Die Bewohner aus dem Dachgeschoss Seit über zwei Monaten lebte Sabrina nun schon mit ihren Eltern in dem Wohnhaus in der Einhornstraße. Und das war eigentlich ganz schön, denn ihre neue Wohnung war viel größer, und außerdem auch viel schöner und netter eingerichtet als ihre alte. Im Treppenhaus war es immer sauber und frisch gewischt. Es roch nicht so modrig und unangenehm wie in dem alten großen Wohnblock, wo sie früher gewohnt hatten. Und die schneeweißen, frisch gestrichenen Wände waren auch nicht mit Filzstiften und Spray beschmiert. Ja, eigentlich gefiel es Sabrina sehr gut in ihrem neuen Heim, aber es gab auch so manche Dinge von früher, die sie sehr vermisste. Und dazu gehörten auch die beschmierten Wände, auch wenn die Mutter das niemals verstehen konnte. „So ein Schweinkram!“ hatte sie sich immer aufgeregt, wenn sie den Flur entlanggegangen oder mit dem Fahrstuhl in das Erdgeschoss heruntergefahren waren. „Wenn ich irgendwann einmal die Kinder erwische, die hier alles voll kritzeln, dann werde ich mal ein ernsthaftes
Sabrina fragt sich schon lange, wer die seltsamen Bewohner des Dachbodens sind, die man niemals im Treppenhaus sieht. Eines Tages lernt sie sie kennen und erlebt viele Abenteuer mit ihnen.
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Transcript
Die Bewohner aus dem Dachgeschoss
Seit über zwei Monaten lebte Sabrina nun schon mit ihren
Eltern in dem Wohnhaus in der Einhornstraße. Und das war
eigentlich ganz schön, denn ihre neue Wohnung war viel
größer, und außerdem auch viel schöner und netter eingerichtet
als ihre alte. Im Treppenhaus war es immer sauber und frisch
gewischt. Es roch nicht so modrig und unangenehm wie in dem
alten großen Wohnblock, wo sie früher gewohnt hatten. Und
die schneeweißen, frisch gestrichenen Wände waren auch nicht
mit Filzstiften und Spray beschmiert.
Ja, eigentlich gefiel es Sabrina sehr gut in ihrem neuen Heim,
aber es gab auch so manche Dinge von früher, die sie sehr
vermisste. Und dazu gehörten auch die beschmierten Wände,
auch wenn die Mutter das niemals verstehen konnte.
„So ein Schweinkram!“ hatte sie sich immer aufgeregt, wenn
sie den Flur entlanggegangen oder mit dem Fahrstuhl in das
Erdgeschoss heruntergefahren waren. „Wenn ich irgendwann
einmal die Kinder erwische, die hier alles voll kritzeln, dann
werde ich mal ein ernsthaftes Wörtchen mit ihnen reden.“
„Aber, Mama!“ hatte Sabrina dann immer gesagt. „Wenn diese
Schmierereien nicht wären, dann hätte ich ganz sicher nicht so
schnell das Lesen gelernt.“
Und das stimmte wohl auch. Denn Sabrinas Mutter las ihr fast
jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Geschichte vor. Das
war immer sehr spannend. Am liebsten hörte sie Geschichten
von Detektiven oder auch von Seefahrern, die alte Briefe mit
geheimen Zeichen und Schriften entdeckten, die sich dann als
Schatzkarten entpuppten. Oh, was sie dann für spannende
Abenteuer erlebten, wenn sie nach den Schätzen suchten!
Solche Abenteuer hätte Sabrina am liebsten selber erlebt. Und
damals, als sie noch nicht lesen konnte, hatte sie geglaubt, dass
all die Kritzeleien, die an die Wände geschmiert waren,
geheime Botschaften enthielten. Einige von ihnen waren
vielleicht selber Schatzkarten und sie wünschte sich nichts
mehr, als sie endlich entziffern zu können. Sie war ziemlich
fasziniert von den älteren Kindern gewesen, die solche Dinge
schreiben und lesen konnten. Am liebsten wäre sie eine der
Banden beigetreten, die sich in dem Wohnviertel gebildet
haben, aber niemand wollte sie dabei haben.
„Kleine schwache Mädchen können wir nicht gebrauchen!“
hatte einer der größeren Jungen gesagt und ihr verächtlich vor
die Füße gerotzt. Ihre Mutter war auch dagegen, dass sie etwas
mit den Kindern zu tun hatte. Die sind nicht gut erzogen, sagte
sie immer. Die bringen dir nur allerlei schlechte Sachen bei.
Stattdessen hatte sie jeden Tag mit Mira, Vanessa und Carlo
spielen müssen. Die waren in ihrem Alter und ihre Mutter hatte
nichts gegen sie. Diese drei Freunde waren die andere Sache,
die sie an ihrem alten Zuhause so sehr vermisste. Manchmal
waren sie hinunter auf den Hof gegangen. Dort gab es auch
einen Spielplatz, wo sie oftmals im Sandkasten gespielt hatten.
Aber dann waren meist die großen anderen Kinder gekommen
und hatten sie geärgert. Am meisten hatten sie es auf Carlo
abgesehen. Er war ein äußerst klein und dünn, sodass ihn auch
keiner der anderen Jungen mit in ihrer Bande haben wollte.
Deswegen spielt er immer nur mit Mädchen, weshalb man ihn
auslachte und verspottete.
Schließlich waren sie alle zusammen in die Schule gekommen,
und Sabrina war im Lesen bald die Klassenbeste geworden.
Erstens, weil sie versuchte, die Geschichten, die ihr die Mutter
jeden Abend vorlas, bald selbst zu lesen. Zweitens, weil sie
jeden Tag auf dem Nachhauseweg die Schriften an den
Hauswänden entzifferte. Ihre Mutter war dagegen, denn sie
meinte, da stünde nichts, was kleine Kinder lesen sollten.
Sabrina merkte bald selber, dass das mit Schatzkarten und
ähnlich spannenden Geheimnissen nichts zu tun hatte.
Meistens waren es nur Flüche, oder man schrieb gemeine
Sachen über andere Menschen, die im Haus wohnten. Aber
lesen tat sie es trotzdem gern.
Sabrinas Mutter kam eigentlich aus recht gutem Hause und
hatte anständige Manieren beigebracht bekommen. Dass sie
trotzdem in diesen alten gammeligen Plattenbau gezogen war,
lag daran, dass sie sehr früh von zuhause ausgezogen war. Sie
wollte möglichst früh selbstständig werden, aber in ihrer
Ausbildung zur Gärtnerin hatte sie nicht soviel Geld verdient,
um sich eine bessere Wohnung zu leisten.
Einen Vater hatte sie auch. Aber den sah sie nicht so oft, weil
er Busfahrer war und sich auf Fernreisen spezialisiert hatte.
Manchmal war er über zwei Wochen nicht zuhause, weil er mit
Reisegruppen durch ganz Europa fuhr. Aber wenigstens
brachte er Sabrina von jeder Reise wunderbare Bilder und
allerlei andere Geschenke mit. Am liebsten mochte sie kleine
Häuser aus Ton, die es in jedem Land als Andenken zu kaufen
gab. Sie merkte bald, dass die Häuser im Norden ganz anders
aussahen, als beispielsweise die im Süden. Aber trotzdem hatte
sie die vierzehn Häuser, die sie bereits besaß, auf einer
Tischplatte zu einem Dorf zusammengestellt. Ein sehr lustiges
Dorf, in dem Häuser aus ganz Europa vereint standen.
Nun aber hatten ihre Mutter und ihr Vater soviel Geld
zusammengespart, dass sie sich eine bessere Wohnung leisten
konnten. Sie lag in einem weißen Haus, das anstelle von zwölf
nur vier Etagen besaß. Außerdem hatte es ein spitzes und kein
flaches Dach. Wie gesagt, Sabrina gefiel es gut dort. Das
einzige, was sie langweilte, war, dass es im gesamten Haus
keine anderen Kinder gab. Aber wenigstens lebte in der
unteren Etage ein junges Paar, das einen schwarzen Hund
hatte. Die beiden waren sehr nett und verstanden sich auch mit
Sabrinas Eltern gut. Manchmal luden sie die ganze Familie
zum Kaffee ein, und Sabrina durfte die ganze Zeit über mit
dem Hund spielen. Oder sie gingen zusammen in den Wiesen,
die ein paar hundert Meter vom Haus entfernt lagen, spazieren,
und sie durfte für den Hund, der übrigens Mio hieß, den Ball
werfen.
Oftmals aber hatte Sabrina auch Langeweile und dann
wünschte sie sich, dass all die Kinder, mit denen sie früher
gespielt hatte, mit in dieses Haus gezogen wären. Aber außer
ihnen und dem jungen Paar wohnten dort nur noch ein
alleinstehender Mann, der nicht besonders gesprächig war, und
ein altes Rentnerehepaar, das sich oftmals beschwerte, wenn
man im Treppenhaus zuviel Krach machte.
Da gab es aber noch einen weiteren Bewohner - oder waren es
vielleicht sogar mehrere Bewohner? - die Sabrina noch nicht
kennengelernt hatte. Ihre eigene Familie wohnte im vierten
Stock, also ganz oben im Haus. Doch das Treppenhaus endete
dort noch nicht. Es ging noch eine Treppe weiter hinauf, doch
sie war nicht aus Marmor, sondern aus Holz. Die Stufen waren
kleiner, und ziemlich schmal. Als Sabrina das erste Mal
hinaufgeklettert war, hatte sie so gewackelt, dass man Angst
haben musste, sie könne jederzeit zusammenbrechen. Ein
dicker Erwachsener konnte sich hier nicht so einfach
hinaufwagen.
„Also, Sabrina!“ hatte ihr Vater damals gesagt. „Du kannst da
doch nicht einfach so hinaufklettern, vielleicht ist das ja
privat!“
Aber die Vermieterin, die ebenfalls sehr nett war, hatte nur
gelacht.
„Das macht nichts“, hatte sie gesagt. „Da geht es nur zum
Dachgeschoss hinauf. Sie kann sich dort ruhig einmal
umgucken, denn die Tür dort oben ist ja sowieso verschlossen.
Aber sie sollte nicht zu oft dorthin gehen, denn sonst könnten
sich die Leute dort gestört fühlen.“
„Dort oben wohnen Leute?“ hatte Sabrinas Mutter ganz
erstaunt gefragt. „Ich habe gedacht, dass es dort oben nur eine
Dachkammer gäbe.“
„Doch, dort oben wohnen Leute“, hatte die Vermieterin mit
einem geheimnisvollen Lächeln gesagt. „Sie sind ein bisschen
sonderbar, und sie kommen nur sehr selten hinaus. Aber sie
sind nicht gefährlich und werden sie ganz gewiss nicht
belästigen. Kümmern Sie sich nicht um sie, und sie werden
sich auch nicht um euch kümmern.“
Dass mit diesen Leuten irgendetwas anders war, als bei
normalen Menschen, hatte Sabrina im ersten Augenblick
gemerkt. Alle anderen Wohnungen hatten eine schlichte weiße
Tür als Eingang, doch diese Tür dort oben war aus dunklem,
massiven Holz gebaut. Ihre Oberfläche war außerdem nicht
glatt, sondern kunstvoll verschnitzt. Es war eine Tür, die eher
in ein altes Schloss oder in ein Herrenhaus gepasst hätte, und
sie sah im ersten Augenblick etwas unheimlich aus. Doch
Sabrina merkte bald, dass es nur Blumen und lustige Gesichter
waren, die in ihr eingeschnitzt waren. Keine Totenköpfe,
Skelette, oder andere Dinge, vor denen man sich fürchten
musste. Aber wie klein diese Tür war! Sie selbst hätte ja kaum
dadurch gepasst, ohne den Kopf einzuziehen, und sie war doch
nur ein Kind! War das Seltsame an den Leuten vielleicht, dass
sie Liliputaner waren?
Sabrina hatte nach einem Klingelschild gesucht, auf dem der
Name des Menschen oder der Familie stand, aber sie hatte
weder Klingel noch Schild gefunden. Und selbst wenn sie
geklingelt hätte, hätte möglicherweise keiner geöffnet, denn
die Tür war mit einer dicken Eisenkette verschlossen.
„Warum verschließt man die eigene Tür von außen mit einer
Eisenkette?“ hatte sie die Vermieterin gefragt, nachdem sie
wieder hinuntergeklettert war.
„Die Tür ist mit einer Eisenkette verschlossen?“ hatte die
Mutter etwas entsetzt gefragt.
Sie hatte sich sehr darüber gefreut, endlich in dieses schöne
Haus zu ziehen, aber in diesem Augenblick sah sie so aus, als
bereue sie es fast. Sie hatte die Vermieterin von oben bis unten
gemustert, um zu sehen, ob irgendetwas Seltsames oder
Unheimliches an ihr war. Aber sie sah völlig normal aus und
lächelte sie freundlich an.
„Sie sind ein bisschen schüchtern und fürchten sich vielleicht
sogar ein kleines bisschen vor anderen Menschen. Aber
eigentlich sind sie ganz in Ordnung. Sie wohnen schon seit
Jahren hier. Schon als dieses Haus noch meiner Großmutter
gehört hat, und niemals hat sich jemand über sie beschwert. Sie
bezahlen auch regelmäßig ihre Miete. Es gibt also wirklich
keinen Grund sich Sorgen zu machen.“
Aber ihre Mutter machte sich Sorgen. Als sie am Abend nach
ihrem Einzug am Küchentisch gesessen, und Abendbrot
gegessen hatten, hatte sie den Vater gefragt, was er von der
Sache hielte. Doch der hatte nur gebrummt und gemeint, es
wäre schon alles in Ordnung, wenn die Vermieterin das sagte.
Und er behielt Recht. Ein paar Tage später hatten sie sich in
ihrer Wohnung eingelebt. Die Mutter hatte neue Freunde in der
Nachbarschaft gefunden, die sie manchmal zum Kaffeeklatsch
einlud. Und niemals war in der Wohnung, oder im Haus etwas
Eigenartiges passiert. Auch die Vermieterin entpuppte sich als
eine sympathische und angenehme Frau, mit der man sich gut
unterhalten konnte. Sie war weder eine Hexe, noch schien sie
irgendwelche anderen düsteren Geheimnisse mit sich
herumzutragen. Bald schon hatte die Mutter die Sache mit dem
Dachgeschoss vergessen. Selbst wenn sie von der Arbeit nach
Hause kam, sah sie nur zu, dass sie in die Wohnung ging, und
beachtete die Treppe, die nach oben führte, gar nicht mehr.
Sabrina aber konnte diese seltsame Geschichte nicht so schnell
vergessen. Immer wieder hoffte sie darauf, diese Bewohner
eines Tages kennenzulernen. Sie lauschte, ob sie über der
Decke Schritte und Stimmen hörte. Oder ob jemand draußen
die Holztreppe benutzte. Vor allem, wenn ihre Eltern nicht da
waren, saß sie manchmal stundenlang direkt vor der
Wohnungstür und las ein Buch. Sie wollte so schnell wie
möglich herauslaufen können, wenn sie hörte, dass dort
jemand war. Aber sie hörte ja niemanden. Sie untersuchte die
Treppe manchmal auch nach Fußabdrücken, aber sie fand
niemals welche. Oftmals überlegte sie sich schon, ob sie
einfach mal herauf laufen und an der Tür klopfen sollte. Aber
sie traute sich nicht, denn sie erinnerte sich an die Worte der
Vermieterin, dass sie diese Leute möglichst nicht stören sollte.
Einmal, als ihr Vater am Wochenende zuhause war, fragte sie
den, was er von der Sache hielt. Aber der lachte nur.
„Das ist doch nur irgendein Märchen, dass dir die Frau Hansen
erzählt hat“, sagte er. „Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft,
dass dort oben jemand wohnt.“
„Wieso denn nicht?“ meinte sie trotzig. Ihr Vater wusste ja
nicht, dass er gerade dabei war, einen ihrer größten Träume zu
zerstören.
„Na, das müsste, wenn überhaupt, dann eine Zwergenfamilie
sein“, er lachte noch einmal, „Nein, nein, da hat dir die gute
Frau Hansen irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt und
sonst nichts. Nicht mal deine Mama glaubt mehr daran.
Wahrscheinlich ist es nichts weiter als irgendeine Hauslegende.
Die Großmutter der Frau Hansen soll eine ziemlich seltsame
Dame gewesen sein.“
Doch Sabrina konnte er damit nicht von diesem Gedanken
abbringen. Sie glaubte fest daran, dass dort oben jemand
wohnte und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sie eines
Tages kennenzulernen.
Und eines Nachts ging ihr größter Wunsch schließlich in
Erfüllung. Sie wachte irgendwann, mitten in der stockfinsteren
Nacht, auf, und wusste sofort, dass sie viel zu früh dran war.
Normalerweise weckte ihre Mutter sie nämlich, weil sie einen
so guten Schlaf hatte, dass kein Wecker sie wach bekam. Aber
in dieser Nacht war es anders. Dabei schien es zunächst nichts
weiter als eine stille und rabenschwarze Nacht wie jede andere
zu sein. Doch dann schreckte sie hoch, ohne zu wissen, warum.
Verschlafen knipste Sabrina die Nachttischlampe an und sah
auf die Uhr. Es war zwei Uhr, mitten in der Nacht.
„Puuh“, machte sie und knipste schnell wieder aus.
Sie kuschelte sich wieder in ihr Bett und drehte sich herum.
Auf keinen Fall durfte sie um diese Uhrzeit so wach werden,
dass sie nicht mehr einschlafen konnte. Wie übermüdet würde
sie dann am nächsten Morgen in der Schule sein?
Doch an Schlaf war in dieser Nacht kaum noch zu denken. Das
merkte sie, als sie eine Minute später Geräusche hörte.
Sie schreckte erneut auf. In ihrer alten Wohnung war es normal
gewesen, dass man nachts Stimmen und Laute aus
Nachbarwohnungen hörte, aber hier hatte sie so etwas noch nie
erlebt. Sie hielt die Luft an und horchte.
Tatsächlich, hoch oben, auf der anderen Seite der Decke schien
sich jemand zu unterhalten. Es war aber nur ein leises Wispern,
sodass man keine einzelnen Worte verstehen konnte. Sabrina
spitzte die Ohren und horchte, ob es nicht vielleicht auch ein
anderes Geräusch aus dem Haus sein konnte. Schließlich aber
war sie sich ganz sicher. Dies war das erste Mal, seitdem sie
eingezogen waren, dass sie etwas von den geheimnisvollen
Bewohnern mitbekam.
Sie war dermaßen aufgeregt, dass sie am liebsten sofort
aufgestanden und in das Schlafzimmer ihrer Eltern gerannt
wäre. Sie konnte sich nicht eine ganze Nacht lang die
Geräusche anhören, ohne jemand anderem davon etwas zu
sagen. Das hielt sie einfach nicht aus!
Aber dann fiel ihr ein, dass ihr Vater mit einer Reisegruppe in
Griechenland war. Er würde erst in drei Tagen wiederkommen.
Ihrer Mutter durfte sie solche Sachen erst recht nicht erzählen.
Sie würde nur in Panik geraten und glauben, dass es im Haus
spukt. Es war wohl ganz gut, dass sie zwei Zimmer weiter im
Bett lag, tief und fest schlief, und von all dem herzlich wenig
mitbekam.
Zunächst hatte auch Sabrina ein bisschen Angst. Mit einer
Gänsehaut auf dem Rücken kauerte sie sich zusammen,
während sie horchte. Aber bald schon wurde sie mutiger,
sodass sie ein schwaches Licht anknipste, sich auf einen Stuhl
stellte und direkt an der Decke horchte. Die Menschen, die dort
oben waren, unterhielten sich nicht nur, nein, zwischendurch
lachten sie auch mal. Es mussten mehrere verschiedene Leute
sein, denn Sabrina konnte bald mehrere verschiedene
Lacharten heraushören. Da war einer, der lachte so laut auf, als
wenn er einen Schluckauf hatte. Dafür war er danach aber auch
eine ganze Weile still. Während ein anderer leiser, dafür aber
so lange lachte, dass man meinen konnte, er wollte nie wieder
damit aufhören.
Schließlich hörte Sabrina, wie irgendetwas leise über den
Boden schleifte. Es war so, als würde man dort oben Möbel
verrücken. Aber es konnten nur sehr kleine, vielleicht sogar nur
Puppenmöbel, sein. Dann aber bullerte es unter der Decke so
laut, dass sie vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. Sie
fand, dass es sich wie ein Tanz hörte. Aber es musste ein
ziemlich wilder und ausgelassener Tanz sein, bei dem sie
ziemlich heftig auf dem Boden aufstampften.
Sabrina überlegte, ob sie diesen Menschen ein Zeichen geben
sollte. Sie konnte ja einmal kurz gegen die Decke klopfen, oder
vielleicht auch etwas rufen. Wenn sie niemand hörte, brauchte
sie es ja nicht noch einmal zu tun. Dann aber erinnerte sie sich
an die Worte der Vermieterin. Diese Leute dort oben waren
etwas schüchtern und fürchteten sich vor Menschen. Sabrina
war eigentlich ein ziemlich braves Kind und deshalb beschloss
sie, die Bewohner des Dachgeschosses auf keinen Fall zu
erschrecken. Sie stieg wieder hinunter, ging zu Bett, und hörte
von da aus weiter. Es hörte sich ein bisschen so an, als würde
man da oben eine Feier geben. Bald aber wurden die
Geräusche leiser und verstummten schließlich ganz. Sabrinas
Augen fielen zu und am Ende fand sie in dieser Nacht doch
noch ein paar Stunden Schlaf.
Am nächsten Tag war Sabrina kein bisschen müde. Im
Gegenteil, dazu war sie viel zu aufgeregt. In der Schule konnte
sie kaum ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, und als sie zuhause
angekommen war und Mittagessen gegessen hatte, musste sie
sofort zu der Vermieterin, und ihr von dem wundersamen
Erlebnis berichten. Die Vermieterin wohnte selber nicht im
Haus. Sie hatte ihr eigenes kleines Haus, das am anderen Ende
der Straße stand.
„Aha, da haben die Schürigs wohl endlich mal etwas von sich
hören lassen“, sagte sie und grinste dabei.
„Die Schürigs?“ fragte Sabrina. „Heißen sie etwa so?“
Die Vermieterin nickte.
„Und warum haben wir bisher noch nie etwas von ihnen
gehört?“ fragte Sabrina weiter. „Warum zum ersten Mal in
dieser Nacht?“
„Das weiß ich auch nicht so genau“, antwortete die
Vermieterin. „Denn ich kenne sie genauso wenig wie du. Du
weißt, dass ich dieses Haus erst seit einem halben Jahr
vermiete. Seitdem meine Großmutter gestorben ist. Und ich
habe diese Familie selber noch nicht einmal gesehen. Ich
kenne nur die Geschichten, die man mir über sie erzählt hat
und dass sie immer pünktlich ihre Miete bezahlen.“
Sie lachte.
„Hm“, meinte Sabrina. „Glaubst du, es wäre gut, wenn ich
vielleicht mal an ihrer Tür klopfe, oder vielleicht auch an der
Decke?“
„Nein, das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun“, sagte
die Vermieterin. „Damit verängstigst du sie nur. Meine Oma
hat mir gesagt, man kann mit dieser Familie wirklich sehr viel
Spaß und Freude haben, aber man muss auch sehr geduldig mit
ihnen sein. Man muss warten, bis sie von allein kommen und
einen besuchen, denn das tun sie ganz bestimmt, wenn sie
glauben, im Haus wohnt jemand, dem sie vertrauen können.“
In den nächsten Tagen war Sabrina so damit beschäftigt zu
horchen, dass sie alle anderen Dinge fast vergaß. Sie horchte
nicht nur abends, wenn sie im Bett lag, nein, auch tagsüber.
Wenn sie zum Beispiel am Schreibtisch saß und ihre
Hausaufgaben machen sollte, traute sie sich manchmal für fünf
Minuten nicht, den Stift zu bewegen. Immer hatte sie das
Gefühl, von oben etwas gehört zu haben, aber meist war es nur
ihre Mutter, die in der Küche mit dem Geschirr
herumklapperte.
Die Mutter wunderte sich sehr bald über Sabrinas
merkwürdiges Verhalten. Nicht nur, dass sie für ihre
Hausaufgaben immer viel länger brauchte. Nein, sie machte
auch fast nie mehr Musik in ihrem Zimmer an. Beim Essen
sprach sie viel weniger mit ihr und sah dabei auch so aus, als
ob sie mit den Gedanken gar nicht richtig da war. Manchmal
schob sie sich das Essen sogar am Mund eigenen vorbei. Und
wenn sie sie darauf ansprach, reagierte sie so erschrocken, dass
sie die Gabel mit einem lauten Knall auf den Teller
zurückfallen ließ.
„Siehst du Gespenster?“ fragte sie dann. Aber Sabrina druckste
nur herum. Solange die Mutter diese Geräusche nicht selber
hörte, wollte sie ihr nichts davon erzählen.
Und ab und zu hörte sie von oben auch etwas. Aber so laut wie
in dieser einen Nacht wurde es nie wieder. Oftmals waren es
auch keine Stimmen oder die Geräusche von auftretenden
Füßen, sondern nur, dass ein Gegenstand mit einem Knall oder
mit etwas Geschepper zu Boden fiel.
Nach einigen Tagen aber hatte sich Sabrina an die Geräusche
gewöhnt und beachtete sie kaum noch. Nur ab und zu saß sie
da und malte sich aus, was für eine Familie das wohl sein
könnte, die dort oben wohnte. Und dann fand sie es fast noch
schöner, dass sie die Leute eigentlich nicht kannte, weil es so
wunderbar geheimnisvoll war. Sie konnte ihrer Phantasie
freien Lauf lassen und sich allerlei Geschichten über sie
ausdenken. Und wenn sie mal wieder das Gefühl hatte, dort
oben lachte jemand, dann lachte sie einfach mit. Und wenn sie
das Gefühl hatte, dort sang jemand, dann versuchte sie, die
Melodie mitzusummen. Manchmal hörten sie dann auf, oder
gaben verdutzte Geräusche von sich. Dann freute sich Sabrina,
weil sie auf diese Weise mit ihnen geredet hatte.
Über eine Sache aber wunderte sie sich immer wieder.
Nämlich, dass immer noch niemand die Treppe, die nach oben
führte, benutzt hatte. Ihre Mutter schien hingegen von alldem
nichts mitzubekommen. Seltsam. Entweder diese Geräusche
ertönten nur direkt über ihrem Zimmer, oder sie konnten von
Erwachsenen nicht gehört worden.
Eines Tages war Sabrina allein zu Hause, als es plötzlich an der
Tür klingelte. Ihr Vater war gerade in Schottland und ihre
Mutter im Supermarkt, um einzukaufen. Vorsichtig schlich sie
sich zur Wohnungstür hinüber. Zum Glück gab es im Haus eine
Sprechanlage. Wenn dort jemand war, den sie nicht kannte,
brauchte sie ihm nicht zu öffnen. Aber bevor sie es schaffte,
auf den Knopf zu drücken, klopfte jemand vom Flur aus an die
Tür.
Vielleicht sind es die Schürigs, dachte Sabrina, und ihr Herz
wäre ihr beinahe in die Hose gerutscht. Doch nur eine Sekunde
später ertönte die Stimme der Vermieterin.
„Ist jemand zuhause?“
Sabrina beeilte sich, die Tür aufzumachen.
„Ach, da ist ja endlich jemand“, sagte die Vermieterin und
strahlte sie freundlich an. In den Händen hielt sie einen großen
braunen Sack, der oben mit einem Faden zugeschnürt war.
„Ist deine Mutter eigentlich auch da, Sabrina?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ach, das ist schade. Aber du kannst ihr diesen Sack ja ebenso
geben. Richte ihr dazu einen schönen Gruß aus.“
„Was ist denn in dem Sack drin?“ fragte Sabrina neugierig.
„Ja, das frage ich mich selber“, sagte die Vermieterin. „Darf
ich vielleicht einmal kurz reinkommen?“
Sabrina trat zur Seite und sie setzten sich gemeinsam an den
Küchentisch, wo die Vermieterin den Sack in aller Ruhe öffnen
konnte. In seinem Inneren waren hunderte, wenn nicht
tausende von kleinen Körnern. Sabrina nahm ein paar davon in
die Hand und fand, dass sie wie kleine Sterne aussahen.
„Weißt du, was das ist?“ fragte die Vermieterin. „Ich habe so
etwas noch nie gesehen. Sie kommen mir aber ein bisschen vor
wie Samenkörner. Deshalb wollte ich deine Mutter mal fragen,
ob sie etwas damit anfangen kann. Sie arbeitet doch noch in
der Gärtnerei Schmitzke, oder etwa nicht?“
„Doch, doch“, antwortete Sabrina. „Aber wo haben sie diese
Körner denn gefunden?“
„Unten im Keller. Dort liegt noch allerlei altes Zeug, von
meiner Großmutter herum. Ich bin nämlich noch gar nicht dazu
gekommen, dort unten für Ordnung zu sorgen. Aber dieser eine
Sack stand in einem ganz besonderen Fach, dort wo sie die
wichtigsten Dinge ihres Lebens aufbewahrt hatte. Und an
Schnüre war ein Etikett angebracht, wo draufstand: Ganz
besonders wertvoll. Bitte gut aufbewahren. Aber sonst stand
nichts dabei. Keine Erklärung oder dergleichen.“
„Hm“, sagte Sabrina. „Das ist ja seltsam. Aber bis meine
Mutter wiederkommt, könnte es noch ein oder zwei Stunden
dauern. Sie muss nämlich heute ganz besonders viel einkaufen,
weil mein Vater am Wochenende wiederkommt. Er hat
Geburtstag und will eine Feier machen.“
„Na, dann sagt aber rechtzeitig dem Ehepaar Müller Bescheid.
Nicht, dass sie sich wieder wegen zuviel Lärm beschweren.“
Da die Vermieterin nicht soviel Zeit hatte, um so lange zu
warten, verabschiedete sie sich und ging.
Danach saß Sabrina eine ganze Weile da und rätselte, was es
mit diesen merkwürdigen Körnern wohl auf sich haben
können. Sie hatten wirklich eine merkwürdige Form, und sie
fühlten sich auch ein bisschen seltsam an. Sie waren nicht hart,
aber auch nicht so weich, dass man sie zerquetschen konnte.
Ja, eigentlich konnte man sie fast mit einem Gummi
vergleichen. Wenn man sie zwischen Daumen und Zeigefinger
zu doll drückte, sprangen sie einem urplötzlich in die Höhe.
Sabrina überlegte schon, ob sie eines von Mamas vielen
Pflanzenbüchern hervorholen und nachgucken sollte, als sie
sich plötzlich zu etwas anderem entschied. Sie hatte doch in
ihrem eigenen Zimmer noch eine große Blumenvase, in die sie
noch nichts gepflanzt hatte. Wieso legte sie nicht einfach ein,
oder vielleicht auch zwei oder drei der Körner hinein, goss sie
ein bisschen und wartete dann ab, was passierte. Wenn die
Pflanze genauso sonderbar war, wie die Körner, dann würde
ihre Mutter aber ziemlich darüber staunen. Es wäre doch ein zu
tolles Ding, dass ihre kleine Tochter eine Blume
hervorzauberte, die sie selbst als Gärtnerin noch nie gesehen
hatte.
Also tat Sabrina das, was sie sich ausgedacht hatte, und
versteckte danach den Sack in ihrem Schrank. Als die Mutter
nach Hause kam, erzählte sie ihr nicht, dass die Vermieterin zu
Besuch gekommen war und ein Geschenk mitgebracht hatte.
Der nächste Tag war ein Freitag und die Mutter weckte sie
etwas später als normal. Sie hatte ein bisschen verschlafen,
weil sie am Abend zuvor noch einen Geburtstagskuchen für
den Papa gebacken hatte. Deswegen merkte Sabrina gar nicht,
dass in dem großen Blumentopf schon ein kleiner Spross
empor gekeimt war. Nach gerade einmal einer Nacht!
Erst als sie aus der Schule zurück war, hatte sie die Zeit dazu,
ihr selbst heran gezüchtetes Gewächs etwas genauer zu
betrachten. Und sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus!
Das Gewächs war in der Zwischenzeit mindestens zwanzig
Meter gewachsen. Es hatte sogar schon Blätter bekommen. Sie
waren zwar noch ein bisschen klein und fipsig, aber wenn es
weiter mit einer solchen Schnelligkeit wuchs, dann würde es
bald ein prächtiges Blätterkleid bekommen. Die Pflanze wuchs
aus der Mitte des Topfes hervor, aber Sabrina sah, dass in vier
Ecken weitere Keime heranwuchsen.
Als ihre Mutter anklopfte, wollte sie ihr voller Stolz ihr
Züchtung zeigen, aber diese hatte keine Zeit dafür. Sie wollte,
dass Sabrina zum Mittag kam und danach in ihrem Zimmer
selbstständig den Teppich saugte. Denn sie hatte an diesem
Wochenende soviel zu tun, dass sie kaum wusste, was sie
zuerst und zuletzt anfangen sollte.
Na, dann hebe ich mir die Überraschung noch ein bisschen
länger auf, dachte Sabrina. Vielleicht bis Morgen, denn morgen
war ja der Geburtstag ihres Vaters.
Sie goss die Pflanze, aber nur ein bisschen. Nicht, dass ein paar
Stunden später ihr Zimmer wie ein einziger Urwald aussah.
Am Abend ging Sabrina viel später ins Bett als sonst. Papa war
nämlich zurückgekommen und erzählte beim Abendbrot von
all seinen Erlebnissen unterwegs. Außerdem war ja Freitag und
sie konnte am nächsten Morgen lange ausschlafen. Vorm Zu-
Bettgehen kontrollierte sie allerdings noch einmal die Pflanze,
und war beinahe schockiert!
Sie war in der Zwischenzeit so gewachsen, dass sie bald den
halben Weg zur Zimmerdecke erreicht hatte. Auch die vier
Keime in den Ecken des Blumentopfes hatten sich verändert.
Im Gegensatz zur Mittelpflanze, die geradeaus wuchs,
wuchsen diese spiralförmig um sie herum. Es sah beinahe wie
eine Art Zopf aus. Trotzdem bildeten sie auch dünne Seitenäste
aus, an denen Blätter keimten. Aber nicht nur Blätter, an den
Enden mancher Zweige hing etwas, was so wie Glocken
aussah. Waren das etwa schon die Ansätze der ersten Blüten?
Sabrina bekam es beinahe ein bisschen mit der Angst zu tun,
als sie das sah. Man stelle sich nur vor, die Pflanze war so
stark, dass ihre Wurzeln den Blumentopf zersprengen konnten.
Vielleicht noch mitten in der Nacht, wenn sie schlief.
Aber sie beruhigte sich schnell wieder und ging zu Bett. Denn
der Abend war lang gewesen, und nun war sie müde.
Schade, dass sie so schnell einschlief! Denn dann hätte sie
sehen können, wie sich die Glocken in der Nacht langsam
öffneten und sich zu sternförmigen Blüten umwandelten. Aber
sie waren nicht nur sternförmig, nein, sie leuchteten auch wie
Sterne. Und zwar nicht nur in gelb, sondern auch in blau, rot
oder grün. Es war ein wirklich wunderbarer Anblick, aber als
Sabrina am nächsten Morgen aufwachte, war von alldem nichts
mehr zu sehen. Das einzige, was sie sah, war, dass die Pflanze
weiter gewachsen war. Die Spiralen, die sich um den
Hauptstängel gebildet hatten, waren mittlerweile so dick und
fest geworden, dass sie wie eine dicke Kordel aussahen. Nur
noch wenige Zentimeter fehlten, und die Pflanze hatte die
Decke erreicht.
Als am Abend Papas Gäste da waren, seine Eltern, seine
beiden Schwestern, von denen eine ein Baby hatte, und ein
paar Arbeitskollegen, durften sie natürlich alle in Sabrinas
Zimmer kommen, um die Wunderpflanze zu bewundern.
Der Mama stockte fast der Atem, als sie das sah.
„So schöne große, weiße Glocken!“ sagte sie und musste sich
am Schreibtisch festhalten, damit sie nicht vor Schreck umfiel.
„So etwas habe ich ja noch nie gesehen. Und dieser
merkwürdige Stängel… falls man es überhaupt Stängel nennen
darf, dass… dass… ist ja. Was für eine Pflanze ist das, die du
mir da eingepflanzt hast?“
„Tja, da sieht man mal, dass sogar eine erfahrene Gärtnerin
wie du von seiner eigenen Tochter noch was lernen kann!“
sagte der Papa, und kraulte seiner Tochter anerkennend durch
das Haar.
„Und das Beste ist ja, dass sie in gerade einmal zwei Tagen
gewachsen ist!“ rief Sabrina triumphierend.
„Nein!“ sagte die Mutter nur. „Liebes Kind, das kann nicht
sein! Und da weiß ich als erfahrene Gärtnerin ganz sicher mehr
als du. Keine Pflanze dieser Welt kann so schnell wachsen!
Egal wie man sie gießt. Egal, was für einen Dünger sie
bekommt.“
„Aber wenn ich es doch sage!“ maulte Sabrina.
„Eine wirklich nette Tochter hast du“, sagten Papas
Arbeitskollegen. „Und was für eine Phantasie sie hat.“
Wirklich zu glauben wollte ihr an diesem Abend niemand.
Außer Papa vielleicht ein bisschen. Aber es klang doch eher so,
als wollte er nur ein paar dumme Witze machen wollte, um
Mama zu ärgern.
„Wenn dieser Strauch aber die nächsten Tage weiter so wächst,
wie Sabrina gesagt hat, dann sollten wir schnellstens sehen,
dass wir den bei irgendwem im Garten auspflanzen. Denn
ansonsten wächst der uns noch dieses Wochenende durch die
Decke hindurch.“
Sabrina erstarrte, als sie das Wort Decke hörte und musste
sofort an die Gesellschaft dort oben denken, die genauso
seltsam zu sein schien wie diese Pflanze.
„Nein, das werde ich zu verhindern wissen“, sagte die Mutter.
„Spätestens am Montag werde ich dieses Gewächs einmal mit
in die Gärtnerei nehmen und meine Chefin, die Frau Dinkler
fragen. Vielleicht hat die ja eine Ahnung, was das ist.“
„Aber Mama!“ beschwerte sich Sabrina. „Es ist doch mein
Gewächs.“
„Ja, mein Liebes. Aber ich glaube nicht, dass wir diese
Monsterpflanze bei uns in der Wohnung behalten können. Dies
hier ist eine gewöhnliche Stadtwohnung und kein botanischer
Garten.“
Da es Papas Geburtstag war, ging Sabrina auch an diesem
Abend wieder spät ins Bett. Als sie die Pflanze vorm
Zubettgehen noch einmal betrachtete sah sie, dass sie
tatsächlich die Decke erreicht hatte. Eigentlich hätte sie nun
trotzig zur Mutter gehen und es ihr zeigen können. Aber sie
war ein bisschen beleidigt, dass ihr niemand glauben wollte.
Deshalb ging sie, ohne etwas zu sagen, ins Bett.
Sie konnte nur wenige Stunden geschlafen haben, als sie erneut
erwachte. Sie hatte Geräusche gehört, genau wie in der Nacht,
als sie zum ersten Mal von der Familie im Dachgeschoss
gehört hatte. Doch nachdem sie sich den Schlafdreck aus den
Augen gerieben hatte, vergaß sie dies sofort. Denn da hatte sie
nur noch Augen für den leuchtenden Zauberbaum, der dort in
der Ecke in ihrem Zimmer stand.
Kann man sich so etwas vorstellen? Einen Baum, auf dem
lauter bunte Sterne leuchten? Sabrina war so fasziniert davon,
dass ihr nichts daran unheimlich war.
Wenn in ein paar Monaten Weihnachten ist, werde ich die
übrigen Samen für viel Geld verkaufen, dachte sie nur. Denn
wer möchte zu Weihnachten nicht gerne einen Baum haben,
der leuchtet, ohne dass man erst mit viel Mühe und Not eine
Weihnachtskette anbringen muss?
Angst bekam sie erst, als sie wieder die Geräusche hörte. Sie
kamen zwar von oben, aber nicht aus dem Dachgeschoss.
Nein, aus ihrem eigenen Zimmer kamen sie. Es war so, als ob
irgendjemand an der Decke kratzte. Oder vielleicht sogar in sie
hineinbohrte. Dann hörte es sich auch immer wieder so an, als
ob feiner Sand oder Staub zu Boden fiel. Erst als das Kratzen
so laut war, dass man eine Gänsehaut bekam, und eine
Sekunde später ein paar richtige Brocken auf dem Boden
aufbullerten, erwachte Sabrina aus ihrer Starre.
Panisch vor Entsetzen knipste sie das Licht an, und schon hatte
sie den Übeltäter gefunden! Die Pflanze war es, niemand
anders als die Pflanze! Und sie hatte noch nicht einmal den
Anstand, damit aufzuhören, jetzt, wo sie ertappt war. Wie eine
dicke grüne Schraube bohrte sie sich weiter in die Decke
hinein, dass der Staub vom Putz nur so herunterrieselte. Wie
auf einer Baustelle. Zur gleichen Zeit hörten natürlich auch die
Sterne auf zu leuchten und verwandelten sich zu weißen
Glocken zurück. Aber das bemerkte Sabrina kaum. Jetzt
konnte sie nur noch an die Decke starren.
Vielleicht wäre sie ein paar Augenblicke später zu ihren Eltern
gelaufen, hätte sie wach gemacht, und ihnen alles gezeigt.
Doch dann hörte sie neue Geräusche, die sie erstarren ließen,
und diese kamen nun wirklich aus dem Dachgeschoss.
Die Familie, dachte Sabrina beunruhigt. Wir sollen sie nicht
stören, aber sie werden sich sicherlich gestört fühlen, wenn
sich etwas von unten durch die Decke bohrt.
Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob es gut war, diese Pflanze
heimlich zu pflanzen. Sie hätte ja nicht ahnen können, was für
einen Ärger sie ihr machen würde.
Es musste eine ziemlich aufgeregte Unterhaltung sein, die da
oben stattfand, denn die Stimmen gingen immerzu auf und ab.
Schließlich aber wurden sie von einem wirklich lauten Krach
übertönt, und das war, als sich ein richtig großer Stein aus der
Decke löste. Mit einem lauten Bums fiel er zu Boden.
Wie gut, dass unter ihnen der einsame Mann und nicht das
Rentnerehepaar wohnte. Die hätten sich jetzt bestimmt wieder
über den Lärm beschwert.
Sabrina wusste, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, ihren
Eltern Bescheid zu sagen. Aber sie war so gelähmt, dass sie es
nicht mehr wagte, sich vom Fleck zu rühren. Nach dem großen
Brocken fielen noch ein paar kleinere Steinchen herab, aber
das Schlimmste war jetzt überstanden. Dafür waren die
Stimmen von oben noch deutlicher zu hören, denn anscheinend
hatte die Pflanze bereits ein Loch in die obere Wohnung
hindurchgebohrt. Doch den Stimmen nach zu urteilen, schien
deswegen niemand betrübt zu sein. Im Gegenteil, man schien
sich beinahe darüber zu freuen.
Sabrina versuchte genauer zu lauschen, und bald schon glaubte
sie, einzelne Worte herauszuhören. Die dort oben sprachen
Deutsch, soviel war klar.
„du zuerst“, hörte sie eine eher hohe Stimme sagen, während
im Hintergrund ein leiser, aber fröhlicher Gesang erklang.
Bald aber wurde dieser Singsang von einem weit weniger
melodischen Gebrumme übertönt. Und dieses Gebrumme
schien durch das Loch in der Wand zu klettern und immer
weiter in Sabrinas Zimmer hinunterzukommen. Das wurde ja
immer unheimlicher. Konnte diese seltsame Pflanze nun etwa
auch singen?
Aber nein. Es war nicht die Pflanze, die da gesungen hatte, es
war das Männchen, dass sich kurze Zeit später zwischen den
dicken spiralförmigen Stängeln des Gewächses
hindurchquetschte. Es war ein ziemlich seltsames Männchen.
Sabrina hatte schon längst vermutet, dass die Menschen dort
oben im Dachgeschoss kleiner waren als gewöhnliche
Menschen. Aber so klein? Den konnte sie ja locker mit einer
einzigen Hand tragen, und das, obwohl sie noch ein kleines
Mädchen war.
Sabrina betrachtete das Männchen genauer und fand, dass es
ein bisschen altmodische gekleidet war. Hose und Jacke waren
braun und sahen ein bisschen lumpenhaft aus. Auf dem Kopf
trug es einen Hut, der ebenfalls braun war, und unter dem
dunkles, dichtes, lockiges Haar zum Vorschein kam. Das
fremde Wesen war eindeutig ein Mann, und zwar ein richtiger
Mann, kein Junge. Das sah man ihm deutlich an, wenn er auch
ziemlich klein war. Denn er trug auch einen Bart im Gesicht,
der unterm Kinn zwar lang und spitz herunterhing, der aber
nicht besonders dicht war.
„Hallo“, grüßte der kleine Mann und winkte ihr freundlich zu.
Sabrina war zunächst ein bisschen verdutzt, weil er überhaupt
nicht schüchtern zu sein schien. Dann aber freute sie sich wie
eine Schneekönigin. Sie erinnerte sich an die Worte der
Vermieterin. Wenn sie glauben, jemandem vertrauen zu
können, kommen sie ganz von alleine.
„Hallo“, sagte Sabrina leise. „Was bist du denn für einer?“
„Mein Name ist Honzi Hossenheim“, antwortete der Mann.
„Ich bin vor ein paar Tagen dort oben eingezogen.“
„Vor ein paar Tagen erst?“ fragte Sabrina. „Ich dachte, ihr
wohnt schon viel länger dort oben. Die Besitzerin dieses
Hauses hat gesagt, schon seit vielen Jahrzehnten. Schon, als