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Hanich · Wulff (Hrsg.) AUSLASSEN, ANDEUTEN, AUFFÜLLEN Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2012 Wilhelm Fink Verlag, München
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Die Auslassung als ‘Wirklichkeitseffekt’. Ellipsen und Lateralellipsen im Film

Jan 20, 2023

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Jens Eder
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Page 1: Die Auslassung als ‘Wirklichkeitseffekt’. Ellipsen und Lateralellipsen im Film

Hanich · Wulff (Hrsg.)

AUSLASSEN, ANDEUTEN, AUFFÜLLEN

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Julian Hanich · Hans Jürgen Wulff (Hrsg.)

AUSLASSEN, ANDEUTEN, AUFFÜLLEN

Der Film und die Imagination des Zuschauers

Wil helm Fink

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Dieser Band dokumentiert die Forschungsergebnisse einer fi lmwissenschaftlichen Tagung, die im Dezember 2010 im ICI Berlin stattfand. Die Herausgeber danken allen Beteiligten.

Ein besonderer Dank geht an Natalie Voß Contreras für ihre unermüdliche Hilfe beim Redigieren der Texte. Gedruckt wurde der Band mit freundlicher Unterstützung

des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissen-

schaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung

einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,

soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2012 Wilhelm Fink Verlag, München(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Jens LudewigPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5398-3

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INHALT

JULIAN HANICH

Auslassen, Andeuten, AuffüllenDer Film und die Imagination des Zuschauers – eine Annäherung. . . . . . . . . 7

I. THEORIEN DES AUSLASSENS, ANDEUTENS, AUFFÜLLENS

ECKHARD LOBSIEN

Leerstellen, Unbestimmtheiten, schematisierte AnsichtenZur Phänomenologie des Auslassens und Andeutens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

MARKUS RAUTZENBERG

EvokationZur non-visuellen Macht der Bilder – eine Forschungsskizze . . . . . . . . . . . . . 49

JENS BONNEMANN

Zwischen Wahrnehmung und ImaginationJean-Paul Sartres (nie geschriebene) Phänomenologie des Films . . . . . . . . . . . 69

II. FILMISCHES AUSLASSEN UND ANDEUTEN

CHRISTINE N. BRINCKMANN

Paradoxien der Zeitraffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

GUIDO KIRSTEN

Die Auslassung als ‚Wirklichkeitseffekt‘Ellipsen und Lateralellipsen im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

GUIDO HELDT

Hör-Spiele Filmmusik und Imaginationssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

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6 INHALT

III. DIE IMAGINATION DES ZUSCHAUERS IM DOKUMENTAR- UND STUMMFILM

BRITTA HARTMANN

‚Anwesende Abwesenheit‘Zur kommunikativen Konstellation des Dokumentarfi lms . . . . . . . . . . . . . . 145

URSULA VON KEITZ

Referenz und Imagination im Dokumentarfi lm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

FRANK KESSLER

Die Imagination des Zuschauers – der imaginierte Zuschauer . . . . . . . . . . . . 181

CLAUS TIEBER

Zur Inszenierung der StimmeVisuelle Anleitungen zur Interpretation des Nicht-Hörbarenim Enrico-Caruso-Film My Cousin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

IV. TRANSMEDIALE IMAGINATIONEN

JENS EDER

Transmediale Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

JULIAN HANICH

Große ErwartungenLiteraturverfi lmungen und die Imagination des Lesers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

FABIENNE LIPTAY

La double vie de l’imageVeronikabilder zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 263

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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GUIDO KIRSTEN

DIE AUSLASSUNG ALS ‚WIRKLICHKEITSEFFEKT‘

Ellipsen und Lateralellipsen im Film

Abstract

In zwei Punkten scheint über alle Paradigmengräben in der Filmwissenschaft Einigkeit zu herrschen: Erstens können Ellipsen im Film eine Vielzahl von verschiedenen Funk-tionen erfüllen. Zweitens dienen sie aber mehrheitlich der Erzählökonomie, in dem sie alles eliminieren, „was nicht für die Verständlichkeit des Plots unerlässlich ist und des-sen Beibehalten die Dichte der Erzählung verringern könnte“ (Pierre Beylot). Gerade mit diesem erzählökonomischen Prinzip scheinen realistische Filme im Sinne eines Barthes’schen Wirklichkeitseffekts zu brechen. Sie integrieren an prominenten Stellen auch solche Handlungen und Details, die keiner dramaturgischen Notwendigkeit ent-sprechen, sondern nur auf den realistischen Charakter der Diegese verweisen. Diese Art Wirklichkeitseffekt ergibt sich also aus einem zur klassischen Ellipse konträr stehenden Konzept. Vor dem Hintergrund dieses Befunds und unter Bezug auf Schriften von André Bazin wird die Frage diskutiert, wann und wie auch Auslassungen als Wirklich-keitseffekt fungieren und damit zu einer realistischen Filmästhetik beitragen können. Als Beispiel für eine solche Wirkung wird die ‚Lateralellipse‘ aus Cristian Mungius 4 LUNI, 3 SAPTAMÂNI SI 2 ZILE (4 MONATE, 3 WOCHEN UND 2 TAGE, 2007) im Zu-sammenhang mit der spezifi schen Erzählweise des Films analysiert.

Narratologisch betrachtet sind fi lmische Ellipsen maximale Beschleunigungen des Erzähltempos. Während die ‚erzählte Zeit‘ weiterläuft, verschwindet die ,Erzähl-zeit‘ praktisch im Moment des Schnitts (oder in der kurzen Dauer einer Ab- und Aufblende). Der Schnitt repräsentiert dann vergangene diegetische Zeit, ausgelas-sene Ereignisse in der fi ktionalen Welt. Unterscheiden lassen sich mit Gérard Ge-nette dabei bestimmte Ellipsen, bei denen klar ist, wie viel Zeit vergangen ist, von unbestimmten, bei denen dies nicht aus dem Kontext hervorgeht, sowie implizite von gekennzeichneten.1 Die ausgelassene Zeit kann wenige Sekunden, prinzipiell aber auch Jahrhunderte betragen.

Auch erfüllen Ellipsen im Film bekanntlich sehr unterschiedliche Funktionen: So können sie einen humoristischen Effekt haben, etwa wenn eine Figur in einer Einstellung eine bestimmte Intention zum Ausdruck bringt und dann in der nächs-

1 Vgl. Markus Kuhn, Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin/New York: de Gruyter, 2011, S. 218ff.

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ten Einstellung genau das Gegenteil tut. Diese Art Gag gehört zum klassischen Repertoire von Komödien und wird auch außerhalb des Genres eingesetzt. Anders im Melodrama: Dort dienen Ellipsen oft zur Steigerung der emotionalen Dichte des Films durch Auslassung der nicht-pathetischen Momente. Ellipsen können ebenso Spannung erzeugen, wenn den Zuschauerinnen genau die Informationen vorenthalten werden, die die Spannung aufl ösen könnten. Ein Spezialfall dieser Erzählweise ist der Whodunit-Plot, der mit einer Ellipse beginnt und die Informa-tion, wer ein bestimmtes Verbrechen begangen hat, mittels „delayed exposition“ erst am Ende der Geschichte nachliefert. Ellipsen können ebenso als Mittel unzu-verlässigen Erzählens eingesetzt werden, in dem durch Schnitte ein Sachverhalt suggeriert wird, der den diegetischen Tatsachen nicht entspricht und die Zuschau-erinnen so auf falsche Fährten lockt.2 Sie können auch eine ganz unklare, diffus mysteriöse Stimmung erzeugen oder Erzählungen bis an den Rand ihrer Verständ-lichkeit und damit bis zur Dysnarrativität durchlöchern. Schließlich können Aus-lassungen als Vorsichtsmaßnahmen gegenüber Zensur und moralischen Instanzen eingesetzt werden, und damit auf Determinanten außerhalb der Werkfunktionen verweisen. Sie lassen sich dann darauf rückbeziehen, was zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur allenfalls angedeutet, nicht aber gezeigt werden darf, wie jene Sexszenen, die im klassischen Film im Schnitt verschwinden.3

In den allermeisten Fällen jedoch – und hier herrscht Einigkeit über alle Theo-rieschulen und Paradigmengräben hinweg – dienen Ellipsen der Erzählökonomie. So schreibt etwa Pierre Beylot:

2 So in SECRET BEYOND THE DOOR (Fritz Lang, USA 1948) mit einer Ellipse, die David Bord-well als „one of the most flagrant ellipses in the Hollywood cinema“ bezeichnet hat (Narrati-on in the Fiction Film, Madison, Wisconsin: University of Wisconsin Press, 1985, S. 83). Ce-cilia Lamphere (Joan Bennett) flieht aus dem Haus, in dem sie gemeinsam mit ihrem Ehe-mann Mark (Michael Redgrave) wohnt, weil sie ihn für einen Mörder hält und sich in akuter Lebensgefahr wähnt. Nachdem Cecilia allein im nebligen Garten herumirrt, sehen wir eine Silhouette, von der wir annehmen, dass es sich um Mark handelt. Während einer Schwarz-blende hören wir den Schrei der Frau. Später erfahren wir, dass kein Mord stattgefunden hat, sondern Cecilia einen Fremden getroffen hat, der ihr bei der Flucht geholfen hat. Der gezielt gestreute Verdacht hat sich als falsch erwiesen. Auch bei Traumsequenzen, die erst retroaktiv als solche markiert werden, kann durch Ellipsen der Moment des Einschlafens eliminiert und so eine Fehlinterpretation angeleitet werden. Vgl. Matthias Brütsch, Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv, Marburg: Schüren, 2011, S. 186. Umgekehrt kann aber auch eine Ellipse vorgetäuscht werden, während tatsächlich die Zeit kon-tinuierlich weiter präsentiert wird: „Die Konstellation des expliziten Einschlafens mit vorge-täuschtem Wiedererwachen ist deshalb besonders ‚hinterhältig‘, weil uns die Erzählung genau denjenigen Inhalt vermittelt, den sie vorgibt auszulassen. Uns wird vorgemacht, der Schlaf oder die Bewusstlosigkeit seien so kurz, traumlos oder unbedeutend, dass darüber hinweggegangen und direkt beim Wiedererwachen angeknüpft werden könne. Erst im Nachhinein stellt sich he-raus, dass sämtliche Ereignisse sich just in derjenigen Zeitspanne und demjenigen Modus zuge-tragen haben, die zuvor als scheinbar inhaltslos übergangen worden waren“ (Brütsch, 189f).

3 Vgl. Jacqueline Nacache, Hollywood, l’ellipse et l’infilmé, Paris: Harmattan, 2001, S. 219-270.

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Es ist ihre häufi gste Funktion, dazu beizutragen, die Spannung der Erzählung auf-rechtzuerhalten. Die Ellipsen eliminieren die ‹temps morts›, das Kommen und Ge-hen von Figuren, die nichts zum Fortgang der Handlung beitragen, sie eliminieren kurz gesagt alles, was nicht für die Verständlichkeit des Plots unerlässlich ist und dessen Darstellung die Dichte der Erzählung verringern könnte. Die Ellipse gehorcht hier einfach einem erzählökonomischen Prinzip […].4

Nun ist bemerkenswert, dass viele Filme, die einer realistischen Ästhetik verpfl ich-tet sind, genau mit diesem erzählökonomischen Prinzip brechen. Das geschieht namentlich dann, wenn sie Handlungen in ihren Verlauf integrieren, die keiner dramaturgischen Notwendigkeit entsprechen. In solchen Szenen (oder kleineren Segmenten) liefern die Filme keine Informationen, die für die Konstruktion der Geschichte unerlässlich sind, sondern verweisen nur auf den realistischen Charak-ter der Diegese, in der solche Handlungen ebenso zum Alltag gehören wie in der wirklichen Welt.5 Diese Art ‚Wirklichkeitseffekt‘ ergibt sich also aus einem der klassischen Ellipse glatt entgegengesetzten Konzept. In diesem Sinn schreibt André Bazin über eine berühmte Szene aus UMBERTO D. (Vittorio de Sica, 1952), in der lediglich gezeigt wird, wie das Hausmädchen seine morgendlichen Tätigkeiten ver-richtet (Wasser kochen, Kaffeemahlen etc.), hier werde „das Kino zum genauen Gegenteil jener ,Kunst der Ellipse‘, als die es gern leichtfertig betrachtet wird.“6

Wenn die anti-elliptische Erzählweise eins der Merkmale realistischer Filmäs-thetik ist, lässt sich umgekehrt fragen, ob und unter welchen besonderen Bedingun-gen Auslassungen im Film dennoch zu einer realistischen Wirkung beitragen kön-nen. Dabei steht außer Frage, dass es erzählökonomische Ellipsen und andere Formen von Auslassungen auch in ‚realistischen‘ Filmen gibt. Es soll daher nicht darum gehen, ob sie innerhalb realistischer Erzählweisen auftreten können, ohne diese zu sabotieren (dies ist zweifellos der Fall), sondern darum, ob sie selbst in ir-gendeiner Weise produktiv zur realistischen Wirkung beitragen können. Im Fol-genden wird also untersucht, ob und wie die Auslassung neben den anderen ge-nannten Funktionen auch zum ‚Wirklichkeitseffekt‘ werden kann. Berücksichtigt werden sollte dabei allerdings, dass mit diesem Begriff (anders als bei Barthes) kein Illusionseffekt impliziert wird, sondern vielmehr anzunehmen ist, dass Wirklich-keitseffekte in ihrer Funktion von den Zuschauerinnen durchaus erkannt und dem realistischen Regime eines Films zugerechnet werden können. Wenn man davon ausgeht, dass das Realismusattribut nicht nur vom fi lmischen Werk, sondern auch von dessen Lektüre abhängt (im Sinne der Semiopragmatik Roger Odins), lassen sich Wirklichkeitseffekte als Hinweise für die Angemessenheit einer solchen Lektü-re verstehen, die den Film als im ästhetischen Sinn ‚realistischen‘ je erst konstru-

4 Pierre Beylot, Le récit audiovisuel, Paris: A. Colin, 2005, S. 173; Übers. GK. 5 Vgl. Guido Kirsten, „Die Liebe zum Detail. Bazin und der ,Wirklichkeitseffekt‘ im Film“, in:

Montage AV, Vol. 18, Nr. 1, 2009, S. 141-162. 6 André Bazin, „Ein großes Werk: UMBERTO D.“ [frz. 1952], in: Was ist Film?, Berlin: Alexan-

der, 2004, S. 375-379 (hier: S. 377).

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iert.7 Die Wirklichkeitseffekte stehen diesem Verständnis nach zum Realismus in einem gegenseitigen Konstitutionsverhältnis: Sie sind in ihrer Wirkung einerseits von der realistischen Lektüre abhängig, da sie prinzipiell immer auch anders (z. B. metaphorisch oder metatextuell) interpretiert werden können; andererseits gehö-ren die „bedeutungslosen Eintragungen“ und „konkreten Details“ (Barthes) zu je-nen Markierungen, die eine realistische Lesart des jeweiligen Films nahelegen.

KON-TIKI und die Auslassung als Authentizitätseffekt

Als Anhaltspunkt für die Frage nach der realistischen Wirkung von Auslassungen können verschiedene Bemerkungen von Bazin dienen. Ein erstes interessantes Ar-gument für den Einsatz einer Ellipse mit Wirklichkeitsbezug liefert er in seinen Überlegungen zum dokumentarischen Film KON-TIKI (1950). Das Material dieses Films wurde während einer Expedition gedreht, die der norwegische Ethnologe und Abenteurer Thor Heyerdahl gemeinsam mit einer kleinen Crew 1947 von der Küste Perus zur polynesischen Inselgruppe unternommen hat. Diese Fahrt sollte seine These erhärten, dass schon vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus und vor der Besiedlung Polynesiens aus dem asiatischen Raum heraus eine Migra-tion von Südamerika zu der Inselgruppe stattgefunden habe. Zu diesem Zweck musste die Überfahrt auf einem nach überlieferten Methoden gebauten Floß aus Balsa-Holz und Bambus erfolgen. Der Film, der diese abenteuerliche Expedition dokumentiert, ist entsprechend unter extrem widrigen Bedingungen entstanden:

Da das Unternehmen keineswegs, nicht einmal nebenbei, einen Film zum Ziel hatte, waren die Aufnahmebedingungen so schlecht wie nur möglich. Das heißt, die Kame-ra kam praktisch nie vom Gelegenheitskameramann los, der dicht über dem Wasser in einer Ecke des Floßes eingezwängt war. Also natürlich keine Kamerafahrten, keine Aufsichten, gerade noch die Möglichkeit, das ‹Schiff› von einem in den Wellen schlingernden Schlauchboot aus in der Totalen aufzunehmen. Und schließlich und vor allem: Wenn etwas Außergewöhnliches geschah (ein Sturm beispielsweise), hatte die Mannschaft anderes zu tun, als zu drehen.8

Der ganze Film wird von der erzählenden Voice-Over Thor Heyerdahls zusam-mengehalten; die Filmbilder, die ein Mitglied der Crew (ohne Ton) gelegentlich aufnahm, bekommen erst durch die Kommentare ihren Sinn. Während wir das ‚Schiff‘ aus einiger Entfernung in ruhigem Wasser dahin treiben sehen, berichtet Heyerdahl: „We had two gales as we approached our half way mark. One of these raged for fi ve days and kept us too busy to do any fi lming. Our sail split, the stee-

7 Vgl. Roger Odin, „For a Semio-Pragmatics of Film“ [frz. 1983], in: The Film Spectator. From Sign to Mind, hg. v. Warren Buckland, Amsterdam: Amsterdam University Press, 1995, S. 213-226. Roger Odin, De la fiction, Paris: De Boeck, 2000.

8 André Bazin, „Der Film und die Erforschung der Erde“ [frz. 1953/54], in: Was +++ist Film?, S. 51-60 (hier: S. 57).

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ring rod broke and the centre board came away. There was also some damage to the deck, but we managed to repair most of it and continued calmly on our way.“ Zu sehen sind weder die Stürme noch der angerichtete Schaden; ohne die Voice-Over würden wir davon nichts erfahren. Sie ergänzt auch ansonsten zahlreiche Informa-tionen, die sich den Bildern allein nicht entnehmen ließen. Relevant wird dies in jenen Momenten, von denen die Kamera nur fl üchtige, fragmentarische Bilder aufgenommen hat, wie etwa von einem Walhai, der sich dem Floß nähert (Abb. 1).

Für Bazin sind es gerade diese fragmentarischen und fehlenden Szenen, die KON-TIKI zu einem „bewundernswerte[n], überwältigende[n] Film“9 machen, da sich an diesen Stellen nicht nur die Dinge, Tiere und Menschen, die sich vor der Linse befanden, in das Bild einschreiben, sondern auch die zum Teil lebensgefährlichen Bedingungen, unter denen die Bilder zustande kamen – oder eben nicht zustande kamen: „Denn der Film ist nicht nur das, was man sieht. Seine Unvollkommenheiten zeugen für seine Authentizität, die fehlenden Bilder sind der Negativabdruck des Abenteuers, seine eingravierte Inschrift“.10

9 Bazin, S. 57.10 Bazin, S. 59.

Abb. 1: KON-TIKI (Thor Heyerdahl, 1950)

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Seine indexikalische Dimension entfaltet der Film offenbar in besonderem Maße dort, wo die Bildobjekte kaum zu erkennen sind, ihr ikonischer Aspekt fast bis zum völligen Verschwinden vermindert ist.11 Der Wirklichkeitseffekt, der in diesem Fall vielleicht besser als „Dokumentar-“ oder als „Authentizitätseffekt“12 zu bezeichnen wäre, ist also an einen bestimmten Modus der indexikalischen Ein-schreibung gebunden. Und in einschränkendem Sinne muss hier a fortiori gelten, was bezüglich der Indexikalität generell gilt: dass nämlich ihre Tatsache allein nichts besagt und die existenzielle Relation von Zeichen und Objekt erst zum Ge-genstand einer entsprechenden Lektüre und im sogenannten Interpretanten zum Ausdruck gebracht werden muss. Eine solche Lektüre ergibt sich nicht aus der in-dexikalischen Relation allein, sondern ist abhängig vom Wissen der Betrachterin-nen und vom Kontext der Zeichen.

Darüber hinaus bedarf es nur eines kurzen Nachdenkens, um die sehr be-schränkte Reichweite von Bazins Argument zu erkennen. Der Wirklichkeits- oder Authentizitätseffekt der Ellipse ergibt sich im Fall von KON-TIKI offenkundig aus der den Entstehungsbedingungen geschuldeten prekären Aufnahmesituation, nämlich der Tatsache, dass es in manchen Momenten nicht möglich war zu fi lmen, oder nur unscharfe Bilder entstehen konnten, deren Referent kaum erkennbar ist. Auf andersgeartete Dokumentarfi lmprojekte lässt sich diese Überlegung daher nicht einfach übertragen und erst recht nicht auf Ellipsen in Spielfi lmen. Denn eine vergleichbar prekäre Position der Kamera ist bei Filmen, deren Handlung als fi ktional, also als erfunden verstanden wird, per se ausgeschlossen. Nur wenn die Situationen, von denen der fi lmische Diskurs berichtet, als reale begriffen werden, kann auch die Kameracrew selbst real in Gefahr gewesen sein und nur in solchen Fällen können Ellipsen und unscharfe Bilder aus ihrer Genese heraus gerechtfertigt werden.

Sobald die Ereignisse und Personen im Bild diegetisiert, und damit als fi ktive Entitäten verstanden werden, stößt die indexikalische Lektüre an ihre Grenze, weil die fi lmischen Zeichen dann nicht mehr auf die raumzeitliche Konfi guration der Bildgenese und den Ort der Kamera verweisen, sondern auf Momente im (mit

11 Ähnliche Überlegungen finden sich bei Georges Didi-Huberman anhand einer in Auschwitz entstanden Fotografie, auf der kaum etwas zu erkennen ist: „Wenn man von der letzten Foto-grafie der Serie behauptet, sie sei aus der Sicht des Historikers einfach nutzlos, dann unter-schlägt man ihre Phänomenologie, all das, was sie von der Situation des Fotografen festhält: die Unmöglichkeit unmittelbar durch den Sucher der Kamera zu schauen, die akute Gefahr, die Eile, die wahrscheinlich raschen Schritte des Fotografen, die Unbeholfenheit, das blen-dende Gegenlicht der Sonne, vermutlich auch die Atemlosigkeit. Dieses Bild ist buchstäblich außer Atem: als reine Geste, als bloße Aussage und blinder fotografischer Akt – das heißt oh-ne die Unmöglichkeit einer festen Orientierung nach oben oder unten – ermöglicht es einen Zugang zu den Bedingungen, unter denen der Hölle von Auschwitz vier Fetzen entrissen wurden. Auch diese Dringlichkeit hat Anteil an der Geschichte“ (Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München: Fink, 2007, S. 62f).

12 Vgl. Peter Wuss, Filmanalyse und Psychologie. Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess, Berlin: Sigma, 1993, S. 229ff, der allerdings von „Authentie-Eindruck“ oder „-Effekt“ spricht.

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dieser gänzlich inkommensurablen) Universum der Fiktion, in dem die Kamera gar keinen Ort hat. Mit Ausnahme von Filmen mit diegetischer Kamera, die dann eigens als Entität im Universum der Handlung etabliert werden muss, ist die bild-generierende Kamera stets extradiegetisch (und entsprechend für die Figuren nicht wahrnehmbar). Aus diesem Grund tauchen realistisch motivierte Ellipsen fast aus-schließlich in pseudo-dokumentarischen Formen wie DAVID HOLZMAN’S DIARY (Jim McBride, 1967) oder THE BLAIR WITCH PROJECT (Daniel Myrick & Eduar-do Sánchez, 1999) auf. Hier können sie als Wirklichkeitseffekte fungieren, weil das vorübergehende, durch die diegetische Situation motivierte Ausschalten der Kame-ra als Garant der (Pseudo-)Authentizität dient. Umgekehrt bekommen solche Fil-me dort Plausibilitätsprobleme, wo nicht ausreichend motiviert wird, wieso (z. B. in Momenten der Gefahr) die Kamera nicht ausgeschaltet wird. Narrative und rea-listische Anforderungen geraten bei pseudo-dokumentarischen Filmen mit diegeti-scher Kamera schnell in Konfl ikt.

PAISÀ und die ,realistische‘ Ellipse im fi ktionalen Film

Es ist daher nur folgerichtig, dass Bazin für die narrativen Ellipsen in Roberto Ros-sellinis PAISÀ (I 1946) andere Argumentationsfi guren bemüht, um ihren realisti-schen Charakter nahezulegen. Besonders die letzte Episode, die im Po-Delta spielt und von den Auseinandersetzungen zwischen Partisanen und Alliierten auf der ei-nen und deutschen Soldaten auf der anderen Seite erzählt, ist stark elliptisch gestal-tet. In einer kurzen Sequenz, auf die sich Bazin bezieht, sehen wir zunächst, wie eine Fischerfamilie den Partisanen Aale schenkt; dann sind in der Dämmerung Schüsse zu hören und die beiden Soldaten äußern die Vermutung, dass sie aus der Richtung des Fischerhauses kommen; schließlich hören wir das Geschrei eines Kindes und sehen Leichen vor dem Haus liegen. Bazin schreibt dazu:

Eine ziemlich komplexe Handlung ist auf drei oder vier Fragmente reduziert, die, verglichen mit der Realität, die sie abbilden, selbst schon elliptisch sind. […] Wie haben die Deutschen herausgefunden, dass die Fischer etwas Verbotenes getan ha-ben? Warum ist das Kind noch am Leben? Das ist nicht die Sache des Films.13

Als Wirklichkeitseffekte liest Bazin diese Ellipsen, weil sie seines Erachtens der Struktur des realen Lebens und dessen Wahrnehmung entsprechen:

Wenn [die Auslassung] wie bei Rossellini zum Sinn des Films beiträgt, so deshalb, weil die Leerstellen und Lücken, die Teile des Geschehens, über die man uns in Un-kenntnis lässt, selbst konkreter Natur sind: Steine, die dem Gebäude fehlen. Wir wissen auch im Leben nicht alles, was anderen zustößt. Im klassischen Filmschnitt ist

13 André Bazin, „Der filmische Realismus und die italienische Schule nach der Befreiung“ [frz. 1948], in: Was ist Film?, S. 295-326 (hier: S. 318).

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die Ellipse ein Stileffekt; bei Rossellini ist sie eine Lücke in der Realität, vielmehr in unserem Wissen über die Realität, ein Wissen, das von Natur aus begrenzt ist.14

In gewisser Weise rückt Bazin die Ellipsen damit in die Nähe seiner ungleich be-kannteren Argumente zu Plansequenz und Schärfentiefe, die er auf prominente Einstellungen bei Welles, Wyler und Renoir anwendet. Diese zunächst erstaunli-che Analogie gründet in der produktiven Rezeptionsaktivität der Zuschauerin: In beiden Fällen wird die découpage nicht vom Film allein, sondern auch von ihnen vollzogen, wobei sie eine gewisse Freiheit genießen. Im Fall der langen, tiefenschar-fen Einstellung ist es der Betrachterin überlassen, ihre Aufmerksamkeit mal auf diesen, mal auf jenen Ausschnitt zu verlagern, immer unter der Gefahr, in einem anderen Bildteil etwas Wesentliches zu verpassen. Einem vergleichbaren Risiko des Nichtverständnisses ist auch die anti-redundante, elliptische Erzählweise Rosselli-nis ausgesetzt:

Der Verstand muss von einer Tatsache zur anderen springen, wie man von Stein zu Stein hüpft, um einen Bach zu überqueren. Bisweilen zögert der Fuß, welchen Stein er nehmen soll, oder er rutscht aus. So ergeht es auch unserem Verstand.Denn die Steine sind nicht dazu da, dem Wanderer trockenen Fußes die Überque-rung eines Bachs zu ermöglichen […]. Tatsachen sind Tatsachen, unsere Vorstel-lungskraft benutzt sie, doch sie haben nicht a priori die Funktion, ihr zu dienen.15

So schön und anschaulich dieser Vergleich sein mag: Die Rede von den Tatsachen, die von Rossellini in der Natur vorgefunden und ungeschliffen präsentiert werden, ist irritierend bis irreführend. Denn Art, Länge und Anordnung der Einstellungen in PAISÀ sind ja keinesfalls so zufällig wie die von Steinen in einem Bach. Was an Bazins Verständnis der Rossellini’schen Erzähleinheit als „Tatsache“ suspekt wir-ken muss, ist die fehlende Refl exion auf die Verschiebungen zwischen Profi lmi-schem und Diegetischem, die den fi ktionalen Film konstituieren. Hier ist Noël Carrolls Kritik durchaus treffend, wenn er schreibt, Bazins Theorie sei „strangely ill-suited to account for what is represented in fi ctional fi lms. Films seem to be-come records of places and actors; their fi ctional referents dissolve“.16

Es scheint jedoch möglich und sinnvoll, Bazins Analysen zu PAISÀ narratolo-gisch und fi ktionstheoretisch zu reformulieren. Dazu möchte ich zunächst vor-schlagen, zwischen Rossellini, dem Regisseur des Films, und der von ihm respekti-ve dem Autorenkollektiv eingesetzten Erzählinstanz zu differenzieren. Die narrative Instanz ist bekanntlich ein Konstrukt rein heuristischen Charakters, das in diesem konkreten Fall begriffl ich aber dazu beitragen kann, Bazins Beobachtun-gen von ihren ontologischen und auteuristischen Bestimmungen zu lösen. Das Ver-hältnis, das Bazin zu beschreiben sucht, sollte nämlich nicht als Verhältnis eines

14 André Bazin, „Vittorio De Sica, Regisseur“ [frz. 1953], in: Was ist Film?, S. 353-373 (hier: S. 358).

15 Bazin [frz. 1948], in: Was ist Film?, S. 319.16 Noël Carroll, Philosophical Problems of Classical Film Theory, Princeton: Princeton University

Press, 1988, S. 149.

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Autors zu vermeintlichen Tatsachen verstanden werden, sondern als Verhältnis einer narrativen Instanz zur fi ktionalen Welt. Dabei handelt es sich um eine Relati-on völlig anderer Ordnung. Die Differenz von Rossellinis Film zur klassischen Erzählordnung, die Bazin zum Ausdruck bringt, lässt sich dann reformulieren als die Differenz zwischen einer souveränen, auktorialen Erzählinstanz, die beliebig zwischen Ereignissen und Erlebensperspektiven hin- und herspringen kann, und einer in ihrer Reichweite limitierten Instanz, die an eine bestimmte fi gurale Sicht-weise gebunden ist. Oder, um weniger auf die Erzählinstanz selbst abzuheben als auf den Modus, dessen sie sich bedient: als Differenz zwischen einem null- oder polyfokalisierten Erzählmodus (also einer potenziellen ‚Allwissenheit‘) und einer internen oder externen Fokalisierung.17

Das fragliche Segment in PAISÀ ist im Unterschied zur Gesamtkonstruktion und anderen Episoden des Films aus der Erlebensperspektive der Partisanen und ame-rikanischen Soldaten gestaltet. Die Erzählinstanz vermittelt hier nur jene Informa-tionen, die auch ihnen zugänglich sind.18 Auch die Ellipsen ergeben sich aus die-sem Fokalisierungsmodus. Sie tragen, mit anderen Worten, nicht – wie von Bazin vorgeschlagen – unmittelbar als vermeintliche Homologien zwischen Filmstruktur und realer Welt zum Wirklichkeitseffekt bei, sondern auf einer anderen Ebene. ‚Realistisch‘ ist nicht, dass den Zuschauerinnen ein bestimmtes Wissen vorenthal-ten wird, ‚realistisch‘ – und zwar in einem ästhetischen, nicht in einem ontologi-schen Sinn – ist vielmehr das limitierte Wissen der Figuren, die wiederum als Filter der narrativen Information dienen. Diese Ellipsen sind also eher verschobene Wirklichkeitseffekte, Symptome einer ‚realistischen‘ Erzählweise.

17 Zur Fokalisierung im Film vgl. Jörg Schweinitz, „Multiple Logik filmischer Perspektivierung. Fokalisierung, narrative Instanz und wahnsinnige Liebe“, in: Montage AV, Vol. 16, Nr. 1, 2007, S. 83-100; Dominik Orth, „Eine Frage der Perspektive. Greg Marcks’ 11:14, polyfoka-lisiertes Erzählen und das Problem der Fokalisierung im Film“, in: Probleme filmischen Erzäh-lens, hg. v. Hannah Birr/Maike Sarah Reinerth/Jan-Noël Thon, Berlin: LIT, 2009, S. 111-130.

18 Bazins Lesart könnte dieser Interpretation widersprechen. Er versteht die Aufnahmen eines weinenden Kinds, das der einzige überlebende Zeuge des Massakers an der Bauernfamilie ist, die den Partisanen zuvor geholfen hatten, als „unabhängig von der Präsenz der Partisanen“. Es sei „nicht einmal klar, ob diese Szene einen Zeugen hat“ (Bazin [frz. 1948], S. 318). Es handelt sich bei dieser Szene jedoch eher um eine Point-of-View-Konstruktion, die als solche nur aufgrund unterschiedlicher Lichtverhältnisse in den gegeneinander geschnittenen Ein-stellungen und inkongruenter Bewegungen von Figuren und Kamera nicht direkt als solche zu erkennen ist. Vgl. Christopher Wagstaff, Italian Neorealist Cinema. An Aesthetic Approach. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 2007, S. 283f.

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Die ‚neue Wahrscheinlichkeit‘ und der Wirklichkeitseffekt der Lateralellipse

Anders gesagt: Was sich mit der Limitierung der Erzählinstanz verändert, ist das Regime der fi ktionalen ,Wahrscheinlichkeit‘. Roland Barthes’ berühmter Text „L’effet de réel“ endet mit der Formulierung, der moderne Realismus habe eine neue Wahrscheinlichkeit, ein „nouveau vraisemblable“ geschaffen, das sich funda-mental von der klassischen Wahrscheinlichkeit unterscheide.19 Während sich die alte Wahrscheinlichkeit vor allem aus den „Gesetzen der Gattung“ speise, verlagere der moderne Realismus sie auf das Verhältnis zwischen Vorstellungen von der rea-len Welt und der Welt der Fiktion. In diesem Sinn wirken überschüssige, funktio-nal nicht integrierte narrative Informationen realistisch im Sinn der „neuen Wahr-scheinlichkeit“, weil sie über das Korsett der dramaturgischen Notwendigkeit hinaus auf die pseudorealen Strukturen der Diegese verweisen.

Jacques Rancière, der Barthes’ Diagnose zwar prinzipiell zustimmt, ist mit des-sen Ursachenanalyse nicht einverstanden. Für ihn ist die Zuschreibung der Dys-funktionalität einzelner Elemente nicht Teil der immanenten Struktur, sondern resultiert allein aus Barthes’ Strukturalismus. Die Konzentration auf den Wirklich-keitseffekt übersehe nämlich „den entscheidenden Bruch innerhalb der erzählen-den Literatur“:

Sie übersieht ihn, weil die «modernistische» Idee der Struktur immer noch durch eine repräsentative Logik bestimmt ist, welche infrage zu stellen sie vorgibt, und hierdurch auch die im «realistischen» Überfl uss implizierten politischen Fragen übersieht.20

Anstatt das Verhältnis von narrativ funktionalen Elementen und überschüssigen Details neu zu justieren (eine solche Idee wäre nach Rancière dem ästhetischen Regime nicht mehr angemessen), leistet die realistische Literatur vielmehr die Auf-hebung der repräsentativen Hierarchie und eine (demokratische) Integration des bisher nicht für darstellenswert Befundenen: „Der Wirklichkeitseffekt ist ein Gleichheitseffekt“.21

Während Barthes die überfl üssigen Details also gegen das funktionale Netzwerk der Plotstruktur akzentuiert, interpretiert Rancière sie als Symptome der Integrati-on des bisher – im repräsentativen Regime – nicht Darstellbaren. Für Barthes ist die – für ihn negativ konnotierte – „referenzielle Illusion“ zentral, für Rancière der

19 Roland Barthes, „Der Wirklichkeitseffekt“ [frz. 1968], in: Das Rauschen der Sprache (Kriti-sche Essays IV). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 164-172 (hier: S. 172). Der Terminus „nouveau vraisemblable“ wurde hier allerdings als „neues Wahrscheinliche“ übersetzt. Auf-grund des Rückbezugs auf die Begrifflichkeit von Aristoteles Poetik scheint mir „Wahrschein-lichkeit“ jedoch angemessener.

20 Jacques Rancière, „Der Wirklichkeitseffekt und die Politik der Fiktion“, in: Realismus in den Künsten der Gegenwart, hg. v. Dirck Linck/Michael Lüthy/Brigitte Obermayr/Martin Vöh-ler, Zürich: Diaphanes, 2010, S. 141-157 (hier: S. 143).

21 Rancière, S. 145

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Übergang zu einer neuen Aufteilung des Sinnlichen. Beide Beschreibungen aus ihren heterogenen Perspektiven treffen wichtige Momente der „neuen Wahr-scheinlichkeit“.

Ich glaube jedoch, dass sich der Begriff des „nouveau vraisemblable“ auch auf die Beziehung der darstellenden oder narrativen Instanz zum Dargestellten oder Erzählten erstrecken lässt. Geschaffen wird nicht nur die neue Wahrscheinlichkeit unnötiger Details (Barthes) oder egalitärer Inklusionen neuer Bereiche des Sinnli-chen (Rancière), sondern auch ein gewissermaßen wahrscheinlicherer Bezug der Erzählinstanz zur Diegese. Im ästhetischen Sinn ‚realistischer‘ wird nicht nur die externe Relation der Diegese zur Lebenswelt, sondern auch die interne Relation von Erzähler und Erzähltem.22

Besonders sinnfällig wird dies (erst) im Blick auf realistische Erzählweisen im aktuellen Film. Die Konstruktion einer extradiegetischen, aber gleichzeitig pseudo-personalen Instanz mit enger Bindung an eine einzelne Figur ist spätestens im letzten Jahrzehnt zum dominanten Erzählmodus im fi lmischen Realismus gewor-den, wie sich etwa an den Filmen der Dardenne-Brüder (ROSETTA [1999], LE FILS [2002] und L’ENFANT [2005]), von Kelly Reichardt (WENDY AND LUCY [2008]) oder verschiedener Werke des neuen rumänischen Kinos (z. B. Corneliu Porum-boius POLITIST, ADJECTIF [2009] oder MOARTEA DOMNULUI LAZARESCU [THE DEATH OF MR. LAZARESCU, 2005] von Cristi Puiu) zeigen ließe.23 In vielen Fällen sind dabei nicht Ellipsen im zeitlichen Sinn Symptome dieser Erzählweise, sondern Auslassungen eher räumlicher Art, also die von Gérard Genette beschriebenen

[…] andere[n] Lücken, die nicht so sehr zeitlicher Natur sind und nicht mehr in der Elision eines diachronischen Segments bestehen, sondern in der Auslassung eines für die Situation wichtigen Elements, innerhalb eines Zeitraums, der von der Erzählung prinzipiell abgedeckt wird […]. Hier springt die Erzählung nicht wie bei einer Ellip-se über einen Moment hinweg, sondern lässt ein Faktum beiseite. Diese Art Lateralel-lipse wollen wir […] eine Paralipse nennen.24

22 Allerdings vollzieht sich diese Verschiebung in der Literatur erst nach dem klassischen franzö-sischen Realismus und filmhistorisch auch erst nach dem italienischen Neorealismus, also auch nach Rossellini.

23 Vgl. in Bezug auf den neueren chinesischen Film: Guido Kirsten, „ANYANGDE GUER (THE ORPHAN OF ANYANG) und der postsozialistische Realismus der Sechsten Generation“, in: Das chinesische Kino nach der Kulturrevolution. Theorie und Analysen, hg. v. Karl Sierek/Guido Kirsten, Marburg: Schüren, 2011, S. 317-333 (hier: S. 326ff).

24 Gérard Genette, Die Erzählung [frz. 1972/1983], München: UTB, 1998, S. 34 (Hervorhe-bung im Original). Statt von ‚Paralipse‘ werde ich weiter von ‚Lateralellipse‘ sprechen, weil der erste Begriff bei Genette mehrdeutig ist. Er bezeichnet nämlich auch die Abweichung von einem dominanten Fokalisierungscode, also Momente, an denen „weniger Informationen ge-geben [werden], als an sich gegeben werden müssten“ (S. 139). Zwar koinzidieren Paralipse und Lateralellipse häufig (und hängen auch logisch miteinander zusammen) – allerdings, wie das folgende Beispiel zeigen wird, durchaus nicht immer.

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Bei der Lateralellipse werden Ereignisse also nicht wie bei der zeitlichen Ellipse übersprungen, sondern vielmehr umgangen. Die Narration vermeidet einen wich-tigen Vorgang, indem sie einen anderen, weniger wichtigen zeigt. Ein sehr treffen-des Beispiel, ja vielleicht die beeindruckendste Lateralellipse der jüngeren Filmge-schichte überhaupt, liefert der rumänische Film 4 LUNI, 3 SAPTAMÂNI SI 2 ZILE (4 MONATE, 3 WOCHEN UND 2 TAGE, Cristian Mungiu, 2007).

Der Film erzählt von einer illegalen Abtreibung im Jahr 1987. Otilia (Anamaria Marinca) begleitet ihre schwangere Freundin Gabita (Laura Vasiliu) in ein Hotelzimmer, in dem ein schmieriger Abtreibungsarzt (Vlad Ivanov), nachdem er die beiden sexuell genötigt hat, Gabita eine Sonde einführt, die den Fötus herausspülen soll. Das kann, wie er sagt, zwischen zwei Stunden und zwei Tagen dauern. Während Gabita im Bett liegt und wartet, muss Otilia noch der Verpfl ichtung nachkommen, die Geburtstagsfeier der Mutter ihres Freundes zu besuchen.

An dieser Stelle beginnt die lateralelliptische Sequenz, die insgesamt 23 Minu-ten fi lmischer Erzählzeit dauert, die einem geringfügig längeren diegetischen Zeit-raum entsprechen. In ihrem Zentrum steht eine siebeneinhalbminütige Einstel-lung, die Otilia am Tisch zwischen den anderen Gästen zeigt. Es wird gegessen, angestoßen, getrunken, es werden Anekdoten zum Besten gegeben und Alltags-weisheiten, es wird gescherzt, gestichelt und gelacht. Otilia sitzt die meiste Zeit schweigend und ausdruckslos in der Mitte, in manchen Momenten wird an ihrem Verhalten und ihrem Gesichtsausdruck deutlich, wie ihre innere Anspannung wächst. Das Besondere an ihrer Situation ist, dass sie sich nichts anmerken lassen darf, weil sie sonst ihre Freundin und sich selbst wegen der Illegalität der Abtrei-bung in Gefahr bringen könnte. So verweist die Sequenz auch metonymisch auf die totalitäre Verfasstheit des rumänischen Staates in den 1980er Jahren.

Im Vergleich zur im Hotelzimmer liegenden und sich möglicherweise in Le-bensgefahr befi ndenden Freundin wirken die banalen und plottechnisch irrelevan-ten Gespräche an sich schon als Wirklichkeitseffekt. Durch die Konfi guration von simultan Ab- und imaginär Anwesendem wird aber nicht nur der Realismus der aktuellen Situation verstärkt, sondern auch der des gleichzeitig anderswo sich ab-spielenden Geschehens. Im Bild wird diese Wirkung durch Otilias Blick unterstri-chen. Während die anderen Figuren auf ihr Essen oder die jeweils sprechende Per-son blicken, schaut Otilia wiederholt ins Leere (Abb. 2). Ihre Gedanken sind offenbar nicht auf die momentane Situation, sondern auf Gabita im Hotelzimmer gerichtet.

Bezogen auf den Wirklichkeitseffekt haben wir es also mit einer ziemlich kom-plexen Konstruktion zu tun. Zunächst wird man sagen können, dass die beschrie-bene Szene durch ihre dramaturgische Unterdeterminierung selbst Züge eines Wirklichkeitseffekts (im Sinne Barthes’) trägt. Dieser Effekt wird gleichzeitig un-terwandert und verstärkt durch den narrativ implizierten Verweis auf das Parallel-geschehen und die Spannung, die so aufgebaut wird. Der Wirklichkeitseffekt fi n-det sich verschoben auf das nicht gezeigte Geschehen, das so eine umso stärkere imaginäre Präsenz bekommt. Narrativ motiviert ist die Lateralellipse schließlich

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durch die konsequente Fokalisierung auf Otilia, die der Film bis dahin etabliert hat.25 Die Limitierung der Erzählerposition entspricht dem Erlebnishorizont der Figur. Ein cross-cutting zum Hotelzimmer widerspräche diesem Fokalisierungsmo-dus, der den ganzen Film auszeichnet – und damit seinem immanenten narrativen Realitätsprinzip. Eben diese Limitierung ist selbst Teil des realistischen Erzählre-gimes des Films, jener neuen Wahrscheinlichkeit im Verhältnis von Erzählinstanz und Erzählung, an die uns die Lateralellipse nachhaltig erinnert.

Ausblick

Die Lateralellipse aus 4 LUNI, 3 SAPTAMÂNI SI 2 ZILE trägt also indirekt zum Wirk-lichkeitseffekt des Films bei. Ihre Wirkung verdankt sie ihrer besonderen Gestal-tung, ihrer exponierten Stellung sowie des gesamten narrativen Kontexts, in den sie eingebettet ist. Wenig lässt sich von hier aus über andere Lateralellipsen im Film sagen, von denen anzunehmen ist, dass sie eine ähnliche funktionale Vielfalt auf-weisen, wie die eingangs angesprochenen zeitlichen Ellipsen. Dass sie im Unter-schied zu diesen in der fi lmnarratologischen Literatur bisher kaum Beachtung ge-funden haben, mag damit zusammenhängen, dass es sich um ein gleichermaßen schwer bestimmbares wie scheinbar ubiquitäres Phänomen handelt. Räumliche

25 Es findet sich im Verlauf des Films nur eine Ausnahme: der Moment, in dem Otilia von Be-be, dem Abtreibungs-„Arzt“, zum Sex genötigt wird und die Kamera währenddessen Gabita auf den Hotelflur begleitet. In diesem Fall handelt es sich sowohl um eine Paralipse im fokali-sierungstheoretischen Sinn (es wird weniger gezeigt, als der Figur widerfährt, mit der ansons-ten die gesamte Geschichte erlebt wird) als auch im lateralelliptischen Sinn (Auslassung eines wichtigen Handlungssegments durch räumliche Umgehung).

Abb. 2: 4 LUNI, 3 SAPTAMÂNI SI 2 ZILE (4 MONATE, 3 WOCHEN UND 2 TAGE, Cristian Mungiu, 2007)

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Auslassungen scheinen allgegenwärtig zu sein: Fast immer, zumindest wenn das Schicksal mehrerer Figuren in den Blick gerät und nicht auf Konstruktionen wie Parallelmontage oder Split Screen zurückgegriffen wird, muss sich die Narration für das Verfolgen eines Handlungsstrangs zuungunsten eines anderen entscheiden. Im Unterschied zu temporalen Ellipsen, die meistens (wenn auch nicht immer) an einem Zeitsprung in der Diegese zu erkennen sind, stellt sich für die lateralen El-lipsen stets die Frage, wie wichtig die räumlich umgangenen Ereignisse für die Gesamthandlung sind (und ob sie sich überhaupt zur gleichen Zeit abspielen). In Fällen, die weniger klar gelagert sind als 4 LUNI, 3 SAPTAMÂNI SI 2 ZILE wird die Bestimmung daher notwendigerweise unscharf. Zudem wäre zu fragen, ab welcher räumlichen Entfernung von einem Handlungssegment von einer Lateralellipse zu sprechen wäre. Etwa schon wenn die Kamera von einem als wichtig zu erachtenden Ereignis weg- und auf ein anderes schwenkt?

Die Poetik der fi lmischen Lateralellipse, die es noch zu schreiben gilt, wird auf diese Fragen pragmatische Antworten fi nden müssen. Gelingt ihr dies, dürfte sich ihr ein reiches, noch kaum erforschtes Untersuchungsgebiet erschließen. Leicht wird sich dann zeigen lassen, dass die realistische nur eine neben vielen anderen möglichen Wirkungen der Lateralellipse ist, und dass diese sowohl vom narrativen Kontext wie vom spezifi schen Lektüremodus abhängen, die ihren jeweiligen Sinn erst konstituieren.

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