„diesemInternet“reden!DabeiistdieBezeichnung„dasInter-net“sowenigaussagekräftigwie„dasPapier“fürZeitungenundZeitschriften:EsbezeichnetlediglichdenTransportweg.Wasmandarausmacht,bleibtdenjeweiligenAnbieternvon
InformationenoderNachrichtenüberlassen.WennsichJour-nalistenalsofürbesserhaltenals„dasInternet“,mussmanfra-gen:besseralsSpiegel Online,ZEIt Online,dasBild-Blog(daskritischüberdieFehlernichtnurinderBild-Zeitungberichtet),das Blog netzpolitik.org, ein Promi-Klatsch-&-Tratsch-Blog,
Blogger und die Meinungsvielfalt im Internet
aLvar c. h. freude
twitterndeBundestagsabgeordneteoderdieKommentarebeieinemFilmaufYouTube?DasInternetistvielfältig,esbietetalledenkbarenKommunikationsmöglichkeitenmitbeliebigerAnzahlanTeilnehmern,dieEmpfänger,Senderoderbeideszu-gleichseinkönnen.DasInternetistsomitTelefonundRund-
funk,ZeitungundFlugblatt,StammtischundEckkneipe,Uni-VorlesungundTalkshow,KaufhausundBibliothek,ZeitschriftundVideothek–vergleichbaralljenemundnochvielmehr. DieKritikamNetzoffenbartmanchmalerstdiewahrenProblemevielerJournalisten.ZumBeispielimLokaljournalis-mus:HieristkaumnochZeit,sichgutineinThemaeinzuar-beiten,tiefundgründlichzurecherchieren.WirddasgarniertmitdemoftmalslokalüblichenFilzoderderBlattlinie,entste-henwatteweicheGeschichtchen,fürdieeinBloggersowohlvom„echten“JournalistenalsauchvonseinenLesernvielPrü-gelbekäme.OftsinddieSchreibernichteinmalvorOrtbeidenVeranstaltungen,überdiesieanschließendberichten–dannmusszueinemFotoschoneinmaleineGeschichtegestricktwerden.
BesondersdeutlichwurdediesimmerwiederrundumdieProtestegegenStuttgart21.EinBeispiel:BeieinerGelegen-heitversammeltensichDemonstrantenvordembekanntenVeranstaltungsort„Liederhalle“undprotestiertengegenBahn-chefGrube,derdrinneneineRedehielt.IndenlokalenZeitun-generschienenFotosunddieBildunterschriftlautetesinnge-mäß,PolizistenhätteneineErstürmungderHalleverhindernmüssen.Tatsächlich hat – auch bevor die Polizei überhaupt
Das Internet ist somit Telefon und Rundfunk, Zeitung und.
Flugblatt, Stammtisch und Eckkneipe, Uni-Vorlesung und Talk-
show, Kaufhaus und Bibliothek, Zeitschrift und Videothek –.
vergleichbar all jenem und noch viel mehr.
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wäre oft nicht einmal schwer, denn der durchschnittliche Blog- ger ist zwar meist schneller, oft besser informiert und näher am Geschehen, aber genauso häufig ist seine Sicht einseitig gefärbt. Während der Journalist – eigentlich – verpflichtet ist, eine Sache von allen möglichen Gesichtspunkten aus zu be-trachten, ist der Blogger häufig parteiisch, was seine Aussa-gen aber nicht grundsätzlich unglaubwürdig oder gar falsch macht.
Neutral sind die meisten Blogger also nicht. Blogs sind oft-mals eine dauerhafte Kommentarspalte. Sie haben auch nicht den Anspruch der kompletten Neutralität. Aber sie haben in der Regel den Anspruch, umfassend zu informieren und dem
Leser die Möglichkeit zu geben, weiter zu recherchieren. Bei Blogs gilt der Grundsatz: Quellen werden verlinkt. Daher fan-gen viele Blog-Artikel auch nicht jedes Mal bei null an, son-dern steigen mittendrin ein – was für den neu einsteigenden Leser oftmals schwer ist; er muss dann erst einmal verschiede-ne andere Artikel lesen. Und natürlich ist das eine Blog glaub- würdiger als das andere, das eine neutraler als das andere und das nächste professioneller als das andere.
Die Gegenöffentlichkeit, die den Journalisten im Internet.
begegnet, ist für sie oft nur schwer erträglich und.
wenig glaubwürdig: Ein Filmmitschnitt und daran anschließen-
de Kommentare in den sozialen Netzwerken gelten.
als weniger glaubwürdig als die Pressemeldung einer politi-
schen Partei. Dabei sollte dies doch ein Ansporn sein,
sich wieder auf die Wurzeln echten Journalismus zu besinnen –.
dort sein, wo etwas geschieht, mit allen reden, neutral.
berichten. Einfach besser sein als das, was man dem Blogger.
von nebenan unterstellt.
vor Ort war – niemand auch nur versucht, den Ort zu „stür-men“. Im Zeitalter allgegenwärtiger (Handy-)Kameras und Online-Video-Plattformen lässt sich das nur allzu leicht nach-verfolgen, die lokale Presse aber bleibt bei ihrer selbst erfun-denen Darstellung oder berichtet allenfalls verschämt, dass sich ein „kleiner Fehler“ in der Interpretation beim Leser ein-geschlichen habe.
Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und Berichterstattung ist daher besonders in Stuttgart groß. Dem Projekt Stuttgart 21 (S21) wohlgesinnte Medien, die bei den vielen Veranstaltungen der S21-Gegner und - Befürworter kaum vor Ort recherchieren, treffen auf eine gut vernetzte und organisierte Szene, die vorschnelle Behauptungen sehr schnell widerlegen kann. Mithilfe sozialer Netzwerke wie Twitter und Facebook verbreiten sich Informationen oder Video-Mit-schnitte rasant. Über die Hetzrede des Pfarrers, der Anders-denkende aus der Stadt vertreiben will, konnte man nichts in der örtlichen Presse lesen, sie aber im Internet anschauen. Acht von einer Böllerexplosion angeblich schwer verletzte Po-lizisten standen bei ebendieser Explosion weit entfernt und haben sich nicht gerührt – auch hier ist das Video online auf-findbar, die örtliche Presse verbreitet weiter die offizielle Dar-stellung der Polizei.
Vertrauen schaffen die Medien so nicht, die sachliche Be-richterstattung kratzt oftmals nur an der Oberfläche. Die Ge-genöffentlichkeit, die den Journalisten im Internet begegnet, ist für sie oft nur schwer erträglich und wenig glaubwürdig: Ein Filmmitschnitt und daran anschließende Kommentare in den sozialen Netzwerken gelten als weniger glaubwürdig als die Pressemeldung einer politischen Partei. Dabei soll-te dies doch ein Ansporn sein, sich wieder auf die Wurzeln echten Journalismus zu besinnen – dort sein, wo etwas ge-schieht, mit allen reden, neutral berichten. Einfach besser sein als das, was man dem Blogger von nebenan unterstellt. Es
Blogger und die Meinungsvielfalt im Internet
AlvAr C. H. Freude
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In den Online-Medien vieler herkömmlicher Medienhäusergiltdagegennochimmer:DieQuellenwerdenverschwiegen.SelbstbeimZitat„ZeitungXYZberichtetinihrerOnline-Ausga-be,dass…“wirdnichtdirektaufdasOriginalverwiesen,eswirdkeinLinkgesetzt.DasistjaauchdieKonkurrenz.MankönntejaeinenLeserverlieren.FürBloggersindQuerverweiseEhren-
sache–sokannjederselbstprüfen,worumesgeht,jederkanndieQuelleselbstnachlesen.WennerwillunddieZeitdazuhat.UndhiersetztdieAufgabean,dieaufJournalisteninZeitendesInternetszukommt.
Blogslesen,sichimInternetzubestimmtenThemenaucheinmalabseitsderMainstream-Nachrichtenportaleinformie-ren:DasistanstrengendundverlangtvomLeserdieEinord-nungvonInformation,dasStudiumvonQuellen,dasNach-denken…undmehr.DasfunktioniertnurbeiThemen,diedenLeserbesondersinteressieren.Journalistenwerdendaherkei-nesfallsüberflüssig–imGrundewerdensiealsInformations-spezialistenwichtigerdennje.SiemüssendenriesigenBerganInformationenverschiedensterArtaufarbeitenunddemLeserservieren–aberbitteso,dassergleichdieVerweisezudenQuellenmitgeliefertbekommt.Dennnahezudasgesam-te Wissen der Menschheit ist im Internet erreichbar. Aber
Journalisten werden daher keinesfalls überflüssig – im Grunde
werden sie als Informationsspezialisten wichtiger denn je.
Sie müssen den riesigen Berg an Informationen verschiedenster
Art aufarbeiten und dem Leser servieren – aber bitte so, dass
er gleich die Verweise zu den Quellen mitgeliefert bekommt.
Denn nahezu das gesamte Wissen der Menschheit ist im Internet
erreichbar. Aber ohne einen kompetenten Lotsen ist es
sehr schwer und zeitaufwendig, sich darin zurechtzufinden.
Blogger und die Meinungsvielfalt im Internet
aLvar c. h. freude
aLvar c. h. freude
ist Gründer des Arbeitskrei-ses gegen Internetsperren und Zensur sowie als Sachver- ständiger Mitglied in der Enquete-Kommission „Inter-net und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundesta-ges. Freude arbeitet als freierSoftwareentwickler in Stuttgart. www.alvar.a-blast.org
ohneeinenkompetentenLotsenistessehrschwerundzeit-aufwendig,sichdarinzurechtzufinden.
Undwirsolltendabeiauchnichtvergessen,dassessichbeiderDiskussionüberdasVerhältnisvonherkömmlichenMedienzumInternetundJournalistenzuBloggernumeineLuxusdiskussionhandelt.DasInternet,sozialeNetzwerkeundBlogssindinvielenundemokratischenStaateneinederweni-genMöglichkeiten, Informationen,WissenundMeinungenabseitsderoffiziellenStaatspropagandaauszutauschen.DasalleinemachtdieInformationenausdemInternetnochnichtglaubwürdiger.AberdieneuenKommunikationsmöglichkei-tensindeinwichtigesElementfürdenProzessderDemokra-tisierungderÖffentlichkeit.Hierwiedort.
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Das digitale Zeitungshaus auf dem Weg
zum „Local Champion“
klein
anzeigen
10DerlokaleLeser-undWerbemarktistdasHerzstückdesregio-nalenZeitungshauses.UmdieRolleeines„LocalChampions“gegendenwachsendenDruckderneuendigitalenWettbewer-berzuverteidigen,verändernVerlageinallerWeltnichtnurProzesse, Strukturen und Produktangebote.Viele stellen ihrSelbstverständnisinfrage.WelcheRollekannundsollZeitungineinerlokalenLebensweltspielen,inderdiestarkePositionvonPrintschwindetunddieMenschenZeit,AufmerksamkeitundBudgetvermehrtaufdigitalenPlattformeninvestieren? Für viele Verlage reicht es deshalb schon längst nichtmehraus,nurChronistzusein.SiebegreifensichzunehmendalsaktiveGestalterlokalerGemeinschaftundlokalerMärkte,derenstarkeMarkesieauchunabhängigvomgedrucktenPa-pierzumerstenAnsprechpartnerfürdieWelt„vorOrt“macht.DabeisehensiesichimBündnismitjenenengagiertenBür-gernundInstitutionen,diedasLeitbildvoneinerlokalenLe-bensweltalseinem„betterhome“teilen–einer lokalenGe-meinschaft,die immernocheinbisschenlebenswerterundgerechterwerdenkann.
DerWegdahinistkomplex.Erführtübereineintensive-reBeziehungzumKundenundeineneueKulturderNäheundSichtbarkeit.MancherregionaleVerlaghatindenvergange-nenJahrenseinelokalePräsenzimVertrauenaufPrintmono-poleschrittweisereduziert.Nungehtesdarum,denMenschenwiedermöglichstviele„Touchpoints“zurvertrautenundver-trauenswürdigenZeitungsmarkezubieten,auchwenndiesimmerseltenerüberdasPrintproduktgeschieht.
DieBedürfnissedesKundenzuverstehen,ihmdierich-tigeLösung–egalobpublizistischeInformation,ServiceoderWerbeleistung – anbieten zu können, setzt professionelleMarktforschungundeinsystematischesKundenbeziehungs-managementvoraus.AndersalsinvielenanderenBranchenistdasIdentifizierenundBearbeitenvonZielgruppeninregi-onalenZeitungshäusernnochnichtGrundlagederProdukt-
von meinoLF eLLers
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entwicklung.Abernursoistesmöglich,dieBeziehungenzuStammkundenund-lesernauszubauen,GelegenheitskundenstärkerzubindenundNichtkundenbishinzu„Printverweige-rern“mitneuenwerthaltigenLeistungenanzusprechen.AufdiesemWegkanndasZeitungshauszugleichüberzeugendeWerbeproduktekonzipieren,diebeimöglichstniedrigenStreu-verlustenAnbieterundNachfragerzusammenbringen.
MiteinerPalettezielgruppenaffinerPublishing-Produk-te,mitwirksamenWerbekonzeptenundmitneuenGeschäfts-modellenwieetwaDirektmarketingoderEventmanagementschaffensichVerlagezugleichdieBasisfüreinebreiteundzu-kunftsfähigeErlösstruktur.Einekonsequentkundenzentrierte
„mission:local“-StrategiefolgtdemGrundsatz„Localcustomerfirst“.DiemancherortserbittertgeführteGlaubensfrage„On-linefirstvs.Printfirst“wirddamitzurNebensache–derKun-dewirdsieentscheiden.
DieInstitutionTageszeitungistüber400Jahrealt.DasaneinerumfassendenAufklärungundNachrichtenversorgungorientierteundbisheutegültigeModelldesGeneralanzeigersbringtesaufmehrals150Jahre.ÜberGenerationenwareinengagiertesLebenvorOrtohnedieInformationenderlokalenTageszeitungnichtmöglich.IhreRollealsvertrauenswürdigerChronistdesGemeinschaftslebenswarebensoweniggefähr-det wie die Position als Moderator von Angebot und Nach-frageimlokalenWerbe-undAnzeigenmarkt.„DasZeitungs-lesendesMorgensisteineArtvonrealistischemMorgense-gen“,notiertederPhilosophGeorgWilhelmFriedrichHegel
Das digitale Zeitungshaus auf dem Weg zum „Local Champion“
meinoLf eLLers
Eine konsequent kundenzentrierte „ mission:local“-Strategie
folgt dem Grundsatz „ Local customer first “. Die mancherorts
erbittert geführte Glaubensfrage „ Online first vs. Print first “
wird damit zur Nebensache – der Kunde wird sie entscheiden.
(1770–1831).KarlKraus(1874–1936)nanntesie„dieKonservederZeit“.UndselbstMarkTwain(1835 – 1910),sonstumkei-nenSeitenhiebaufdieSchwächenseinesjournalistischenBe-rufsstandesverlegen,hieltmitBlickaufdieWächterfunktionderTagespressefest:„DeralteSpruchsagt‚Weckekeineschla-fendenHunde‘.Stimmt.AberwenneineMengeaufdemSpielsteht,istesbesser,wennsichdieTageszeitungderSachean-nimmt.“
DochdasnochsojungedigitaleZeitalterhatdiebewähr-te und geachtete Mediengattung in wenig mehr als einemJahrzehntunterRechtfertigungsdruckgebracht.Niewardieregionale Tageszeitung in ihrer traditionellen Form weitervomStatusderUnverzichtbarkeitentfernt.InderSprachederMarketingstrategen ist sie vom unersetzlichen„Need“- Pro-duktzueinembloßen„Want“-Produktgeworden,dasgegenimmerneueWettbewerberumdieAufmerksamkeitderMen-schenundumseineRelevanzalsWerbeträgerkämpfenmuss.
InallenwestlichenIndustriestaatenfallendieAuflagenundsinkendieErlöseimPrint-Kerngeschäft.InderGenerationderDigitalNatives,diemitdemInternetaufgewachsensind,istdieTageszeitungkeinselbstverständlicherTeilvonFamilieundHaushaltmehr.SowieindenUSAersteLandstricheohneeinetäglichegedruckteLokalzeitungsind,sowirdauchdieGruppederjungenErwachsenen,egalwelcherBildungs-oderEinkommensschicht,zunehmendzueinemweißenFleckaufderZeitungslandkarte.„JungeMenschenrundumdenGlobussindhungrignachNachrichten.SiebevorzugennureinfachnichtmehrunseretraditionellenPlattformenundVerpackun-gen“, fasste der Vorstandsvorsitzende der amerikanischenNachrichtenagenturAssociatedPress(AP),TomCurley,eineStudiezusammen,die2007dieMediennutzungjungerMen-scheninallerWeltuntersuchthatte.
KontroverswirddieFragediskutiert,obdieZeitungaufPapier angesichts der digitalen Konkurrenz von Internet,
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Smartphones und elektronischen Lesegeräten nicht vor ei-nemähnlichenVerdrängungsprozessstehtwieeinstdasSe-gelschiff,dasPferde-Fuhrwerk,dasFestnetz-TelefonoderdieVinyl-Schallplatte.Egalaber,obundwanndasZeitalterdesge-drucktenPapiersendet–dieeigentlicheFunktionderTageszei-tungstehtaußerFrage.JungeInternetgründer,Stadtteil-Blog-geroderglobaleWebkonzernewieGoogle,eBayoderFacebookhabendenTageszeitungenohneZweifelwertvolleTeileihresGeschäftsentrissen.
Aberkeinervonihnenhatesbislangverstanden,diezen-traleDoppelrollederZeitungalsverlässlicherChronistdeslo-kalenLebenseinerseitsundalsvertrauenswürdigerModera-torderMärktevorOrtandererseitszuübernehmen.IndiesenbeidenKernfunktionen,diezurückgehenaufdasZusammen-treffenvonPressefreiheitundGewerbefreiheitMittedes 19.Jahrhunderts,stecktimmernochjeneSubstanz,diedasMo-dellLokalzeitungunverändertstarkundzukunftsfähigmacht.
JevirtuellerundglobalerdieMärkteunddieMedienwel-ten werden, desto größer wird zugleich die Sehnsucht derMenschen nach lokaler Verankerung und Orientierung. DieWelt vor Ort steht für gelebte Nähe, für gewachsene Bezie-hungen,fürVertrauen,VerlässlichkeitundRelevanz.AberdielokaleLebenswelt istebensoimUmbruchwiedielokaleTa-geszeitung.InstitutionenwieKirchen,ParteienoderVereine,diefrüherdasZusammenlebenderlokalenGemeinschaftbe-stimmten,verlierenvoralleminderwestlichenWeltihretra-ditionelle Bindungswirkung. Lokales Gewerbe und lokalerHandelverändernsichauchdurchdenEinflussglobalerundvirtuellerWettbewerber.Google,eBayoderAmazonsindauchindenländlichstenRegionenomnipräsent.AuchdortschafftdasWebgrößereAuswahlundleichterenZugangzurganzenFüllelieferbarerProdukte.DiegroßenLaden-undHandelsket-tenlockenmitattraktivenPreiseninsWeboderindieGroß-märkteundOutlet-ZentrenamStadtrand.ImGegenzugaber
Das digitale Zeitungshaus auf dem Weg zum „Local Champion“
meinoLf eLLers
wirddassichtbareWarenangebotvorOrtkleiner,selbstständi-geLadenbesitzergebenauf,DörferundInnenstädteveröden. UmeinedauerhafteVerarmungderlokalenLebensweltzuverhindern,sindInitiativenzurNeubelebunggefragt.DieZeitunghatdabei inihrereinzigartigenDoppelfunktionalsChronistundErzähleramlokalenLagerfeuereinerseitsundalsVermittlervonAngebotundNachfrageimlokalenMarktandererseits immer noch eine herausragende Position.Klaristaberauch,dassdieseBedeutunggelittenhat.Jegrößervor
alleminEuropaundNordamerikadieZeitungsgruppenwur-den,destogeringerwurdevielerortsdielokalePräsenz.Dort,woesdiestarkeMarktstellunghergab,schöpftemancherVer-lag die sogenannten Monopolgewinne ab – oft auf KosteneinerverkleinertenRedaktionodereinergeschlossenen Ge-schäftsstelle.
Verlage,dieauchinderdigitalenWeltderMotordesLo-kalenseinwollen,müssendiesenTrendumkehrenundwie-derdieNähezuihrenKundensuchen.JeffJarvis,Journalistik-ProfessoranderNewYorkerCityUniversityundseitseinemBuchWhat would Google do?alsVordenkerundProvokateurderMedienindustriegefürchtet,meintauchdieVerlage,wennerfeststellt:„DasEinzige,waskünftigausSichtdesMarkteszählt,istWert.WasistIhreDienstleistungfürdieÖffentlich-keitwert?WertwirddurchBedürfnissebestimmt.WelchePro-blemelösenSie?
Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob die Zeitung.
auf Papier angesichts der digitalen Konkurrenz von Internet,
Smartphones und elektronischen Lesegeräten nicht vor einem.
ähnlichen Verdrängungsprozess steht wie einst das Segel-
schiff, das Pferde-Fuhrwerk, das Festnetz-Telefon oder die.
Vinyl-Schallplatte.
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InderkundenzentriertenOrganisationstehtnichtmehrdaseigeneProduktimMittelpunkt,sondernderAnspruch,demEndkundenoderdemWerbepartnermitderbestmöglichenLösungdenhöchstmöglichenWertzuschaffen.Printwirdda-bei zwischen allen zur Verfügung stehenden Kanälen und
PlattformennochsehrlangeeinewichtigeRollespielen,aberes ist keine Voraussetzung mehr. Das bedruckte Papier istnichtmehrSelbstzweck,sondernMittelzumZweck:fürman-cheKundenundderenBedürfnissenichtmehrunbedingtdaseffektivste.
EineZeitung,dieals„LocalChampion“dieRenaissancedesLokaleninderdigitalenWeltorganisiert,istfürdieMen-schenvorOrtzugleichPlattformundNetzwerk.Allewesentli-chenWegeführenzuihroderübersie,kaumeineranihrvor-bei.DiesesKonzeptdeskundenzentrierten„LocalChampions“verlangt eine neue Sicht auf die Kundenbeziehung als daswertvollsteGutimlokalenMarkt.ModernesCustomerRela-tionshipManagement(CRM)nimmtnebendemStammkun-den,egalobPrintabonnentoderAnzeigen-Key-Account,auchdieGelegenheitskundenunddieNichtkundeninsVisier.
Der„LocalChampion“mussimmeraufdengesamtenlo-kalenMarktzielenundwirdsichnichtinNischenabdrängenlassen.Dieskannabernurdanngelingen,wennsichVerlagedas ausgefeilte Kundenmanagement und die zielgruppen-gerechteProduktentwicklungzueigenmachen,dieinande-renBranchenlängstVoraussetzungfürWettbewerbsfähigkeit
Das digitale Zeitungshaus auf dem Weg zum „Local Champion“
meinoLf eLLers
Die Beziehungsplattform Facebook schafft es besser als jedes
andere Massenangebot im Internet, hohe Potenziale in der
Beziehungsökonomie mit langer Verweildauer der Nutzer, also
einer starken Position in der Aufmerksamkeitsökonomie
zu verbinden.
sind.ZweiHandlungsfelderbestimmenalsozunehmenddieAgendadesverlegerischenUnternehmers:
AufdemFeldderBeziehungsökonomiegehtesda-rum,KundenbeziehungenumfassendzuentwickelnundsiezurGrundlageallerProdukt-undMarken-strategienzumachen.
InderAufmerksamkeitsökonomiedagegenstrei-tendieMedienmehrdennjeumdasknappeZeit-budgetderMenschen.Nurwerdiesichpermanentwandelnden Bedürfnisse der immer kleinteilige-renZielgruppenfrühzeitigerkenntundinmaßge-schneidertenProduktenund Dienstleistungenan-spricht,kannsicheinausreichendgroßesAufmerk-samkeitsbudgetinausreichendlukrativenZielgrup-pensichern,umdarauftragfähigeGeschäftsmodel-lezuetablieren.
NureineprofessionellePositionierunginderBeziehungsöko-nomieschafftdabeinachheutigemErkenntnisstandeineBa-sis,umdauerhaftinderAufmerksamkeitsökonomiebestehenzukönnen.
DieseTheorieerklärtübrigensauchdiescheinbarirrati-onaleBewertungdesPhänomensFacebookdurchdieInvesto-ren.DieBeziehungsplattformFacebookschafftesbesseralsjedesandereMassenangebotimInternet,hohePotenzialeinderBeziehungsökonomiemitlangerVerweildauerderNutzer,alsoeinerstarkenPositioninderAufmerksamkeitsökonomie,zuverbinden.AusgerechnetFacebook-GründerMarcZucker-bergistsicher,dassdiedigitaleWeltdieVerlagebraucht.„Bringelegancetotheweb“,empfahlerdenPublishern.AuchZucker-bergweiß,dasswederSoftwarenochderSchwarmderNut-zerinderLagesind,ausInhalteneinattraktivesProgrammzumachenoderrelevanteKontexteherzustellen.
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DieChancenstehengut.AberwerdendieVerlagesienutzen?AlleindieAngstvorderKomplexitätderneuenWeltenschrecktvieleab.ManchesZeitungshauskonzentriertsichgetreudemMotto„Schuster,bleibbeideinenLeisten“lieberganzaufdasschrumpfendeKerngeschäftunddietreueStammkundschaftundreduziertKostenundStrukturen.KenDoctorsiehtParal-lelenzumMannschaftssportundhältdenVerlagenvor:„Ichsehe viele Aktivitäten in der Defensive, aber wo bleibt dieOffensive?“
Die amerikanischen Medienmarktanalysten von AMRwarnendeshalbvorfalschenHoffnungenundhalbherzigenEntschlüssen:„Medienunternehmenmüssensichfragen,obsiesichschnellgenugundumfassendgenugändernkönnen,umdensichänderndenErwartungenihrertraditionellenNut-zerundWerbekundenzuentsprechen.“
DabeisindauchdieExpertennichtsicher,wasdieidea-lenStrukturenfüreinZeitungshausinderdigitalenWeltseinwerden.„Wirmüssenunsfragen,obdiegenerellenTrendlini-enfürdiegroßennationalenundglobalenNachrichtenkon-zernewiedieFinancial times,dasWall Street JournalunddieNew York timesdiegleichenseinkönnenwiefürdieregiona-lenMedienoderdiekleinenlokalenAnbieter.DieregionalenHäuserkönntenzumfünftenRadamWagenwerden,dennessindGlobalisierungundHyperlokalität,diediegrößtenneu-enPotenzialeinderneuendigitalenLese-undWerbeweltbie-ten“,schreibtKenDoctor.
Der Schweizer Verleger der traditionsreichen Jungfrau-zeitungUrsGossweilergehtnochweiter,wennerdieregiona-lenZeitungsverlageauffordert,seinemBeispielzufolgenundihreBlätterinvielehyperlokaleMikrozeitungenzuzerlegen.Nurinkleinen,eigenständigenEinheiten,soglaubtGosswei-ler,istZeitungnahgenugamPulslokalenLebensundlokalerMärkte,umdierichtigenAntworten aufdieFragen vonLe-sernundWerbekundenzuhaben.
Das digitale Zeitungshaus auf dem Weg zum „Local Champion“
meinoLf eLLers
AmEndewerdensichStrukturenundOrganisationsformenamSelbstverständnisdesneuenlokalenZeitungshausesaus-richten. Der österreichisch- amerikanische Ökonom JosephSchumpeter(1883–1950),derdenUnternehmeralseinen„kre-ativenZerstörer“definierte,unterschieddenechtenUnterneh-mer,derfürdenKapitalismuslebtundWerteschafft,vonalldenen,diealsHändlerundFinanziersnurvomKapitalismusleben.DerZeitungsverlaghatindenZeitendesGeneralanzei-ger-MonopolsgutvonderlokalenLebensweltunddemloka-lenMarktgelebt.Der„LocalChampion“desdigitalenZeitalterskönnteessichdagegenzumverlegerischenAuftragmachen,nichtzuerstvon,sondernfürdiesenlokalenRaumzuwirkenundsoseineneueWertschöpfungzuentwickeln.
Dabeikanndie„mission:local“nurdanngelingen,wennsiealsganzheitlichesKonzeptverstandenundgelebtwird.Re-daktionelleUnabhängigkeitundkommerziellerErfolgwarenimModellTageszeitungniewirklicheinGegensatz,sondernbedingteneinander.EinZeitungsverlag,derseineZukunftda-rinsieht,MotordesLokalenzusein,darfdieredaktionelleMo-derationlokalerGemeinschaftunddiekommerzielleGestal-tunglokalerMärktenichtvoneinandertrennen.Beidegehö-renzusammenundbefruchteneinander.EntscheidendwirdamEndesein,obderlokaleKundederMarkeTageszeitungaufbeidenFeldernvertrautundihrzutraut,einenfürihnrelevan-tenWertzustiften.meinoLf eLLers
unterstützt als Geschäfts-führer der dpa-infocom Ver-lage in den Themen Cross-media, mobiles Internet und E-Publishing. 2010 initiier-te er mit weiteren Unterstüt-zern das Projekt „goLocal“, in dem deutsche Verlage lo-kale Geschäftsmodelle ent-wickeln. www.dpa-infocom.de
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Daten — Rohstoff der digitalen Gesellschaft
11ein intervieW mit
proF. dr. Johannes
caspar
(dezemBer 2011)
WarumkenntFacebookallemeineKollegen?WarumweißGoo-gle,wasichsuche,bevoricheinenBegriffeingebe?UndwiehängtStuttgart21damitzusammen?
DankderKommunikationsmitteldesdigitalenZeitaltershabenwirdieKontrolleüberdieGesellschaftselbstübernom-men.WährendderStaatmitseinendemokratischenAbstim-mungsprozessendenrasantenInnovationennichtmehrfol-genkann,überwachtdieGesellschaftsichmittelsMini-Video-kameraundFacebookselbst.DasverändertnichtnurunserZusammenleben,sondernauchunsereAnforderungenandieInformationspolitikderBehördenundInstitutionen.
ProfessorDr.JohannesCaspar,hamburgischerBeauftrag-terfürDatenschutzundInformationsfreiheit,sprichtdeshalbvoneinerÜberwachungsgesellschaft,diemitdemmodernenRohstoffDatensowohlanderBörsealsauchaufdemSchulhofhandelt.
Gehen wir in Deutschland mit unseren Daten kritischer um als die Einwohner anderer europäischer Länder?
DerDatenschutzistinunsererGesellschaftzentralundwichtig. Seine Tradition geht auf die Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichts zur informellen Selbst-bestimmungzurück.DiesestarkeTraditionliegtaußer-deminunserer jüngerenGeschichtebegründet, inderwirErfahrungenmitzweiundemokratischenRegimengemachthaben,diepersonenbezogeneDatenzurUnter-drückungmissbrauchten.
Facebook hat im November 2011 in ein Abkommen mit der amerikanischen Wirtschaftsaufsicht eingewilligt und sich damit einem strengen Datenschutz unterworfen. Ist diese Entscheidung ein Umbruch im Umgang mit unseren Daten?
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WirbegrüßengrundsätzlichdieEntscheidungderFTC,deramerikanischenAufsichtsbehörde.Eszeigtsich,dassauchindenUSAderDatenschutzeinengewissenStellen-werthat.AndererseitsistesnachunseremVerständnisaber eher eine Selbstverständlichkeit, dass eine Ände-rungvonNutzungsbedingungenvoneinerwirksamenZustimmungderNutzerabhängiggemachtwerdenmuss.HiergabesinderVergangenheitbeiFacebookgroßeDefi-zite.DieDatenschutzpositionenderNutzerwurdenmitdenÄnderungenderNutzungsbedingungenindenletz-tenJahrenschrittweiseabgebaut,umstärkeraufdieper-sonenbezogenenDatenderBetroffenenzugreifenzukön-nen.Fürdeutschebzw.europäischeNutzervonFacebookgelteninsgesamtstrengereRegelnalsindenUSA.Andie-seistFacebook–unabhängigvonderVereinbarungmitderFTC–gesetzlichgebunden.
Sie haben bei der Diskussion in der FES von einer Überwa-chungsgesellschaft gesprochen. Warum neigt die Gesell-schaft dazu, sich selbst zu überwachen?
WirhabenimdigitalenZeitalterzweiwichtigeEntwick-lungen.ZumeinenherrschteinimmenserInnovations-zyklusimBereichdigitalerTechnik.ImmergrößereSpei-cherkapazitäten machen es möglich,Datenmengen inimmergrößeremMaßezuerzeugenundglobaljederzeitabzurufen.Zumanderenhabenwiresmiteinerniege-kannten Kommerzialisierung von personenbezogenenDaten zu tun.Wir bekommen im Internet die Dienstescheinbargratis.TatsächlichbezahlenwirmitunserenDaten.BeideEntwicklungsliniendurchdringenundver-stärkensichgegenseitiginihrerWirkung.
Daten — Rohstoff der digitalen Gesellschaft
Prof. dr. Johannes casPar
Die Gesellschaft ist demnach viel mehr an unseren Daten interessiert als der Staat?
DatensindalsRohstoffderdigitalenGesellschaftnichtmehrwegzudenken.Siesindökonomischwertvoll.Face-bookhateinengeschätztenBörsenwertvon100Milliar-denDollar.AberFacebookproduziertwederAutos,nochverleiht es Geld.Der Konzern macht sein Geschäft mitdenDatenseinerNutzerundschafftes,wirtschaftlicheErwartungenaufsichzuziehen,wiebisherkeinanderesUnternehmen.TatsächlichhabendiesozialenNetzwerkeund zuallererst natürlich Facebook den Gedanken derWerbungrevolutioniert.MitdemWissenüberVorlieben,InteressenundHobbysderNutzergelingtderWerbungeinePunktlandunginsHerzdesVerbrauchers.DeshalbbestehtaufseitenderWerbeindustrieeinesogroßeNach-fragenachDaten.
GleichzeitighabenwiresmiteinerPrivatisierungvon Überwachungstechnologien zum Zweck der sozia-lenKontrollezutun.DigitalkameraswerdenfürbilligePreiseinElektronikmärktengekauft.DiesekönnenzumAusspähenandererbenutztwerden.UnsereGesellschafteignetsichTechnikenundMethodenan,diefrüherdemStaatvorbehaltenwaren.
Wie verändert sich unsere Gesellschaft, wenn wir so viel übereinander wissen?
AnhängerderPost-Privacy-BewegungsindderMeinung,jemehrpersonenbezogeneDatenwirhaben,destoweni-gerwerdensievonInteressesein.Wennalleüberalleal-leswissen,seikeinMissbrauchmehrzubefürchten.Dashat für mich einen utopischen Charakter und scheintnaiv.IneinerWelt,inderesdarumgeht,mitDatensozia-
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leKontrolleoderökonomischeVorteilezuerlangen,müs-senwirsehrbewusstentscheiden.ÄhnlichillusorischistdieHaltung,sichgänzlichausallenFormendigitalerKom-munikation zurückzuziehen und gar nichts mehr vonsichpreiszugeben.WirbrauchenstattdessenintelligenteKonzeptefüreinselbstverantwortlichesDatenschutzma-nagement.DazugehörenInformationenundAufklärungderEinzelnen.GeradejungeMenschensollteninderSchu-leüberdieHintergründederdigitalenWeltundüberdieökonomischensowiesozialenGefahrenundRisikenei-nesregellosen,exzessivenGebrauchsvonDatenunter-richtetwerden.
Die nächste Stufe des Internets, das semantische Web, soll die von Menschen genutzten Informationen in einen Zu-sammenhang bringen. Wird Google in Zukunft bereits wis- sen, was wir suchen, bevor wir einen Begriff eingeben?
Dasistetwasspekulativ.MeineGedankensindnachwievorausschließlichbeimir,auchwennichvordemCom-putersitze.Aberesstimmt,NutzerautomatismenkönnenausderVergangenheitabgeleitetwerden.WennBenut-zerXimmerbestimmteSuchbegriffeeingibt,kannmaneinenSchlüsselfinden,wiediePersonsichverhältundwassie imInternetsucht.Dasfolgt letztlichalleinausdemPrinzipderWahrscheinlichkeitundderNutzerbeo-bachtung.
EsgibtVersuche,Trendsvorherzusagen.SobetreibtGooglezumBeispieleineWebseitefürGrippetrends.AusderHäufigkeitbestimmterSuchbegriffewerdenAnhalts-punktefürGrippefälleabgeleitetundPrognosenaufge-stellt.Das ist zwar nicht datenschutzrelevant,weil derEinzelnenichtmitseinenpersonenbezogenenDatenindieUntersuchungeingeht.Dennochzeigtsich,dassgesell-
Daten — Rohstoff der digitalen Gesellschaft
Prof. dr. Johannes casPar
schaftlicheStrömungenausderBeobachtungvonInfor-mationenüberdieNutzungdesInternetsabgeleitetwer-denkönnen.
Wie verändert sich unser Demokratieverständnis durch die neuen Kommunikationsmittel?
WirhabenvielmehrMöglichkeiten,dieInformationenundDokumentederöffentlichenStellentransparentzumachen.IndemMoment,indemwirunsalsBürgerüberInformationenderVerwaltungselbst informierenkön-nen,sindwirinderLage,demokratischeProzesseanzu-stoßen und stärker selbstbestimmt an den demokrati-schenProzessenteilzuhaben.
Zwischen Online-Durchsuchung und Open-Data- Bewegung: Wo beginnt der Abbau von Freiheit zugunsten der Sicherheit?
IndemMoment,woderStaatzweckseinerGefahrenab-wehrDatenüberBürgergeneriert,brauchenwirklareVor-gaben,andiederStaatgebundenist.DieseAspektesindunterdiebeidengenanntenBegriffe„Freiheit“und„Si-cherheit“zusubsumieren.Freiheitbedeutetnicht,dassmanfreivonjederKontrolleist.WoderStaatInformatio-nenzursozialenKontrolleimInteressederSicherheiter-hebt,mussdiesimRahmenderGesetzeerfolgen.HieristKontrolleerforderlich.
Welche neuen Gesetze und Regelungen brauchen wir, um unsere Daten in der digitalen Zeit zu schützen?
UnsereGesetzesindausderanalogenWeltundpassenoftmalsnicht.AufgrundderKomplexitätderMaterieundderhohentechnischenDynamikderEntwicklungenist
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derGesetzgeberpartiellüberfordertundbefindetsichineinempermanentenNachsteuerungsdilemma.WasderGesetzgeberanfasst,istoftschonwiederveraltet,nach-demesdurchdiegesellschaftlichenundpolitischenDis-kurse gegangen ist. Leider ist aber auch zu konstatie-ren,dassoftderWillezuinnovativenRegelungenfehlt.Erinnert sei nur an das 2010 vom damaligen Innenmi-nisterangekündigte„Rote-Linien-Gesetz“fürdenDaten-schutzimBereichdesInternets,vondemwirnachwievorweitentferntsind.
Abstimmungen auf EU-Ebene sind noch langsamer.
DiesesProblembesteht.WennwirheuteeineneueDaten-schutzverordnung diskutieren, die wohl erst 2014 oder2015kommt,istdasbeklagenswert.DeswegenbrauchenwirKonzepte,diedieEntwicklungenantizipieren,undstarke Datenschutzbehörden,die den Blick aufdie Pro-blemelenken.
Auf welche Daten der Bürger hat der deutsche Staat bisher Zugriff?
Zunächst haben wir das Problem der Online-Durchsu-chung.DieseistanklaregesetzlicheVorgabengebunden.AufdieProblematikderVorratsdatenspeicherungseihiernurhingewiesen.DarüberhinausgibtesdieSpurensu-che der Behörden auch im Internet.Ermittlungsbehör-denunddiePolizeigreifenbereitsheuteaufdieProfileinsozialenNetzwerkenzu.DabeigehtesumganzbanaleDingewiedasAbgleichenvonRadarfotosvonVerkehrs-sündern,bishinzuAusforschungenunterLegende,alsverdeckteErmittlerindensozialenNetzwerken.
Daten — Rohstoff der digitalen Gesellschaft
Prof. dr. Johannes casPar
Wie kann die Preisgabe unserer Daten im Netz gefährlich werden?
Daten,diewirinsozialenNetzwerkenhinterlassen,sindfüranderePersonen,imBedarfsfallaberauchfüröffent-licheStelleneinsehbar.JemehrDatenwirvonunspreis-geben,destoangreifbarersindwir.LetztlichsindDatenüberPersonenMittelzursozialenKontrolle.Dieseistbeiunszwarrechtsstaatlichgerahmt.DasWissenumderar-tigeDateninnichtdemokratischenRegimeneröffnetje-dochMöglichkeitendesMissbrauchs.Das„digitaleTäto-wieren“führthäufigindieOpferrolle,etwadurchCyber-mobbing oder andere strafrechtlich relevante Verhal-tensweisen,undzuProblemenbeiderJobsucheoderamArbeitsplatz.
Wie würden Sie eine Faustregel zum Umgang mit den per-sönlichen Daten formulieren?
Essollteklarsein,dassdiepersonenbezogenenDatenunsdurchsLebenbegleiten,TeilunsererPersönlichkeitsindundunsereChancenundEntwicklungsmöglichkeiteninderZukunftwesentlichmitbestimmen.DeswegensolltejedereinenindividuellenPlanhaben,wieermitDateninderdigitalenWeltumgeht.Zielsollteessein,alsmündigerInternetnutzerverantwortungsvollmitdeneigenenundrespektvollmitdenDatenDritterumzugehen.Prof. dr. Johannes casPar
protestierte als Beauf tragter für Datenschutz und Infor-mationsfreiheit in Ham burg erfolgreich gegen die Street-View-Fahrten von Google. Caspar lehrt außerdem an derUniversität Hamburg zum Thema Datenschutzrecht. www.datenschutz-hamburg.de
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Die Hoheit der Information und außerparlamen-
tarische Kontrolle im digitalen Zeitalter
12Wir leben in einer Informationsgesellschaft, die den politi-schenRaumaufzweiArtenprägt:ZumeinenhabenwirdiegrößtmöglicheindividuelleWahlfreiheit,Informationenaus-zusuchenundzunutzen.ZumanderenwerdenInformationenglobal,verbreitensichdankMassenmedienundsozialenNetz-werkenrasendschnell.1FürdiePolitiksindInformationenje-docheineMachtressource.KarlW.Deutschschreibtinseiner
„PolitischenKybernetik“:„Macht[…]bedeutetdieMöglichkeitzureden,stattzuhörenzumüssen.“2
WaspassiertalsomitdenstaatlichenMachtapparaten,wennInformationenglobalundfreizugänglichsind?WennBürgerdietransparenteGestaltungpolitischerDiskurseunddamitdieOffenlegungvonInformationenfordern?WennPlatt-formenwieWikiLeaksgeheimeDokumenteweltweitabruf-barmachen?Werentscheidet,welcheInformationengeheim,welcheöffentlichsind?Werkanndieskontrollieren?
Dr.DieterWiefelspütz leiteteals innenpolitischerSpre-cherderSPD-Bundestagsfraktion2005dieArbeitsgruppezumInformationsfreiheitsgesetz. Er tritt sowohl für die Online-DurchsuchungalsauchfürdenSchutzvonPersönlichkeitsrech-tenein.VielegeheimeDokumentesindseinerMeinungnachdiesenStatusgarnichtwert.
Warum sind Sie der Meinung, in Deutschland werden zu viele Dokumente geheim gehalten?
Geheimnissesindvielselteneralsvermutet.Wirunter-werfen eine Vielzahl von Dokumenten dem Geheim-schutz, obwohl das überhaupt nicht nötig wäre.Wennmanselbermal insolchenGeheimschutzstellenunter-wegswar,merktman,wieganzbanaldasist,wasdortabläuft.Ichdenke,dasswirzwareinDefizithabenbeim
ein intervieW mit
dr. dieter WieFeLspütz
(septemBer 2011)
1 Vgl. u. a. Norris, P. : Digital Divide. Civic Engagement, Information Poverty, and the Internet World- wide, Cambridge 2001.
2 Deutsch, K. W.: Politische Kybernetik, Modelle und Perspektiven, Frei- burg im Breisgau 1973.
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Schutz der Persönlichkeitsrechte, dem aber eine völligüberzogeneGeheimhaltungspraxisgegenübersteht.
Woher kommt der Drang, die Dokumente geheim zu halten?
DasmachendieApparateselber,diesichnichtinsBüroschauenlassenwollen,dieihrHerrschaftswissengernefürsichbehalten.WirbraucheninunseremVerfassungs-staat, in unserer freien Gesellschaft überhaupt keineAngstvorOffenheitzuhaben.VielmehrkannTranspa-renzeineStärkesein.
So sollten die neuen technologischen Möglichkei-teninjederBehördezurNutzungvonOpen-Data-Porta-lenführen,aufdenendieBehördenihreInformationenfreizugänglichablegen.DasgiltgleichermaßenfürLan-des- wie Bundesregierungen, für kommunale Verwal-tungundfürvielfältigegesellschaftlicheEinrichtungen.
Welche Auswirkungen hat die digitale Öffentlichkeit auf die Machtverhältnisse im Staat?
BeimThema„PolitikimdigitalenZeitalter“sindwirganzamAnfangunddieDiskussionenzeigenjaauch,dassdiePolitikeinenunglaublichenLern-undNachholbedarfhat. InstaatlichenApparatensindjedeMengequalifizier-terInformationenvorhanden.Diejenigen,dieüberdieseInformationenherrschen,hortenHerrschaftswissen.Des-halbsolltenwirdieLegitimationverbreitern,indemwirdemVolkganzweitgehendZugangzudiesenInformati-onenverschaffen.LetztlichistdasWissen,daswirhierinder Regierung und in den Parlamenten haben,WissenfürdasVolk.
Die Hoheit der Information und außerparlamentarische
Kontrolle im digitalen Zeitalter
dr. dieter WiefeLsPütz
Beim Gedanken an das Programm der Piratenpartei klin-gen diese Sätze, als würden Sie die Partei wechseln wollen.
Nein,ichkennediePiratenparteinichtnäher.WirhabenJahrzehnteimanalogenZeitaltergelebt.Jetztistdasdi-gitaleZeitalterdaundwirhabenhierinderPolitikvielmehrFragenalsAntworten.Wirstehenweitgehendfas-sungslosvordemInternet,vorneuenKommunikations-technologien.Wir gehen zwar alle damit um, aber diegesamte gesellschaftliche Dimension haben wir nichterfasst:WasbedeutendieneuenKommunikationstech-nologienfürPolitik,fürDemokratie,fürunserenRechts-staat?IstdieVorratsdatenspeicherungeineErbsündedesdigitalenZeitaltersoderwirdsiedramatisiert?AusgutenGründenführenwireinegroßeUrheberrechtsdiskussi-on.WiegehenwirmitkriminellenInternetinhaltenum?
WiekönnenwirdiehoheQualitätunseresRechtsstaatesundderGrundrechteunterdenverändertenVerhältnis-sendesdigitalenZeitalterserhaltenundausbauen?
InunserenstaatlichenEinrichtungensindvielBe-harrungsvermögenundBesitzstandsdenkenvorhanden,das sich Neuem nur sehr ungern öffnet.Wenn ich dienächsteRegierungsagendafürRot-Grünzumachenhät-te,dannwäreeinProgrammpunktdernächstekraftvolleSchrittindemBereichdesInformationsfreiheitsgesetzesundindemBereichvonOpenDataundE-Government.
In staatlichen Apparaten sind jede Menge qualifizierter Infor-
mationen vorhanden. Diejenigen, die über diese Informationen.
herrschen, horten Herrschaftswissen. Deshalb sollten wir.
die Legitimation verbreitern, indem wir dem Volk ganz weitge-
hend Zugang zu diesen Informationen verschaffen.
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Was verstehen Sie unter Open Data?
OpenDataisteineBringschuldderApparate,derBehör-den,derRegierungundgesellschaftlichenEinrichtungen,Auftrittezuhaben,aufdenenDatenzugänglichgemachtwerden,diedenArbeitsbereichdieserEinrichtungbeson-dersbetreffen.BeimFlughafenbaumussderBürgerzumBeispieldieMöglichkeithaben,diePlanungsunterlageneinzusehen.
Wären Projekte wie Stuttgart 21 oder der Flughafenbau in Berlin noch umsetzbar, wenn die Behörden die Dokumen-te frühzeitig offenlegten und die Bürger um ihre Meinung bäten?
Davonmacheichdasnichtabhängig.OpenDataistfürmicheinewichtigeErgänzungeinesfunktionstüchtigenparlamentarischenSystems.AberunserebisherigenVor-stellungenüberPlanungsverfahrensindmitStuttgart21anGrenzengestoßen.Wirmüssenbeigrößerenundklei-nerenVorhabeninderRegiondarüberreden,obwirnichtandereBeteiligungsverfahrenorganisieren. Ichglaube,dieses Vorgehen kann man verdichten, intensivierenunddurchfrühzeitigeBeteiligungbeschleunigen,sonstbrauchenSiefüreinenGroßbahnhofinZukunftdreißigJahre.
Mit dem Ziel, Beschlüsse auf eine breite Basis zu stellen oder Widerstand vorzubeugen?
Um einen Entscheidungsprozess zu ermöglichen, derdannaucheinebefriedendeWirkunghat.EsgibtdakeinPatentrezept,eswerdenimmerBürgerdasein,dienichteinverstandensind.AberwirbrauchenzeitgemäßeParti-
Die Hoheit der Information und außerparlamentarische
Kontrolle im digitalen Zeitalter
dr. dieter WiefeLsPütz
zipationsmöglichkeiten,dieüberdashinausgehen,waswirvor20,30Jahrenalssinnvollentwickelthaben.
Wie würden Sie die drei Begriffe „öffentlich“, „privat“ und „geheim“ gegeneinander abgrenzen?
DasPolitischeistdasÖffentliche,Privateskannauchmalpolitischwerden,GeheimnissedürfendagegenimPrivat-bereichhäufigerseinalsimstaatlich-öffentlichen.DerGe-heimnisschutzdientjedochoftmalsauchalsHerrschafts-schutz,dasfindeichnichtlegitim.
Welche Bedeutung haben Plattformen wie WikiLeaks oder die Idee des Geheimnisverrats und der Hinweisgebung in unserer Demokratie?
SiekönneneineergänzendeFunktionhaben.UnserLandistjanichtnurdieGegenüberstellungvonStaatundGe-sellschaft, sondern wir haben jenseits der Kontrollin-strumentederVerfassungunddesParlamentssowohldiePressealsauchdieLegitimationsfunktionderGesell-schaft.WikiLeaksisteinAusdruckvonFreiheitinunsererGesellschaft,istaußerparlamentarischeKontrolledurch
Information.Manwirdallerdingsaufpassenmüssen,dassdieseselbsternanntenKontrolleurederZivilgesellschaftselbstkontrollierbarsind,damitdasnichtzurHerrschaftundzumRisikowird.EsisteinProblem,wennzumBei-
Aber unsere bisherigen Vorstellungen über Planungsverfahren.
sind mit Stuttgart 21 an Grenzen gestoßen. Wir müssen bei.
größeren und kleineren Vorhaben in der Region darüber reden,
ob wir nicht andere Beteiligungsverfahren organisieren.
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spielWikiLeakszueinerOne-Man-Veranstaltungwird.Deshalb müssen wir Maßstäbe für solche außerparla-mentarischenKontrolleureentwickeln.DieseRegelnsoll-tenabernichtstaatlichvorgegeben,sondernimoffenenDiskurs entwickelt werden, damit sie nachvollziehbarundkontrollierbarsind.
Die G20-Arbeitsgemeinschaft zur Korruptionsbekämpfung diskutierte im Sommer 2011 einen weitreichenden Hin-weisgeberschutz. In diesem Zuge hat sich Deutschland ver-pflichtet, bessere Regeln zu schaffen. Für wie wichtig hal-ten Sie den Schutz von Hinweisgebern?
WirhabenjabereitsGeheimschutzregeln,dieeineStrafebei Geheimnisverrat festlegen.Hier liegt das Problem:WaspassiertzumBeispielmitHinweisenzuMissstän-deninPflegeheimen?DarfmanalsMitarbeiterMissstän-deineinersozialenEinrichtungandieÖffentlichkeitbrin-genundunterwelchenVoraussetzungen?Dashatgerade
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte be-schäftigt.AufderanderenSeitekönnenPlattformenwieWikiLeaksMachthaben,diemissbrauchtwerdenkann.Deshalbmüssenwiraufpassen,dasswirdenGeheimnis-verratnichtheroisierenoderidealisieren.Geheimnisver-ratisteinwichtigerBeitrag,abereristnichtderKernun-sererFreiheit.
Die Hoheit der Information und außerparlamentarische
Kontrolle im digitalen Zeitalter
dr. dieter WiefeLsPütz
Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir den Geheimnisverrat
nicht heroisieren oder idealisieren. Geheimnisverrat ist ein
wichtiger Beitrag, aber er ist nicht der Kern unserer
Freiheit.
Halten Sie WikiLeaks für die Revolution der Öffentlichkeit oder für eine Rebellion einzelner Akteure gegen ein ganzes System?
WikiLeaksisteinKinddesdigitalenZeitaltersunddamiteine wichtige Ergänzung unserer Öffentlichkeit, nichtmehrundnichtweniger.DieVeröffentlichungenzeigen,wiewichtigeinefachlicheBegleitungdurchsauberarbei-tendeJournalistenist.DarüberhinausmüssenlegitimeSchutzinteressenbeachtetwerden.Informationenkön-nenimextremenEinzelfalltötenodersehrstarkverlet-zen.Dafürmüssenwirsensibelsein.
dr. dieter WiefeLsPütz
ist innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfrak-tion und Mitglied des Deut- schen Bundestages. Wie-felspütz arbeitete mit am Informationsfreiheitsgesetz und setzt sich u. a. für die Vorratsdatenspeicherung ein. Der ehemalige Richter lebt in Lünen. www.dieterwiefelspuetz.de
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Geheimnisse und die Gesellschaft
13von danieL
domscheit-Berg
GeheimnissesindintegralerBestandteilunseresLebensundZusammenlebens.Daswarschonimmerso,undeswirdhof-fentlichauchimmersobleiben.DasRechtaufGeheimnisse,vorallemfürIndividuen,istMerkmaleinerfreienGesellschaft,in der das Individuum individuell sein darf, mit all seinenSchwächen und Verfehlungen, Vorlieben und Normabwei -chungen.GeheimnissesindGrundlagefürdieÜberlebensfä-higkeitdesEinzelneninderMasse.DerVerratvonprivatenGe-heimnissenisteineVerletzung.DieAbschaffungdesRechtsaufGeheimnissewäreNährbodenfürdenFaschismusnachMussolini,indemeskeinenPlatzfürdasIndividuumgibtunddieEliminierungAndersdenkenderStaatszielwird.
DerSchutzdieserGeheimnisseisthöchstesGuteinerfrei-heitlichenGesellschaft.IhreWahrungundauchAchtungsindAufgabeundPflichtjedesEinzelnen.
InderBandbreitedessen,wasgeheimgehaltenwerdenkann,undvorallemdessen,wasgeheimgehaltenwird,ste-hen diese Geheimnisse allerdings nur an einem Ende desSpektrums.IhnengegenüberstehendieGeheimnissevonFir-men, Militärs und Regierungen, eben nicht von Individuen,sondernvonOrganisationen,vonSystemeninnerhalbunsererGesellschaft.
DieseOrganisationensindunterschiedlichsterNatur,siehabenallerdingsinderRegeleinesgemeinsam:Siekonzen-trierenMachtundübendieseaus.
UndgenaudiesesDetailgilteszubetrachten,wennwirdemSinnhinterdemGeheimnisverrataufdieSpurkommenwollen.
Power tends to corrupt, absolute power corrupts absolutely
Dieser1887vonSirJohnDalberg-ActongeprägteAusspruchtrifftdenmetaphorischenNagelaufdenKopf.WerMachtüberandereausübt,istderVerführungdieserMachtschnellerle-
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gen.GanzeinfachbetrachtetistdiesderGrund,wiesodemo-kratischlegitimierteundkontrollierteRegierungeninderRe-gelwenigerkorruptsindalsdiktatorischeRegime.EsistaberwenigerdieLegitimationhier,diedenUnterschiedmacht,son-dernvorallemdieKontrolle.DennnurKontrolleermöglichteinen wesentlichen Bestandteil eines jeden gesunden Sys-tems:Qualitätsmanagement.
KontrolleermöglichtdasÜberprüfenvonRegelkonformi-tätunddasqualitativeMessenvonErgebnissen.Sieermög-licht uns somit zum Beispiel festzustellen, dass ein Bundes-präsident sich eines zinsgünstigen Finanzkredites bedienthat,unddiequalitativeEinordnungdiesesUmstandes.Sieer-möglichtunszumessen,obund inwieferndieserUmstandvonderNormabweichtundinwieferneineetwaigeNormab-weichungeinenVerstoßgegendieRegelndarstellt.Wirkön-nensomitbeurteilen,obderHerrBundespräsidentsystem -konformagiert,wiemanesvonihmerwartenmuss.
ImZugeeinessinnvollen Qualitätsmanagements fehltunsallerdingsnocheinwichtigerBaustein:DiesteteEvaluie-rungdesReferenzrahmens,alsodesRahmens,indemdiequa-litativeBewertungstattfindet.
JenseitsvonreinerKontrolle(„HatderBundespräsidenteinenKreditaufgenommen?“),derFeststellungvonNormab-weichungen(„WeichendieKonditionenvondeneneinesnor-malenKreditsab?“)undderPrüfungderLegitimität(„IsteinsolcherKreditvereinbarmitdenRegeln?“)könnenundmüs-sensomitdieRegelnselbsthinterfragtwerden(„Sindwirzu-friedenmitdemErgebnis,mitdenRegeln,undwasmussan-gepasstwerden?“).
GrundlagefürjeglicheKontrolleistjedochimmerTrans-parenz,alsodasGegenteilvonGeheimhaltung.
Geheimnisse und die Gesellschaft
danieL domscheit-Berg
Von Mangelerkrankungen durch Fehlen von Vitamin T
KeinSystemistperfekt.DiesgiltsowohlfürtechnischeSyste-mewieauchfürkommerzielle,gesellschaftlicheoderpoliti-sche.JekomplexereinSystem,destofehleranfälligeristesauch. IneinerZeitglobalerKomplexitätundsteigendergegen-seitigerAbhängigkeitspürenwirdieseFehlerhaftigkeitvielervitalerSystemeimmerdirekter,unddiedarausentstehendenKonsequenzenwerdennichtnurunvorhersagbarer,sondernauchkatastrophaler.
Erschwerend kommt hinzu, dass wir es nicht nur mitklaremungesetzlichemUnrechtzutunhaben.DieScherezwi-schen empfundenem Unrecht und gesetzlichem Unrechtklafft oft weit auseinander. Dies ist einerseits Folgeerschei-nungeinerglobalisiertenWeltmitnichtglobalisiertenRechts-undWertesystemen,andererseitsdirekteKonsequenzgeziel-terEinflussnahmeaufdieGesetzgebungundRegulierung.
VielederKrankheiten,andenenunsereGesellschaftenleiden,sindeinedirekteFolgeeinerÜberdosisVitaminBbeigleichzeitigemMangelanVitaminTransparenzundresultie-renausdemFehlenunabhängigerKontrolledessen,washin-ter verschlossenen Türen passiert. Wir ziehen in Kriege, de-rengesamteLegitimitätaufLügengerüstenaufgebautwurde.UndwirbrauchenJahre,umdasüberhauptherauszufinden.WirerlebeneineartifizielleökonomischeKrisenachderan-deren,vondereinigewenigeaufKostenalleranderenüberalleVorstellungskrafthinausprofitieren.Undkeinervonunsverstehtsowirklich,wieundwarumüberhaupt.Wirverursa-chenKatastrophen,dieMenschundNatur indenRuintrei-ben,währendbeteiligteKonzerneRekordgewinneausschüt-ten.UndwirallesindvondernächstenKatastrophesoabge-lenkt,dasswirnichtmaladäquatreagierenkönnen.
DieUrsachedafürliegtnichtdarin,dassderMenschvonNaturausschlechtistoderständigdurchdasBöseinVersu-
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chunggerät.UnsereProblemesindauchkeineNaturgesetze,sie sind hausgemacht. Sie sind eine Konsequenz der schlei-chendenKorruptionderReferenzrahmenvonMenschen,dieEntscheidungentreffen.Zuvielekommendurchmitdem,wassie tun, es gibt keine Konsequenzen und, noch viel schlim-mer,oftnichtmalunabhängigesFeedbackvonaußen.Keinerder Soldaten im geleakten Collateral Murder Video, das dieErschießungvonZivilistenauseinemHelikopterderUS-Ar-mee im Irak belegt, musste befürchten, von seiner Mutter(unddemRestdessozialenUmfeldsaußerhalbdesReferenz-rahmensKrieg)füreinVerbrechenanderMenschlichkeitab-gestraftzuwerden.Undkaumeinerderer,diefüreineöko-nomischeKriseverantwortlichzeichnenodermassivdavonprofitieren,musspersönlicheNachteilebefürchten.Geheim-haltung,KomplexitätundIntransparenzschützenAkteurevordemSonnenlichtderÖffentlichkeitundkorrumpierendamitauchderennächsteEntscheidung.EinTeufelskreis,dernichtdurchbrochenwerdenkannohnejemanden,dernichtbetriebs-blind ist und sich von seinem inneren Wertesystem leitenlässt,weilerodersienocheinGewissenhat,dasfunktioniert.
Transparenz, eine unabhängige Kontrolle und resultie-renddieFähigkeitzurKorrekturvonFehlernsindmissionskri-tisch,dennallesandereführtzurschleichendenKorruptiondergesellschaftlichenSubsysteme–undalsFolgedarausderGesellschaftalsGanzes.
Wasaberbleibt,wenndieMächtigenvonalleinnichtsmehrüberihreMachenschaftenpreisgeben?WasbleibtaußerdemVerratvonGeheimnissenalsoftungesetzlichemRechtzurKorrekturvon(gesetzlichem)Unrecht?
Geheimnisse und die Gesellschaft
danieL domscheit-Berg
Der gute Geheimnisverrat
Das Recht auf Geheimnisverrat ist ebenso wichtig wie dasRechtaufGeheimnisseansich.Vielspezifischerkannmanesnicht sagen, alles Weitere wird wohl immer eine Einzelfall-entscheidungsein.EbensowieesPrivatsacheist,welchenKre-ditmanaufnimmt,kannesdochaucheineFragederPositionsein,dieeinKreditnehmerinnehält.HiermussimEinzelfallabgewogenwerden,obeseinöffentlichesInteresseanTrans-parenz und Aufklärung gibt, das die Verletzung der Privat-sphäreerlaubt.
Die Abwägung ist eine delikate Angelegenheit und istklassischerweise eine, die Medien und andere aufklärendeOrganisationenschonseitJahrzehntenleisten.DieNotwen-digkeitzumGeheimnisverratsteigtindemMaße,indemSys-temeMachtausübenkönnen,durchKonzentrationvonGeld,Einflussnahme auf Politik und Medien durch massiven Lob-byismus,aberauchdurchdiebeschriebeneKomplexität,diedieGlobalisierungderWeltmitsichbringtunddieeinErken-nenundDurchschauenvonFehlernundMissbrauchstarker-schwert.DaeineZunahmevonMachtinderRegelmiteinerZu-nahmedesMissbrauchsvonGeheimnisseneinhergeht,wirdderGeheimnisverratzurNotwendigkeit,diesemMissbrauchentgegenzuwirken,alseinMechanismusderChecksandBa-lancesvonunten.
Zielmussessein,denVerratvonGeheimnissenüberflüs-sigzumachen,indemdiekulturelleDNAvonSystemenInte-gritätvoninnenfördertundFeedbackbelohntundnichtbe-straft,auchwennesunangenehmeWahrheitenandenTagbringt. Solange dies nicht der Fall ist, werden wir stärkereGesetze brauchen, um jene Geheimnisverräter, die Whistle-blower,vorRepressalienzuschützen.
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Power to the people, brought to you by the Internet
AlldiesistsicherlichnichtsNeues.SowieprivateGeheimnis-seschonimmerTeilderKulturwaren,sowarenesinstitutio-nelleGeheimnisseundihrVerratnochvielmehr.
EsstelltsichaberfolgendeFrage:WieverändertsichdasSpielfelddurchdieglobaleVernetzungderBetroffenen?Undresultierenddaraus:WiezeitgemäßundüberlebensfähigistdieserAnsatz?
DieVernetzungderMenschenaufdiesemPlaneten,alsodiesozialeNutzungvonTechnologie,hatallesverändert.DerGrad der informationellen Separierung vom ärmsten zumreichstenViertelaufdieserWeltliegtbeinichtvielmehrals350 Millisekunden. Vor der IP-Adresse sind alle Menschengleich.
UndgenauhierliegtdieeigentlicheMachtdiesesWerk-zeugs:NiemandDrittesentscheidet,welcherInhaltwertist,transportiert zu werden, und welcher nicht.Das bringt unsalle näher zusammen und stellt das Kommunikationswerk-zeugeinerglobalenGesellschaftohneGrenzenundohneDis-kriminierungdar.EinWerkzeug,dasunsermöglicht,dieWeltinihrerGesamtheitunddieRolledesEinzelnendarinbesserzuverstehen.EserlaubtunsdenAustauschzudenInhalten,diewirfürwichtighalten,undeserlaubtunssomitallen,aneinemgemeinsamenWertesystemzuarbeiten.
(AndieserStelleseiauchaufdieNotwendigkeitfürdieNeutralitätderNetzehingewiesen.Gebenwirdieseauf,soge-benwirdieKontrolleüberdie Inhalteaufundriskierenda-mitdenfreienAustauschineinerglobalenGesellschaftderZukunft.)
InpunctoTransparenzbringt inZeitenweltweiterVer-netzungjederBügerseineneigenenScheinwerfermit.Hun-derteanonymerAktivistenhabendieDoktorarbeitvonBun-desverteidigungsminister a.D.vonGuttenberg durchforstet
Geheimnisse und die Gesellschaft
danieL domscheit-Berg
danieL domscheit-Berg
war bis 2010 Sprecher von WikiLeaks und einer der be-kanntesten Köpfe der Or-ga nisation. Nach seinem Aus- stieg gründete Domscheit-Berg die Enthüllungsplatt-form OpenLeaks. Heute lebt er in Brandenburg und en-gagiert sich u. a. für die Frei-heit des Internets.www.openleaks.org
undeinenPlagiatsanteilvonüber70Prozentnachgewiesen.Hunderttausende von Spesenquittungen englischer Parla -mentarierwurdenvonInternetnutzerngeprüftundjederMiss-brauchvonSteuergelderndarinaufgedeckt.InderFolgever-lorderMinisterseinenPostenundsomancherParlamenta-rierseinenJob.InZukunftkannundsolltejederMenschmitMachtambitionenwissen,dassalles,waserodersietut,jeder-zeitimRampenlichtbekanntwerdenkann.JederAmtsmiss-brauch,jedeKorruption,jedeLüge.Daranwirdsichnichtsmehrändern.WerdasentstehendeFlutlichtnichtverträgtundwernichtdenEhrgeizhat,auchimgrellstenFlutlichtnochintegerzuwirken,dersolltedieFingervonderMacht lassen.DennmitsteigendemAnspruchandieIntegritätdesSystemsver-ändert sich auch eines: das Qualifikationsprofil. Und wasfrühereinmalgereichthabenmag, istheuteundvorallemmorgenschlichtundeinfachnichtmehrgutgenug.AuchPro-blemlösungsansätze,diesichlangebewährthaben–dasAus-sitzen,LeugnenoderPreisgebenvonErkenntnissennachderSalamitaktik–,versageninderdigitalenGesellschaft.DiesenParadigmenwechsel muss der eine oder andere heute wohlnochverstehen.
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Vorratsdatenspeicherung, interaktive Grafik auf ZEIT Online: http://www.zeit.de/datenschutz/malte-spitz-vorratsdaten
Wikipedia, Schulprojekt: http://wikimedia.de/wiki/Schulprojekt
Links
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aus der Reihe „Die digitale Öffentlichkeit“ 2010 – 2011
AlleaktuellenTermineundThemenfindenSieunter:www.julius-leber-forum.de/digi-oeff
IhrepersönlicheEinladungerhaltenSieunter:http://www.julius-leber-forum.de/kontakt
DieDemokratiemitderMausHamburg, 2. März 2010
Gast:BrunoPreisendörfer,SchriftstellerundHerausgebereinerInternet-zeitschrift
Inhalt: Das Internet jagt autoritären Regimen Schrecken ein, es erleichtert die Informationsbeschaffung und ermöglicht aktive und globale Gegen-öffentlichkeiten, wie die von Attac. Ist das Internet dadurch aber schon origi-när demokratisch? Ist es nicht eher so, dass das Internet zur demokratischen Beliebigkeit führt? In der Grauzone von Unverbindlichkeiten können wir flüchtig über Dinge „voten“ und „bloggen“, mit denen wir unter Umständen hinterher nicht mehr viel zu tun haben wollen. Zwischen meinungsbildender Dis-kussion und „click ’n’ go“ als Konsument von Politik liegt ein weiter Spiel-raum, in dem sich die Demokratie mit dem Internet anfreunden muss.
GenerationCopy&Paste–WissenserwerbinZeitenderSuchmaschineHamburg, 6. Mai 2010
Gäste:Dr.AstridHerbold,AutorindesBuchesDas große Rauschen,SebastianMoleski,ErsterVorsitzendervonWikimediaDeutschlande.V.
Inhalt: „Die Lebenslügen der digitalen Gesellschaft“ nennt die Autorin Dr. Astrid Herbold unseren Umgang mit den Neuen Medien und beschreibt kritisch die „Generation Copy & Paste“. Suchmaschinen und die digitalen Möglichkeiten der schnellen Verbreitung schaffen unzählige Instant-Informa-tionsschnipsel, so Herbold, die uns auf den interaktiven Overkill zutreiben. Andererseits steht das Informationsportal Wikipedia dafür, dass das Internet die Verbreitung freien Wissens fördert, und mehr noch, dass die kritische Nutzung von Wissen mit den digitalen Medien vereinbar ist. Eine Diskussion über die Entwicklung der Wissensgesellschaft.
Veranstaltungshinweise
Dumm3.0oderaktiveBürger(innen)imNetz?Hamburg, 21. September 2010
Gäste:MarkusBeckedahl,Chefredakteurvonnetzpolitik.org,MarkusReiter,Buchautor,MedienberaterundJournalist
Inhalt: Dumm3.0–WieTwitter,BlogsundSocialNetworksunsereKulturbedrohen lautet der Titel eines Buches von Markus Reiter. Darin beschreibt er die Gefahr, im Informationsdschungel des Internets die Orientierung zu ver-lieren. Mehr Informationen sind für ihn nicht gleichbedeutend mit bes serem Informiertsein. Denn ohne Dienstleister, die Fakten prüfen und vorsor- tieren, könne die Informationsflut des Internets manchen Leser überfordern. Andererseits gibt es viele Blogger, die die vielfältigen und unabhängigen Informationen des Internets als positiv für unsere Gesellschaft bewerten. Je-der könne seine Meinung publizieren und damit zu ganz neuen Diskussio -nen anregen. Kontrolleure der Blogger seien die Blogger untereinander. Denn der Erfolg einer Website basiert immer auch auf ihrer Glaubwürdigkeit. Eine Diskussion über die Bedeutung der Informationsvielfalt des Internets für unsere Gesellschaft.
EinmischenperMausklick–welchenEinflusshabenKampagnenviaInternetaufunseredemokratischeBeteiligung?Hamburg, 16. November 2010
Gäste:Dr.FelixKolb,MitbegründervonCampact,Dr.KathrinVoss,Kommu-nikationsberaterinimNon-Profit-BereichundDozentinanderUniversitätHamburg
Inhalt: Früher gingen die Bürger mit der SPD oder dem DGB auf die Straße, um sich in aktuelle politische Entscheidungen einzumischen. Heute kämpfen sie – nicht weniger beharrlich – in lockeren Bündnissen gegen Stuttgart 21. Ihr Engagement verlagert sich von den Großorganisationen, denen die Mit-glieder oft ein Leben lang treu blieben, hin zu einzelnen Themen. Möglich macht das zum Beispiel die Plattform campact.de. Sie organisiert Petiti onen und Demonstrationen zu Themen wie Atomkraft und Reichensteuer. Mit-machen tut nur, wer sich gezielt für ein Thema einträgt. Und dazu reicht ein Mausklick. Doch welchen Einfluss hat dieses losgelöste, punktuelle Engagement auf unsere repräsentative Demokratie? Engagieren sich mehr Bürger, weil sie ge-zielter ihre Stimme und ihre Zeit einsetzen können? Oder stellt eine gut informierte und organisierte Gruppe von Bürgern, wie zum Beispiel bei der Schulreform in Hamburg, demokratische Entscheidungen infrage? Ent wickelt sich eine digitale Demokratie 2.0 als vermeintliches Gegengewicht zur etab-lierten Politik? Wo liegen die Beteiligungschancen, wo die Gefahren zur Ma-nipulation? Und welche Rolle spielt dabei das Medium Internet?
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WiderdieGeheimhaltung–wieWikiLeaksunsereDemokratieverändertHamburg, 12. April 2011
Gäste:DanielDomscheit-Berg,WikiLeaks-AussteigerundAutordesBuchesInside WikiLeaks,Dr.DieterWiefelspütz,innenpolitischerSprecherderSPD-Bundestagsfraktion
Inhalt:Es begann mit der Offenlegung von Korruption, später veröffentlichte WikiLeaks geheime Informationen über die Kriege im Irak und in Afgha -nis tan. Während die „gefährlichste Website der Welt“ (D. Domscheit-Berg) ge-heime Dokumente global zugänglich macht, arbeiten etablierte Medien die brisanten Informationen aus dem Netz auf und blamieren so die Diploma tie ganzer Staaten. Die Gesellschaft schwankt zwischen dem Wunsch nach Auf-klärung und dem Schrecken eines Mordvideos. Damit stellt sich die Frage nach der Hoheit der Informationen: Wie verändert die digitale Öffentlichkeit die Machtverhältnisse im Staat? Und wie viel tota-le Transparenz verträgt eine Demokratie eigentlich?
UnserLeben–gespeichertinBitsundBytes?ÜberDemokratie,FreiheitunddenHungernachDatenHamburg, 14. Juni 2011
Gäste:Prof.Dr.JohannesCaspar,DatenschutzbeauftragterdesLandesHamburg,FrankRieger,AutordesBuchesDie DatenfresserundSprecherdesChaosComputerClubs
Inhalt: Woher weiß Amazon, dass ich Gitarre spiele, obwohl ich dort nur Bücher kaufe? Warum findet Facebook jeden meiner Bekannten? Auf welche Datenspuren hat der Staat Zugriff und was kann er aus ihnen herausle - sen? Diese Fragen stellen sich nicht nur die Autoren des Buches DieDatenfres-ser. Es ist schon erstaunlich, welche Spuren jeder Einzelne in der digi ta len Welt hinterlässt, auch ohne ein iPhone oder die freiwillige Payback- Kar te zu benutzen. Wozu die Wirtschaft Daten sammelt, ist relativ einfach nachzuvollziehen. Aber warum speichert der Staat Daten? Ist das alles wirklich sicherheitsrele-vant und sinnvoll? Auch wenn wir nicht in einer Orwell’schen Welt leben: Wo beginnt der Abbau von Demokratie und Freiheit im Namen der Sicher-heit? Was sind wir bereit, von uns preiszugeben – und welche Daten übermit-teln wir bereits, ohne es zu wissen? Eine Diskussion über die freiwillige und unfreiwillige Verwendung von Daten im Internet und ihre Folgen für unser Demokratieverständnis.
Veranstaltungshinweise
DieZeitung2.0–HerausforderungenandendigitalenJournalismusunddessenFinanzierungHamburg, 25. Oktober 2011
Gäste:MeinolfEllers,Geschäftsführerderdpa-infocom,ChristianRöpke,GeschäftsführerZEIT Online,RalfWiegand,Süddeutsche Zeitung
Inhalt:Schwindende Anzeigenerlöse, immer weniger Leser – das Konzept der Tageszeitung als Chronistin des öffentlichen Lebens funktioniert nicht mehr. Die Leser sind zu aktiven Nutzern geworden. Sie fordern heute 24 Stun-den Informationen, immer und überall, egal wo sie sind, auf mobilen Gerä-ten, online oder auch im Print – am liebsten kostenlos. Online wird zum Wer-bemedium Nummer eins, doch gleichzeitig verdienen die Verlage noch nicht ausreichend Geld damit, um Qualitätsjournalismus im Netz komplett zu finanzieren. Mit welchen Ansätzen kann eine Zeitung ihren Bedeutungsver-lust als Chronistin wettmachen? Und wie kann guter Journalismus im Netz finanziert werden?
BierzeltoderBlog?PolitikimdigitalenZeitalterHamburg, 12. Dezember 2011
Gäste:BjörnBöhning,u.a.netzpolitischerSprecherdesSPD-Parteivorstan-des,Dr.AndreasElter,AutordesBuchesBierzelt oder Blog?,BerndSchlömer,stellvertretenderBundesvorsitzenderderPiratenpartei
Inhalt: Ob Videobotschaft der Kanzlerin, Abgeordnetenprofile auf Facebook oder „zwitschernde“ Lästereien über Politikerkollegen: Die deutschen Politi-ker entdecken das virtuelle Netz. Doch wie gut spielen Parteien auf der Klavi-atur der sozialen Netzwerke? Wo findet Politik heute statt – im Bierzelt oder im Blog? Erleben wir tatsächlich den Beginn grundlegend neuer Formen po-litischer Willensbildung? Eine Diskussion über die Aktivitäten der deutschen Politik im Internet und den Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit.
(Alle Angaben spiegeln den Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Veranstaltung.)
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Redaktion und HeRausgebeR:Birthe Kretschmer, Frederic Werner für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Layout und satz:Susanne Wurlitzer (www.susannewurlitzer.de)
LektoRat:Dr. Christian Jerger (www.adlitteras.de)
dRuck:Bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei
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Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist im Qualitätsmanagement zertifiziert nach EFQM (European Foundation of Quality Management): Committed to Excellence.
Für die inhaltlichen Aussagen dieser Veröffentlichung tragen die Autorin-nen und Autoren der einzelnen Abschnitte die Verantwortung. Die geäu-ßerten Meinungen müssen nicht in allen Teilen der Meinung der Friedrich-Ebert-Stiftung entsprechen.
ISBN 978-3-86498-030-5
Fotonachweise:
Markus Reiter, S. 51:Fotografengruppe „Die arge Lola“
Daniel Domscheit-Berg, S. 105:Fotograf: Meiko Herrmann
Andere: privat
Impressum
www.julius-leber-forum.de/digi-oeff
Der Begriff „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ wird heute verwendet, um den Einfluss der digitalen Kommunikations- mittel auf unsere Gesellschaft zu beschreiben. Doch wie ver- ändert sich dadurch unser Verhältnis zur Demokratie?
Der Medienkonsum, die Wissensgesellschaft und In-ter netkampagnen sind nur drei Aspekte, die es uns ermög-lichen, Zivilgesellschaft in virtuellen Räumen zu leben und demokratische Beteiligung sowie demokratische Beschlüs-se transparenter zu machen. Gleichzeitig sind wir infor-mierter als jemals zuvor über andere Privatpersonen und staatliche Institutionen sowie deren Akteure.
In Essays, Denkschriften, Analysen und Interviews nä-hern sich die Autoren dieser Publikation der Frage, wie das Internet unsere Demokratie verändert. Zu ihnen gehören u. a. die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, Aydan Özoguz, der WikiLeaks-Aussteiger Daniel Domscheit-Berg, Blogger Alvar C. H. Freude sowie der Datenschutzbeauftrag-te Prof. Dr. Johannes Caspar.