Die 70er Jahre: Aufstieg und Fall des Keynesianismus Luca Rebeggiani Hannover, 24. Januar 2007
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Aufbau1. Einleitung2. Der Keynesianismus in der ökonomischen Theorie
• Die frühe Keynes-Rezeption• Dominanz und Krise• Ein spätes Comeback?
3. Keynesianismus am Werk: Wirtschaftspolitik in der BRD 1966-1982
• Die Große Koalition• Die Ära Brandt und die Ölkrise• Die späten 70er und die Wende 1982
4. Fazit
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1. EinleitungBewertung des Keynesianismus: wirtschaftstheoretisch und wirtschaftspolitisch entscheidende Frage!Wirtschaftstheoretisch:• Makro- oder Mikro-Sicht?• Gleichgewichtsorientierung oder Möglichkeit von
Ungleichgewichten?• Dichotomie von realer und monetärer Sphäre?• Steuerung der Wirtschaft durch Regierungen möglich?
Wirtschaftspolitisch• Aktive Rolle des Staates erwünscht?• Wenn ja, in welchem Ausmaß?
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2. Der Keynesianismus in der ökonomischen Theorie
General Theory schlug 1936 im angelsächsischen Raum wie eine Bombe ein• Hohes Ansehen des Verfassers• Scheinbar Antwort auf Weltwirtschaftskrise
Rezeption und Weiterentwicklung durch J. Hicks, P. Samuelson: „Neoklassische Synthese“• Hicks: IS/LM-Modell• Samuelson: Vom keynesianischen Modell zur
Konjunkturtheorie
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Dominanz
In den 50er und 60er ökonomischer Mainstream: Nahezu alle VWL-Lehrbücher Makro-lastig und keynesianisch geprägtM. Friedman: „We are all Keynesian now!“Phillips-Kurve (1958) suggeriert trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, der von Politikern ausgenutzt werden kannIn Cambridge spaltet sich radikale post-keynesianische Schule ab (Robinson, Sraffa, Pasinetti)
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KriseBereits in den späten 50ern erste grundlegende Angriffe aus Chicago:• M. Friedman‘s Theory of the Consumption Function (1957), spätere
Arbeiten zur Geldtheorie• F. Modigliani (1954, 1958): Neutralität des Konsums und der
Investitionen • Kapitalkontroverse: Klassische Makro-Theorie wird in dynamischer
Betrachtung inkonsistentOffensichtliche wirtschaftspolitische Mißerfolge in den 70ern: Stagflation, keine Wirkung der Konjunkturprogramme1979: R. Lucas/T.Sargent: After Keynesian MacroeconomicsVon Monetaristen angeführt, schwingt der Mainstream-Pendel wieder zu radikaler Neoklassik (R. Barro, R. Lucas)
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Ein spätes Comeback?Moderne VWL Mikro-lastig und neoklassisch geprägtDennoch: Viele keynesianische Aspekte in den Modellen:• Preisstarrheiten• Makrobetrachtung (insb. Geldpolitik)• Große Rolle der Erwartungen und von Unsicherheit • Multiple Gleichgewichte auch in neokl. Modellen
Presidential Address von G. Akerlof auf der AEA-Tagung 2007 • Durch die Einbeziehung von Normen können
keynesianische Ergebnisse repliziert werden
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3. Keynesianismus am Werk: Wirtschaftspolitik in Deutschland 1966-1982
Vorstellung: Durch Anwendung antizyklischer Fiskalpolitik Glättung von Konjunkturschwankungen• Stellschrauben: Steuern, Staatsausgaben• Geldpolitik ebenso geeignet (sogar wirksamer), wegen
Zentralbankunabhängigkeit aber nicht verfügbarExpansive Fiskalpolitik, möglichst nicht steuerfinanziert, zur Ankurbelung in Depressionen, restriktive zur Dämpfung von Boomphasen (Konjunkturausgleichsrücklagen)Durch StabG von 1967 wirtschafspolitisches Instrumentarium für keynesianische Politik geschaffen• Möglichkeit, Steuer- und Abschreibungssätze je nach Lage variieren
zu können• Einrichtung von Konjunkturrat und Konzertierter Aktion
(Ziel: Orientierung der Tarifabschlüsse an die prognostizierte Produktivitätsentwicklung)
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Konjunkturzyklen in Deutschland
BIP: M-Form, abnehmende WachstumsratenInflation: Meist prozyklisch, vergleichsweise niedrige RatenArbeitslosigkeit: Phänomen der Sockelbildung
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Bruttoinlandsprodukt (Veränderungen gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum in v.H.)
-3
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1965 1967 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001
v.H.
in jeweiligen Preisen
in konstantenPreisen
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Konjunkturzyklen 1950 – 1982
2,51976 – 1982
3,81968 - 1975
3,61964 – 1967
5,71959 – 1963
7,21955 – 1958
8,81950 – 1954
Durchschnittliche Wachstumsraten des
Sozialprodukts
Konjunkturzyklen
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Verbraucherpreisindex(Veränderungen gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum in v.H.)
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v.H.
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Arbeitsmarkt(Offene Stellen und Arbeitslose in 1000)
0
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Arbeitslose
offene Stellen
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Die Große Koalition 1966-1969Konjunkturüberhitzung 1963-65• Hohes Wachstum, hohe Lohnforderungen, Binnennachfrage nur durch Importe
befriedigt, spendabler Staat (1965 Bundestagswahl)• Inflation steigt auf 3,5%
Bundesbank tritt auf Bremse: U.a. Erhöhung des Diskontsatzes auf 5%Nachfrageeinbruch, StimmungsverschlechterungBIP-Wachstum 1966 bei 2,9, 1967 negativ, ABL steigt auf über 2 Mio.Ende 1966 löst Kiesinger Erhard ab: große Koalition mit Schiller/Strauß, sofort Eventualhaushalt in Höhe von 2,5 Mrd. DM (v.a. Staatsaufträge)Weiteres Programm Oktober 1967 (5,3 Mrd.), Bundesbank senkt Diskontsatz auf 3%Rezession rasch überwunden! Wachstum 1968 bei 7,3%, ABL abgebaut
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Wirtschaftliche Rahmendaten 1966 – 1969
0,82,88,21969
1,51,57,31968
2,11,4- 0,21967
0,53,5 2,91966
Arbeitslosen-quote in %
Inflationsrate in %
Wachstumsrate des BSP
Jahr
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Die Ära Brandt und dieÖlkrise 1973 I
1969-1970/71 ausgeprägte Boomphase• Hohes Wachstum, Außenhandelsüberschüsse, Arbeitskräftemangel (Zahl
der Gastarbeiter steigt von 1 Mio. auf 2,5 Mio.)• Aber: Inflationsgefahren durch Nachfrageüberhang und hohe
Lohnabschlüsse (durchschnittlich 14%, bis 28% im Bergbau)• Außerdem: Verhängnisvolle Verteuerung des Faktors Arbeit!
Bremsmanöver von Schiller: Aussetzung der degressiven Abschreibung, Aufstockung der Konjunkturausgleichsrücklage auf 4 Mrd.; Bundesbank erhöht LeitzinsenProblem: Andere Ressorts „gießen weiter Öl ins Feuer“, zeigen mangelnde Haushaltsdisziplin• Reformeifer der Regierung Brandt führt zu steigenden Ausgaben im
Bildungssektor, Wohnungs- und Straßenbau• 1972 steht Bundestagswahl an• Staatsverschuldung steigt (bis 1966 noch Überschüsse)• 1971 tritt Finanzminister Alex Möller aus Protest zurück, Schiller folgt 1972
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Die Ära Brandt und dieÖlkrise 1973 II
1972: Sozial-liberale Koalition bleibt im Amt, H. Schmidt Finanzminister1973: weiteres restriktives Programm gegen die Inflation:• U.a. Aussetzung der degressiven Abschreibung, Investitionsteuer in Höhe
von 11%• Schuldendeckel für öff. HH (durch StabG ermächtigt)• Von Bundesbank flankiert: Ohne Bretton-Woods-Zwänge können Zinsen
auf „exotische Höhen“ steigen (bis 30%)LEIDER treffen diese Maßnahmen die Wirtschaft, als sie nach dem Ölpreisschock (Oktober 1973) bereits in die Rezession stürzt• Konjunktur wird endgültig abgewürgt• Inflation bleibt wegen Ölpreisanstieg trotzdem hoch
BRD erlebt, wie fast alle Industrienationen, die schärfste Rezession seit dem Krieg und StagflationW. Brandt tritt im Mai 1974 zurück
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Wirtschaftliche Rahmendaten 1970 – 1974
2,56,90,51974
1,26,84,61973
1,15,34,11972
0,85,13,21971
0,73,25,01970
Arbeitslosenquotein %
Inflationsratein %
Wachstumsrate des Sozialprodukts in %
Jahr
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Die späten 70er und die Wende 1982 I
Wahl von H. Schmidt 1974 deutet auf Prioritätsverschiebungen hin1975 konjunkturelle Talsohle:• Ende 1974 bereits zwei Konjunkturprogramme (950 Mio. und 1,73
Mrd.): öff. Investitionen, Lohnzuschüsse an Arbeitgeber, Mobilitätszulagen für Langzeitarbeitslose, Investitionszuschüsse
• Weitere Programme; 1975 das größte in Höhe von 5,8 Mrd. DMKonjunktur erholt sich, die ABL bleibt aber recht hoch• strukturelle ABL - in der Industrie 2 Mio. Stellen verloren• Auch in den späten 70er steigen Löhne stärker als Preise für Anlagen
Investitionsquote bleibt mit ca. 20% deutlich unterhalb frühererWerteGroßes Problem: Öff. Verschuldung steigt 1974-1977 um 160 Mrd. DM (soviel wie in den 25 Jahren davor zusammen)
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Die späten 70er und die Wende 1982 II
Ende der 70er/Anfang der 80er bahnt sich nächste Ölkrise an Zum ersten Mal negative Leistungsbilanz• DM verliert gegenüber dem USD 20% des Wertes• Anstatt intern. Preissteigerungen abzudämpfen, werden sie verstärkt
Deutliche Inflationsschübe Bundesbank tritt deutlich auf die Bremse (u.a. Zinsen über 10%)• 1981 verheerende Wirkung auf Konjunktur, ABL bei 5,3%• Streit mit Bundesregierung
Versuch, durch weitere Konj. Programme aus dem Tal zu kommen• 1981 verschuldet sich die öff. Hand um weitere 76 Mrd. DM• Erfolge bleiben vollständig aus: 1982 weiterer Konjunktureinbruch
1982 löst H. Kohl Schmidt ab
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Wirtschaftliche Rahmendaten 1975 – 1982
7,65,3-1,11982
5,36,3-0,21981
3,75,31,91980
3,73,84,01979
4,32,53,51978
4,53,52,81977
4,64,45,61976
4,76,1- 1,61975
Arbeitslosenquotein %
Inflationsratein %
Wachstumsrate des Sozialprodukts in
%
Jahr
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4. Historisches Fazit: Erfolg oder Mißerfolg?
Als die Probleme konjunktureller Art waren (1966), antizyklische Politik erfolgreichZur Bekämpfung struktureller Probleme (nach 1973) dagegen wirkungslos und teuerKonjunkturpolitik keine Wachstumspolitik! Auch Keynesianer müssen Angebotsseite (Unternehmen) beachten
Luca Rebeggiani Die 70er Jahre 23
4. Theoretisches Fazit: Eine überholte Konzeption?
Probleme:• Time-Lag-Problematik• Abstimmung mit der Geldpolitik nötig• Einschränkung durch Maastricht-Kriterien• Glaube an Globalsteuerung der Wirtschaft naiv
Hoffnungen:• Makro-Perspektive essentiell für VWL• Rolle des Staates als Nachfrager von zentraler
Bedeutung• Rolle der Nachfrage auch langfristig wichtig, keine
einseitiges Abstellen auf Angebotsseite