Öffentliche Bibliotheken müssen ihre Rolle neu überden- ken. Als Orte des Lernens, der Inspiration und der Unter- haltung wird es ihnen wohl am besten gelingen, sich den unterschiedlichen Herausforderungen des 21. Jahrhun- derts zu stellen. Bei den Bibliothekaren gibt es viele Mythen über Architekten und auch viele traumatische Erlebnisse. Ich bezweifle, ob es umgekehrt derartige Mythen gibt. In jedem Fall sind Bibliothe- kare weitaus mehr von Architekten abhängig, als es die Architek- ten von den Bibliothekaren sind. Lassen Sie mich mit einigen Aussagen beginnen, die zwar provokativ klingen mögen, aber keineswegs so gemeint sind: Gute Architektur ist für Bibliothe- ken klarerweise unabdingbar. Aber sie ist nicht das Wichtigste. Man kann sehr gute Bibliotheken in schlechten Gebäuden fin- den, aber auch schlechte Bibliotheken in sehr guten Gebäuden. Der Grund dafür – und davon bin ich überzeugt – ist, dass das Herzstück einer Bibliothek weder die Architektur noch die Innengestaltung, ja noch nicht einmal das Buch selbst ist. Im Herzen der Bibliothek steht der Bibliothekar in seiner Rolle als Berater des Benutzers. Drei bedeutende Herausforderungen an die Bibliothek des 21. Jahrhunderts Gute Architektur berücksichtigt die Bedürfnisse der Benutzer. Das in den letzten Jahren enorm gestiegene Interesse an Biblio- theksarchitektur rührt daher, dass sich die Bedürfnisse der Benutzer in der Informationsgesellschaft laufend verändern. Im Bibliothekswesen machen wir gerade eine Art Paradigmenwech- sel durch, indem wir uns von einer Industrie- in eine Informati- onsgesellschaft umwandeln – mit Informationstechnologien, die es uns ermöglichen, den Zugang zur Information in einer Art und Weise in unseren Alltag zu integrieren, wie es uns nie zuvor mög- lich gewesen ist. Und das ist die erste große Herausforderung an das Bibliotheks- wesen des 21. Jahrhunderts: den elektronischen Zugang zu relevanter Information zu gewähren und ihn in den Alltag zu integrieren. Wir haben heute eine Situation erreicht, in der wir fast immer nur ein paar Schritte und ein paar Klicks vom Inter- net entfernt sind, vom Zugang zu Artikeln, Enzyklopädien, Fotos, Musik etc. Büchereiperspektiven 01/04 6 Die Bibliothek der Zukunft Hybrid, virtuell oder real? Autor: Jens Thorhauge Die königliche Bibliothek in Kopenhagen, von den Kopenhagenern liebevoll „Black Diamond“ genannt Foto: Königliche Bibliothek Kopenhagen
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Die Bibliothek der Zukunft - Büchereiverband Österreichs · 2005-04-01 · Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht. Wollte ich provozieren, so würde ich sagen,
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Öffentliche Bibliotheken müssen ihre Rolle neu überden-
ken. Als Orte des Lernens, der Inspiration und der Unter-
haltung wird es ihnen wohl am besten gelingen, sich den
unterschiedlichen Herausforderungen des 21. Jahrhun-
derts zu stellen.
Bei den Bibliothekaren gibt es viele Mythen über Architekten
und auch viele traumatische Erlebnisse. Ich bezweifle, ob es
umgekehrt derartige Mythen gibt. In jedem Fall sind Bibliothe-
kare weitaus mehr von Architekten abhängig, als es die Architek-
ten von den Bibliothekaren sind. Lassen Sie mich mit einigen
Aussagen beginnen, die zwar provokativ klingen mögen, aber
keineswegs so gemeint sind: Gute Architektur ist für Bibliothe-
ken klarerweise unabdingbar. Aber sie ist nicht das Wichtigste.
Man kann sehr gute Bibliotheken in schlechten Gebäuden fin-
den, aber auch schlechte Bibliotheken in sehr guten Gebäuden.
Der Grund dafür – und davon bin ich überzeugt – ist, dass das
Herzstück einer Bibliothek weder die Architektur noch die
Innengestaltung, ja noch nicht einmal das Buch selbst ist. Im
Herzen der Bibliothek steht der Bibliothekar in seiner Rolle als
Berater des Benutzers.
Drei bedeutende Herausforderungen an die Bibliothek des 21. Jahrhunderts
Gute Architektur berücksichtigt die Bedürfnisse der Benutzer.
Das in den letzten Jahren enorm gestiegene Interesse an Biblio-
theksarchitektur rührt daher, dass sich die Bedürfnisse der
Benutzer in der Informationsgesellschaft laufend verändern. Im
Bibliothekswesen machen wir gerade eine Art Paradigmenwech-
sel durch, indem wir uns von einer Industrie- in eine Informati-
onsgesellschaft umwandeln – mit Informationstechnologien, die
es uns ermöglichen, den Zugang zur Information in einer Art und
Weise in unseren Alltag zu integrieren, wie es uns nie zuvor mög-
lich gewesen ist.
Und das ist die erste große Herausforderung an das Bibliotheks-
wesen des 21. Jahrhunderts: den elektronischen Zugang zu
relevanter Information zu gewähren und ihn in den Alltag zu
integrieren. Wir haben heute eine Situation erreicht, in der wir
fast immer nur ein paar Schritte und ein paar Klicks vom Inter-
net entfernt sind, vom Zugang zu Artikeln, Enzyklopädien,
Fotos, Musik etc.
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Die Bibliothek der Zukunft
Hybrid, virtuell oder real?
Autor: Jens Thorhauge
Die königliche Bibliothek in Kopenhagen, von den Kopenhagenern liebevoll „Black Diamond“ genannt
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Die zweite Herausforderung ist, dass wir den Auswirkungen des
verstärkten Zugangs zu digitalen Medien Rechnung tragen müs-
sen. Wir müssen einen neuen, realen Bibliotheksraum schaffen
und das Konzept einer Bibliothek als reinem Lagerraum verwer-
fen. Wir müssen dem Trend Rechnung tragen, dass digitale Quel-
len immer mehr zu einer Sache globaler Kooperation werden,
während gleichzeitig die realen Bibliotheken immer lokalspezi-
fischer werden, um die speziellen Bedürfnisse der Bürger zufrie-
den zu stellen. Natürlich besuchen wir eine Öffentliche Biblio-
thek, um neue Bücher und andere Medien zu sehen. Aber wir tun
dies auch, um zu lernen, um an kulturellen Veranstaltungen teil-
zunehmen oder um einfach Zeitung zu lesen. Nur selten gehen
wir dorthin, um in den riesigen alten Sammlungen zu stöbern.
Hie und da fragen wir nach einem speziellen alten Titel – und wir
erhalten ihn. Aber wir brauchen nicht mehr in jeder Bibliothek
große Sammlungsbestände.
Die dritte große Herausforderung an das Bibliothekswesen ist
die Entwicklung neuer Standards für den Beruf des Bibliothe-
kars. Diese Herausforderung zielt primär darauf ab, den unter-
schiedlichen Bedürfnissen der Nutzer in einer aktiveren Art und
Weise zu entsprechen.
Klarerweise geht es hier vor allem um die zweite Herausforde-
rung: d.h. darum, eine Bibliothek zu schaffen, die auf die
Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht.
Wollte ich provozieren, so würde ich sagen, dass – angenommen,
es gäbe in der Zukunft nur einen einzigen Bibliothekstypus – es
meiner Meinung nach der virtuelle wäre. Das rührt daher, dass
die Funktion der Bibliothek in der Geschichte dieselbe geblie-
ben ist; nämlich die, einen Zugang zur Information zu gewähren
– natürlich unter den unterschiedlichsten Bedingungen und für
verschiedenste Zielgruppen.
Von der mittelalterlichen Bibliothek bis heute beobachten wir
eine klare Tendenz, wie Zug um Zug der Zugang zu Information
ausgeweitet wurde: von einer Elite (Kirche und Hof) zu den
Gelehrten, dem Bürgertum, der Arbeiterschaft bis hin zu den
Kindern. Schritt für Schritt wurde der Zugang zur Information
demokratischer und leichter zugänglich. Offensichtlich bewegen
wir uns auf die Personalisierung der Bibliotheksdienste zu, mit
individuellen Benutzerprofilen und Benachrichtigungssystemen.
Diese Funktion eines „Zugangs zur Information“ wird in Zukunft
möglicherweise immer stärker auf digitaler/virtueller Ebene
erfüllt werden; bis hin zu einer Situation, in der man „die Infor-
mation erhält, wenn man sie sich vorstellen kann“. Das heißt
also, wenn man sein Informationsbedürfnis artikulieren kann,
wird es auch erfüllt.
Trotzdem glaube ich nicht, dass wir in näherer Zukunft allein auf
digitale Bibliotheken angewiesen sein werden. Noch immer gibt
es viele Informationsquellen in den traditionellen Bibliotheken,
die nicht digitalisiert werden. Und es wird auch weiterhin einen
Bedarf an neuen Büchern geben, die Romane und andere lineare
Texte enthalten. Worauf ich eigentlich hinaus will ist, dass wir,
solange wir auf die gegenwärtig bekannten Technologien ange-
wiesen sind, auch reale Bibliotheken haben werden. Und zwar in
einer Form, die wir üblicherweise als Hybrid bezeichnen, wo also
virtuelle und herkömmliche Quellen einander ergänzen. Deshalb
sollten die Planer von Bibliotheken die Tatsache nicht negieren,
dass Nutzer digitaler Bibliotheken unter Umständen regelmäßig
individuell betreut werden sollten. In der ganzen westlichen Welt
heißen die neuen Felder im wissenschaftlichen Bibliothekssek-
tor E-Learning und E-Publishing. Elektronische Nachschlage-
werke und andere Hilfsdienste mit verschiedensten Expertisen
und Profilen werden in den nächsten Jahren unabdingbar sein.
Wie nahe sind wir einer digitalen Zukunft?
Wie sich jeder hier wohl bewusst ist, verläuft die Entwicklung der
Bibliotheken in Europa sehr uneinheitlich. So kann auch die
Frage „Wie nahe sind wir einer digitalen Zukunft?“ nur differen-
ziert beantwortet werden. Doch ist diese Frage von äußerst gro-
ßer Relevanz. Lassen Sie mich Ihnen deshalb einen ganz kurzen
Überblick über die Situation in Dänemark geben. Wir verfügen
heute bereits über eine gut funktionierende digitale Forschungs-
datenbank. Diese basiert auf einer Vernetzung der Bibliotheken
und steht Studierenden und Forschern zur Verfügung, vor allem
mittels eines Proxy-Servers, der den Zugang zu Journalen und
anderen Quellen ermöglicht (Dänische Elektronische For-
schungsbibliothek). Bei einem Drittel aller Entlehnungen im wis-
senschaftlichen Bibliothekssektor handelt es sich heute bereits
um heruntergeladene Daten.
Es gibt ein landesweites Bibliothekssystem (http://www.biblio-
tek.dk), mit dessen Hilfe jede Art von Medium, das von einer
öffentlichen oder einer Forschungsbibliothek angekauft wird,
gesucht, reserviert und angefordert werden kann. Abholen kann
man es dann bei jeder beliebigen Bibliothek. Wir sind jetzt kurz
vor dem Abschluss eines Vertrages mit der Urheberrechtsorga-
nisation, um Bibliotheken die Möglichkeit einzuräumen, Artikel
und Teile von Büchern zu digitalisieren und sie per E-Mail direkt
an den Endverbraucher zu senden. Öffentliche Bibliotheken
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Bibliotheksbauten als kultur- und bildungspolitische Signale THEMA
experimentieren mit Digitalentlehnungen von Musik und elektro-
nischen Büchern. Wir haben ein nationales elektronisches Nach-
schlageservice, eine große Anzahl themenbezogener Portale
sowie spezielle Informationsangebote. Tag für Tag nehmen die
digitalen Bibliotheksdienste zu.
Was aber bleibt dann den traditionellen Bibliotheken? Ermögli-
chen die Bibliotheken den elektronischen Zugang zu Musik,