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DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

Feb 25, 2023

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Khang Minh
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Hausmitteilung Betr.: Kleinwuchs,Atomversuche,SPIEGELEXTRA

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enn er mit ihnenschon Interviews führenwolle, darauf bestanden dW kleinenLeute, dann müsse erauch auf die Knie, undSPIEGEL-Re-porter Jürgen Neffe kniete sich hin. Anpassung war unumgänglich aufdem Treffen der „Little People ofAmerica“ in Denver (Colorado), adem NeffeAnfang Juli teilnahm – auf der Spur einermedizinischenNeu-heit: der Entdeckung desGens, das inersterLinie für den Zwergwuch

Neffe, Kleinwüchsige, Wasmuth

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SPIEGEL EXTRA 8/1995

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verantwortlich ist, durchden amerikanischenWis-senschaftler Wasmuth(Seite 136). In dem Hotel, wo der Kongreß miKurzgewachsenen aus aler Welt stattfand,spiel-ten die Größerendies-mal die zweite Rolle:Vor dem Empfangstresen standen Treppchefür die kleinen Gästeunter den Druckknöpfen

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in den Aufzügen warenHockerplaziert. Ein heiklesUmfeld, mit höchsterRücksichtnahme zubetreten?Keineswegs.Amerikas Kleinwüchsige, sobeobachtete Neffe,haben ein beträchtliches Selbstbewußtseinentwickelt.Vor allem Jüngere verzichten auf die politischkorrekte Bezeichnung„short stature“ undnennensich einfach „dwarfs“,Zwerge. Und wer miihnenredenwill, der hat sichtunlichst aufihre Augenhöheherabzulassen

it der Südsee-Idylle auf denInseln, inderenNachbarschaft die FranM zosendemnächst wiederihre Atomversuche veranstalten wollen, wdas so eine Sache. Auf TahitierlebteSPIEGEL-RedakteurinMichaelaSchießl zunächsteinmal Verkehrsstau undDisco-Lärm, undRuhe gab edannauch nicht auf dem 250 Kilometernordwestlich gelegenenEiland Ta-haa. Neben demMatratzen-Lager, das ihr ein Lokalpolitiker in seinWohnstube für die Nacht angewiesenhatte,schnarchtenDorfbewohneran Schlaf warnicht zudenken. Aber natürlich waren das nur flüchtigeEin-drücke am RandeeinesDramas. Auf den bedrohtenInseln formiertsichjetzt Widerstandgegen dieatomarenVersuchsvorhaben, jedoch: Der Umstand, daß ein Großteil der Bewohner von derVerwaltungsmacht Frankreich beschäftigt wird odersonstwie abhängig ist, dämpft den fälligen Pro-test (Seite 124).

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ans-UlrichObrist, 27, ist der jüngste ineinerH ganzen Riege vonweltweit umworbenen Ausstellungsmachern aus derSchweiz.Warum geradeSchweizer? Weil das geistigeKlima in demAlpen-land, sagt Obrist, sie zur „Flucht aus derEnge“treibt.ObristssteileKarriere beschreibtSPIEGEL-Korrespondent Jürg Bürgi in der August-Ausgavon SPIEGELEXTRA. Außerdem im neuenKul-tur-Magazin fürAbonnenten: Porträts desBerlinerVerlegers ArnulfConradi und derTechno-Sängerin Inga Humpesowiemehr als 200Hinweise aufKulturveranstaltungen und Neuerscheinungen

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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

3DER SPIEGEL 31/1995

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4 DER SPIEGEL 31/1995

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Wieder Attacke auf Scharping Seite 62

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Kurden-Krawall (in Frankfurt am Main)

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Er wolle Rudolf Scharping „nicht demontieren“, versichert der bayerische SPD-VizeAlbert Schmid imSPIEGEL-Gespräch. Doch derBay-er kritisiert seinen Parteichef ungwöhnlich offen: eine Attacke fürGerhard Schröder. SozialdemokraSchmid drängt seinenFreund, denniedersächsischen Ministerpräsiden-ten, sich demnächst alsKanzlerkan-didat küren zu lassen. NurSchrödersei in der Lage, „Kohl mitKampf-geist zuattackieren und dem GrüneJoschka Fischer dieShow zu stehlen“. Scharping, so Schmid,solle sichals SPD-Vorsitzender auf die „pespektivischeArbeit“ konzentrieren.

Ein Luftkreuz für die Hauptstadt? Seite 57

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BrauchtBerlin ein „Luftkreuz Ost“? SPD-Politiker inBrandenburg undBerlin versteifensich auf dasProjekt eines Hauptstadt-Flughafens bSperenberg. Doch dafürgibt eskein Geld undauch keinen Bedarf.

Kurdische Extremisten gestärkt Seiten 38, 60

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Während Pastoren vonAbschiebung und Folterbedrohten KurdenKir-chenasyl gewähren, hat dieverbotenekurdische Extremistenorganisaon PKK in Deutschland an Stärke gewonnen:Ihre Anhängersollen dieKrawalle und Anschläge in der vergangenen Woche organisierthaben.

Bald Einkauf am späten Abend Seite 68

MehrLebensqualität in Deutschland:Auchhierzulandesollen endlichGeschäfte amAbend länger geöffnetbleiben.Eine neueStudie liefertden Anhängern einer weitgehendenLiberalisierungArgumente.

I N H A L T

T I T E L

Stern mit Schrammen:Die Krise bei Daimler-Benz............................22

Vom Paradekonzern zumSanierungsfall............28

SPIEGEL-Gespräch mitVorstandschefJürgen Schrempp über Affären und Verlustebei Daimler .................................................3

K O M M E N T A R

Rudolf Augstein: Oldboy’s Traum ..................37

D E U T S C H L A N D

Panorama ...................................................1Europa: Der gefährlicheComputerbei Europol .................................................3Extremisten: PKK-Verbot hatkurdischeSeparatistengestärkt .....................................38Umfrage: Kohl im Aufwind ............................40Zeitgeschichte: Wie Israel mit deutscherHilfe Adolf Eichmannfing .............................42Polizei: SchlechteErfahrungenmit Amateur-Sheriffs.....................................46Minister: SPIEGEL-Gespräch mitEx-KultusministerHansSchwier überSchulen undLehrer ......................................4Strafjustiz: Gisela Friedrichsen im ProzeßgegenJohannesZwick in Landshut ..................54Hauptstadt: Der überflüssigeBerlinerMega-Flughafen...........................................5Flüchtlinge: AnnetteRamelsbergerüber eine Kurdenfamilie imKirchenasyl ............60SPD: SPIEGEL-Gespräch mit dembayerischen SPD-VizeAlbert Schmidüber seine Kritik an Scharping........................62

W I R T S C H A F T

Trends .......................................................6Einzelhandel: Durchbruch beim Ladenschlußsteht bevor..................................................6Medien: Die Expansionspläne vonSilvio Berlusconi und Leo Kirch......................70Management: Die Spar-Zentrale treibtviele Händler in dieKrise ...............................71Interview mit Spar-ChefHelmut Dotterweich.....72Tourismus: Last-minute-Reisen beunruhigendie Veranstalter...........................................7Tarifpolitik: Das Arbeitgeberlagerspaltetsich ..................................................7Konkurse: Fehlt Firmengründern aus derEx-DDR derUnternehmergeist?.....................81

G E S E L L S C H A F T

Jugend: Die Sucht nach muskelbildendenPräparaten..................................................8Partys: Die unterirdische Techno-Szenevon Berlin ...................................................8Computer: Sekten,Spinner und Satanistenim Internet ..................................................8Volksfeste: Bayerische Ritterspieleals Urlauber-Attraktion.................................90Kirche: Religionsgemeinschaftfür Homosexuelle.........................................9

S E R I E

PeterWyden über die unheimlicheGeschichte derAtombombe (II) .................... 100

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C iller: Warnung an den Westen Seite 119

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„Tavola Doria“

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Frankfurter Bodybuilder

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Kritik aus dem Europaparla-ment und massive Angriffedurch dieislamistischeOppositi-on im eigenenLand – die türki-sche Ministerpräsidentin TansCiller steht unter Druck. MitReformen hofft sie, AnkarasAufnahme in dieZollunion mitder EU zu sichern.Eine Aus-grenzung, warnt C¸ iller im SPIE-GEL-Interview, stärke nur diFundamentalisten. Die Bos-nien-Politik des Westens veruteilt sie scharf – alleWertewür-den „mit Füßen getreten“.

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Abspecken mit Gentechnik Seite 140

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Gentechnisch hergestellteAppetitzügler haben ausfettsüchtigenMäusen schlanke Nager gemacht.Anfang nächsten JahreswollenUS-Forscher das Mittel an dicken Menschentesten. Die Pharmaindustrie hofft auf die Anti-Fett-Spritze – und aufhohe Gewinne.

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Ein neuer Leonardo da Vinci Seite 154

(Detail)

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Das Wandbild kam nichzustande, Kopien nacdem Entwurf mach-ten Leonardo daVincis„Anghiari-Schlacht“ be-rühmt. Jetzt entpupptsich ein vermeintlichesImitat alsSkizze von deHand desMeisters undals „Angelpunkt“seinerPlanung. Auf dieser inJapan aufbewahrte„Tavola Doria“ kämp-fen Söldner sogar mitdem nackten Finger.

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Süchtig nach Muskeln Seite 82

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48 Zentimeter Umfang muß der Bzepshaben – dannerstsind die jun-gen Bodybuilder zufrieden.Weildas mit hartemKrafttraining kaumzu schaffen ist, spritzenoderschluk-ken 100 000 junge Männer inDeutschland Anabolika. Dasmus-kelbildende Hormon wird illegalverkauft. „Eine Kur machen“nen-nen die Muskelfanatiker diese Mnipulation ihres Körpers undigno-rieren die gefährlichen Nebenwir-kungen: Impotenz,Leberschädenund extreme Aggressionen.

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A U S L A N D

Panorama Ausland ..................................... 11Bosnien: NeuerKampfauftragfür deutsche Tornados?............................... 11Walter Mayr über den Kronzeugeneines Massenmords an Moslems.................... 117Türkei: Ministerpräsidentin Tansu C¸ illerüber ihre Demokratie-Bemühungen............... 119Rußland: NeuerGeheimpolizeichef............... 123Polynesien: Proteste aufTahiti gegenChiracsAtomversuche................................. 12Greenpeaceklagt gegen Chirac..................... 12USA: HansHoyng über denNazi-Bestsellerdes Clinton-Rivalen Gingrich........................ 12Brasilien: Copacabana erlebt eineRenaissance.............................................. 1Jordanien: Die Friedensdividendeläßt auf sichwarten ..................................... 13Großbritannien: Die Bestien vomMoor .......... 133

W I S S E N S C H A F T

Prisma ..................................................... 1Genetik: Jürgen Neffe überKleinwüchsige,die Genforschung und denneuenRomanvon JohnIrving .......................................... 1Medizin: Hormonspritzengegen Fettsucht....... 140Physik: Jagd nach der tiefstenTemperatur ...... 141

T E C H N I K

Rüstung: Probleme bei der Wartungvon Atombomben....................................... 14Motorräder: MuZ will schwereMaschinenbauen........................................ 14

K U L T U R

Polemik: HannesStein undRichard Herzingerüber die Gleichsetzung von Hiroschima mitAuschwitz ................................................. 1Autoren: Erzähler JochenSchimmangund seinneues Buch „Königswege“................ 150Bestseller ................................................. 1Kunstgeschichte: Rätselhafter Entwurf vonLeonardos „Anghiari-Schlacht“ neugedeutet ... 15Musik: Der legendäreKastratFarinellials Filmheld............................................... 1Film: „Batman Forever“ undHollywoodsAngst vor denneuen Medien....... 159Szene ...................................................... 1Stars: SPIEGEL-Gespräch mit demSchauspielerAnthony Quinn über Liebe,Sex und Alter ............................................ 1Fernseh-Vorausschau ................................. 17

S P O R T

Tennis: Steffi Graf denkt an Rücktritt ............ 168Psychotherapeut Ulrich Sollmannüber die besondereBeziehungzwischenPeter undSteffi Graf ................................... 17Was kostet Steuerhinterziehung?................... 172

Briefe ........................................................Impressum .................................................Register ................................................... 1Personalien .............................................. 1Hohlspiegel/Rückspiegel ............................ 18

5DER SPIEGEL 31/1995

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B R I E F E

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Klammheimliche Achtung(Nr. 29/1995, Titel: „ . . . und seid nichttraurig“ – Ulrike Meinhofs Töchter überihre Kindheit im Schatten des Terroris-mus)

Selten hat mich einArtikel so bewegt.Es muß schrecklichsein, einesolchtrau-rige Berühmtheit mit sich herumzutra-gen, ohnejemals wirklich zu wissen, we

Meinhof mit Töchtern (1967)Eiserne Bande ums Herz

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sie war, und dennoch ist mir UlrikMeinhof sehrviel nähergekommen.Stuttgart FRANK MOLLINE

Am bewegendsten ist dasZitat, dasBet-tina Röhl dem Grimmschen Froschknig als Leitmotiventnimmt: Anders alim Märchen können dieeisernenBandeum die Herzen der Töchter nicht bre-chen. Die Mutter starb, ohnesich,ohneihre Kinder durch dierichtigen Wortezu erlösen. Doch glaube ich nichtdaß sie dies aus Lieblosigkeit gegeüber Bettina und Reginetat. Sieselbsthatte eiserne Bande ums Herz: diAuschwitz-Erkenntnis im EinmaleinsAlter, die Vietnam-Ausrottung in ihreJournalisten-Zeit. Für manche diesGeneration war das zuheavy. Da es damals in derdeutschen Landschaftweitund breit keinenPolit-Prinzengab, derder Rück-Erlösung ins Menschliche fhig gewesen wäre, seelisch, sprachlipolitisch, der überhaupt nur dastiefeBedürfnis danach gespürt hätte, ver-suchteUlrike, die eisernenBandeselbstzu sprengen: mitBomben.Nicht Mör-derinwollte siesein, sondernPrinzessinauch für ihre Kinder.Rabat (Marokko) SAMUEL SCHIRMBECK

Irgendwie haben alle Beteiligten der„bleiernen Zeit“ brutal und kindlichreagiert, obwohl das nur denwirklichen

Kindern zugestanden hätte, die zyni-scherweisedadurch ein Stück ihrereige-nen Kindheit verlorenhaben.Karlsruhe JAN A.WOLFF

Mir kommt esmanchmal so vor, alssei-en solcheMenschen wie Ulrike Meinhoan ihren eigenen Idealenverbrannt.Weil sie keinen Weg gefundenhaben,

um sie in dieser Weltevolutio-när (lediglich imKopf revolu-tionär) zu entfalten,aberauchweil die Menschen, auf die sigestoßen sind, ihnen dabnicht geholfen haben bezie-hungsweise helfenkonnten.Wangen/Allgäu

RAINER RAPPMANN

DieserTitel gehört zudenen indiesemJahr, diemich emotio-nal ganzstark berührthaben.Vielleicht liegt es daran, daßich als Enddreißiger Anfander siebzigerJahre begann, ene politische Haltung zu su-chen und zu entwickeln. Biheute habe ich mehr FragenAntworten gefunden.Diekholzen (Nieders.)

PETER HARENS

Ich wünschte,diesebeidenSchwesternkönntenihrer Mutter genausovielAch-tung entgegenbringen, wie ich undvielemeiner Generation dasschonimmer ge-tan haben (wenn auch nur klammheimlich).

Münster ANNE PICHOTTKA

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Reine Augenwischerei(Nr. 29/1995, Bosnien: Das Fiasko vonSrebrenica – Die Deutschen und ihr„moderater Beitrag“ für den Balkankriegund General a. D. Gerd Schmückle überden Eifer der Deutschen, in den Krieg zuziehen)

Die Uno treibt die Bosnier inSchutzzo-nen zusammen, entwaffnet die Meschen und liefert sie den serbischMassenmördern aus. Fürmich ist dasBeihilfe zum Genozid. Mansollte denUno-Organisationen den Friedennobelpreis entziehen und diese Orgasation der Beihilfe zum Völkermordanklagen.

Hamburg JOACHIM FR ÜHAUF

Die einzige Sprache, mit derKaradzicund seine Mörderbande an denVer-handlungstisch gebrachtwerden kön-nen, ist die derWaffen. Der einzigeAusweg aus der Krise istder, dieserbi-schen Stützpunkte aus der Luft zu bom

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Atomtest-Protest in Mainz*: Gestank antifranzösischer Stimmungen

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Dumm, teuer und gefährlich(Nr. 29/1995, Bonn/Paris: Chirac riskiertdie deutsch-französische Freundschaft)

Mir scheint, daß der Boykott vonfran-zösischenWeinen, Käse und anderelandwirtschaftlichenProdukten derfal-sche Weg ist, um die französischeRegie-rung zumHandeln zuzwingen. Zu ge-ring ist der Einfluß der französischenBauern, als daß sieetwas bewege

* Auf dem Balkon des französischen Konsulats.

könnten.Sinnvoller ist es, dieGroßin-dustrie aufzufordern, ihren Einflubeim französischen Staatspräsidentegeltend zumachen.Köln HENRY FELIX HOFMANN

Bravo! Da zeigen die Deutschen jaendlich mal, daß sie was auf dem Ksten haben. Verzichten auf französische Markenartikel und schwimmenganz oben mit auf der GreenpeacWelle. Seltsamnur, daß siedieses En-gagement im Bosnien-Dramaschonlange vermissen lassen. Irgendwiestim-men da die Relationennicht ganz. Ichfinde, dieseAktionen riechen nicht nurnach Champagner und Käse, sondes entfaltetsich vielmehr derGestank

antifranzösischer Stimmungen. Oderverschwindet bald mal die „SerbischeBohnensuppe“ von deutschenSpeise-karten?Leipzig PIERRE HEPP

Keinem anderen Nachbarland tut eBoykott des französischen Präsidentenwohl so weh wieDeutschland. Doch gerade wegen dieser guten Freundschdarf Deutschlandnicht kritiklos zuse-hen, wieeine Kolonialmacht ihren Trabantenvergewaltigt. Chiracs Politik isschlicht und einfach dumm, teuer undgefährlich.Kirchheim (Bad.-Württ.) JENSRADU

Frankreich verhältsich bei demFesthal-ten an Atomtests imPazifik wie einSportler, dersein Comeback plant, obwohl er seinen Leistungszenit langeJah-re zuvor erreichthatte.Wettenberg (Hessen) JÖRNHAPPEL

bardieren, währendgleichzeitig die bosnischen Moslems mit Waffen versorund ausgebildetwerden.Alles andere,auch der Einsatz derSchnellen Eingreiftruppe, istAugenwischerei.Gainesville (USA)

ALEXANDER ANGERHOFER

Ich danke dem General a. D.GerdSchmückle von Herzen, daß er deBonnerPolitikern wie auch der Bundeswehrgeneralität den Verstand lüftet,und ich bitte ihn,nicht nachzugeben.Marbach am Neckar

DR. ALFONS WERNER REUKE

Gerd Schmückle verweistdarauf, daßdie Nato esjedem Mitgliedstaat über

läßt, ob er zum Konfliktmanagemenur Krankenwagen oderAtombombenbeitragenwill. Was würdedenn derehe-malige Vier-Sterne-General als veranwortlicher Befehlshabermachen, wennKonfliktmanagement durch dieNatonotwendig wäre und alle Mitgliedstaten nur Krankenwagenschicken wür-den?Stuttgart JULIUS WÖPPEL

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B R I E F E

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Wann werdenJournalisten lernen,zwi-schen Regierenden und Regiertennen Unterschied zu machen? Franreich ist Staatspräsident Chirac.DieserGernegroß mitseinen „Der Staat biich-Allüren“ mißbraucht mit Arroganzdie Macht, die einTeil seiner Landsleute ihm – leider – verliehenhat, undtritt die französische Demokratie mitFüßen.

Horst (Schlesw.-Holst.)DANIELLE BOIDIN-SCHILLING

„Lindenstraße“-Szene beim Griechen: Wiedergutmachung ist unangebracht

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Parthenon-Tempel in AthenNotgroschen oder Kult-Tempel?

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Intellektuelle Hirnwichserei(Nr. 29/1995, Polemik: Dietz Beringüber Botho Strauß und die Bildungsmise-re)

Wer „Tragödie“ mit „Bocksgesangübersetzt, der hältwohl auch Elfmeterfür ein deutsches Längenmaß.Demsel-ben Mißverständnis unterliegtDietz Be-ring in seiner Sehnsuchtnach der heilendeutschengymnasialen Bildungsweltdie es nie gab – und seiner Kritik an dVersuchen, Schule und Wirklichkeieinander näherzubringen.Gerstetten (Bad.-Württ.)

WILLIBALD PAPESCH

Da hat der Bock doch wahrhaftig eKitzlein geworfen.Doch bleibt die an-geblich linke Auswertung des Strauß

Gyros statt Kebab(Nr. 29/1995, Presse: Türkische Zeitun-gen hetzen gegen deutsche Politiker undTV-Sendungen)

Die „Lindenstraße“ überlegt in der Taseit längerem, wie sie eine türkischeFamilie in die Serie integriert. Wirwerden aberjetzt sicher nichtaufgrundder momentanen Proteste diebereitsgedrehtenFolgen ändern undsofort ei-nen „Alibi-Türken“ einführen. Einesolche Form der „Wiedergutmachungist unangebracht,setzt sie dochvoraus,es bestünde dazu überhaupt Notwen-digkeit. Es gibt alsovorerst kein Ke-bab statt Gyros.Köln DR. RONALD GR ÄBE

WDR Redaktion Lindenstraß

Nachdem nun das türkisch-nationalisti-sche Blatt Hürriyet die Türken aufge-fordert hat, gegen diesen Bericht zprotestieren, fühle ichmich angesprochen und möchtemich bei Ihnen dafürherzlich bedanken, daß Sie über dwahre Gesicht vonHürriyet und Co.geschriebenhaben. Hürriyet bezeich-net den SPIEGEL-Bericht über dtürkische Presse als „Grüne Spinnund stellt denSPIEGEL als denewi-

gen Feind der Türken dar. DerKolum-nist Külahci faßte zusammen: „Gibt eseinen Unterschiedzwischen denWor-ten von Rudolf Augstein über dieKul-turära der Türken und der extremNazi-Propaganda ,Türken raus!‘? Aug-steins Worte können als gut getarntNationalismusgedeutet werden.“Solingen ISMAIL SAHIN

Da erlaubt sich der SPIEGEL zuschreiben, die in der Bundesrepuberscheinenden türkischen Tageszeitgen Hürriyet und Milliyet seien staatstragend, diePassagen vonHürriyet sei-en „schlüpfrig“ und sie würden über„frei erfundene“ Geschichtenberich-ten. Diese Zeitungen sehen esaber alsihre Pflicht an, die Belange ihrerLandsleute aufzugreifen. Siesolltenverstehen, daß die Einheit unseres Ldes in Gefahrist. Wir möchtenverhin-dern, ein zweites Jugoslawien zu weden.Neu-Isenburg AHMET KÜLAHC I

Verein der türkischen Journalisten inEuropa

Naive Vorstellung(Nr. 29/1995, Archäologie: Der Parthe-non-Tempel – Staatsbank der alten Grie-chen?)

Der Parthenon warentgegen verbreiteter Meinung gerade keine „Staatsbansondern ein Kult-Tempel.Auch dieStatue der GöttinAthena warkein gol-denerNotgroschen, sonderneinzig einedem Kult der Göttin dienendeStatue.Und natürlich hat die politischeKon-stellation beim Bau desVor-Parthenon(Sieg über diePerser) und beim Bau deParthenon (Demokratie zur Zeit des Prikles) eine so große Rollegespielt, daß

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dieser Bau denCharaktereines Staatstempelshat, den derFries – wie er auchzu deuten ist –ausdrückt.Berlin DR. W. HOEPFNER

Ihr Artikel über den Parthenonzeigt zu-mindestzweierlei: zumeinen dierichti-ge Erkenntnis, daß Tempel –nicht nurin Griechenland – nach dem Beginn dPatriarchats in jedemFall Geldwertspei-cher waren. Zumanderen aberzeigt erauch die immer noch erschreckendnai-ve Vorstellung vom Menschenopfer

Naiv, weil weder über die Absichtenoch über den Ablauf einersolchenHandlung plausible Vorstellungen bestehen. MitSicherheitging esnirgend-wo, wo dieseextreme Opferformausge-übt wurde, nur um eineinfaches Ab-schlachten.Stuttgart HANJO SCHMIDT

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Polemiker Bering„Kleinliche Schullehrersorgen“

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HERAUSGEBER: Rudolf Augstein

CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust

STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild

REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil-helm Bittorf, Peter Bölke, Ulrich Booms, Dr. Hermann Bott, KlausBrinkbäumer, Henryk M. Broder, Werner Dähnhardt, Dr. ThomasDarnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. Martin Doerry, Anke Dürr, AdelS. Elias, Marco Evers, Nikolaus von Festenberg, Uly Foerster, Dr.Erich Follath, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatter-burg, Henry Glass, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage,Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, ManfredW. Hentschel, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Cle-mens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Jürgen Hohmeyer, HansHoyng, Thomas Hüetlin, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, UrsJenny, Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Kartte, Klaus-Peter Ker-busk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. WalterKnips, Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein,Bernd Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Hans Leyendecker,Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr.Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Fritjof Meyer,Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mönninger, Joachim Mohr,Mathias Müller von Blumencron, Bettina Musall, Dr. Jürgen Nef-fe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Claudia Pai,Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, Dietmar Pieper,Norbert F. Pötzl, Detlef Pypke, Dr. Rolf Rietzler, Anuschka Rosha-ni, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper,Marie-Luise Scherer, Michaela Schießl, Heiner Schimmöller, Ro-land Schleicher, Michael Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben,Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Sylvia Schreiber,Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthias Schulz, BirgitSchwarz, Ulrich Schwarz, Claudius Seidl, Dr. Stefan Simons, Ma-reike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, GaborSteingart, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, DieterG. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Man-fred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, MarianneWellershoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiede-mann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zu-ber

REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf-gang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer,Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn,Walter Mayr, Harald Schumann, Michael Sontheimer, Kurfürsten-straße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. OlafIhlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Nie-jahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-JürgenSchlamp, Hajo Schumacher, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen,Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Tele-fax 21 51 10 . Dresden: Sebastian Borger, Christian Habbe, Kö-nigsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 567 0271, Te-lefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Bönisch, Ri-chard Rickelmann, Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211)93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 .Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Groß-bongardt, Rüdiger Jungbluth, Ulrich Manz, Oberlindau 80, 60323Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Telefax 72 17 02 . Hanno-ver: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel.(0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lam-precht, Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14,Telefax 276 12 . Mainz: Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10,55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Telefax 23 47 68 . Mün-chen: Dinah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Rei-mann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0,Telefax 4180 0425 . Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltor-damm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Kriegsbergstraße11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65

REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi,Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36,11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 .Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 .Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe,Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 .Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele-fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih,Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 .Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001Kiew, Tel. (0038044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen-rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044171) 379 8550, Tele-fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru-tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502)221 7725, Telefax 221 7724 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani,6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111)469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek,516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel.(001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche,Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331)4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qi-jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (008610) 532 3541, Telefax

DER SPIEGEL 31/1995

532 5453 . Prag: Jilska 8, 11 000 Prag, Tel. (00422)24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glü-sing, Avenida Sao Sebastiao, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro(RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeskavon Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522,Telefax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4,11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 .Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau,Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 84 74 . Washington: Karl-Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 NationalPress Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202)347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön-brunner Straße 26/2,1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax587 4242ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu-me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, ThomasBonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, JosefCsallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur-me, Bettina Janietz, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, UrsulaMorschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Ju-lia Saur, Detlev Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, FrankSchumann, Rainer Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Wein-berg, Matthias Welker, Monika ZuchtTitelillustration: Wolfgang BehrendSCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa-bine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, HermannHarms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, IngaLembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, AndreasM. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig,Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-JürgenVogt, Kirsten Wiedner, Holger WoltersVERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan-orama, Europa, Umfrage, Hauptstadt, SPD, Bosnien: Dr. ThomasDarnstädt; für Titelgeschichte, Trends, Einzelhandel, Manage-ment, Tourismus, Tarifpolitik, Konkurse: Gabor Steingart; für Ex-tremisten, Zeitgeschichte, Polizei: Clemens Höges; für Minister:Werner Harenberg; für Medien, Partys, Computer, Volksfeste, Kir-che, Film, Stars, Fernseh-Vorausschau, Briefe, Register, Persona-lien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Hans-Dieter Degler; für Serie:Mareike Spiess-Hohnholz; für Panorama Ausland, Türkei, Ruß-land, Polynesien, Brasilien, Jordanien, Großbritannien: Dr. ErichFollath; für Prisma, Medizin, Physik, Rüstung, Motorräder: JürgenPetermann; für Polemik, Bestseller, Kunstgeschichte, Szene: Dr.Mathias Schreiber; für Tennis: Heiner Schimmöller; für nament-lich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Titelbild: MathiasWelker; für Gestaltung: Volker Fensky; für Hausmitteilung: HansJoachim Schöps; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlichBrandstwiete 19, 20457 Hamburg)DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Hel-mut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heiko Buschke, HeinzEgleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen,Cordelia Freiwald, Dr. Andre Geicke, Ille von Gerstenbergk-Hell-dorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Ge-sa Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Im-misch, Hauke Janssen, Günter Johannes, Michael Jürgens, UlrichKlötzer, Angela Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Pe-tra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, UlrichMeier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, ChristelNath, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Anna Pe-tersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Rip-ke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G.Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Andrea Schumann, Claudia Sie-wert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Ste-fan Storz, Rainer Szimm, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr.Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, CarstenVoigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessendorff, An-drea Wilkens, Karl-Henning WindelbandtBÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma NellesNACHRICHTENDIENSTE: AP, dpa, Los Angeles Times/Washing-ton Post, New York Times, Reuters, sid, Time

SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KGAbonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölfMonate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage.Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74,10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130;Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211)936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80,60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32;München: Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089)41 80 04-0, Telefax 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11,70174 Stuttgart, Tel. (0711) 226 30 35, Telefax 29 77 65Verantwortlich für Anzeigen: Horst GörnerGültige Anzeigenpreisliste Nr. 49 vom 1. Januar 1995Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, NürnbergVERLAGSLEITUNG: Fried von BismarckMÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. KlattenGESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel

schen Bocksgesangs weithinter Ador-nos Kritik der Kulturindustrie (1947)zurück. Dessenzorniger Pessimismuhatte noch Biß undStil. Bering dage-gen verquickt seine kleinlichenSchul-lehrersorgen mit einer Diskussion, dren historischeUnerhörtheit er über-,deren Komplexität er jedoch unterschätzt.Genf DR. SABINEHAUPT

Arrogant undbesserwisserisch im Towird wieder mal von einem selbster-nannten Bildungspapst derUntergangder Bildungbeschworen.Berlin DR. B. SCHUPPENER

Das ist wirklich ein origineller, zu-kunftsweisenderGedanke: daßsich diegeschichtsvergessenenLinken, die dieSchulen und die Geisteswissenschafkaputtmachen, amDenken derRech-ten orientieren sollen. Man muß immnur „genau hinhören“ und rechteTex-te „von links her ausbeuten“ – der s

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cherste Weg zu einerneuenlinken Kul-tur und Politik.Lorsch (Hessen) PROF. RUDOLFHOBERG

Leider bleibtdies alles für mich auf deEbene derintellektuellen Hirnwichserei, wo zwar kenntnisreich zitiert wirdes aber lediglich um dieProfilierung ei-nes HerrnBering geht.Berlin MARTINA TITTEL

Die Redaktion behältsichvor, Leserbriefe gekürzzu veröffentlichen.

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Wohncontainer für Rußlanddeutsche in der Ukraine

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Alle außer WolfGeneralbundesanwalt Kay Nehmwillalle Strafverfahren gegen leitendOffiziere der Stasi-HauptverwaltunAufklärung (HVA) einstellen. Auch

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dem letzten Ost-Berliner Agentenchef, Werner Großmann, sollnun nicht mehr derProzeß gemachtwer-den. Einzige Ausnah-me: der langjährigeHVA-Chef MarkusWolf. Er soll wegenBestechung, Freiheitsberaubung, Entführungund Nötigung des früheren Berliner Innen-senators Heinrich Lummer (CDU) noch ein-mal vor Gericht. Mitder Einstellung der an

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deren Strafverfahren zieht derGene-ralbundesanwalt die Konsequenzaus der Entscheidung des Bundesvfassungsgerichts, dasDDR-Spionagefür straffrei erklärt hatte.

1/1995

P a r t e i f i n a n z e n

Heimliche GeldwünscheCDU und CSU kommen mit dem Genicht hin und wollen höherestaatlicheZuschüsse. Beim jüngstenStrategie-Gipfel der Unionsparteien klagteCSU-Generalsekretär Bernd Protznund CDU-Schatzmeisterin BrigittBaumeister übereinstimmend,wegenungünstiger Wirtschaftslage undneuergesetzlicherGrenzen für diesteuerli-che Abzugsfähigkeit seien vor alle

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Großspendenausgeblieben. Alleinbei der CDU, so schätzteFrauBau-meister, ging der Spendensege1994 um „rund 15 Prozent“gegen-über dem Vorjahr zurück.Die Schatzmeister hoffen nun aeine vom Bundespräsidenten befene KommissionunterLeitung derPräsidentin des Bundesrechnunhofes,HeddaCzasche-Meseke. DaGremium soll im Herbst Empfehlungen geben, obwegen der Preissteigerungen die Zuschüsse dStaates an die Parteien angehowerdensollen. Die jetzt vom Gesetgezogene absoluteObergrenze in

Höhe von 230 MillionenMark pro Jahrwerde sich wahrscheinlich, so Kommissionsmitglied Karl-Heinz Naßmacher, nicht halten lassen.NaßmacherPolitologie-Professor in Oldenburg,warnt aberspeziell dieC-Parteien vor„übertriebenen Erwartungen“. Wendie allzu tief insMinus geraten seien„können wir sie danicht rausholen“.Bis zum Herbst hat HelmutKohl die-ses „sensibleThema“ zur Geheimsa-che erklärt. Es dürfe darüber, blockteer die Debatte ab, „nur janicht in derÖffentlichkeit“ gesprochenwerden.

R u ß l a n d d e u t s c h e

Lieber im ContainerDas Projekt der Bundesregierung,zu 400 000 Rußlanddeutsche ausehemaligen Sowjetunion in derUkraineanzusiedeln, ist so gut wie gescheiteNur gut 2000Deutschstämmige seiendie Ukrainegezogen, hieß esbislang inBonn. Dochselbst dieseZahl istfalsch:Tatsächlich sind esnach einer jüngsteZählung nur 1381. Der Ukrainisch-Deutsche Fonds inKiew hatte die Zahlen jahrelang übertrieben und kam so iden Genuß zusätzlicher humanitärerHilfe; überzählige Lebensmittelpaketder BundeswehrsowieKleiderspendenfanden sich auf dem Schwarzmarkwieder. Die Verantwortlichen dezwischenstaatlichen Verwaltungsstewurdeninzwischenentmachtet, die Gesellschaft fürTechnischeZusammenarbeit (GTZ) kauftjetzt die Lebensmittelhilfe vor Ort ein und läßt sie in 24 Döfern in der Südukraine verteilen.Dort leben dierund 400 rußlanddeuschen Familien seitdrei Jahren inCon-tainern.Mittlerweile sind die Blechbehausungen altersschwach. Vor dWinter sollen beiOdessa 82feste Häu-ser für die Übersiedler entstehen – Gsamtkosten:2,87 MillionenMark.Die Rußlanddeutschenwollen jedochlieber im Container bleiben. In deHäusern müßten sie Strom,Heizung

und Unterhaltselbstbezahlen und bekämen keine kostenlosen Lebensmtel mehr. Ohnehin gab beieiner Er-hebung ein Viertel der befragteDeutschstämmigen gegenüber dGTZ an, die Ukraine sei für sie nur e

ne Zwischenstation auf dem Weg naDeutschland. Die tatsächliche Zahldürfte noch höher sein: AusAngst, siekönnten sich schaden,verschweigenviele Befragte den Geldgebern ihAusreisepläne.

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Pendolino im WaldDie Thüringer Grünenunternehmen enen letzten Versuch, die umstritteICE-Neubaustrecke durch den Thürin-ger Wald zu verhindern. In Briefen aBahnchef Heinz Dürr, Bundesvekehrsminister Matthias Wissman(CDU) und die CDU-Ministerpräsdenten von Thüringen und SachsenBernhardVogel undKurt Biedenkopf,machen sie auf eine Alternativzum Milliardenprojekt aufmerksamAnstatt mit der Hochgeschwindig

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keitsstrecke zwischenErfurt und Nürnbergden Thüringer Waldzu durchschneidenkönnte dieTrasse übeGera führen.Vorhan-dene Strecken könnten sehrviel billiger fürZüge mit moderneNeigetechnik („Pendolino“) hergerichtewerden.Viel Zeit fürAlternativen bleibt al-lerdings nicht:AnfangJuli gab dieBundesre-gierung die Mittel fürerforderliche Grund-stückskäufefrei.

J üd i s c h eG e m e i n d e

„Wir sind nicht orthodox“

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Interview mit Sara-RuthSchumann,der Vorsitzenden der JüdischenGemeinde imniedersächsischenOldenburg, über dieerstebundesdeutsche Rabbinerin, BeaWyler

SPIEGEL: Die JüdischeGemeinde Oldenburg hatsich für eine Rabbinerinentschieden.Warum?Schumann: Wir haben einen qualifi-zierten Rabbinergesucht. Bea Wylestand als deutschsprachigeRabbinerinfür dieseAufgabe zur Verfügung. Wikennensie, und da ist die Wahl auf sgefallen.SPIEGEL: So unspektakulär ist dieEnt-scheidungnicht. Der Vorsitzende deZentralrats der Juden in DeutschlanIgnatz Bubis, erklärt, er werde eineGottesdienst von FrauWyler nicht be-suchen.Sind Sie über dieAbsage erstaunt?Schumann: Nein. Herr Bubis ist in derOrthodoxie groß geworden, in dFrauennicht gleichberechtigt sind un

keine Rabbinersein können. Wirsindeine nicht-orthodoxeGemeinde,Frau-en nehmen alsvollwertige Mitgliederam Gottesdienst teil. DieGemeinde hasich vordrei Jahrengegründet. Frauenwaren von Anfang an bei unsgleichbe-rechtigt. Es gibt überhaupt keinenGrund,warum eineFrau bei unsnichtRabbinerinsein soll.SPIEGEL: Dennoch hat IhreWahl einenKonflikt unter den Judenausgelöst.Schumann: Das ist kein Konflikt. Ich re-spektiere die Einstellung derOrthodo-xie, die bisher dasGemeindeleben inDeutschland geprägthat. Es ist aber eine Bereicherung, wenn Veränderungeintreten. Wir greifen eineTraditionauf, die in Deutschland vor dem Zweten Weltkriegentstand. Damals gab eeine Rabbinerausbildung auch für Fraen und mit Regina Jonas eine deutscRabbinerin; sie ist inAuschwitz ermor-det worden. Nun knüpfen wir andieseTradition an.SPIEGEL: Bea Wylerwerdenicht Mit-glied derRabbinerkonferenz sein, h

Ignatz Bubisangekündigt. Was bedeutet das für die Gemeinde in Oldeburg?Schumann: Das hat mit der Arbeit deGemeindenichts zu tun. Die Rabbi-nerkonferenzgibt Empfehlungen anden Zentralrat. Siestellt keine Ge-richtsbarkeitdar, die in dieGemeinde-Autonomie eingreift. Im übrigen isFrau Wyler Mitglied einer interna-tionalen Rabbinerkonferenz, d„Worldwide Conservative Movement“.

J a h r e s s t e u e r g e s e t z

Teure DienstwagenKritik von allen Seitenhabensich Ko-alition und SPD mitihrem amvergan-genen Donnerstag gefundenen Kopromiß zum Jahressteuergesetzeinge-handelt. Sosind die deutschenAuto-hersteller verärgert, weil 1996eine äu-ßerst günstige Steuerregelung füDienstwagenfahrer gestrichen wirBislangmußte ein Manager, der eineDienstwagen auch privatnutzt, monat-lich ein Prozent desListenpreises algeldwerten Vorteil versteuern. Altenativ konnte er, oft die günstigere Va-riante, ein Fahrtenbuch führen undden privat gefahrenen Kilometer m52 Pfennigversteuern.Diese Billigvariante wird nun imJah-ressteuergesetz gestrichen.Theo Wai-gel und die Ländererhoffen sich vonder Neuerung eineMilliarde Markmehr an Steuereinnahmen.Heftige Protestekamen auch von In-dustrie undHandwerk. DieArbeitge-ber kritisieren weitere Erhöhungen derLohnzusatzkosten, die etwa durchhöhte Pauschalen für die betrieblicAltersversorgung entstünden. DerBund derSteuerzahler mäkelte: „Nocnie mußten soviele Steuerzahler slange auf sowenig warten.“

I N T E R V I E W

D E U T S C H L A N D

17DER SPIEGEL 31/1995

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Laue ReformBonner Planspiel füreine neue Kfz-Steuer

VW Golf DieselEntspricht der ab 1997geltenden EU-Norm, 1,9 Liter 37,10

Ford FiestaEntspricht der ab 1997geltenden EU-Norm, 1,4 Liter

13,20

Mercedes 230

18,80Modell vor 1986, ohneKatalysator, 2,3 Liter

Steuer für je 100 angefangeneKubikzentimeter Hubraum 11,00

JAHRESSTEUERinsgesamt; in Mark

34,90

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184 154

704 663

432 552

DERZEIT GEPLANT

K f z - S t e u e r n

Halber Tarif fürsaubere AutosExperten im BonnerFinanzministeri-um arbeiten anVorschlägen für einstärkere Staffelung der Kfz-Steuenach Schadstoffausstoß.Ein „Pro- und Contra-Papier“ aus deHause desCSU-Finanzministerszeigtdie Alternativen, die derzeitdurchge-rechnet werden. Zahlreiche der vden Bonner Bürokraten untersuchtModelle knüpfen an die sogenannEuro-2-Norm an. Dassind die ineinerBrüsseler Richtlinie festgelegteSchadstoffgrenzwerte, die Neuwagvom Januar1997 annicht überschreiten dürfen.Für Autos, die dieEuro-2-Norm erfül-len, kommenkleinere Steuersenkungen in Betracht,andererseitssollen al-te Wagen höher besteuert werdeNach anderen Rechnungensollen ins-

Umstrittener Torschuß in Wembley 1966

8 DER SPIEGEL 31/1995

besondere Autosbevorzugt werden,die der künftigenEuro-3-Norm ent-sprechen.Ihre Besitzer könnten nach demBonner Modell damit rechnen, daßsich dieSteuer etwa halbiert.Da dieseNorm aber frühestens1999 inKraft treten kann,fallen heutige Au-tos im günstigsten Fallunter dieKate-gorie der Euro-2-Norm (siehe Gra-fik).Den größtenUmweltkiller im Straßen-verkehr, dasKohlendioxid, lassen diePlaner aus dem Finanzministeriuganz unberücksichtigt. Grund: Dievom Katalysatorunabhängigen CO2-Emissionen stehen in direktem Vehältnis zum Kraftstoffverbrauch, undder lasse sich „besser über die Mineralölsteuer“ beeinflussen.Den Vorschlag der FDP, deshalbgleich dieKfz-Steuer auf die Mineralölsteuer umzulegen, lehnt dieUnionjedoch ab – aus Rücksicht auf die Be-rufspendler in den Flächenländern, diedanndeutlichmehrzahlen müßten.

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„Kein Tor. Nie. Niemals“Im alten Nippon zog derMissetäter dasHarakiri deröffent-lichen Mißbilligung vor, im frühen China bediente ersichder seidenen Schnur. AlsGermaneließ er sich einfach vonseinem Weibe erschlagen. Das ist noch gnädig imVergleichzu der Buße, dieBild dem SchweizerGottfried Dienstauf-erlegte: „Er soll sich“, wütete das Blatt,„sein Leben langvor ganzDeutschland schämen“ – dabeihatteSchiedsrichteDienstnichts Schlimmeresgetan, als die Bundesrepublik ueinen Fußball-Weltmeistertitel zu bringen.Wembley-Stadion1966; WM-Endspiel Deutschland-England; 2:2 in der Verlängerung;101. Minute, Hurst vor demdeutschenTor, erschießt an dieUnterkante der Querlatteder Ball undDienst gehorchen: derBall den Gesetzen deBallistik, Dienst seinem LinienrichterTofik Bachramow,worauf er auf 3:2 fürEnglanderkennt.

Der Sowjetrusse entzogsich demUrteil der Nachwelt vorzwei Jahrendurch Herzschlag,weshalb derarme GottfriedDienst, nunmehr 75, die Verantwortung für daswohl um-strittenste Tor in denAnnalen desorganisierten Balltretenjetzt ganz alleintragenmuß.„Es war keinTor, das istwissenschaftlichbeweisbar“ – mitdieser Expertise trafenvorige Wochezwei angesehene Oxford-Wissenschaftlermitten hinein in dasSeelengefügzweier Völker: In Britannien wie in Deutschland geriet dFußball-Bevölkerungnachträglich noch einmal in Torschußpanik.„Jetzt muß dieFußballgeschichte neu geschriebenwerden“,forderteBild letzte Woche. „Wir in Großbritannien“, konterte derDaily Mirror , „waren und bleiben der Nabel dFußballwelt“ –minder befangeneExpertensehen denFallzwar etwastiefer, bestreiten jedoch nicht, daß dieenglischeElf damals beimFinalspiel inWembley (Endstand: 4:2)bes-ser war.Das vermochte sogar Heinrich Lübke zuerkennen, der diDeutschen repräsentiert hat wie kein Bundespräside„Unsere Männer haben gutgespielt, aber besser als gukann eben mannicht“, tröstete er das Volk undseine Fußballer; allerdings nichtohne daraufhinzuweisen, daß „dieser dritteenglische Ball wirklichdort ein Tor war“ – das habe er vor dem Fernsehersowie inAbsprache mitseinerFrauWilhelmine genauerkennen können.Nun aber istgottlobSchluß mit der seit 29Jahren undmeistunter alkoholischer Begleittherapie geführten Diskussionüber das elende dritte Tor von Wembley. Zudanken habendies die StammtischeEuropas denOxford-WissenschaftlerAndrew Zisserman und IanReid, die mittels eines eigendafür entwickeltenComputerprogramms die tatsächlicheFlugbahn des Hurst-Schusseserrechnet haben. IhrFazit:„Kein Tor. Nie. Niemals.“Angesichtssolch wissenschaftlicherEindeutigkeit im Ne-bensächlichen überkam sogar die ansonstenernsthaftenNaturen von derFrankfurter Rundschaueine Art vonSpötterdämmerung. Ihre Forderung: „Sofortige Neuanset-zung des Endspiels vonWembley in ursprünglicher Besetzung“.

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Präsident mit SoldatenDer israelischeStaatspräsidentEserWeizman möchte zu seinem Staatssuch Anfang September in Deutsc

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land eine Abordnungder israelischen Streikräfte mitbringen. DieSoldatensollen die Eh-renwache bei WeizmanKranzniederlegung imKZ Sachsenhausenbil-den. DerWunschWeiz-mans – „ein Novum beStaatsbesuchen“, hiees im Bundespräsidial-amt – werde bei deprotokollarischen Vorbereitungen derVisite„ernsthaft geprüft“.Vorgesehensind in Ber-lin auch Besuche der so

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genanntenWannsee-Villa, in der daNazi-Regime 1942 die „Endlösung“,den millionenfachenJudenmord, beschloß, und derGedenkstätte Plötzen-see, wo führendeMitglieder desdeut-schen Widerstands gegenHitler hinge-richtet wurden.

Z e i t g e s c h i c h t e

Rotes HamburgNeu entdeckteDokumente aus derussischenArchiven belegen, daßSta-lin die Norddeutschen vor denNach-kriegsplänen seiner übereifrigenBera-ter geschützthat. Der Potsdamer Historiker Jochen Laufer fand inMos-kauer Archiven die Unterlagen deKommission, die1943/44 dieKapitula-tionsbedingungen an Nazi-Deutscland ausgearbeitethat. Nach den Do-kumenten planten diesowjetischenExperten, Hamburg und denNord-Ostsee-Kanal samtUmland ineiner in-ternationalenZonezusammenzufasseund dort dieRote Armee zustationie-ren. Stalin jedoch strich imFebruar1944 die entsprechendePassage – ewollte wohl Ärger mit den Alliiertenvermeiden. Denn seinen Gebietsanspruchhatte er mitbritischer Hilfe be-reits Wochen zuvor befriedigt: Lon-donsAngebot vomJahresbeginn1944,Thüringen, Mecklenburg undSachsenAnhalt dersowjetischen Besatzungszne zuzuschlagen, übertraf alle Erwar-tungen. Die Kreml-Spitze, so zeigedie Dokumente, war von der Elbe aZonengrenzeausgegangen. Im Südebekam sie nungroßeGebietewestlichdes Flusses. Auf NorddeutschlandkonnteStalin da leicht verzichten.

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Punker-Festnahme während der „Chaos-Tage“ in Hannover 1994

Ravensburger DLRG-Boot auf dem Bodensee

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Fingierte RechnungenFunktionäre der Deutschen LebenRettungs-Gesellschaft (DLRG) sollensich mehrmals „unberechtigte Zuschüsse“ aus Steuergeldern mit Hivon „fingierten Rechnungen“ ver-schafft haben. Dasergaben internPrüfungen, deren Ergebnisse demSPIEGELvorliegen.Die StuttgarterStaatsanwaltschaft undas Landeskriminalamt Baden-Wütemberg ermitteln gegen rund 30Funktionärewegen Untreue und Betruges. 200Beamte haben beiRazzienim vergangenenOktober und indie-sem Frühjahr Büros desDLRG-Lan-desverbandes Württemberg, Funktio-närswohnungen und Lieferantenbürdurchsucht.

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Der Bezirksverband derLebensretteim oberschwäbischenRavensburg hanach demSPIEGELvorliegenden Un-terlagen für ein Motorrettungsboot ene fingierte Rechnung über 347 00Mark eingereicht, um Staatszuschüszu bekommen. Tatsächlich hat das

Boot nur 270 000 Mark gekostet. FBootszubehör kassierten die Lebenretter 35 000 Mark Zuschuß voLand. Ein Kran, Feuerlöscher,Ret-tungswesten undanderes Gerät (Anschaffungswert:mehr als 18 000 Marktauchten in den DLRG-Inventarliste

nicht auf, wohl aber auf derRechnung des Lieferanteder im übrigen Vorsitzendedes DLRG-Bezirksist.Die Lebensrettergeselschaft nimmt ihre Funktio-näre in Schutz: Sie hätten,zumeist ehrenamtlich tätigsicher „nicht absichtlich“gegen Gesetze verstoßesagt LandesgeschäftsführerWolfgang Kast, sondern allenfalls in Unkenntnis der„komplizierten Vorschrif-ten“.

R e g i e r u n g s k r i m i n a l i t ä t

Generale angeklagtBei der Suche nachSchuldigen für dieTodesschüsse an der innerdeutscGrenze hatsich Berlins Justiz nun dieDDR-Generale vorgenommen. EinKammer des Landgerichts beschlojetzt, die Anklage gegen zehnGeneraleder früherenNationalen Volksarme(NVA) zuzulassen und vom 18.Augustan zu verhandeln. DieStaatsanwaltschaft II, zuständig für Regierungskrminalität, wirft denOffizieren imAlterzwischen 65und 81Jahren vor, in 27 Fälen „gemeinschaftlich Hilfe zumTot-schlag“geleistet zuhaben.Damit versucht die Staatsanwaltschadie gesamteNVA-Führung zur Verant-wortung zu ziehen,unabhängig von derFunktion der Angeklagten in derDDR-Armee. So soll Ex-LuftwaffenchefWolfgang Reinhold ebenso belanwerden wie MarinechefWilhelm Ehmoder der Leiter derZivilverteidigung,Fritz Peter.Die 571 Seiten starke Anklageschrstützt sich aufProtokolle des sogenanten Kollegiumsbeim Verteidigungsmi-nisterium.Dort hätten die Angeklagtenden jährlichenGrundsatzbefehlen zugestimmt, wonach „Grenzverletzfestgenommenodervernichtet“ werdenmußten,argumentieren die AnklägerOb die juristischeKonstruktion hält, istfraglich. Danachsollensichalle Gene-rale gemeinsam dafürverantwortenden Befehlen nicht widersprochenhaben. Dieser Vorwurf laufe daraufhinaus, „die gesamte NVA zukriminali-sieren“, meintGerhardSchmidt, An-walt des DDR-Militäroberstaatsanwalts Alfred Leibner.

S t äd t e

Wieder Chaosin HannoverPolizei undPunker rüstensich für die„Chaos-Tage“ amkommenden Wochenende in Hannover. Imvergangenen Jahr hatte die überfordertePolizeinach kleinerenSchlägereien 600 von800 Punkernkurzfristig in Gewahrsamgenommen. Der Medienrummel um dChaos-Tage ’94 hat nun Folgen: Indie-sem Jahr, so schätzt dieOrdnungs-macht, werden mehr als doppelt sovielePunker nach Hannover reisen. AufFlugblättern und in Computernetzewerben sie für ihr Massentreffen – iniro-nischem Tonfall: „Diesmalkommen wirmit Atombomben undC-Waffen.“ Der

Einsatzleiter der Polizei, Uwe Wiedemann,versucht es mitDe-Eskalation.SeinenBeamten schärfte er schriftlichein, „auch in denReihen derPunks“ ge-be es „sympathische jungeMenschen,die sich an dieRechtsordnung halten“Den Punksdroht Wiedemann mitGeld-forderungen: „Wer zurPersonalienfeststellung auf dieWache gebracht werdemuß und so zweiPolizisteneine Stundelang beschäftigt, kriegt von unseine Ko-stenrechnung.“ Sie dürfte bei 150 b200 Markliegen. DiePunks, meint deEinsatzleiter, wolltenohnehin nur brave Bürger provozieren – dasaber sei er-laubt.Allerdings sei „ineineralkoholi-sierten Gruppe die GrenzezwischenProvokation und Gesetzesbruchschnellüberschritten“. Deshalb werdenminde-stenstausendPolizistenHannovers In-nenstadtsichern.

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„Wir pflegen zu heucheln“Bei Deutschlands größtem Industriekonzern geht es drunter und drüber. Öffentlich ausgetragene Intrigen, privateAffären und weltweite Milliardenverluste haben dem Stern aus Stuttgart seinen Glanz genommen. Die Ära desneuen Konzernchefs Schrempp begann mit einem Fehlstart.

Daimler-Chef Schrempp: „Ich mag¯s, wenn es kribbelt“

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iel versprechen wollte JürgenSchrempp seinen AufsichtsrätVnicht. Eines aber garantierte de

neueVorsitzende von Daimler-Benz ihnen: „Bei mirherrscht totale Offenheit.

Die Kontrolleure ahntennicht, waszum Vorscheinkommt, wenn Deutschlands größter Konzerngroßzügig Ein-blicke gewährt: auf Zahlen, diebislangsorgsam verstecktwurden, und auf daTreiben derHerren in den Führungsetagen.

Am Mittwoch vergangener Woche wes soweit. „Liebe Mitarbeiterinnen unMitarbeiter“,schrieb ein angeschlagenJürgen Schrempp denknapp 250 000 Beschäftigten in ganzDeutschland, die Vorgänge der vergangenen Tage hätten„dem Ansehen desKonzerns gescha-det“.

In kürzesterZeit wurde dem erstaunten Publikum ein Daimler-Drama in drAkten präsentiert. Der „gute Stern auallenStraßen“ (Mercedes-Werbung) bkam dabeizwar kräftigeKratzer ab. FüunbeteiligteBeobachter war die Aufführungabernichtohne Unterhaltungswer

1. Akt: Schrempp sagt,ganzoffen, wiees um den Konzern steht. Dem Konzedroht ein Milliardenverlust. Auf derHauptversammlung im Maihatte derscheidende ChefEdzard Reuternoch an-sehnlicheGewinne versprochen. Aktionäre fühlensich belogen undbetrogen,sie drohen dem Vorstand miteinerKla-ge.

2. Akt: Der geschaßte FinanzvorstaGerhardLiener rechnet,offen und gna-denlos, mitEdzard Reuter ab. Ineinem76-Seiten-Pamphlet, das imManagerMagazin auszugsweiseerscheint, beschreibt er denlangjährigen Konzerncheals einen charakterlosenMann, derseineEitelkeiten pflegte und dasUnterneh-men ins Verderben führte.

Was Reuter in Redenmitunter sagtewar Lienerzufolgemanchmal „sovollerUnwahrheiten, daß mirfast übel geworden ist“. Liener zu seinem Ex-Che„Schämen Sie sich.“

Im bislang letzten Akt sorgt JürgeSchrempp persönlich für Gaudi imPubli-kum. Fröhlich und ein wenig ausgelassläuft er, nichtmehrganzgeradenSchrit-

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tes, umzwei Uhrnachts über die PiazzaSpagna in Rom. Bei der SpanischenTreppe werden derDaimler-Manager sowie seine Assistenten Lydia Deiningund HartmutSchick voneiner Polizei-streifeaufgehalten. Die dreihabeneineFlascheRotwein dabei, aberkeine Personalausweise und müssen mit aufsRevier.

Eine Polizistin habeeine Quetschunam Handgelenk erlitten, berichtet eBeamter imKommissariat der Staatsplizei in Rom. Und inDeutschlandfragtdie Hamburger Morgenpostauf ihrer Ti-telseite: „Wie blau war der DaimlerChef?“

Tollhaus Daimler-Benz: In Deutschlands größtem Konzerngeht es zu wie be„Dallas“; große Intrigen, kleine Affäreund ein riskantesSpiel mitMilliarden. Im

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Zum Abschiedverpaßte Niefer schon

mal eine Kopfnuß

Zentrum aller Aktivitäten, somuß es scheinen, stehennichtSoll und Haben, sondern Liebeund Haß.Mitunter ist auch Alko-hol im Spiel. Das ErgebnissindSkandale und Skandälchen.

Mal sorgt die Liebesgeschichdes Finanzchefs fürAufregung imKonzern und fürpeinlicheFragenauf einer HauptversammlunMal bekleckern die Vorstände iheigenesAnsehen, wieSchremppjetzt in Italien, wo zuvor schonMercedes-Chef Werner Niefermit einem Busunfall für Schlag-zeilen gesorgthatte.

Viel Energie verwenden diHerren imDaimler-Vorstand, dieaufs schönste übermoderne Führungsprinzipien plaudern können, aufeineganzprofane Tätig-keit: die Schlammschlacht. Edzard Reuter und WernerNieferzielten auf denEx-Daimler-BoßWerner Breitschwerdt, Gerhard

Schrempp-Vorgänger ReuterÜber den Wolken

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Liener auf Reuter und Reuter aufHil-mar Kopper, den Oberaufseher dKonzerns und imHauptberufChef derDeutschenBank.

Mit ihren Eskapaden sorgen dieDaimler-Vorstände dafür, daß dStern, einst weltweites Symboldeut-scher Wertarbeit, nunauch als Qualitätssiegel für Affärendient. Alle sindentsetzt. „Verhältnisse sind das!“empört sich dieStuttgarterZeitung. DievornehmeZeit wendet sich angewidertab: „Würdelos.“

Was ist los mit Daimler-Benz? KeiKonzern mußte in denletztenJahren soviel Negativ-Publicity hinnehmen, inkeinem anderendeutschenGroßunter-nehmenversickerten soschnell so vieleMilliarden.

Herrscht unter denStuttgarterSpit-zenmanagern eineheimlicheLust an derSelbstzerstörung?Oder ist der100-Mil-liarden-Konzern, in demAutos und Satelliten, Mikrochips und Postsortieralagen hergestelltwerden,inzwischen sogroß, daß er vom Vorstandnicht mehr

zu führen und vomAufsichtsrat kaummehr zukontrollierenist?

Unter dem Stuttgarter Konzerndacwurde ganz offenbar zuviel zusammengefaßt, wasnicht zusammenpaßt. Unnun kämpft jedergegenjeden: die Au-tobauer beiMercedes gegen dieFlug-zeugkonstrukteure der Daimler-BeAerospace (Dasa) undalle zusammengegen denDauerverlustbringerAEG.Innerhalb der Dasabekriegensich MBBund Dornier,weil die einstigenKonkur-renten von Daimler zwangsvereinigwurden. Gemeinsamkeitzwischen denzerstrittenen Konzerntöchternentwik-kelt sich nurdann,wenn esdarum gehtdie Konzernzentrale auszutrickseÜber diesagte Schrempp in seinerZeitals Dasa-Chef, das sei ein „bullshit-castle“.

Unvorstellbaraber wärenviele Pan-nen und Peinlichkeitenohneeine besondere Spezies von Führungskräften, diebei Daimler in den letztenJahrenKar-riere machte. Essind nicht dieglattenTypen, die auf vielen anderen Vor-standsetagen anzutreffen sind, diewind-schlüpfigen Karrieristen,derenpersön-

liche Ausstrahlungnahenull liegt. Dieentscheidenden Personen in der jüsten Daimler-Geschichte,Edzard Reu-ter, Werner Niefer und JürgenSchrempp,sind vonanderemKaliber.

Eine Begegnung mitWerner Nieferbegann oft mit einemleichten Schmerund endeteauch so. Zur Begrüßundrückte derMann, der alsLehrling beiDaimler begonnenhatte, dem Besu-cher die Hand so herzhaft, daß eschwierig war, die Finger wieder auseinanderzubekommen. Und zum Aschied verpaßte Niefer, als Zeicheherzlicher Zuneigung, schon mal eineKopfnuß.

Edzard Reuterwirkt mit seiner ha-geren Gestalt und dentiefen Furchenim Gesicht zwar wie der Vorzeige-Intellektuelle, und ergibt sich auch gernso. Doch dasAsketische, das ihmvielezuschreiben, ist demFreund gutenRotweins, dem Hobbyreiter,Seglerund Skifahrerfremd. Im Gegensatz zNiefer drückt Reuterseine Gefühle allerdings vornehmlich inWorten ausJournalisten, sagt Reuter, bringe er„die gleiche Wertschätzung entgegewie Chirurgen“.

Als sich Reuter, derSohn deseinsti-gen Berliner BürgermeistersErnstReuter, mit Niefer, dem Sohn eineGastwirtsfamilie bei derSchwäbischenAlb, Mitte der achtziger Jahre zu einem Zweckbündnis vereinte, sollte

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„Solche Späßemuß sich ein

Vorstand verkneifen“

dies nicht nur dieKarriere der beidenfördern, sondern auch die deutsche Idustrielandschaft neu gestalten.

Erstes Angriffsziel der Mercedes-Vorstände (Niefer: „Wir spielen her-vorragend Doppelpaß“) war deVorstandsvorsitzende Werner Breit-schwerdt, ein biederer Techniker, dvor allem auflebte, wenn es um einneue Hinterachsenkonstruktionging.Derart mit denDetails des Automobilbaus beschäftigt,merkte Breitschwerdtgar nicht,welche FalleReuter undNie-fer für ihn aufgebauthatten.

Weil die Automobilkonjunktur nichtewig währt, müsse Mercedes sich inneue Geschäfte einkaufen, inHigh-Tech-Firmen,hatten Reuter undNieferdem Vorstand1984 ineinem Thesenpapier vorgetragen. Breitschwerdt nicktund die beidenzogen los.

Erst kauften sie dieFamilienfirmaDornier und dann dieAEG. Ihr Kalkül:Entweder würden sielangsam einenKonzern neben dem Autokonzernauf-bauen, den sie dann anführen, währeBreitschwerdtsich weiter um die Ach-

Deutsche-Bank-Chefs Herrhausen, Kopper: „Nicht mit uns“

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sen kümmert. Oder es würdesich nachden Übernahmenzeigen, daß der Autoexperte Breitschwerdt mit derSteue-rung des gewachsenenUnternehmenüberfordert ist – Doppelpaß undTor.

Damit nichts dem Zufall überlasseblieb, sorgtenReuter und Niefer beijeder Gelegenheit dafür, daß dSchwächen des Vorstandsvorsitzendnicht geheimblieben. Schließlich fühl-ten sie sich sosicher, daß sie offeüber ihren Chefspotteten. AlsNiefereine Mittelohrentzündunghatte undauf dem rechten Ohr vorübergehenichts hörte, sagte er, das mache

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nichts, „rechts von mirsitzt ja nur derBreitschwerdt“.

Ein wenig Tollhaus war auch damaschon.Doch es gab einen, der dieRegieführte und eingriff, wenn die Akteuresich nicht an denabgesprochenen Tehielten: Alfred Herrhausen,Chef derDeutschen Bank undAufsichtsratsvor-sitzender beiDaimler.

Herrhausen kam aus der Industrvon den Vereinigten Elektrizitätswer-ken Westfalen (VEW), undwußte, daßes zwischenManagern, die im Laufe ihrer Karriere mal Fabrikluftgeschnuppert hatten, rauher unddirekter zugehtals unter denfeinenHerren der BankenHerrhausen liebäugelte damals selbdamit, Daimler-Boß zu werden unkümmerte sich entsprechendintensivum das Unternehmen.

Eine glückliche Hand hatte er nichtimmer. Heute mußbezweifelt werden,daß es geschicktwar, Breitschwerdruck, zuck durch dasGespann Reuteund Niefer zu ersetzen.Immerhin müh-te sich Libero Herrhausenredlich, diebeiden DoppelpaßspielerunterKontrol-le zu halten.

Bei wichtigen Verhandlungen waHerrhausenstets dabei, wie bei jenefolgenschwerenZusammenkunft in deMünchner Staatskanzlei im Mai1988.Der damalige Wirtschaftsminister Matin Bangemann und BayernsMinister-präsident FranzJosef Strauß wollten

Reuterdavon überzeugen, daß Daimlden Luftfahrt- und RüstungskonzeMBB übernehmen soll. Herrhausenschrieb auf ein kleines StückPapier, daser Reuterreichte, „nicht mit uns“.Reu-ter schrieb zurück: „Durchaus denkbar.“

Der eloquenteRedner Reuter über-zeugte seinen Aufsichtsrat.Doch Herr-hausen fragtestets nach, wieviel Fort-schritte esdenn bei den neuerworbenTöchtern gebe. Die beiden DaimleBossehatten soviel Respekt vor Herhausen, daß dernicht gerade ängstlicheNiefer dessenNamen mied,statt dessenlieber von dem „Herrn ausFrankfurt“redete.

Gefürchtet waren die Ordnungsrudes Aufsichtsrats. Als NiefersattraktiveGattin Vera für eine Autozeitung audem Kühler eines Mercedes-Modeposierte,sagteHerrhausen demMerce-des-Vorstand klipp und klar: Das dürfenicht mehr vorkommen, daspasse nichzum Stil desUnternehmens.

Und als Herrhausen imSPIEGELlas,daß Niefer aus Jux zu nächtlicher Stude schon mal einrohes Ei mit Schaleverspeist, rief er ihnnoch amgleichenTag an: Solche Späße müssesich einVorstand verkneifen.

Für Daimler-Benzhatte es größerKonsequenzen als für die DeutscBank, daßHilmar Kopper diePositio-nen Herrhausens übernahm,nachdemTerroristen den Bankier ermordethat-ten. Kopper, direkt,bodenständig undzupackend, ist möglicherweise einguterBankier, vom Geschehen in der Indstrie versteht er offenbar nichtviel. DieMisere bei Daimler ist ohne Koppekaumvorstellbar.

Von Anfang anverfolgte derBankierdas Geschehen in Stuttgart aus der Pspektive desZuschauers. Undweil Kop-per, imGegensatz zuHerrhausen, kaumüber direkte Kontakte insStuttgarterUnternehmenverfügt, blieb ihmverbor-gen, daßnicht nur Tochtergesellschaten wie AEG eine bedenkliche Entwiclung nahmen,sondern auch Vorstandmitglieder wie GerhardLiener ins Ab-seitsdrifteten.

In der Karriere des grauhaarigen Mnagers, der sofreundlich dreinschauekann, warlange Zeit alles glatt verlau-fen. Als Sachbearbeiterhatte Liener1967 bei Daimler begonnen undsichStufe für Stufe nachoben gearbeitet, bier Finanzvorstand war.Doch dannereil-te den fast 60jährigen die späteLiebeund brachtevieles durcheinander, voallem, weil Liener Gefühl und Geschänicht saubertrennte.

SeineneueLebensgefährtinChristia-ne Silva Garbadeengagierte der Vorstand als Assistentin. Als dasMurrender Mitarbeiter überdiese Art der Personalpolitik so lautwurde, daß KonzernchefReuter esmitbekam, ordnete

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Daimler-Benz-Zentrale in Stuttgart-Möhringen: Jeder kämpft gegen jeden

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der die Versetzung derDame an.Lienerversetzte sie – auch im Privatleben. DFinanzvorstandkehrte zuseinerGattinzurück.

Eine ganz gewöhnliche Liebesgschichte, diekaum weiter interessierewürde, wenn sie nicht miteiner unge-wöhnlichenReaktion von Frau Garbadgeendet hätte.

Auf der Hauptversammlung voDaimler gab es einpeinliches Wiedersehen. GerhardLiener saß als Vorstanauf dem Podium.ChristianeSilva Gar-

Mercedes-Manager Niefer„Wir spielen hervorragend Doppelpaß“

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Die lascheAufsicht machte es

Reuter leicht

bade trat, im Nameneiner Aktionärs-vereinigung, ansMikrofon, um diePoli-tik des Vorstands zu kritisieren.Punktfür Punkt warf sie ihmVersäumnisse inder Amtsführung vor, Lienerblicktestarr inseineUnterlagen.

Den Konzernchef Edzard Reutekonnte selbst dieses Schauspiel nicmehr irritieren. Er hatte längst die Bo-denhaftung verloren. Der Vorstand, dgern von Visionen sprach und die Weläufte erklärte, schwebte so weit übeden Dingen, daß ihm die Probleme bder Dasa und der AEGvergleichsweiseklein undunbedeutenderschienen.

Reuter hattezwei Methodenperfek-tioniert, mit denen ersich jede Kritikvom Leib hielt. Die direkte, brutale bekam Mercedes-Vorstand JürgenHub-bert zu spüren. ImVorstand der Autofirma hatte ersich darüberbeklagt, daßMercedes nicht nur dasGeld für Reu-ters Ausflüge inandereGeschäfte bezahlenmuß,sondern auch noch leitendMitarbeiter für die Sanierung derzuge-kauften Firmenabstellenmuß.

Hubbert ärgerte sich darüber, daßBruno Sacco, der Chefdesigner voMercedes, auch für AEG arbeitensollte

– „der soll wohl einen Staubsauger enwerfen“.

Kurz darauf wurde deraufsässigeMercedes-Manager inReuters Büro gerufen. Wenn er mit derKonzernstrategie nicht einverstanden sei, sagteReuterganzkurz und knapp, müssesich Hub-bert einenanderenArbeitsplatz suchenHubbertblieb – undschwiegfortan.

In der Öffentlichkeit und in seinemAufsichtsrat setzteReuter eine verfei-nerte Variante ein, um lästigeVorwürfeabzublocken. Mögliche Kritik brachteReuter amliebsten selbstvor, überhöh-te sie ironisch und gab sie so der Lächlichkeit preis.

Bevor ihn im Aufsichtsrat jemandfra-gen konnte, ob er dieLage des Konzerns nichtviel schönerdarstelle, als siesei, meldeteReutersich zuWort: „Ichwarne Sie, wirpflegen zu heucheln unzu lügen.“ Viele lachten, und keinefragte mehr nach den Bilanztricks, m

denen Reuter einLoch nach dem anderen stopfte.

Die lasche Aufsicht derKontrolleuremachte esReuterleicht, selbst schlimmFehlschläge wie dieteuren Verträge midem Familienclan derDorniers zuver-heimlichen.

Martine Dornier-Tiefenthaler wabeim Einstieg Daimlers in das kleinLuftfahrtunternehmen eineinmaligesKunststück gelungen.Durch geschickteVertragsgestaltunghatte sie dafür gesorgt, daß der Daimler-Benz-Konzefür die Familie so etwas wie ein privatGeldautomat wurde. Wenn sieBaresbrauchten,gingen sie zuDaimler.

Der erste Vertragsicherte den verbliebenen Minderheitsaktionären sovWiderspruchsmöglichkeiten, daß Daimler-Benz ihnen diese Rechte mit vielGeld abkaufenmußte. Als Reuter unsein FinanzchefLiener sich dafür imOktober 1988 mit Dornier-Tiefenthaler

im Stuttgarter SI-Hotel trafen,ging es zu wie aufeinerProvinzbühne.

Die Rechtsanwältin lach-te und weinte, sie brüllteund fluchte. Auch Reuterverlor einwenig dieConte-nance. Liener über diAuseinandersetzung debeiden: „Nach Mitternachsteigertesich dies fast biszu Tätlichkeiten.“

Reuter verließ schließ-lich dasHotel, undLienerverhandelte allein weitermit Dornier-TiefenthalerAls es draußenlangsamhell wurde, um sechs Uhrmorgens, kam Nieferdazu.Zwei Stunden später unteschrieben die drei einen füDaimler teuren VertragDer Stuttgarter Konzermuß den beidenFamilien-stämmen insgesamt 570Millionen Mark zahlen, um

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Daimler-Manager Liener„Ich war der Lakai“

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künftig die Unternehmenspolitik beDornier bestimmen zu können.

Im Aufsichtsrat berichtetenReuterund Liener wiezwei Logenbrüderzwarvon dem Vertragsabschluß, den Praberhielten sie geheim. Die Kontrolleure fragten nicht langenach.

Für Details des Daimler-Geschäfts iteressiert sich Kopper kaum. In denAufsichtsratssitzungen umProduktver-lagerung, Arbeitsplatzabbau undneueZukäufe wirkt er wie einModerator,der ansonstenwenig zu tun hat mit deVeranstaltung. Besonders lästig sindihm Personalentscheidungen.

Im Januar1994warenEdzard Reuteund Koppersich bereits einig, daß deüberforderteFinanzvorstand Liener esetztwerdensolle.Doch Kopper drückte sichallzulangedavor, Liener die unangenehmeBotschaft zu überbringen.

Im März las Liener im SPIEGEL(12/1994) von seiner bevorstehendeAblösung. Als er Kopper darauf ansprach, sagte derBankier nur: „Ach,Herr Liener, ich wäre doch der erstder Sie darüber informieren würde.“

Bis Augustließ Kopper denDaimler-Vorstand im Glauben, aufeinemsiche-ren Posten zu sitzen. Einwenig irritierteLiener nur, warum ihn derAufsichts-ratschef fürMontag den 29. zusichnachFrankfurtbestellthatte.

An diesem Montag erschien eineSPIEGEL-Geschichte, die denbevor-

Daimler-Partnerin Dornier-TiefenthalerZog den Konzern über den Tisch

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stehenden Rausschmiß des Finanzmnes beschrieb. Für den geschocktenLie-ner war der Fallklar: Reuter habe demSPIEGEL „den äußerst gemeinen unweit unter der Gürtellinie liegenden Ar-tikel über michdiktiert“.

JedeAussage in der Geschichte ornete er Reuter zu.Entsprechendverbit-

26 DER SPIEGEL 31/1995

tert setzte sich Liener an seinen Laptop und schriebsich denFrust von derSeele. So entstand auf 76Seiten eineLebensbeichte des deutschenSpitzen-managers, die mit dem niederschmternden Urteil endet: „Ich war nur deLakai.“ In der Sache bestätigt Liener,was Kritiker stets behauptet hattenDer „integrierte Technologiekonzern(Reuter) ist einFlop, er existiert nurim Kopf des Vorsitzenden. ImTages-geschäft arbeiten die vielen Töchternicht mit-, sondernengagiert gegeneinander.

Jürgen Schrempp,seit 1989 Chef derDasa, erkannteseine Chance. VomTyp her präsentiert der Kettenraucheine seltene Mischung: Ein bißchenReuter, denn die Weltlage analysierauch er gern, ein bißchen Niefer,denndas lustvolleFeiernliegt ihm ebenfalls.

Schremppkann große Pläne entwefen, aber er langt auch kräftig hin,wenn es nötig ist. Inkurzer Zeit trenn-te er sich von sechsWerken bei derDasa. Und auch auf seinen FördererReuter nahm Schrempp nicht mehrviel Rücksicht.

Die Ablösung Reuters betriebSchrempp mitMethoden, diesich imKonzern schon bewährt hatten, alsNiefer und Reuter denMercedes-CheBreitschwerdt stürzten. Er sorgte fürso viel Unruhe, daß derAufsichtsratschließlicheingreifenmußte.

Der „Stratege“ Reuter, hatteSchrempp rechtoffen erklärt, müssendlich durch einen „Realisierer“ ersetzt werden, einen Mann wie ihn.Schließlich hatte Kopper ein Einseheund entschied sich,viel zu spät, für

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den vorzeitigen Wechsel an derDaim-ler-Spitze.

Jetzt muß Schrempp zeigen, obden MolochDaimler auf Kurs bringenkann, oder ob dasKonglomerat nunzerfällt. Schrempp hatsich Optimismusverordnet.Schließlich gelingt esseinemgroßen Vorbild John Welsch ja auch,ein ähnlich großes Schiff, GeneralElectric in Amerika, erfolgreich zu füh-ren.

Seine bisherigeArbeit im Daimler-Benz-Konzernweist Schremppzwar alszupackenden Manager aus. FürMerce-des arbeitete er in Südafrika und in dUSA, er kennt das Lastwagen- und daPkw-Geschäft.Doch Schrempp ist aucverantwortlich für einen bösenFlop.

An der Spitze derDasa sorgte dergelernte Kraftfahrzeugmechaniker dfür, daß Daimler den marodenhollän-dischen FlugzeugbauerFokker kaufte.

Er könnte sich für den Konzern zumzweiten Milliardengrabneben der AEGentwickeln.

Ein Mann wie Schrempp, derstetsnach vorne drängt, läßtsich davonabernicht bremsen. Längst hält derneueVorsitzende, wieeinst Reuter undNie-fer, auch Ausschau nachneuen Ge-

schäften, mit denen ersich alsKonzern-schmied beweisen könnte. Multimediaist gerademodern,diesesGeschäftgiltals Zukunftsbranche wieeinst die Luft-und Raumfahrt. Ganzvorsichtig, wieseine Vorgänger beiDornier, tastetsichSchrempp auf dasneue Terrain. Mitden SchneiderRundfunkwerken gründete er eine Gemeinschaftsfirma, ddas Laserfernsehen für das nächsteJahrtausendentwickeln soll.

Bis dahin allerdings fehltSchremppzum Glück für die Aktionäre, das Gefür teureAusflüge. DieKonzernkassenin denen einst Milliarden lagen,sindnicht mehr so gut gefüllt. Daimler-Benzist, mit Ausnahme dessehr erfolgrei-chen Automobilgeschäfts, einSanie-rungsfall.

Bevor er mit derAufräumarbeit beginnen konnte, ist der Neueschon inseineerste Affäreverwickelt. Die laut-starke Auseinandersetzung mit dermischen Polizei hat demErfolgsmen-schen, dembislang fast allesgelang,den Nimbus desUnverletzbaren genommen.

Schrempp, dersonst von sich sagt,„ich mag’s, wenn es kribbelt“,such-te letzte Wocheverzweifelt nach et-was Ruhe und einwenig Zuspruch. Inseiner Not rief er seinen Aufsichtsratchef an. Koppers knappe Empfehlung: „Zähne zusammenbeißen undurch.“ Y

Page 27: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

Werbeseite

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Page 28: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

T I T E L

Schock für die AktionäreDie Vision vom Technologiekonzern kostete die Daimler-Aktionäre mehr als 36 Milliarden Mark

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Reuter wird Vor-standsvorsitzender

Sept. 1987

Höchststand1272 Mark

as Daimler-Management bega1985 mit den Firmenkäufen, dieD entscheidend zum Abstieg des U

ternehmens beitragensollten. Damalswar die Autofirma mit 50 Prozent an dMotoren- und Turbinen-Union (MTUbeteiligt. Für 680 MillionenMark kaufteVorstandschef Edzard Reuter vomMAN-Konzern die andere Hälfte desHerstellers von Triebwerken für Kampflugzeuge undPanzermotoren.

Noch im selbenJahr erwarb Daimledie Kapitalmehrheit an demLuft- undRaumfahrtunternehmen Dornier.Rund500 Millionen Mark bezahlte der Konzern für 66 Prozent der Anteile an deschwäbischen Unternehmen, dasseitJahren unterheftigen Querelen in deEigentümerfamilie litt. Gefördertwurdeder Deal durch den damaligen badewürttembergischen MinisterpräsidentLothar Späth.

Zielstrebig verfolgteReuterseine Vi-sion eines Technologiekonzerns. DaZauberworthieß Synergie – die einzenen Unternehmensteilesollten so zu-sammenpassen, daß zusätzliche Kräftefrei würden.

Im Oktober 1985 stieg Daimler beidem dahinsiechendenElektrokonzernAEG ein. 1,6Milliarden Mark wurdendiesmal als Kaufpreis fällig – die bis da-hin größte Firmenübernahme in ddeutschenWirtschaftsgeschichte.EineStrategie zeigtesich bei derElefanten-hochzeit allerdingsnicht. Reuter da-mals: „Wir überschauen noch gar nichwas möglichist, wir stehen erst am Anfang.“

Als WernerBreitschwerdtsich imJuli1987 vom Amt desVorstandsvorsitzenden der Daimler-Benz AG zurückzo

28 DER SPIEGEL 31/1995

August 1984In einem Strategipapier rät Reuterzum Aufbau einesbreitgefächertenTechnologiekonze

Jan. 1980Reuter wird Finanzchefder Daimler-Benz AG

1980 1981 1982 1983

Vom Autobauer zumTechnologieriesen

Kurs der Daimler-Benz-Aktie in Mark

war das Unternehmen47,6 MilliardenMark wert. Als derVisionär Reuter imFrühjahr diesesJahres denChefsesseräumt, sind es nurnoch 35,2 Milliar-den Mark. Darinsind auch noch 6Mil-liarden enthalten, die die Aktionärwährend ReutersAmtszeit nachschießen mußten.

Für den WürzburgerWirtschaftswis-senschaftlerEkkehard Wenger ist es„die größte Kapitalvernichtung, die ejemals in Deutschland zuFriedenszeiten gegeben hat“.

Bei Reuter hatte die Giernach Grö-ße noch zugenommen, nachdem erdie Spitze des größten deutschen Industrie-Imperiums gerücktwar. 1989 er-folgte der größteCoup. Für 1,7Milli-arden Mark übernahm Daimler dMehrheit bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB), der größten deutschenWaffenschmiede. Damit wurde ausdem Konzern die „mächtigstedeutsche

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Aufstockung der teiligung an der Aauf 80 Prozent

1988

Aufsichtsrat billig• Mercedes-Ben• Dasa (Luft-, Ra Rüstungstechn• AEG (Elektro-, und Verkehrst

April 1989

1985 Feb.

Mai

Juli

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100 Prozent Beteili-gung an der MTUMehrheitsbeteiligungmit 66 Prozent an derDornier GmbHDeutsche-Bank-Sprecher Herrhausenwird Aufsichtsratschefbei DaimlerEinstieg bei AEG

1984 1985 1986 1987

Rüstungsgruppe seit demDrittenReich“ (Financial Times).

Beim Kauf von MBB wurde offenbarwie schlechtReutervier Jahrezuvor mitden Dornier-Erbenverhandelt hatte.Der Vertragsicherte der Familienebeneiner Garantiedividende die Möglich-keit, nahezu alle Daimler-Aktivitätenim Flugzeugbereich blockieren zu könen. Dornierallein war aber schon da-mals viel zu klein, um im weltumspannenden Luft- und Raumfahrtgeschämithalten zu können.

Um sich derselbstangelegten Fessezu entledigen,mußte Reuternoch ein-mal tief in die Firmenkasse greifen. Eüberwies weitere 570 MillionenMark andie Dornier-Sippe.

Aus MBB, MTU, Dornier undTeilender AEG entstandschließlich dieDeut-sche Aerospace (Dasa). Den Auftraaus den unterschiedlichen, zumTeil par-allel arbeitenden Firmen eineschlag-kräftige Einheit zu machen,erhielt Jür-gen Schrempp.

Die Aufgabe war schwierig genug.Gänzlich unlösbar wurde sie dadurchdaß Daimler zu einemZeitpunkt in dasRüstungsgeschäft einstieg, als derKalteKrieg durch einweltpolitischesTauwet-ter abgelöst wurde. Der Zusammen

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Mehrheitsbeteiligungvon 63 Prozent anMBB vom Wirtschafts-minister genehmigt

Sept. 1989

t neue Konzernstruktur:z AG (Fahrzeuge)umfahrt undik)Büro-, Kommunikations-echnik)

Gründung von Debis alsviertem Geschäftsfeld

Juli 1990

Einstieg mit 34% beider französischenSoftware-FirmaCap Gemini Sogeti

Juli 1991

Beteiligung mit 10%an der Metallgesell-schaft

März 1991Ermordung vonHerrhausen

Nov. 1989

1988 1989 1990 1991

Page 29: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

Mercedes-Montage*: Auflösung alter Rücklagen

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1992

bruch der Sowjetuniomachte die Hoffnung auWachstum im Waffenge-schäft vollends zunichte.Die Dasa, die inihren An-fängen zu 50 Prozent voder Wehrtechnik lebtewurde zu einemMilliar-dengrab.

Mitgeschaufelt hat aucSchrempp. Der bislangletzte Fehlkauf im Konzern geht aufsein Kon-to. Mit der Beteiligungan dem niederländi-schen Flugzeugbauer Foker Ende 1992 wollteSchrempp dieDasa zumMarktführer bei denklei-nen Verkehrsflugzeugemachen.

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Auf die AEG kommtein weiterer

Milliardenverlust zu

Inzwischen muß eraber erkennendaß die DasagegenFirmen wie BoeingAirbus und McDonnell Douglas keinChancehat. DieFluggesellschaftenkau-fen die kleinen Jets lieberdort, von wosie auch die großen Maschinenbezie-hen. Flugzeuge mitmehr als 100Sitzendarf Fokker abernicht bauen; dasver-bietet der Vertrag im Airbus-Konsortum, an dem die Dasa zu37,9 Prozentbeteiligt ist.

Die Daimler-Aktionäre müssenwei-ter bluten. 500Millionen Mark hat derKonzern für Fokker bezahlt, weitere800 Millionen liefen bisher alsVerlusteauf. Und das Loch ist immer nochnichtgestopft. Die Dasa hat in denletztendrei JahrenVerluste vonknapp 1,5Mil-liarden Mark aufgehäuft. Der niedrigeDollar wird die Miserenoch weiterver-

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AEG macht indiesem Geschäfts-jahr 1,2 MilliardenMark Verlust

1993

Mai 1995 Reuter legtVorstands-vorsitz nieder

1993 1994 1995

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Aktienkursam 28. Juli682 Mark

schärfen, fürdiesesJahr rechnet die Dasa mit einem Verlust von überzwei Mil-liardenMark.

Finanziert wurde derIrrflug über Jah-re durch die Gewinne aus dem Autogschäft. Unverdrossen rollten dieschwe-ren Karossen,zuletzt die übergewichtige S-Klasse, aus denMercedes-Werkerund um Stuttgart. Und alsauch derensatte Ergebnisbeiträge1993 nicht mehrausreichten, löste Daimler Rücklagenaus altenZeiten auf.Dividendenkamenbei Daimler aus der Substanz.

Als Verlustbringer der kapitalen Arerweistsichnach wie vor dieAEG. DenGemischtwarenladen zu sanierenoderzu zerschlagen, hatReuter über dieJah-re versäumt. Nun wartet auf die Aktio-näre ein weiterer Schock. NachinternenBerechnungenwird die Firma, derenFehlbeträgesich seit der Übernahmeder Aktienmehrheit auf 2,4MilliardenMark summieren, für1995 einMinus inHöhe von 1,3 MilliardenMark auswei-sen.

Davon entfallenknapp 600Millionenauf das operative Geschäft mit Energund Automatisierungstechnik,Diesel-motoren, Bahnen und derMikroelek-tronik. Für das geplanteGemeinschaftsunternehmen fürBahntechnik mit demschwedisch-schweizerischen KonzernABB muß AEG zusätzlich zumEin-trittspreis von 900 Millionen Dollarnoch 350 Millionen Mark aufbringen.Die Frankfurter müssen den Auftragsbestand abwerten und Rückstellungenfür den nötigenPersonalabbauschaffen.

Etwa 300Millionen Mark Miese fol-gen aus der Umstellung auf einevor-sichtigere Bilanzierung, wie sie voneuen KonzernlenkerSchrempp gewünscht wird. So müssen dieBuchwerteder Beteiligungen an US-Firmen abgschrieben werden. Und noch mal 8Millionen Mark kostet die AEG deDollarverfall.

* 1921 in Untertürkheim.

Teuer bleibt auch dieExpansion ins Software-Geschäft. Auf seinemTechnologie-Trip hattesich Reuter 1991 in diefranzösische Firma CapGemini verguckt. 1,5Mil-liarden Mark zahlte er fürein gutesDrittel am Kapi-tal einer Firma,deren Ge-winne nach dem DaimlerEinstieg schlagartig versiegten. Stünde die Firmheute mit einem realisti-schenWert in den Daim-ler-Büchern, wären noceinmal Milliardendahin.

Die Vision vom welt-weiten Technologiekonzern ist zerstoben. Deneuen Daimler-Chef

Schrempp erwarten nurAufräumarbei-ten – und die vageHoffnung der Aktio-näre auf Wiedergutmachung.

Die wird Schremppaber in diesemJahrtausendwohl nicht leisten können.Denn derGesamtschaden, denReuterund seine Vorstandskollegen den Eigetümern vonDaimler-Benzzugefügt ha-ben, istviel größer, alsbishererrechnetwurde.

Dazu gehörennicht nur die vielenMilliarden, die für den Kauf und dieVerluste maroder Unternehmenver-schwendet wurden. Hinzugerechne

werden müssen, argumentiert Konzekritiker Wenger, auch diegewaltigenKosten für das Management beim gscheitertenUmbau desUnternehmensund die entgangenen Gewinne in düber Jahrevernachlässigten Automo-bilsparte.

„Die Daimler-Manager“, sagt Wen-ger, „müssen an der Leistungihrer Kol-legen in denanderen großendeutschenAktiengesellschaften gemessen wden.“ Was haben die inderselbenZeitaus dem Geld der Aktionäregemacht?

Aus 100 Mark, die1987 in die 30Fir-men des deutschen Aktienindexinve-stiert wurden, waren inWengers Mo-dellrechnung acht Jahre später 14Mark geworden.

Dagegen machten die Daimler-Aktinäre nur Verluste. Von den eingesetz100 Mark blieben gerade mal 71Markübrig.

Das Ergebnis dieserRechnungoffen-bart ein betriebswirtschaftlichesDesa-ster größeren Ausmaßes: In der ÄReuter wurde bei Daimler-Benz eiVermögen von über 36Milliarden Markverschleudert. Y

29DER SPIEGEL 31/1995

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T I T E L

S P I E G E L - G e s p r äc h

„Ich möchte Mensch bleiben“Daimler-Chef Jürgen Schrempp über Affären, Verluste und die Zukunft des Konzerns

Schrempp (2. v. r.), SPIEGEL-Redakteure*: „Wir brauchen eine Fehlerkultur“

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SPIEGEL: Herr Schremppvor kurzem dachte mabeimNamenDaimler-Benzan solide Autos, biedereManager und schwarzeZahlen in derBilanz. Neu-erdingsdenkenviele an Chi-anti, Intrigen im Vorstandund MilliardenverlusteWas ist los bei Daimler?Schrempp: Lassen Sie michzunächst zu denDingen ant-worten, diemichpersönlichbetreffen. Wir, das heißmeine zwei Begleiter undich, sind in dervergangenenWoche in Rom gewesenDas Wetter warunglaublichgut, wir sindabends ins Hotel zurückgegangen und hben gesagt: Daunten aufder SpanischenTreppetrin-ken wir noch eine FlaschWein.SPIEGEL: „Wie blau war derDaimler-Chef“, fragte dieHamburger Morgenpostan-schließend.

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Schrempp: Ich bin jemand, der dafübekannt ist, daß erRotwein liebt, vorallem, wenn ich zuvor gutverhandelthabe. Ich war in der Tatsehr gut gelaunt. Natürlich sind mir aber dieVor-gänge in Italien außerordentlich prsent.SPIEGEL: Wie kam es denn zu deZwischenfall mit der Polizei?Schrempp: Wir hatten keine Pässe beuns, weil Sie in italienischenHotels Ih-re Pässe abgeben müssen. Alsohabeich, als wir angehaltenwurden, darumgebeten, ins Hotelgehen zu dürfenum die Pässe zu holen. Das hat mmir auch erlaubt.SPIEGEL: Die Italiener wollen eineStrafanzeige wegen Beleidigung gegSie stellen. Da muß dochmehr gewe-sen sein?Schrempp: Meine Information ist, daßes keine Anzeige gibt. Ich sehe aukeine Gründe für einesolcheAnzeige.SPIEGEL: Sprechen Sieeigentlich Ita-lienisch?Schrempp: Nein. Schon deshalb ist ealso außerordentlichschwierig, jeman-den zu beleidigen.

* Gabor Steingart, Stefan Aust, Dietmar Hawra-nek vor dem Modell der Dornier 328.

30 DER SPIEGEL 31/1995

SPIEGEL: Von Handgreiflichkeitenzwi-schenIhnen und derPolizei ist dieRede.Alles Quatsch?Schrempp: Es gab keineHandgreiflich-keiten. Daß in einersolchen Situationlautstark debattiertwird, ist logisch.Wenn man das Gefühl hat, daß mandie Wache mitgenommenwird aus Grün-den, die mannicht nachvollziehenkann,dannbeschwert man sich.SPIEGEL: Warum endete derVorfalldann auf demPolizeirevier?Schrempp: Ich kann es mirwirklich nichterklären. Dawarenviele Polizisten undein Gewimmel von Menschen. DiePolizi-stensind dann auf die Idee gekomme

unsere Personalien auf der Wachefest-stellen zu lassen.Über die Form unsereBehandlunglasse ich michhier nichtaus.Als diese Formalitäten erledigtwaren,haben sie uns einTaxi besorgt, und wirsind zumHotel zurückgefahren. Das wader ganzeVorgang. Ich bin überraschwas daraus gewordenist. Ichhabeoffen-sichtlich unterschätzt, wie bedeutungvoll es ist, wenn ein Vorstandsvorsitzeder nachts in eine Polizeikontrolle geräSPIEGEL: Fühlen Siesichverfolgt von denitalienischen Behörden?Schrempp: Überhauptnicht. Ich liebeItalien. Ich habe nurguteErfahrungenIch habeviele Geschäftsfreunde in Italien. Ichhabeauch sehrvieleerfolgreicheGeschäfte in Italien gemacht. Nein, ifühle mich nicht verfolgt.SPIEGEL: Auch ansonsten beginnt dÄra Schrempp mit einem Fehlstart. DEnthüllungen des ehemaligen DaimleFinanzvorstandsGerhard Liener, derschonungslos mit der ÄraReuterabrech-net, sind peinlich für denKonzern. Wastrieb Liener zu dieserAbrechnung?Schrempp: Fest steht: Das hat unsallessehr geschadet. Deswegen war es anotwendig, zügig klare Konsequenzenziehen und uns vonLiener, der noch alBerater für den Vorstand tätig war, z

Jürgen Schremppbegann seine Daimler-Karriere miteiner Lehre als Kfz-Mechaniker inFreiburg. Nach dem Ingenieurstudi-um wechselte er 1967 in die Stutt-garter Konzernzentrale. Nach Zwi-schenstationen in Südafrika undden USA wurde Schrempp 1989Chef der Luftfahrtsparte Dasa undim Mai dieses Jahres Vorsitzenderdes Daimler-Konzerns.

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„Kommt, wirpacken’s,

wir springen darüber“

trennen. Ich kann dieTatsache, daß eseinen Lebensweg bei Daimler-Beschriftlich festgehalten und diesesPapieraus der Handgegebenhat, nicht nach-vollziehen. Ich muß allerdings sagen: Ibin tief getroffen,geschäftlich undauchpersönlich.SPIEGEL: Noch mal:Warumgriff Lienerzum Äußersten, derDiffamierung seinesArbeitgebers?Schrempp: Ich kann nurspekulieren, daßHerr Dr. Liener betroffen war über diTatsache, daßseinVertragvorzeitig be-endet wurde. Er meinte offenbar,einfachmal allesaufschreiben zu müssen, wasso erlebthat.Vielleicht war es eininnererBefreiungsschlag.SPIEGEL: Kannten Sie das Pamphlet vder Veröffentlichung?Schrempp: Nein, aber er hat esoffenbaranderen Leuten zumLesen gegeben.SPIEGEL: Teilen Sie Lieners Einschäzung, daß Ihr Vorgänger, Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter, selbstherrlichpressegeil und in Finanzfragenunkundigist?Schrempp: Nein. Alle Entscheidungendie bei Daimler-Benz im Vorstand gtroffen worden sind,haben wirgemein-sam gefällt. Nicht nur ich saß amTischmit den verschiedenen Kollegen,son-dernHerr Dr. Liener auch.SPIEGEL: Liener sagt überReuter: Daseigene Image war ihmwichtiger als dasImage des Konzerns.Eine Einzelmei-nung?Schrempp: Ich habe mitHerrn Reuterlange Jahre zusammengearbeitet. Icstehe zuHerrn Reuter,nicht ausfalschverstandenerLoyalität. Es war eineschwierigeZeit, und wirsindnoch immerin einer schwierigenZeit desKonzern-

Lydia Deininger

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Schrempp-Schlagzeilen in Italien: „Herr Benz hebt das Glas“

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umbaus. Ichweiß, mitwel-chem Einsatz und auch mwelcherLiebe Herr Reuterzu diesemUnternehmen gestanden hat und auchweitersteht.SPIEGEL: Abgesehen vonden Top-Managern, diLiener bewertet,wird seineKritik an der Konzernentwicklung von vielen Experten geteilt: Der Ausflug inLuft- und Raumfahrt giltnicht nur Ihrem Ex-Kolle-gen als verfehlt.Schrempp: Wir sind imJah-re 1995.Heute wissen wirvom Fall der Mauer, wirwissen um dieProblematikder Veränderung der Währungsparität,speziell der D-Mark zum Dollar. DerLuft-fahrtmarkt ist um 60 Prozent zusammengebrochedas Geschäft mit derRaum-fahrt um 60 Prozent und diVerteidigung in etwaglei-cher Größenordnung. Man

muß die damaligen Entscheidungen zKonzernausbau vor dem Hintergruder damaligenZeit beurteilen.SPIEGEL: Warum sovielNachsicht? Siehabendochselbst zurDemontageIhresVorgängers beigetragen.Reuters Gewinnprognose wurdeunter Ihrer Füh-rung zu einer Verlustprognose. War dvorsätzlicherVatermord?Schrempp: Wir saßen im Vorstand unhaben unsgefragt: Womit müssen wirrealistischerweiserechnen in den nächstenzwei Jahren, vorallem im Hinblickauf die dramatischen Veränderung

der Währungsparität zumDollar. Wirsind zu derErkenntnis gekommen, dawir die Einschätzung desJahres1995 auf1,45Mark pro Dollarkorrigieren und diefür 1996 auf1,40 proDollar ändern müssen.Wichtiger warjedoch, daß wir denDollar inzwischen längerfristig alsstruk-turell schwachsehen.Dannhaben wir ge-fragt: Wasbedeutet1,45 eigentlich fürden Konzern, und danach standfest, daßwir handeln müssen. Wir sprechen hvon bilanziellenBelastungen, daß heißauch von Rückstellungen fürdrohendeVerluste und Strukturkosten. Das opetive Geschäft läuft sehr gut.SPIEGEL: Es war auch schon zurHaupt-versammlung wenigeWochenzuvor be-kannt, daß derDollar an Wertverliert.Warum durfte Reuter seine optimisti-schenAnnahmen zurGrundlage der Gewinnprognosemachen?

Schrempp: Ich muß Ihnensagen, daßwir eine Umfrage bei 16Banken ge-macht haben, imFebruar/MärzdiesesJahres. Diese 16Banken kommen zdem Schluß, daß der Kurs am Jahresde im Durchschnitt1,54 Mark pro Dol-lar betragen wird. Die Abweichungeder Bankenreichten von1,80 bis1,20.SPIEGEL: Und da hat der neueVor-stand sich einfach neue Zahlengegrif-fen?Schrempp: Ich habe vorher mitHerrnReuter kommuniziert. Er sitzt ja imAufsichtsrat, und er hat dieseneueEin-schätzungvoll mitgetragen. Deswegebin ich überrascht, wenn hier von Vtermordgesprochen wird.SPIEGEL: Uns wundert, daß Sie die rosarote Einschätzung Reuters vorweni-gen Monatenmitgetragenhaben.War-um haben Sie danicht gesagt:Edzard,laß uns die Zahlen – undzwar die rich-tigen – auf denTisch legen?Schrempp: Lassen Sie uns imHerbstdiesesJahres wieder treffen, und ausgendeinem Zufallsteigt derDollar bisdahin auf 1,50 oder 1,55 Mark, wasübrigens die derzeitigenPrognosen besagen.Dann würden Siemich fragen:Sagen Siemal, Herr Schrempp, wir haben doch dasGespräch imJuli gehabt.Warum haben Sienicht schon damaldiese Einschätzungvorgenommen?SPIEGEL: Daß der Dollar mittelfristignachoben geht,prognostiziert doch imErnstkein Mensch.Schrempp: Der Dollar wird zum Jahres-ende auf über1,50 prognostiziert. VonBanken,nicht vonmir.SPIEGEL: Es kann nicht sein, daß IhVorgänger sich die Situation ein biß-chen schöngerechnethat?

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Page 32: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

Montage der AEG-Schienenfahrzeuge: „Große Herausforderung“

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Schrempp: Nein. Ich mußnoch einmal wiederholenAlle Entscheidungen deVorstandes werden gmeinsam getroffen.SPIEGEL: Auch die fal-schen?Schrempp: Wenn Fehlegemachtwurden, dannsinddas –bitte schön –auchmei-ne. Darauflege ichWert.SPIEGEL: Sie haben mitdie-ser Politik nicht nur dastaunende Publikum,son-dern auch Ihre Anteilseig-ner, die Aktionäre,verun-sichert. Einige sagen jetzWir wurden in die Irre geführt.Schrempp: Der Vorstandhat nie falscheInformatio-nen an die Öffentlichke

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gegeben. IchsageIhnen aber auch, daes Aufgabe eines Vorstandes ist, auVeränderungen undNeueinschätzungeschnell zureagieren. Wir habensofort in-formiert, und zwar vor dem nächsteStichtag 11.September, an dem wir deHalbjahresbericht darstellenwerden.Wir sind aber derMeinung: DasUnter-nehmensoll transparentsein. Wir wollen,daß unsere Aktionäreimmer sofort dengleichenKenntnisstandhaben wiewir.SPIEGEL: Dem Niedergang des Dollaentgehen Sienur,wenn Sie Produktionein den Dollarraum verlagern.Schrempp: Es ist zu einfach, im kleineKämmerchen zusagen: Jetzt verlagerwir den Luftfahrtbereich ins AuslandDas ist nicht richtig und wirdunserergesellschaftspolitischenVerantwortungnicht gerecht.SPIEGEL: Ihre Strategie heißt NichtstunSchrempp: Wir habenzwei Dinge zu be-achten: Wir müssen dasoperative Ge-schäft in Ordnungbringen, und auf de

32 DER SPIEGEL 31/1995

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und Auflösung von Tochter-nd Unternehmensbereichen

ang abgewrackt Entwicklung der AEG

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Transforma-toren Union AG

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Feinmechani-sche WerkeMainz GmbH

Dampfturbinen-geschäft derAEG KanisGmbH

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anderenSeite müssen wirunserersozial-politischenVerantwortung gerechtwer-den.Dies ist das Programm, unddeswe-gen wird esauch sehr eng.Hier geht esjetzt nicht um die PolarisierungzwischenArbeitnehmervertretern undManage-ment. Wie können wir denStandort Bundesrepublik Deutschland für dieLuft-fahrtindustrie erhalten? Das ist unseAufgabenstellung.SPIEGEL: Der Marktwird Sie zurProduk-tionsverlagerung zwingen, schondamitSie der Abhängigkeit vom Wechselkuentgehen.Schrempp: Natürlich müssen wirWert-schöpfung verlagern. Wir müssen mit Teilen unserer Produktion in dem am stästen wachsendenMarkt Südostasien seinwenn wirdort Flugzeugeverkaufenwol-len. Wir haben unter anderem Gespräaufgenommen mit China undKorea.SPIEGEL: Könnte essein, daß die Luftfahrtindustrie auch im übertragenenSin-ne das Problem von Daimler-Benzist, daß

nach der Übernahme durch Daimler-Benz

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AEG Kabel AG

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uf der Ge-tsbereicherequenz-ik sowiee - undrtechnik

Sie die Bodenhaftungver-loren haben?Schrempp: Wenn Sie dieLuftfahrtindustrie sehenund einen Dollar von1,60Mark unterstellen würden,dann haben wireinebrillan-te Arbeit geleistet. Wir ha-ben in den letztenJahrenmehr als 2Milliarden Ko-sten aus dem Luftfahrtbereich herausgenommenNoch vor fünf,sechsJahrenhätten Sie einen Dollar voüber 2 D-Mark gebrauchum Rendite zu machenHier ist also Hervorragen-des geleistetworden.SPIEGEL: Und warumdrückt sichdiese hervorragende Leistungnicht in Pro-fiten aus?

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Schrempp: Das ist das Schmerzliche fümich. Wenn Sie die Latte sohoch legenund den Leutensagen: Kommt, wirpacken’s, wir springen darüber. Unddann drehen Siesich plötzlich um undsagen: Entschuldigung, dieLatte liegtjetzt durch die Dollarschwäche nochöher. Man mußsich auch malvorstel-len, was dannmenschlich bei uns loist.SPIEGEL: Kann essein, daß die ganzKonstruktion Ihres Konzerns – egawo Sie die Lattehinlegen, egal, wie deDollar steht –falsch ist, daß mit diesemSammelsurium von Firmeneinfach keinProfit zu machenist?Schrempp: Bei 1,60Mark hätten wir ei-nen guten Profit gemacht.SPIEGEL: Sie formulieren immer imKonjunktiv.Schrempp: Gut, dieSituation ist derzeianders. Deshalblegen wir jetzt ein Programm auf, damit wir auch bei eineDollar von 1,35 Mark Profit machen.

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1993 1994

AEG Haus-geräte AG

AEG Kanis GmbH

AEG Lichttechnik

AEG Zähler GmbH

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Der Luftfahrtmarkt hat einedurch-schnittlicheWachstumsrate von 5 bisProzent, und dasgilt übrigens auch füden Schienenverkehr und die kommzielle Raumfahrt. Diese Märkte sindauch in derZukunft hoch attraktiv.SPIEGEL: Hat die Dasa dem Konzern jmalsGewinn gebracht?

Mercedes-Montage: „Ich bin selbst ein Automobilmann“

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Fokker-Montage: „Auch in Zukunft attraktiv“

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Schrempp: Unter demStrich bishernicht.SPIEGEL: Kann es sein,daß Ihr VorgängeSchrott zusammengekauhat, als er den AutobaueMercedes zum Technologiekonzern Daimleraus-baute?Schrempp: Da machen Siees sich zueinfach. WennSie in einer Phase mschlechter Ertragslage eJunktim zur Strategie hestellen, kommen Sie zudiesem Ergebnis. Den-noch haben Sie unrechIch mache das malfest ander Dasa. DerEinstieg indie Luft- und Raumfahrt-industrie war absolutrich-tig. Die Verteidigungstechnik wird es diesesJahr zumerstenmalschaf-fen, wieder in schwarzeZahlen zu kommen. DiLuftfahrt wird es ebenfallsbald schaffen, unddannsagt jeder: Die habenvollkommen rechtgehabt.SPIEGEL: Schon1995gebees bei der Dasa Gewinnhaben Sie voreinem Jahrversprochen. Da wareSie noch nicht DaimlerVorstandschef.Schrempp: Ich habe abeimmer die Prämissen genannt, unter denendieserGewinn möglich wäre,auch gegenüber deSPIEGEL.SPIEGEL: Sie lieben denKonjunktiv.

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Schrempp: Ich habe es konkretgesagt,und die Rechnungstimmt auch.SPIEGEL: Sie können rechnen, wie Swollen: Die Geduld der Autobauer imKonzern ist inzwischenerschöpft. Wielangesoll der Autobau, dieeinzig wirk-lich profitable Sparte, die kränkelndeKonzerntöchter noch durchschleppen?Schrempp: Ich war Nutzfahrzeugmannund ich habeviele Jahre mitnegativenNutzfahrzeugergebnissen gearbeitetDieser Bereich hatsich hervorragendentwickelt, der ist jetzt positiv.DurchdiesePhase muß man durch, wenn mder Ansicht ist, daß es ein attraktivGeschäft ist. Wirwerden diese Phaseauch bei der Luftfahrt durchstehen.

SPIEGEL: Sie spüren nicht denUnmutder Autobauer imKonzern?Schrempp: Ich bin dochselbst einAuto-mobilmann – abgesehen von meinsechsJahren in München bei derDasa.Die Leute bei Mercedes-Benzwissenganzgenau, wie hoch ich dieLeistungenvon Mercedes-Benz in beiden Bere

chen, Pkw- und Nutzfahrzeugbereichin den letztenJahren schätze. Sie ekennen an, daßauch unsereanderenKerngeschäfteZukunft haben.Diesessehen auch unsereBelegschaften inden verschiedenen Bereichen so.SPIEGEL: Selbst wenn die Vision vonReuter betriebswirtschaftlich richtigwar zu einer Zeit, als Rüstung einBombengeschäft war, hätte man dnach nichtumsteuern müssen?Schrempp: Sie hättenalso einfach daTor abgeschlossen? DieMauer fällt,das Budget geht zurück, und wschließenunsere Werke? Ichsage esnoch einmal: Da muß man ein bißchintelligenter vorgehen. Da muß masagen:Okay, das hatsich jetzt verän-

dert. Wie sehen die Perspektiveaus?SPIEGEL: Über die kränkelnde AEG haben Sie noch keinWort verloren.Schrempp: Sie habenmich noch nichtgefragt. Die AEG ist natürlich einegro-ße Herausforderung.Aber: Auch dieAEG hat sichweiterentwickelt. Sie ha

ben ja gesehen, wievieleGeschäftsfelder wir abge-gebenoder in Kooperationen mit anderen Firmeeingebrachthaben. Ich binsicher, wir werden auchhier bald einewirklich soli-de und ertragreiche Struktur haben.SPIEGEL: War Reuter zunachgiebig gegenübersei-nem FreundHeinz Dürr,als er die AEG unter daDaimler-Dach holte?Schrempp:Aber dies istdoch kein Thema HeinzDürr. Sicher hätte man dieineoder andereEntschei-dung früher treffen müssen.SPIEGEL: Sie haben esdochgern, so haben wirgelesenwenn man zuIhnen kommtund sagt: Jürgen, das waMist!Schrempp: Ja, das habe icsehr gern. Wir brauchen ene solche Fehlerkulturnochviel stärker. Wenn je-mand Fehler macht,wirder nicht rausgeschmissesondern dannsetzen wiruns zusammen,korrigie-ren und lernen daraus.SPIEGEL: Wenn heute einer kommt undsagt: DerVorstand hat imFall AEGMist gemacht?Schrempp: Wir brauchendoch hier über die letztezehnJahre AEG garnichtzu diskutieren. Manchehätte schneller geschehsollen.Aber entscheidend

ist: Wir müssennach vorn schauen. Wbringen das jetzt inOrdnung, dasver-spreche ichIhnen.SPIEGEL: Sie sprechen über Rationalisirung, Produktionsverlagerung,Verkäu-fe. Gibt es neue Bereiche, in die Sieinve-stieren wollen?Schrempp: Ideengibt esdazu schon. Ichmeineaber, daß esjetzt erst einmal darauf ankommt,klar auf die Kerngeschäfts-felder zu fokussieren und die Ertragslaso zu gestalten, daß unsereAktionäreFreude an uns haben. Das istunsere Auf-gabeNummereins.SPIEGEL: Heißt das, Siewollen „gesund-schrumpfen“?Schrempp: Nein, das heißt Weiterenwicklung in demSinne, daß wir in den

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36 DER SPIEGEL 31/1995

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Gegen allesund jedenAuch brave Bürger müssen damitrechnen, daß ihre Daten im Super-Computer von Europol gespeichertwerden.

ls die Staats- und Regierungscheder EU-Länder Ende Juni inACannes an der Europol-Konven

on herumdokterten, war dieBestürzunggroß: Einige Streitfragen über denriesi-gen europäischen Polizeicomputer wren noch immer ungeklärt.

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Den HaagAutomatisierte

Informationssammlungen

Datenspeicher 2Arbeitsdaten zu

Analysezwecken überpotentielle Zeugen und Opfer,

Kontaktpersonen sowiemögliche Informanten

Datenspeicher 3Indexsystem, das die

Zugriffs- undVerknüpfungsrechte

regelt

Datenspeicher 1Verdächtige;

begangene undvermutete Straftaten

Nationale Stellen(Sicherheitsbehörden)

in jedem der 15 EU-Staaten, die Daten zuliefern

oder abrufen; sie entsendenzugleich Verbindungsbeamte in

die Europol-Zentrale

Doch Anlaß zurBestürzunggibt inWahrheit das, worübersich alle einigsind. Nicht Formalien undKompetenz-fragen sind dasProblem, sondern da71-Seiten-Papier mit 48Artikeln, dasletzte Woche von den Botschaftern dEU-Länder unterschrieben wurde: daAbkommen über „dieErrichtung einesEuropäischen Polizeiamtes (Europol)“in Den Haag.

Die Europol-Satzung, die jetzt aucin Deutschland vom Parlamentverab-schiedet werden soll, stellt Millionenvon Eurobürgern unter Polizeiaufsicht.Die öffentliche Empörung darüber blieb

nur aus,weil deutsche Behörden das Papier noch als Geheimsachebehandeln.

Aus gutemGrund. Befugnisse inbis-lang unbekanntem Ausmaßsoll die Eu-robehörde mitihrem Super-Computeerhalten –alles imKampf gegen „Terro-rismus“, „illegalen Drogenhandel“ und„die sonstigen schwerwiegendenFor-men der internationalenKriminalität“.

Für die Gefahrenabwehr ist dasFein-ste vom Feinen vorgesehen: einSpei-chersystem, dasmehr alseine MillionDatensätze faßt. Dieschwammigen EUParagraphen machen eine Totalüberwa-chung möglich.

Das Europol-Prinzip: vorsorglichesMißtrauen gegenalles undjeden, kom-plette Dossiers überUngerechte wieGerechte.

Das Bundesverfassungsgericht hatwenigen Tagen erst die Telefonabhöpraxis des Bundesnachrichtendienst(BND) gestoppt, die aufähnlich weitge-hendenBefugnissen imdeutschen Ver

brechensbekämpfungsgesetzberuht. AndiesemVerdikt mußsich nunauch Eu-ropol messen lassen.

In Karlsruhe stand eine Regelung zDebatte, die dem BNDeine weitrei-chende Ätherfahndung per „Suchwort“erlaubt. Wer amTelefon eine verdächti-ge Vokabel benutzt,wird aufgezeichnetSuspektesdurften die Geheimdienstlebislang an die Polizeiweitergeben.

Diese Ermächtigungging zuweit. DieKarlsruher Richter untersagten deBND per einstweiligerAnordnung denallzu hemdsärmeligenUmgang mit Bür-gerdaten. Die Richter sahen dieStraf-

klassischenGeschäftsfeldern expandieren. Aber dieGewinne stehen im Momentklar im Vordergrund.SPIEGEL: Neue Geschäftsfelder,Multi-media beispielsweise,interessieren Sidoch auch.Schrempp: Natürlichhaben wir ein Teaman der Arbeit, dasdiesen doch sehrflexi-blen Ausdruck „Multimedia“ sehr genastudiert undsich überlegt,welcheAspek-te des Geschäftes für unsinteressant wären.SPIEGEL: Sie habenbereits Gesprächemit Bertelsmann-ChefMark Wössner,aberauch mit Filmhändler LeoKirch ge-führt. Mit welchemErgebnis?Schrempp: Ja, wir führenviele Gesprä-che. Esreicht einfach nichtaus, daß wiMitarbeiterhaben, die unsGrafiken undStudien vorlegen. Ich möchte schselbst ein Gefühl dafürbekommen,wor-über wir eigentlichreden.SPIEGEL: Wird es irgendwann DaimlerTelefone, Daimler-Fernseher, DaimleOnline-Dienste geben?Schrempp: In Teilaspekten möchte icdas nicht ausschließen.Aber es wäreein-fach zu früh, jetzt darübereine Aussagezu machen. Ich möchte zumjetzigenZeitpunkt nursagen: Ja, wir schauen uallesgenau an.SPIEGEL: Reuter hatte dieVision Luft-und Raumfahrt,sein Nachfolgerkommtohne den großen Entwurfaus?Schrempp: Ich finde schon, daß man einVision haben muß.Leider ist aufgrundder derzeit unbefriedigenden Ertragsge des Konzerns dasThemaVision in einnegatives Licht gerücktworden. Wir ha-ben im Augenblickdahereinekurzfristi-ge Vision, und die heißtklipp und klar:Shareholder Value. Ichwill, daß sich dieAktionärewieder wohl fühlen bei Daim-ler.SPIEGEL: Der Konzernchef und seinengsten Mitarbeiterlassen essich auchheuteschon gutgehen –Sonne, Rom undRotwein. TrotzMilliardenverlusten.Schrempp: Lassen Sie mich eins deutlicsagen: Vor derEntspannung kommt immer die Arbeit, und dieleisten wir. Undich bitte Sie, einUnternehmenbestehtdoch nicht nur aus Gebäuden, aus Hardware und Fabriken, sondern aus Meschen. Der Mensch Jürgen Schremgeht gernunter Menschen, ich kann unmöchtemich auf allenEbenen desKon-zernsbewegen. Ich werde auf dieserPosi-tion einenhoffentlich guten Beitrag zuWeiterentwicklung des Konzerns leisteaber ich möchte Mensch bleiben.SPIEGEL: Demnächst gibt esauch imVorstand Chianti?Schrempp: Wenn wir im Unternehmegemeinsam Erfolgeerarbeitet haben unden Aktionärenwirklich wasbieten kön-nen, dannstell’ ichauch eine FlascheChi-anti auf denTisch –warumdennnicht?SPIEGEL: HerrSchrempp, wir danken Ihnen für diesesGespräch. Y

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u seinen Amtszeiten von1974bis 1982 warHelmut SchmidtZein in aller Weltgeachteter Re

gierungschef, um den uns viele bneideten. Nunscheint ihnaber Vä-terchen Frust doch nocheingefangenzu haben.

Als Mitherausgeber derZeit hat ersich derProbleme des StaatesNige-ria angenommen, des mit hundeMillionen Einwohnern bevölke-rungsreichsten Landes Afrikas. InZeilen, unter deroriginellen Über-schrift „Aufruf zur Vernunft“, klagtSchmidt die derzeitigenMachthaberan, weil sieNigeria in einen „totali-tären Staat“ umgewandelt hätten.

Haben siedas? Dasweiß auchSchmidt nicht. Fernsehen ist janichtvor Ort. Aber siehabenseinen Be-kannten, den 58jährigen GeneralOlusegunObasanjo,festgesetzt, einen – wie Schmidt schreibt – „Staamann von großeminternationalemRuf“.

Der General,1976 nach der Er-mordung seinesVorgängers an diMacht gekommen, war (wie RumniensCeaus¸escu) in SchmidtsAugen„ein brillanter Kopf“, wohl deshalbweil er sich1978 für denBesuch desdeutschen BundeskanzlersZeit ge-nommen hatte.

Von dem seinerzeit vorausgegagenen Sezessions-Krieg Biafra(zwei Millionen Tote) steht beiSchmidt heute nichts. Der figuriertunter „militärischer Herrschaft“.Schmidt wundertesich nach Rück-kehr von seiner damaligen NigeriaReise vor seinerBonner Kabinetts-runde nur darüber, daßsein „brillan-ter Kopf“ demnächst abtreten unddemokratische Wahlen ausschreibwolle. Das Ölland Nigeria könndann womöglich nach links abdrif-ten.

Nun, Obasanjo trat imOktober1979 wirklich von der Bühne abohne ermordet worden zusein. Wasjetzt, unter General Abacha, auihm wird, weiß mannicht. Für denFall der Verurteilung hält Schmiddas patentreife Traumrezept berenachdem dieamtlichen Proteste inLagos erfolglosgeblieben sind:

Statt dessen hat das Militärregimewestlichen Ölgesellschaften, dieim Lande tätig sind, mit wirtschaft-

lichen Nachteilen gedroht. Aberumgekehrt wird ein Schuh daraus:Wenn General Abacha nicht zur Ver-nunft und zu einem unerläßlichenMinimum an Rechtsstaatlichkeitzurückkehrt, so müssen die erdöl-importierenden Staaten einen Öl-boykott gegen Nigeria verhängen.Nicht die Welt hängt von nigeriani-schem Öl ab, sondern Nigeria zudrei Vierteln seiner Einnahmen vomÖlexport – und ein großer Teil derEinnahmen fließt in die Korruption.

Schmidtsteht hier alsMitglied ei-ner Kaste da, die erstets verachtehat: alsAllerweltsjournalist.Glaubter, unter Obasanjo habe eswenigerKorruption, weniger Militärherr-schaft undmehr Rechtsstaatgege-ben? Das kannseinErnstnicht sein.Aber er ist mit 21Salutschüssen wiein Staatsoberhaupt empfangenwor-den.

Vielleicht will er seinemBekann-ten in Nigeria mit diesemAufruf hel-fen. Aber der jetzige MachthaberGeneral Sani Abacha schätztviel-leicht seinen Vorgänger nicht sosehr, kenntSchmidt nicht undliestsogar nicht einmal dieZeit.

Schmidt, der als BundeskanzlimmergegenBoykottdrohungen wa(„Blödsinn, nützt nichts, Diplomatengewäsch“),gesellt sich plötzlichden Maulhelden zu, die im sichereHafen sitzen und als Mitglied de„Old Boys’ Club“ auch ihrenSenfdazugeben.

Ölboykott gegen Nigeria!Warumnicht gegen denIran zu SchmidtsZeiten oderauch jetzt?WarumnichtBoykott gegen das Apartheids-regime unseligen AngedenkensWann hätte je ein Boykottfunktio-niert, außer imFalle Roosevelts gegenüber Japan1941?

Das Ölland Nigeria ist in der Zwischenzeit nichtnach „links“ abge-driftet. Es verkommt wie eh und je

Zurück, Helmut, durettest den„Freund“ nicht mehr! Er hat,nachseinem Abtreten, mehrerePutscheund Morde an Spitzengeneräleüberlebt. Wie das? Er war interntional tätig, erfolgreich, und lebte zHauseruhig vor sich hin.

Möge ihm erneut Rettung beschieden sein;aber nicht jeder be-kommt, was erverdient.

prozeßordnung unterlaufen, diesolcheMaßnahmen nur bei konkretemTatver-dacht zuläßt.

Eine Blankovollmacht, wie sie demBND gerade entzogen wordenist, stre-ben die Europol-Fahnder an. Die Voaussetzungen, die den schrankenloZugriff erlauben,sind ähnlichvage.

Das Bonner Gesetzgestattet demBND die Überwachung, „wenn tatsäcliche Anhaltspunkte für den Verdachbestehen“, daß jemand „Straftatplant“. Europoldarf Angaben überPer-sonen speichern, „beidenenbestimmteschwerwiegendeTatsachen . . . die Annahmerechtfertigen, daß sie Straftatbegehen werden“.

Was da passiert, brachte derDaten-schützer Thilo Weichert ausHannoverauf den Punkt: DieEuropolizei solle,spottete der Kritiker, bereits „von eineStraftatwissen,noch bevorsich der Tä-ter hierzu entschließt“.

Der Bürger als Generalrisiko:Solchegefährlichen Überwachungsparagphengibt es zwarauch in einigendeut-schen Länderpolizeigesetzen.Aber imVergleich zur entschlossenenRaster-fahndung perEuropa-Datenverbund escheint die deutsch-föderalistische Pozeiarbeit geradezu als rechtsstaatlicIdylle.

Nicht nur Verdächtige sollen in deComputer in Den Haag. Eine „Arbeits-datei zu Analysezwecken“soll Personenerfassen, die fürpolizeiliche „Ermittlun-gen“ oder „beieiner künftigen Strafver-folgung als Zeugen in Betrachtkom-men“. Betroffen von der Abspeicherunsindauch Bürger, „beidenenbestimmteTatsachen dieAnnahme rechtfertigen,daß sie Opfereinersolchen Straftatwer-den können“.

Außerdem dürfen zugleich „Kontakt-und Begleitpersonen“ mit eingesammwerden, darüber hinaus jeder, der„Informationen über die betreffendeStraftaten liefern“ kann. „Mit der anUnbestimmtheit kaum zu überbieten-den Formulierung“, so Weichert, könn„praktisch jede Person erfaßt werden

Zwar versucht die Europol-Konventon, Speicherbefugnisse und Zugrifrechte zu regeln.Doch dieRegelungensind so kompliziert wie nutzlos.Dennkein Bürgerkann kontrollieren, ob sieingehaltenwerden.Selbst derbeliebteHinweis auf den bewährten deutschenRechtsstaat, in dem es nur bravePolizi-sten gibt, verfängt nicht: Auf Europa-Ebene hatsich bislangkein RechtsstaatStandard etabliert.

Wer ins System gerät, muß mitUnge-mach rechnen.Denn jeder, dessen Name überraschend auf irgendeinemamtli-chen Bildschirm auftaucht, im Urlauboder zu Hause,steht erst malunterVer-dacht undmuß,wenn er Glückhat, nurbeweisen, daß er nicht derjenige ist,den man ihn hält. Y

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Hungerstreik-Opfer Baghistan„Wir nehmen weitere Tote in Kauf“

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BlutigeSchlachtenDie Krawalle in der vergangenenWoche zeigen: Das Verbot der PKKhat die kurdischen Extremisten inDeutschland noch gestärkt.

ls Tote erst wurde Gülnaz Baghi-stan ihren Landsleuten besondeAnützlich: DieMutter vonfünf Kin-

dern war aus Osnabrücknach Berlin ge-reist, um zusammen mit etwa 200 andren Kurden auf demBreitscheidplatz inHungerstreik zutreten. Damitwollte siegegen dieUnterdrückung ihres Volkesin der Türkei protestieren.

Am Mittwoch vergangener Wochmarschierten dieDemonstrantennachZusammenstößen mit derPolizei beibrütenderHitze ins Kurdische Kulturzentrum nach Kreuzberg. DerMarschwar zuviel für Baghistan, 41. Am Zieangekommen,fiel sie, geschwächt vomHunger, ins Koma undstarbwenig spä-ter.

Nun haben diemilitanten Kurden inder Bundesrepublik eineneue Märtyre-rin im Kampf um einunabhängigesKur-distan. Landsleutebahrten BaghistanEndevergangener Woche im Kulturzetrum auf, schmückten sie mit Blumenund weigerten sich, dieTote voneinem

Polizei-Einsatz bei Kurden-Demonstratio„Aggressive Grundstimmung“

38 DER SPIEGEL 31/1995

Gerichtsmediziner untersuchen zulas-sen.

An der Bahre schworen kurdischExil-Politiker Unerbittlichkeit: „Wirmachen weiter,nehmen weitere Toteund Verletzte in Kauf.“

Mit dem Tod von Baghistan, blutigeStraßenschlachten in Berlin und Franfurt sowie Dutzenden von Brandanschlägen auf türkischeEinrichtungen imBundesgebiet eskalierte der Protestder vergangenen Woche,vermutlich or-ganisiert von derverbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Wie schon im Frühjahr desvergange-nen Jahres, alsmilitante Kurden in

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Deutschland mit Straßenblockden, Anschlägen und Selbstvebrennungen demonstrierten, haten die Behördenauch diesmal immerhinvage Hinweise aufgeplanteGewalttaten.

Schuld an demAusbruch,klagenVerfassungsschützer, habe auchdie Bundesregierung.Sicherheits-experten hatten voreinemVerbotder PKK gewarnt. InnenministeManfred Kanther (CDU)boxte esjedochEnde1993durch, unter anderem auf Druck der Türkei.

Schon zuvor war esErmittlernschwergefallen, dieabgeschottetevon engen Stammesverbindunggetragene Struktur der PKK zdurchdringen.Inzwischen ist dieOrganisation nach Erkenntnissdes nordrhein-westfälischen Ver-fassungsschutzes „so tief in die Illgalität abgetaucht, daß es kaunoch gelingt, Quellen zu plazie-ren“.

* Am Donnerstag vergangener Woche inFrankfurt am Main.

Zudem habe, so eininternes Ver-fassungsschutz-Papier, dasVerbotnicht nur die „aggressiveGrund-stimmung von PKK-Anhängerngegenüber dem deutschen Staverschärft, sondern der Partei aucweiteren Zulaufverschafft.

Die Behörde schätzt, daß dzum Teil rüdenSpendeneintreibeder PKK 1994allein inDeutschlandrund 30 Millionen Mark zusam-mengebrachthaben.

Unter den Augen desVerfas-sungsschutzeswurdensogar Nachfolge-Organisationen für die ebefalls verbotenen Untergliederungen der PKK gegründet. Die neuenGruppen arbeiten inzwischen inden Räumenihrer Vorgänger.

Während die Parteisich im Un-tergrund ausbreite, so derVerfas-sungsschutz,arbeiteten die Kadekonspirativer als je zuvor. So bekmen die Attentäterihre Aufträgemeist nur nochwenigeStunden vorden Anschlägen.

Zu der jüngsten Serie vonAttackengab es bislangkeine Bekennerschreibe– für die Ermittler ein Indiz, daß diPKK vor allem ihren Anhängern die„Handlungsfähigkeit und Schlagkraft aOrganisation“ demonstrierenwolle.

Die ebenfalls verbotene NationalBefreiungsfront Kurdistans (ERNK),die sich alspolitischer Arm der PKKversteht,wies dagegen die Verantwotung für die Anschläge in der Bundesrpublik zurück. CevdetAmed, ERNK-Funktionär mit Büro in Brüssel, be-hauptet, dieAngriffe auf türkische Geschäfte würdenzumeist von jugendlichen Kurden verübt, die von der PKKnicht zu kontrollieren seien.

Die Strategie –Terror gegen Türkenin Deutschland und Hungerstreiksdient jedochvermutlich auch dem Versuch, die Auslieferung des Europacheder PKK, Faysal Dunlayici (Deckname:Kani Yilmaz), an dieBundesrepublik zuverhindern; der Extremist wurde iletztenJahr alsunerwünschte PersonLondonfestgenommen.

Als ein britischesGericht amDiens-tag vergangener Woche dieAusliefe-rung erlaubte, besetztenHunderte vonKurden die LondonerCity.

Dunlayici, 45,gilt als enger Vertrau-ter des PKK-ChefsAbdullah ÖcalanDie Bundesanwaltschaftwill ihn als„Rädelsführer einer terroristischen Vereinigung“ vor Gericht stellen. DerMit-gründer der PKK habe unter andereeinen Brandanschlagangeordnet, bedem ein Türke ums Leben kam.

Das Verbotseiner Parteihatte Dun-layici wenig beeindruckt: „Wir habenseit Kanthers Verbotsverfügung“, sagteer kürzlich inLondon, „die ZahlunsererMitglieder in Deutschland verdoppelkönnen.“ Y

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U M F R A G E

Gute Frage, meinen 48 Prozent der deut-schen Wähler – sie wissen es schlichtnicht. Selbst unter den FDP-Sympathi-santen ist nach einer Emnid-Umfrage fürden SPIEGEL noch einem guten Drittelder seit sieben Wochen amtierende Partei-chef der Liberalen unbekannt. Tröstenkann sich Wolfgang Gerhardt immerhindamit, daß es anderen noch schlimmergeht.

Wer ist Guido Westerwelle? Rund 60Prozent der Deutschen müssen passen.Bei den Liberalen-Wählern sind es sogar64 Prozent, die ihren FDP-General-sekretär nicht kennen. Und je jünger dieWähler sind, desto trostloser wird dasBild. Von den Bundesbürgern bis zu 30Jahren, um die sich der jugendliche FDP-General besonders bemüht, können sogarknapp 70 Prozent mit dem Namen Wester-welle nichts anfangen.

Was den smarten FDP-Blitzstarter soverheerend trifft, gilt milder für andereauch: Auffällig viele jüngere Wähler ken-nen das politische Personal ihres Staatesnicht.

So ist für 23 Prozent der Jungwählergänzlich unklar, wer Kurt Biedenkopf ist– bei den Älteren ab 45 Jahren kennen nur5 Prozent den Namen des sächsischenCDU-Ministerpräsidenten nicht.

Ähnlich ist es bei Niedersachsens SPD-Regierungschef Gerhard Schröder. Derkonnte sich trotz lautstarker und publi-kumsträchtiger Nörgelei an seinem Partei-vorsitzenden Rudolf Scharping bei 25Prozent der Jüngeren nicht bekannt ma-chen. Von den Älteren kennen ihn alle bisauf 7 Prozent.

Der geschmähte Rivale Scharping hin-gegen ist bei fast jedem jedes Alters be-kannt. Dafür hat er andere Probleme.

Noch nie lag der SPD-Chef im direktenVergleich mit Bundeskanzler HelmutKohl so weit abgeschlagen zurück. Emnidfragte die Wähler, für wen sie sich ent-scheiden würden, wenn sie den Bundes-kanzler direkt wählen könnten. Satte 55Prozent entschieden sich für den CDU-Kanzler, nur 35 Prozent wollen den SPD-Mann in Regierungsverantwortung sehen.

Die Bonner Regierung kann – trotz an-haltender FDP-Schwäche – beruhigt dieSommerpause genießen: Stattliche 67Prozent der Bevölkerung gehen davonaus, daß die Koalition hält. So viele warenes seit der Bundestagswahl noch nie.

Nur einer kann noch zufriedener seinmit seinem Volk: Bundespräsident RomanHerzog. 72 Prozent finden seine Amts-führung gut. In den neuen Bundesländernsind es sogar 78 Prozent. Deutschlandeinig Herzog-Land.

Wer istGerhardt?

40 DER SPIEGEL 31/1995

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Dieser Politiker istmir unbekannt

im Mainicht aufder Liste

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„Wichtige Rolle“ häufigergewünscht als im Mai

Emnid-Umfrage für den SPIEGEL, 19. bis 23. Juli, 1500 Befragte

JohannesRau

KurtBiedenkopf

Wolfgang Schäuble

RitaSüssmuth Helmut

KohlNorbertBlüm

EberhardDiepgen

+7+4

8 9

CDU/CSU SPD

*monatliches Haushalts-Nettoeinkommen unter 2000 Mark

Mehr Vertrauen in die Union„Welche Partei ist am ehesten in der Lage, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen?“

1000 Befragte, 24. und 25. Juli

zum Vergleich die Ergebnisse der letztenBundestagswahl am 16. Oktober 1994

Sonntagsfrage „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten SonntagBundestagswahl wäre?“

Befragte insgesamt

CDU/CSU SPD Bündnis 90/Grüne FDP PDS

März1995

Mai1995

Juli1995

April1994

März1995

Mai1995

Juli1995

April1994

Befragte mit geringem Einkommen*

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16

28

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40

50

41,5

7,3 5 6,9 4,4

36,442

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Angaben in allen Grafiken in Prozent

„Wichtige Rolle“ seltenergewünscht als im Mai

Kohl im Aufwind

–5 +4

485152525455

60

37

4348

31

21

50

–5

im Mainicht aufder Liste

Emnid nannte die Namen von 20 Politikern.Der Anteil der Befragten, die den jeweiligen Politikerkennen und „es gern sehen würden, wenn er künftig

eine wichtige Rolle spielen würde“, und dieVeränderungen zur letzten Umfrage im Mai

7

ClaudiaNolte

GerhardSchröder

HorstSeehofer

OskarLafontaine

JoschkaFischer

KlausKinkel

TheoWaigel Volker

Rühe

GünterRexrodt

SabineLeutheusser-Schnarrenberger

RudolfScharping

AngelaMerkel

GregorGysi

10 291311

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Nicht viel gemein „Glauben Sie, daß im Verhältnis zwischenOst- und Westdeutschland in der letzten Zeitdie Unterschiede größer geworden oder dieGemeinsamkeiten gewachsen sind?“

„Unterschiede sindgrößer geworden“

„Gemeinsamkeitensind gewachsen“

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Euch geht’s gut, uns geht’s schlecht „Wie beurteilen Sie die heutige allgemeine wirtschaftliche Lage. . .

„sehr gut oder gut“

„teils, teils“

„schlecht odersehr schlecht“

19. bis 23. Juli, 1500 Befragte;an 100 fehlende Prozent: keine Angaben

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. . . in den alten Bun-desländern, also inWestdeutschland?“

. . . in den neuen Bun-desländern, also derehemaligen DDR?“

DER SPIEGEL 31/1995 41

Page 42: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

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Z e i t g e s c h i c h t e

FeindlichesAuslandBislang unbekannte Details zeigen,wie Generalstaatsanwalt Fritz BauerIsrael bei der Jagd auf den Nazi-Verbrecher Eichmann half.

ie geplant, war die Eichentür deGebäudes in der Frankfurter GW richtsstraße leicht zu öffnen. Mi-

chael Maor schlich durch die Vorhalleund gleich rechts die mächtige Steintreppe hoch, über denFlur im erstenStock. Es war dunkel, niemand war

Kriegsverbrecher Eichmann*: Vom Mossad gekidnappt

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Ex-Agent Maor*„Überall Hakenkreuze“

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hören oder zu sehen,weitertappte er dienächsteTreppe hoch.Dann, imzweitenStock – „Du kannst es garnicht verfeh-len“, hatten sie ihmgesagt –, lag gegenüber dem Treppenabsatz das Büro.

Der Israeli Maor könnte den Wedurch das FrankfurterJustizgebäudheutenoch mitgeschlossenenAugen ge-hen bis zu der Tür, vor der er vor 35 Jaren stehenblieb.SeinAuftrag: „Fotogra-fier die Akte, die links auf dem Schreibtisch liegt.“

Um wen es in dem Dossierging,erfuhrder junge Ex-Fallschirmjägererst, als erdie Bilder entwickelte: Es war dieAkteAdolf Eichmann. Der SS-Obersturmbannführer hatte die Judentransportedie Vernichtungslager organisiert, ergaltals KriegsverbrecherNummereins. Der

* Links: im ehemaligen Büro Fritz Bauers; rechts:1961 vor Gericht in Jerusalem.

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israelischeGeheimdienst Mossad suchihn weltweit.

Maors nächtlicherGeheimeinsatzver-half ihm zum Erfolg –einebislangunbe-kannte Episode derJagd auf den Organisator des Holocaust: Wochen später,am Abend des 11. Mai1960,kidnapptenihn Mossad-Agenten im argentinischBuenos Aires.1962 wurde Eichmannder wegen Verbrechen am jüdischenVolk und gegen die Menschlichkeit zuTode verurteilt worden war, inIsraelhingerichtet.

Der Raum, in denMaor im Frühjahr1960heimlicheindrang, war das Dienszimmer des damaligen hessischenGene-ralstaatsanwalts FritzBauer, dermaß-geblich beteiligt war an derVorberei-tung der FrankfurterAuschwitz-Prozesse.

Bauer hatte denIsraelis zuvor bei einem Geheimtreffen den entscheidendHinweis aufEichmanns Versteck in Argentinien geliefert. Die Fahndungshilwar heikel. DasVerhältnis zwischen Is-rael und Deutschland war damals äßerstschwierig, es gabnoch keinediplo-matischen Beziehungen.

Bauer fürchtete zudem, diegeplanteVerhaftung könnte verraten werdensollte er Israel auf dem Dienstweg hefen. Wie viele Nazi-Mitläufer und un-entdeckte Täter es in der deutschenstiz noch gab, wußte er ausseinem All-tag. Eingeweiht in dieKooperation wa-

ren nur der hessischMinisterpräsident, Georg August Zinn, undwenige persönlicheVertraute.

Bauer hatte wegenseines leidenschaftlchen Kampfes gegeNazi-Verbrecher wenig Freunde in der Justiz. „Er sagte oft:Wenn ich mein Zim-mer verlasse,betreteich feindliches Aus-land“, erinnert sichsein Freund und Testamentsvollstrecker

Rechtsanwalt ManfreAmend.

Der Generalstaatsanwalthatte demMos-sad auch, wie derLei-ter der „OperationEichmann“, Isser Ha-rel, später enthüllte, Beweismaterial zEichmann beschafft.„All das“, schreibt Ha-rel, „geschah insge-heim und mit größterVorsicht, um zu ver-hindern, daß die Öffentlichkeit von unserem Interesse an deVerbrecher erfuhr.“

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Trotz BauersHilfe war die Spur zuEichmannjedochschwieriger zu verfolgen, als zunächstgedacht. Die Fahndunzog sichhin, Bauerversprach den Israelis im Winter 1959/60weiteresMaterial,das sie brauchten, um Eichmannsicherzu identifizieren.

Doch dieAkte hätte erkaumverviel-fältigen lassen können, ohneaufzufal-len. Kopierer, so erinnernsichGerichts-bedienstete, wurden erst späterange-schafft. Dabekam MaorseinenAuftrag.

Der ehemaligeisraelischeSoldat war1959nach Köln gekommen, um Fotogrfie zu studieren. Nebenher arbeitetefür die Israel-Mission in Köln, dienochnicht den Statuseiner Botschafthatte,sondernsich vor allem um das Wiedergutmachungsabkommen kümmerte.Der Leiter derMission, FelixSchinnar,hielt in der SacheEichmann engen Kontakt zum Frankfurter Generalstaatsawalt.

„Ich bekameinenSchlüssel fürBauersBüro“, erinnert sich Maor. Mit einerspeziellen Repro-Lampe ausgerüstet,um ohneZimmerlicht fotografieren zukönnen,setzte ersichabends in den Zunach Frankfurt. „Ich wußtejedes De-tail“, so Maor, „selbst, daßBauerstar-ker Zigarrenraucher war.“

Im Büro des Generalstaatsanwafand er alles wie besprochen vor. DiGardinenwaren zugezogen, es roch naZigarren, und links auf dem Schreib

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tisch, von allenanderen Papierendeut-lich isoliert, lag ein Stapel. „Das waren NS-Unterlagen, Tätigkeitsberichauch Fotos“, erzähltMaor, „und überallHakenkreuze.“

Er hatte geradealles vorbereitet, dawurde er gestört: „Plötzlich hörte ichSchritte, und Lichtfiel durch den Tür-ritz.“ Schnell löschteMaor die Repro-Lampe undverstecktesich hinter demSchreibtisch.

Er konzentriertesich auf dieseltsamschlurfenden Schritte, die näherkamen.Der Mensch, soerkannte Maor, zog irgend etwas auf demBoden hintersichher. Dannwurde ihm klar, daß essichnur um die Putzfrau mit ihremSchrub-ber handeln könne: „Offenbar war sein bißchenschlampig“, sagtMaor. DieFrau erspartesich ihre Arbeit in BauersZimmer undschlurfte weiter, nachdemsie kurz vor der Tür verharrthatte.

Maor ist sich sicher, daß nur der Ermittler dieAkte Eichmann derartoffen-

Generalstaatsanwalt Bauer (1968)Nur Vertraute eingeweiht

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sichtlich auf dem Schreibtischplaziert ha-ben konnte.Mindestens zweimal, erinnert ersich, sei er inFrankfurtgewesenmöglicherweiseauch ein drittes Mal. DieFilme entwickelte er sicherheitshalberKöln.

MichaelMaor,1933 imsachsen-anhatinischenHalberstadt geboren, empfaden Erfolg derEichmann-Aktion auchals persönliche Genugtuung.Seine El-ternwaren im besetztenJugoslawien umLeben gekommen, nurseinemOnkel ge-lang die Flucht aus demKonzentrationslagerDachau. Erselbstwurde mit einemKindertransport nach Palästina evaku-iert.

Erst in Israel,wohin Maor später auKöln zurückkehrte, lernte er1965FritzBauer persönlich kennen. „Wir gabenuns freundlich dieHand“,sagt er. „Aberüber die Sache von damals sprachenkein Wort.“ Y

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Pinscher imDschungelIm Kampf gegen die Kriminalität er-hofft sich Bayern Hilfe von Amateur-Polizisten. Doch ein Modellversucherweist sich als Flop.

er Jurastudent Torsten Mähler udie Bürokauffrau TimeaCserfalviDwollen, so sagen sie, „etwas für d

Gesellschaft tun“.Über den Jackentra-gen die beiden jungenLeute grellgrüneArmbinden mit derAufschrift „Sicher-heitswacht“, am Gürtel eine Tränenga

Sicherheitswächter Mähler (r.), Polizist*: Radfahrer ohne Licht

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Sprühdose. Mit einem Funkgerät gwappnet, patrouillieren sie so durcMünchen-Schwabing.

Doch alles ist friedlich.Touristenfla-nieren, Obdachlosespielen SchachRichtig erleichtert ist Mähler, als er nachzwei Stundenendlich eingreifendarf: Ernotiert sich dasKennzeichen einesaltenOpel, dessen TÜV abgelaufen ist.

Der Einsatz der beiden Amateur-Pozisten ist symptomatisch für die bayesche Sicherheitswacht (Siwa): Die Frei-willigen, die Straßenkriminalität undVandalismus verhindern und dem Bürgals wandelnde Notrufsäulen dienensol-len, habenbislangkeinen nennenswerteErfolg aufzuweisen. DieEffizienz seinerHobby-Fahnder, räumtselbst BayernsInnenminister Günther Beckstein ein,lasse sich „nicht an statistischenZahlen

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messen“. Im April1994hatteBecksteindas dreijährige „ModellprojektSicher-heitswacht“ mit 36 Streifengängern inNürnberg, Deggendorf undIngolstadtgestartet, derzeit läuft mit 87 weitereWächtern, unter anderemauch in Mün-chen-Schwabing, die zweiteErpro-bungsphase, bevor bayernweitHilfspoli-zistenangeheuert werdensollen.

Becksteinschwört trotzeher betrübli-cher Erfahrungen mit derTruppe auchweiterhin auf „unkonventionelle Wegezur Bekämpfung der Kriminalität. Immer mehrMenschen hätten „Sorge, Op-fer einer Straftat zu werden“. DiePoli-zei müsse unterstützt werden von Bgern, diesich „aktiv für die innere Si-cherheit einsetzen“ wollten.

Seine unbewaffnetenPolizei-Hiwisdürfen, bundesweit einmalig,Zeugenbefragen, Personalienfeststellen undRuhestörer vomPlatz schicken. Dafüwerden sie mit zwölf Mark pro Stundbezahlt. Was dieFreizeitwächter in der

Praxis tun sollen, darüber sindsich diezuständigen Polizeibeamten uneinsWährend die Betreuer inDeggendorfund Nürnbergnicht wollen, daß ihre Siwas etwa wierichtige Polizisten falschfahrende Radfahrer oder Ampelsündzur Ordnung rufen, meldet derSchwa-binger DienststellenleiterRichardGuthals erste Erfolge „Beanstandungen vRadfahrern ohneLicht“. Sein Kontakt-beamter Robert Dürr möchte zudemdaß die Helfer beobachten, „werseinenHund in Sandkästen pinkeln läßt“.

Selten nurhaben es dieFreizeit-She-riffs mit halbwegsernst zunehmendenVergehen zutun. Soriefen sie nach einer Prügelei in einem Ingolstädter

* Bei der Einsatzplanung im Münchner Polizeire-vier Schwabing-Nord.

Waschsalon die Polizei,ebenso alssichein Exhibitionist im Nürnberger Anna-Park entblößte. „Es war nicht so dergroße Renner, wie mansich das anfangs vorgestellt hat“, sagtJosef Lind-ner, Leiter der Polizeiinspektion Deggendorf.

Angesichts dermageren Erfolge deSiwa werden ihre Befürworterbeschei-dener. Hans-Peter Uhl (CSU), Münch-ner Kreisverwaltungsreferent, würdeschon begrüßen, „wenn wegendenennur nochfünf statt zehnLeute im Jahran das Münchner Rathauspinkeln“.

Zudem gibt esauch Ärger: In Nürn-berg etwa observierte ein übereifrigSiwa-Mannzwei Angetrunkene im Buderart penetrant, daß sie ihmeineWatschen verpaßten und er diePolizeizu Hilfe rufen mußte.

Solche zusätzlichenEinsätze undKleinkram nerven die ohnehin überla-steten Beamten, dieAusbildung undBetreuung ihrer Helferneben dem Tagesgeschäfterledigen müssen. PenibSiwa-Leute, klagen Polizisten, würden„jeden Hundehaufen“ melden.

Mancher wäre gernselber Polizistgeworden,andere, wieTelekom-Lehr-ling Michael Schell, suchen „einen Ne-benjob, der was Höherwertigeres istals an der Kasse zu sitzen“. Oft alledings, fand der Münchner SoziologeRonald Hitzler in einer begleitendeStudie heraus, seien die Wächter„Bürger mit Bereitschaft zurUnterord-nung“.

Die bezahltenSpaziergänger werdenin 40stündigen Abendkursenvorberei-tet. Dabei büffeln sie vor allem Grund-züge des Strafrechts undlernen, wiesie ihre Funkgeräte zu bedienenhaben– mit dieser Schmalspur-Ausbildungeine Millionenstadt wie München keiungefährlichesPflaster. „Sollte ein sol-cher Sicherheitswächter auf einen Berufskiller treffen und versuchen, ihfestzuhalten“, warnt der SPD-LantagsabgeordnetePeter Paul Gantzer,„hat er eine Überlebenschance wie eZwergpinscher im Dschungel.“

Die Gewerkschaft derPolizei (GdP)zeigte sich denn auch entsetzt über d„Billigl ösung“. Eine „Laienspieltrup-pe“ sei kein Ersatz für6000 fehlendePolizeibeamte inBayern, mosert debayerische GdP-LandesgeschäftsführerHartmut Preuß. Die Grünensprechenvom „Offenbarungseid im Bereich innerer Sicherheit“, die SPDunkt, fürden Job würden sich „bestenfallsGschaftlhuber“, „unausgelasteteRent-ner“ oder „dubiose Personen“melden.

In der Tat war ein Drittel der 6Kandidaten, diesich im Frühjahr erst-mals bei der Polizei in München be-warben, aktenkundig und zumTeilvorbestraft. Einer mußtesogar gleichdableiben – er stand auf der Fahdungsliste. Y

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Wie viele Lehrer sind faul?Hans Schwier über seine 15 Jahre als Wissenschafts- und Kultusminister in Nordrhein-Westfalen

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SPIEGEL: Herr Schwier, Siewaren derletzte Kultusminister des Landes Norrhein-Westfalen,Ihre Nachfolgerin Ga-briele Behler ist nur nochSchulmini-sterin. Wird sie es leichterhaben alsSie?Schwier: Nein, dasglaube ich nicht. Eswird ihr gehen wie mir: Für dieSchulekann manunablässigarbeiten undwirdtrotzdem das Gefühlnicht los, es senicht genug. Frau Behler wird nichtganz so vieleTermine haben wieich,das sei ihr gegönnt.SPIEGEL: Gab es sachliche Gründe dfür, die Arbeit, die Siebislang alleinschafften, auf zwei Ministerinnen zuverteilen? Für Kultur und Sport iskünftig Ilse Brusisverantwortlich.

Schwier (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „V

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Schwier: Koalitionsregierungen sinnicht einfach zubilden, da werdendannMinisterien so zurechtgeschnitten, wes diverse Rücksichtenerfordern.SPIEGEL: Warum sind Sie so lange Minister geblieben?Schwier: Das frage ich michauch. Ichhabe oft gesagt, ich hätte einenJob,der täglich kündbar ist. Ich hätte auchsagen können: den ich täglich kündigenkann.SPIEGEL: Also, warum solange?Schwier: Es wäre ein großesWort, wür-de ich sagen, aus Verantwortung. Dklingt so, als hättekein anderer als ichdas machen können. Aber es ist wadran. Schlichter, dochtreffender ist dieAntwort: Es hat mir Spaß gemach

on fünf Enkeln informiert“

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großen Spaß sogar. Fürden, der dasnicht versteht, habe ichnoch eine dritteAntwort, undauch die istrichtig: Mini-ster zuseinkann zueinerSuchtwerden.Man kommtnicht wiederdavon los, ob-wohl esvernünftig wäre.SPIEGEL: Was hat Sie süchtiggemacht?Das Bad in der Menge, der große Autritt doch sichernicht.Schwier: Nein. Es gab keinen Menschenauflauf, wenn ich irgendwo durdie Straßenging, und das warauch gutso. Daß man als Kultusminister aufoffe-ner Bühne arbeitet, machte fürmichauch nicht den Reizaus. Nein, süchtigmacht wohl vor allem, daß manvielesbeeinflussenkann. Beiweitem nicht so-viel, wie mancher annimmt, aberdochmehr, als es beivielenanderen Tätigkei-ten möglichist.SPIEGEL: Hat es sichalsogelohnt?Schwier: Nur dann,wenn ich meine Ar-beit ordentlich gemachthabe. Das müssen andere beurteilen.SPIEGEL: Wie oft sind Sie als Kultusminister in Schulen gewesen, um zusehen,wie es dortzugeht?Schwier: Als Wissenschaftsminister waich binnen anderthalb Jahren injederHochschule.Aber auf den Gedankenjede Schule zubesuchen, kann man aKultusminister nichtkommen. Essindin Nordrhein-Westfalen7000, und einSchulbesuch von weniger alsdrei Stun-den macht keinen Sinn.Eine Stunde erzählte man mir was, eineStundezeigteman mir was, eineStunde redeten wimiteinander.SPIEGEL: Kannten Sie denSchulalltagvorwiegend aus denBerichten, die übeIhren Schreibtisch gingen?Schwier: Aus denen hätte ich ein völligfalsches Bildgewonnen. WennBerichteso weit nachobengelangen, handelt esich meist um besonders komplizierFälle, alles anderewird ja vor Ort, imRegierungsbezirkoder in denmittlerenEtagen desMinisteriums erledigt.SPIEGEL: Also ist Ihnen derSchulalltagfremd gewesen?Schwier: Was ich darüber wußte, habich von meiner Tochter – einer Lehrer– und von meinenfünf Enkeln erfahrenSPIEGEL: Was ist in IhrerAmtszeit nichtgut odersogar schlecht gelaufen?Überden Schwier-Planwurde 1984/85 vieldiskutiert. Ihr Vorschlagwar, alle Leh-

* Mit Redakteur Werner Harenberg.

Lehrer und Schulratwar Hans Schwier, bevor er 1970 inden Landtag von Nordrhein-Westfalengewählt wurde. 1980 ernannte ihn Jo-hannes Rau zum Wissenschafts-,1983 zum Kultusminister. Bei derLandtagswahl am 14. Mai kandidierteer nicht mehr. Schwier, 69, hat zweiNachfolgerinnen: Gabriele Behler, 44,

als Ministerin für Schule und Weiter-bildung, und Ilse Brusis, 58, als Mini-sterin für Kultur und Sport (sowie fürStadtentwicklung).Schwier war länger im Amt als 159der 160 deutschen Kultus- und Wis-senschaftsminister, die es seitKriegsende gab; lediglich Hans Maierin Bayern amtierte einige Monate län-ger.

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Gesamtschule (in Wuppertal): „Für manche ist das Mittagessen ein Motiv“

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rer sollten auf vierProzentihresEinkom-mens verzichten und eineStundewenigerarbeiten, um aus dem Eingesparten nStellen zu finanzieren.Viel ist dabeinichtherausgekommen.Schwier: Jedenfalls weit weniger, als icgedachthatte. Esbrachte immerhin2000Stellen,aber es hättendreimalmehrseinsollen. Der Plan war in der Bevölkerunpopulär,abernicht bei denLehrern undschon gar nicht bei denLehrerfunktionä-ren. Mir schwebte ein Solidaritätsopfvor, und dafür war offenbar dieZeit nochnicht reif.Ich wage diePrognose für dieZeit nach2000: Eswerden dannsehrviele Lehrernicht nur auf 4,sondern auf 40 oder 5Prozent ihres Einkommensverzichten,das heißt nur noch Teilzeitarbeit leisteSPIEGEL: Schwier-Plan und Teilzeitarbeit sind nicht das gleiche.Schwier: Sie haben aber im Ursprung dgleicheIdee. FürweitmehrTeilzeitarbeitder Lehrersprichtheutefast alles. In dejüngeren Generationscheint ganzallge-mein Freizeit höhergeschätzt zuwerdenals Einkommen. Esgibt mehrLehrerin-nen als früher, siebrauchen Zeit fürihreFamilien.Und, waskeiner zusagen wagtMan könnte aus demBeruf wesentlichmehr machen,wenn man weniger Stunden arbeiten würde. Insofern ist die-ser Trend zurTeilzeitarbeit auch füden Staat von Vorteil, erbekommtbes-sere Leistung fürseinGeld.

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1994Gesamtschule1983

ohne Sonderschulen

Gesamtschule

Hauptschule schrumpftIn Nordrhein-Westfalen besuchten von je 100 Schülernder Sekundarstufe I (Klassen 5 bis 10):

Hauptschule41

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Realschule

Gymnasium

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Hauptschule

Realschule

Gymnasium27

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SPIEGEL: Der Anteilder Gesamtschülestieg in Ihrer Amtszeitals Kultusminister von4 auf 15 Prozent in deKlassen 5 bis 10. VomZiel, es solle die Ge-samtschule flächendekkend odersogar als einzige Schulform geben,sind Sie amEndefast soweitentfernt wie zu Beginn.Schwier: Das war niemein Ziel. Esließesichnur durch Gesetz,viel-leicht sogar nurdurchVerfassungsänderung

erreichen. Wir lassendie Eltern vor Ortent-scheiden.

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SPIEGEL: Sind Eltern immer für die Ge-samtschule,oder sind sie oft nur für dieGanztagsschule mit Mittagessen uBetreuung am Nachmittag? Das eigibt es nichtohne das andere, vonAus-nahmenabgesehen*.

* Ganztagsschulen sind in Nordrhein-Westfalenfast alle Gesamtschulen (179 von 181), aber nur23 von 511 Gymnasien, 21 von 474 Realschulenund 152 von 805 Hauptschulen. Seit dem Schul-jahr 1993/94 gibt es neue Ganztagsschulen nurnoch als Gesamtschulen, weil das Land dazudurch Gesetz verpflichtet ist. Bis dahin wurdenauch entsprechende Anträge anderer Schulen ge-nehmigt, seither aus Geldmangel nicht mehr.

Schwier: Das kann mannicht trennen,wie überhaupt dieMotive sich mischen.Wichtig ist auch derSchulweg. Ich waselbstFahrschüler im Westfälischen undweiß, was esbedeutet,lange unterwegzu sein.Einer meiner Beamten hat mausgerechnet, daß ein Schüler vomfla-chenLand imLaufe seinerSchulzeit einJahr lang zwischen Elternhaus undSchule unterwegs ist,rechnet man dieZeit zusammen.

SPIEGEL: Auch in 10 oder 15 Jahrewird es die heutigen Schulformen nebeneinander geben:relativ wenige Ge-samtschulenneben vielen GymnasiendazuHaupt- undRealschulen?Schwier: Davongehe ich aus,wobeisichdie Anteile verschieben können. DieHauptschule ist in ihrerExistenz gefährdet, weil zu vieleEltern ihre Kinder lie-ber auf die Realschuleoder aufs Gym-nasium schicken. Um dem entgegenwirken, habe ich die Hauptschulebes-sergestellt als dieanderenSchulen, dieKlassen sind erheblichkleiner.

SPIEGEL: Wird sich derAnteil der Ge-samtschulen ändern?Schwier: Wenn Eltern dieVorteile fürihre Kinder wahrnehmenwollen, dieGesamtschulen objektivhaben, wirdsich ihr Anteil erhöhen. Ob es sokommt, weiß heute niemand.Aber ichsage etwas ganzanderes voraus. DiesDebatte umSchulformen wird schon iwenigenJahrenaufhören, ohne daß irgend jemand esbedauernwird, voneini-gen Ideologen abgesehen.SPIEGEL: Warum?Schwier: Es wird nicht mehr um For-men,sondern um Inhalte gehen. Es wund ist doch das Problem der Gesamschule, daß sie inhaltlich nicht wesenlich vom Gymnasium abweichendurfte,wollte sie anerkannt werden, abersichtrotzdem als die bessereSchule erweisewollte.Künftig werden sich die Schulen auganzandereWeise undviel stärker von-einander unterscheiden als bisher, egwelches Schild an der Tür hängt: darin,wie sie ihren Auftrag verstehen, wie smit den Kindern umgehen,welcheSchwerpunkte sie setzen – in Sprachin anderen Fächern,hinsichtlich regio-naleroder lokaler Besonderheiten.SPIEGEL: Mit „Kollegschulen“ wollteNordrhein-Westfalen mal bundesweFurore machen, nunsind sie ein auslaufendes Modell geworden. Sie werdwieder das, was sie mal waren:Berufs-schulen.Schwier: Es ist noch nichtentschiedenob die Kollegschulen wieder Berufschulenwerden oder ob diederzeitigenBerufsschulen Kollegschulenwerden.SPIEGEL: Da geht es nur noch ums Etkett. Die Kollegschule sollte, das wader kühnsteTraum, die Oberstufe deGymnasiums mit der Berufsschule zuner ganzneuenSchulevereinen und denSchülern die Chance bieten, einen Be

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„Unter Lehrern gibtes falsche und

ärgerliche Solidarität“

Frauen: Minderheitnur an GymnasienAnteil der Lehrerinnen an den Schulenin Nordrhein-Westfalen 1994

Haupt-schule

Real-schule

Gymna-sium

50%

Gesamt-schule

62%

40%52%

ohne Sonder- und Kollegschulen

84%

Grund-schule

zu erlernen undzugleich dasAbitur zumachen.Schwier: Wir hatten unszuviel vorge-nommen, als wirglaubten, an denKolleg-schulenneben dem Abitur odereinemanderen Schulabschluß zugleicheinekomplette Berufsausbildungbieten zukönnen.Doch die Idee, dieallgemeine und die berufliche Bildung zuverbinden, ist daminicht gestorben. Im Gegenteil, siewirddie Bildungspolitik der nächstenJahreweithinbestimmen. Auch dieGymnasienwerden viel mehr berufliche Elementebekommen.SPIEGEL: Welche zum Beispiel?Schwier: Nur Stichworte: Informatik,Betriebspraktika und Inhalte desFachsArbeitslehre, das es nur an Haupt- uGesamtschulen gibt.SPIEGEL: An großen Themen hat es in Irer Amtszeit gefehlt, nicht nur inNord-rhein-Westfalen. MancheReformwurdeund wird sogar zurückgedreht.Schwier: Wer wollte leugnen, daß wir ineiner Phase derReformmüdigkeit, derErnüchterung sind? Verflogen ist dieIllu-sion der 68er und vieleranderer, in undmit den Schulen könne man die gesamGesellschaft verändern. Einige Refor-men sind verwirklicht,anderescheiternan den leeren Kassen.Aber esgibtkeinenStillstand. Schule, diesich nicht verän-dert, isteineschlechte Schule. Nur ist deBegriff „Reform“ inflationär geworden.SPIEGEL: Ist es zu einseitig, Erfolg unMißerfolg nur daran zumessen, ob eiMinister etwasNeues durchgesetzthat?Schwier: Wennjeden Tag ordentlich unkinderfreundlich Schulegehalten wird,so ist das eine große Leistung.SPIEGEL: Herr Schwier, mit denLehrernhaben Siesich oft angelegt . . .Schwier: Mit Lehrernselten, mit Lehrerfunktionären häufig. Auf diesenUnter-

Anti-Schwier-Demonstration (1992 in Dü

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schied lege ichgroßenWert. Lehrerver-bände sindInteressenverbände, das isvöllig in Ordnung.Aber siehabenimmerso getan, als verträten sie die Interesder Kinder und der Eltern und derSchuleund der Bildung und undund. Mit dieserpädagogischenSoßehaben siealles über-gossen. Dafür fehlte mir das VerständnDaß sie außerdemgeglaubthaben, ichwürde diesen falschen Schein fürechthal-ten, hatmich intellektuell beleidigt.SPIEGEL: Manchmal wurden Sie als Gener der Lehrerhingestellt. Als was verstanden Siesich?Schwier: Als ihr Lobbyist.SPIEGEL: Wirklich?Schwier: Als was dennsonst?Wenn esden Schulengutgeht, geht es auch deLehrern gut. Für derenArbeitsbedingungen war ich zuständig, also war ich sogavon Amtswegen ihr Lobbyist.SPIEGEL: So gesehensind alle ChefsLob-byisten. Siehaben oft mit lehrerkriti-schen Äußerungen Schlagzeilen gemacht. Als Lehrer beieinem Konflikt an-

sseldorf): „Aus der Hüfte geschossen“

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kündigten, sie würden „Dienst nachVorschrift“ machen, haben Siegesagt:„Das wäre doch was.“Schwier: Na ja, da habe ich mal aus dHüfte geschossen. Wollte ich vergeltewas Lehrerfunktionäre Böses undFal-sches über mich gesagthaben, hätte ichnoch lange zutun.SPIEGEL: Sie waren dagegen, daß Lerer sich mitBergleutenverglichen.Schwier: Dagegen bin ich auchheutenoch. Erstens werden siebesser bezahlZweitens arbeiten sieseltenunter TageDrittens können sie übereinenTeil ih-rer Arbeitszeitfrei verfügen, an heißeTagen nachmittagsschwimmen gehenund sicherst abendsodernachts auf denUnterricht vorbereiten.SPIEGEL: Sie habenihnen die langenFerienmißgönnt?Schwier: Jetzt machen Sie denselbFehler wieeinige Lehrer. Ferien habendie Schüler, die Lehrer habenUrlaub,und die Feriensind länger als der Ur-laub. Die ganze Aufregung gab esnur,weil ich gesagthatte: Ein Lehrer, deam ersten Ferientag mit demCamping-

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wagen abreist und am letzten Ferienzurückkehrt, hat diesen Unterschienicht begriffen. Ichhabenicht mal hinzu-gefügt: Er hat überdies einefalscheAuf-fassung vonseinemBeruf.In der Praxisging es lediglichdarum, daßich per Erlaß angeordnet hatte,alleLeh-rer müßten in derletzten Ferienwoche füihreSchuleerreichbar sein. Das war machen schonzuviel.SPIEGEL: Lehrersind zu schwer zu versezen, haben Sie bemängelt.Schwier: Einige jedenfalls. ZumBeam-ten gehört, daß er sichversetzen lassemuß, wenn der Staat es für notwendhält. AberdieselbenLehrer, dieihre Be-amtenprivilegiengenießen, wehrensichgegenVersetzungen.Da ist sogar Lug und Trug im Spiel. Füdie Schulkinder macht eskeinen Unter-schied, ob eineLehrerin dieSchule ver-läßt, weil sieihremMann aneinen anderen Ort folgenwill, oder ob sie gegen ihren Willen versetztwerdensoll. ImerstenFall habe ich nie, imzweiten Fall oft er-lebt, daß die altenSchulen eine „dringli-che Notlage“ geltendmachten, um dieVersetzung zu verhindern. Und Elterproteste gab es auch nur imFall zwei.SPIEGEL: Vielen Lehrerngehe es immenur um ihre Arbeitsbedingungen, wmal Ihr Vorwurf.Schwier: Der Lehrerberuf ist mehr als eJob, bei dem man dieStunden zählt wiejemand, der an einer LadenkassesitztoderBabyssittet. Dessensindsich weit-

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Schwier, Nachfolgerin Behler: „Minister sein kann zur Sucht werden“

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aus die meisten,aber ebennicht alleLehrer bewußt. Siesollenmeinetwegendarauf achten, daß sie keine Stundeviel unterrichten, aber vorallem sollensie sichstetsbewußt sein, daß sie einewunderschönen Berufhaben.SPIEGEL: Gibt esfaule Lehrer?Schwier: Natürlich. Wie injedem anderen Berufgibt esauch bei denLehrerngute und schlechte, undmancher Lehreist ebendeshalbschlecht,weil er faul ist.SPIEGEL: Wie viele sind es, was schätzenSie?Schwier: Ich will mal rechnen, nichtschätzen. In Nordrhein-Westfalengibtes 160 000 Lehrer. Wenn 99Prozent„sehr gut“ bis „ausreichend“ und 1 Prozent „mangelhaft“oder „ungenügend

„Ist das noch der Lehrerstreik oder schschlaf, Wolfgang?“

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arbeiten würden, so wäre esphantastischAber das wärenimmerhin1600schlechteLehrer.Ich kann mirdurchaus vorstellen, daß 1Prozentschlechtarbeiten,also 16 000Das wäre auch noch eineQuote, mit derman einigermaßen zufriedensein könn-te. Da wir 7000Schulenhaben, wären daan jederSchule im Schnitt 2.SPIEGEL: Warum fühlensich so vieleLeh-rer betroffen, wenn von faulenLehrerndie Redeist?Schwier: Sicherdeshalb,weil es einnochimmer weitverbreitetes Vorurteil ist,alleLehrer seien faul. Es ist offenbar nichauszurotten,weil viele naiveLeutemei-nen, der Lehrer habefast nichts zutun,wenn er nichtgerade in derSchule ist. Ge

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gen solcheVorurteilehabe ichmeinegan-ze Amtszeit über gekämpft, ichhoffe miteinigemErfolg.Allerdings gibt es falschund deshalb ärgerliche SolidaritätunterLehrern. Würden dieChirurgen, diePfarrer, die Ingenieure aufheulen, wejemand behauptete,einige arbeitetenschlecht?Doch wohl nicht.SPIEGEL: Vielleicht fehlt esLehrern anSelbstbewußtsein?Schwier: Das könntesein. Ihr Beruf istnicht mehr soangesehen wie vor 15, 2Jahren. Bis1981warenLehrer knapp, dahaben wir inNordrhein-Westfalen jedeeingestellt. Nun ist es schon langeanders,und in der Marktwirtschaftgilt wohl nurals wertvoll, wasknappist.Von ihrer finanziellen Situation her haben die Lehrer keinenGrund,unzufrie-den zu sein. Nach dem Kriegesind ihreEinkommen sogestiegen, daß sieheuteim Vergleich mitihren Berufskollegen inder Welt an derSpitze liegen, und in deBundesrepublik brauchen sie den Vegleich mitanderen Akademikern im ÖfentlichenDienstnichtmehr zuscheuenSPIEGEL: Sind dieLehrerkonservativerals sie selbstglauben? Dashaben Sie mabehauptet.Schwier: Zumindest was ihren eigeneBeruf betrifft. Als Schülern hat ihnen didamalige Schule so gut gefallen, daßsichvorstellenkonnten, ihr Leben indie-ser Institution zu verbringen, nurebenauf der anderenSeite desKatheders. Eswird niemand Lehrer aus Protest gegdie Schule, später magsich dieEinstel-lung deseinenoder anderen ändern.So konservativ ist auch die Einstellunder Eltern,wenn auch aus etwasanderemGrund: Eltern möchten immerbegrei-fen, was ihre Kinder in derSchuletun.Deshalbsollen Schulen möglichst sosein,wie die Eltern sie ausihrer eigenen Jugendkennen. NurwenigeEltern könnensich aussolchen Vorstellungenbefreien.SPIEGEL: Sie waren Schulrat,Ihre Nach-folgerin warOberstudiendirektorin. Gehört an die Spitze eines Kultus-oderSchulministeriums möglichst immer einLehrer odereine Lehrerin?Schwier: Die Meinung, Justizministermüsse immer ein Jurist sein, ist in dBundesrepublik einDogma, aber sie isfalsch: weil dasganze Ministerium volleJuristen sitzt. Daß an derSpitze einesKultus- oder Schulministeriums eineLehrerin oder ein Lehrer stehenmuß, istsogar nachweislich falsch,weil es guteKultusminister gab und gibt, die nichLehrer waren.Vielleicht ist es sogar besser, wenn sie einenanderenBerufhatten.SPIEGEL: Warum?Schwier: Danngeraten sienicht inGefahrzu glauben,alles auseigener Erfahrungbeurteilen zu können,obwohl die so lan-ge zurückliegt, daß sie für dieGegenwartnicht mehr relevant ist.SPIEGEL: Herr Schwier, wirdanken Ih-nen für diesesGespräch. Y

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Schmied, nicht SchmiedlGisela Friedrichsen über den Zwick-Prozeß und die Gedächtnislücken bayerischer Minister

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ngeklagt ist der Sohn des alteZwick, Johannes, 39, einunauf-Adringlicher Mensch, Dr.med., er-

folgreicherGeschäftsmann, verheirateVater von drei Kindern. Aber um ihndreht essich eigentlich nur amRande.

Hauptbeteiligter in diesem Prozeß vder GroßenStrafkammer des LandgerichtsLandshut alsWirtschaftsstrafkammer ist der ganznormale, braveSteuer-zahler, der abgemahnt und mit Gebüren beschwert wird, wenn er eine Froder gar einen Zahlungsterminver-

Verteidiger Kohlmann, Angeklagter Zwick: Mittäter seines Vaters?

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säumt. Der sein Leben lang Rechen-schaftablegen muß über jeden Pfennden er für die Familie, für dieKinder,fürs Alter erarbeitet. Ersitzt fassungslos im Saal und überall imLand undmag nichtglauben, was er hört.

In der vergangenen Woche standdrei Finanzminister des LandesBay-ern, zwei ehemalige und der amtierede, als Zeugen vor Gericht, in derAmtszeit der Steuerschlamassel desten Zwick immer abstrusereFormenannahm. Was derStreibl gewußthat?Ob er seineZustimmung gegebenhat?Um Gotteswillen, nix, gar nix. „Da ismir überhaupts nix in Erinnerung“, beteuert er, „ich war bei Freunden voStrauß eh besondersvorsichtig – gelin-de gesagt. Ich hab’ immerg’sagt, laßt’smich mit demZeug inRuh, laßt’s michin Ruh.“

54 DER SPIEGEL 31/1995

Der Gerold Tandler, dersein Nachfol-ger wurde, „als das mit dem Straußpas-sierte“, wollte natürlich nochviel wenigerdamit zu tunhaben. „Also ich bin mit denVerhandlungen nie befaßt gewesen.“weißnochviel, viel weniger als Streibl, eigentlich weiß er nicht einmal dasDatumseines Rücktritts als Finanzminister („dEnde desKabinettsStreibl muß dasg’we-sen sein“). SeinVerhältnis zum VaterZwick ist ein besonderes.

Man muß das verstehen: Ausgerechbeim größtenSteuerschuldner des Fre

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staats stand dieser Finanzminister inKreide, ganz privat. Zwick sen. liehTandler erst 200 000Mark, damit derdas Hotel „ZurPost“ in Altötting kau-fen konnte; später steckte er ihm500 000 Mark zu „für eine Sonderabschreibung imRahmen desDenkmal-schutzes“, die1982 wieder „zurückge-führt“ wordensein sollen.

Unterlagen darübergibt es offenbarnicht, jedenfalls weißTandler nicht, ober sie findet.Auch denZinssatz, den gewiß milden,weiß ernicht.

„An wen haben Sie zurückgezahlt?“fragt der VorsitzendeRichter. „AnZwick wahrscheinlich.“ „Wann, wo, wiehaben Siegezahlt?“ „Weiß ich nichmehr.“ „Per Banküberweisung?„Möglich.“ „An wen haben Siebezahlt,an die Hypobank in Landshut oderHerrn Zwick in der Schweiz? DerVater

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von HerrnZwick jun. hatte jabestimm-te Gewohnheiten, derfuhr durchaus mizwei Millionen in der Plastiktüterum.“„Das kann ichnicht sagen.“ „Merkwür-dig“, schließt derRichter den Dialog„ein mündlich vereinbartesDarlehen,keine Unterlagen über die Rückzah-lung, Siewissen nichtsmehr . . . 500 000Mark zahlt man privat doch nichtjedenTag.“ „Richtig“, antwortet der ZeugTandler mit angestrengtfester Stimme.

Der jetzigeFinanzministerGeorg vonWaldenfelsbefaßtesich mit derSteuer-

rsache Zwickerst, „als es die ersten Veöffentlichungen im Fernsehen und iden Tageszeitungen unddann in derübrigen Presse gab“.Vorher sei ernichtbefaßt gewesen. Zu den Verhandlungkann ernichtssagen. DieZwicks kennter gar nicht. Aber er hat einen Ein-druck, eine Meinung, von der er „selbst-verständlich ausgeht“: daßVater undSohn bis zuletzt gemeinsamSteuernhin-terzogenhaben und –wenn man des Alten schon nichthabhaft wird,weil dersich 1982 mit seinen Millionen in dieSchweiz absetzte – mansich halt amSohnwird schadloshalten müssen.

So wurde JohannesZwick am 11. Ja-nuar vorigen Jahres festgenommen unbis 13. Mai 1994 inUntersuchungshagehalten, aus der er erstgegenZahlungvon 40 Millionen Mark Kaution unterAuflagen entlassenwurde. Die Staats-

70 952 969,37 Markin Worten: siebzig Millionen neunhun-

dertzweiundfünfzigtausendneunhun-dertneunundsechzig Mark und sieben-unddreißig Pfennig Steuerschulden wa-ren seit den siebziger Jahren bis 1990zusammengekommen. Der Schuldner,das Ehepaar Dres. Zwick sen., längstunerreichbar in der Schweiz. Da schlugdie Finanzverwaltung Bayerns gegen8,3 Millionen Peanuts die Riesensum-me nieder – ein Todesstoß des Staatesgegen die Moral jedes braven Steuer-bürgers. Als die Sache 1993 ruchbarwurde, fiel man, wie üblich, aus allenWolken. Und griff schneidig nach demSohn des Strauß-Amigos. Doch die Sa-che hat sich vielleicht erledigt – durchVerjährung.

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Vorsitzender Richter Dobler„Keine Unterlagen über die Rückzahlung?“

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anwaltschaft formulierte gegen ihn wgen „Steuerhinterziehung inForm derBeitreibungshinterziehung in Tateinhemit einem Vergehen des Betrugs,weils in einem besonders schwerenFall“eine 86 Seiten umfassende Anklagschrift. Mitangeklagt sind der MünchnRechtsanwalt und SteuerberaterEngel-bert Quack und dasehemalige Vor-standsmitglied des Bad FüssingerJohan-nesbad-Unternehmens, Lorenz Hirsc

Der kleine Angestellte, demallmo-natlich gefräßigeMinusposten auf demGehaltszettel, ob er eswill oder nicht,die Barschaft schmälern, gerät daschonins Grübeln, wenn es in der Anklagschrift heißt: „Die Eheleute Dres.Zwick Angelika undEduard haben zurückreichend bis in diesiebzigerJahrefast keine Einkommen- undVermögen-steuern entrichtet.“ Derkleine Ange-stellte muß seinepaar Kreuzerherge-ben, er kann garnicht anders, und übedie Höhe der Abgaben läßtsich auchnicht verhandeln.

Der alte Zwick, ein König Midas audem Banat, demalles zuGold wird, waser anfaßt, hat das Steuerzahleneinfachgehaßt. In densechzigerJahrenfand erim heutigen Bad Füssing bei PassauThermalwasser und errichtete eiBrunnenanlage, dann einKurmittelhausund ein Klinikum. Bald gehörte er zuEntourage vonFranzJosefStrauß,ein-mal, weil sich da zweigefundenhatten,zum anderen,weil Zwick sen., wennNot am Spezlwar, immer gehörig waspringen ließ. Nur mit dem Steuerzahlhatte er esnicht.

Die Finanzbeamten in Niederbayemußtensich von demlaunischen, unberechenbaren Mannbeschimpfen lassender drohte, „demStrauß“ zu erzählenwie man ihn auf den „Bauernfinanzäm

Amigos Strauß, Zwick sen.: Gedroht, von „Bauernfinanzämtern“ zu erzählen

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tern“ behandele. 55Rechtsbehelfe Zwicks gegenSteuerbescheide zählt die Statistik, un38 vergebliche Vollstreckungsversuche. Er hat getobt unsichbeschwert,selbstwenn dieSteuerforderung Null war.„Man hat sichhalt angesichtsder vielen Prozesse beschränauf das, wastodsicher war,vorsichtshalber,weil man jadamit rechnenmußte, irgend-wo einen Fehler gemacht zhaben. Außerdem war dasSache des MinisteriumsMünchendroben, mir ham danix zum Schnabeln g’habt“, einnert sich einBeamter.

„Also man ging gleich zumSchmied, nicht zum Schmiedzitiert der Richter einenbaye-rischenSpruch. Ja, sicher.

Als Zwick sen. mit Frau undAktienpaket 1982 in dieSchweizverschwand,betrugenlaut Staatsanwaltschaft d

aufgelaufenen Steuern samtSäumnis-und Verspätungszuschlägen bereits32 589 318 Mark, die in derFolge auf70 952 969,37Mark wuchsen – auchdes-halb,weil Zwick sen.lieber jedemx-be-liebigen AbschreibungshaiGeld in denRachenwarf als dem Fiskus, in derfal-schen Hoffnung, mögliche Verlustesteuerlich geltendmachen zu können.Der heutepensionierte ehemalige Vosteher des Finanzamts Passau, Dr.

dolf Jäger, hatsichsein ganzeBerufslebenlang mit dem FalZwick herumgeärgert,„fast 30Jahre, nur miteiner einzigenUnterbrechung, als ich fürvierJahre inEggenfelden war“.

Es war halt der Dunstkreium Strauß, in dem soetwasmöglich war. Scheußliche Geschichtenwerden erzählt, wiees zuging bei denBordellbesu-chen und Saufereien und wnoch dazugehört. Und wie dealte Zwick seineFrau behandelt habensoll. Wie kein Rockin ganz Niederbayern vor ihmsicher war. Wie es fast nieWeihnachten gab bei deZwicks, wenn eralles wiederkurz und kleinschlug,weil ernicht in den Puffkonnte. Da-gegennimmt sich die „Nieder-schlagung“ der schwindelerregenden Steuerschuld imJahr1990,auch wenn über ihre tasächliche Höhe gewiß zu streten ist, nur noch wie einStein-chen einesriesigenHorrormo-saiksaus.

8,3 Millionen Mark schließ-lich hat Zwick sen. „ohneeineRechtspflicht“, wie er demSPIEGEL gegenüber sagt

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(14/1994), am 29.November1990 flu-chend und tobend nach jahrelangemStreit gezahlt.Nun, sodachte er, könnter wieder nach Deutschland zurück usein Imperium weiter ausbauen. Docdaraus wurdenichts.

Die für seinenVater nachweislich bisDezember 1988 von JohannesZwickausgehandelte Niederschlagungsverfügung entstand unter anderem unter dVoraussetzung, daß das vorhande

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Vermögen wahrheitsgemäß angegebwird. Auch das berührt den braven Büger und Steuerzahler nun merkwürdig:daß die Behörden den Deal mitZwickjun. eingingen, obwohl sie genauwuß-ten, daß dervorgelegteVermögensstatus nichtstimmte.Oder gingen sieetwanur darauf ein,weil sie das wußten?

„Sie habenalso einNetz ausgelegt, idas JohannesZwick hineinlaufen soll-te?“ fragt der VorsitzendeRichter einenZeugen aus demFinanzministerium ungläubig. „Ja“,sagtder, „wir wollten we-nigstenseine Tür offenhaben,wenn wirschondauerndhereingelegtwerden.“

Auch derMinisterialdirigent Dr.KurtMiehler gab vor dem Zwick-Untersuchungsausschuß zu, daß die kalkulieHinnahme desunrichtigenVermögens-status als Geschäftsgrundlage der Voll

Zeuge Tandler: Beim größten Steuerschuldner Bayerns in der Kreide

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streckungsverständigung als „Angelhken“ oder „Fußangel“ für Zwick jun.dienen sollte. Sohatte man 8,3Millio-nen in der Tasche – und einen mögli-chen Haftungsschuldner im Visier.

Der Vorgänger Miehlers, derMiniste-rialdirigent Gustav Hübner, freute sich:„Menschenskind, ichkann Ihnengratu-lieren, daß Sie einem nacktenMann imInland, derzwar einen Anzug im Ausland hat, 8,3Millionen Mark herausgezogenhaben.“ DieVerhandlungsparteien warensich durchausebenbürtig.

Die Version der Staatsanwaltschaber unterstellt, daßVater und SohnZwick (dennnach Ansicht der Anklaghätten dieFinanzbehörden beiKenntnisdes wahren Vermögens nie undnimmereine Niederschlagungsverfügung erlasen) einen Schaden von 62 652969,37Mark angerichtethaben. „DemAnge-schuldigten Dr. ZwickJohannes kam edarauf an, diesen Betragsich undseinen

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Eltern zu erhalten.“ Da staunt derbraveBürger und Steuerzahler wieder,weildas alles überhaupt nicht zueinanderpaßt.

In dieser Wochewird die Mutter vonJohannes Zwick, gebürtig aus einemstrengen oberpfälzischenElternhaus, alsZeugin nach Landshutkommen. Siewird die Verschwörungstheorie deStaatsanwaltschaft wohlkaum bestäti-gen können. Vater undSohn einHerzund eine Seele, wenn es ums Geschging? Mutter und Sohn, ja, die hängenaufs herzlichsteaneinander. Wenn deSohn tätig wurde,sagt er,dann immernur für die Mutter.

Ob Angelika Zwick, Frau einer Ge-neration, für die esnicht selbstverständlich ist, über dasThema Gewalt in deEhe öffentlich zureden, Einblick ge-

währen wird in eine Hölle, in der deSohn schon alsHalbwüchsiger versuchte, die Mutter vor dem prügelnden Va-ter zu schützen?

Die Tochter Luitgardsagt: „Was un-sere Mutter ausgehaltenhat, ist unbe-schreiblich. Die Frau hat nur AngstEr hat ihr jeden Pfennig weggenommen. Ich bin mit 20 auf unddavon, ichhab’s nichtmehr ausgehalten.“ Aufzubegehren gegen den Mann hat dieMutter nur gewagt, wenn es um diKinder ging.

Angelika Zwick hat sich, und dasgehört zu der anderen, derVersionZwick jun., 1987 widersetzt, als deAlte das Unternehmen an dieParacel-sus-Gruppe verkaufenwollte; sie woll-te, daß der Sohn esbekommt. Unddas klappte auch.Denn mit Hilfe desMitangeklagten Hirsch fanden damamehr oder minder dubiose, heutekaum noch durchschaubare Transakt

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nen über Luxemburg statt, dieletztlichJohannesZwick und seiner Familie degesamten Aktienbesitz sicherten.

Als er offensichtlich die Sache begrifen hatte,verfaßte Zwicksen.1991 ge-gen Lorenz Hirsch eine AnzeigewegenUntreue undBetruges. DemMinisteri-alrat im Finanzministerium WinfriedSchauer klagte er: Der Sohnhabe ihmsein Vermögenabgeluchst, erhabe esveruntreut, jaunterschlagen. Der damlige Anwalt Eduard Zwicks, WolfgangWannemacher, berichtete imMinisteri-um, der Altewolle jetzt seinGeld lieberdem Fiskusgeben als dem Sohn.

Der Vorsitzende Richter derLands-huter Strafkammer GottfriedDobler,54, und seine Mitrichterhaben mit ih-rem sanftenHumor und ihrer unver-krampften Bodenständigkeit inzwischendie Sympathien des Publikumsgewon-nen.Manchmal kämpftDoblernoch mitdem Namen –Zwick, Flick, Zwickmüh-le, der Fall ist wirklich verzwickt.

Vor allemsteht dieser Vorsitzende füdie millionenfach Beteiligten, diebra-ven Bürger und Steuerzahler. Ersprichtaus, worübersich nicht nur der bayerische Mensch wundert. Den ZeugeTandler belehrt er extra überseinePflicht zur Wahrheit: „WennSie’s bittebei Ihrer Aussage beachten – dieFrei-heitsstrafebeträgt ein Jahr.“

Akribisch, sachlich und gelassenwid-met sich dasGericht seit Wochen demThemaeiner möglichenVerjährung, dasdie Verteidigung Zwicks zu Beginn deProzesses zumVerdruß der Staatsanwaltschaft aufgeworfenhat. Was?Auchnochverjährt? fragt sich der Bürger fas-sungslos.

Der Kölner Strafrechtler ProfessGünter Kohlmann, der zumBeispielauch die Vorwürfe gegenWalther Leis-ler Kiep auf dem Weg der Verjährunerledigthat, ist einSpezialist. DieHek-tik der Staatsanwaltschaft, die nun Aten herbeischafft undAnträge zum Be-weis des Gegenteils stellt, beunruhigihn nicht.

War Zwick jun. Mittäter seines Va-ters –dann ist die Sachenicht verjährt.War er, wenn er esdenn war,Alleintä-ter? Dann muß ihmnachgewiesen werden, daß ernach dem 23.Dezember1988nochmals in der Steuersache seiEltern tätig war (derHaftbefehl wurdeerst am 30.Dezember1993 ausgestelltsieben Tage nach der möglicherweiseschon abgelaufenen Verjährungsfrist).Bisher hatsich kein Zeuge anderartigeAktivitäten des Angeklagtenerinnert.

Mit den Binsenweisheiten, daßGeldallein nicht glücklich macht und allesseinen Preishat, wird der einfache Bürger allzuoft getröstet. In Landshut efährt er, wie hoch der Preisfürs vieleGeld seinkann –etwa wenn erwachsenKinder soviel Erbärmliches von ihremVater sagen müssen. Y

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Flughafen Berlin-Schönefeld: Höchstes Stadium sozialistischer Unterentwicklung D. GUST / ZENIT

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Dicke Luft über den ZentrenInternationaler Luftverkehr auf den zehn größten Flughäfen Europas 1994(Flugbewegungen in Tausend)

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Paris-Charlesde Gaulle

Kopenhagen

Frankfurt

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AmsterdamLondon-Gatwick

zum Vergleich:Berliner Flughäfen 67,5

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Streit umden Himmel15 Milliarden Mark soll ein Groß-flughafen für Berlin auf der grünenWiese kosten. Kritiker halten ihn fürüberflüssig.

unther Wegge, Staatssekretär iBrandenburger Ministerium fürG Landwirtschaft undForsten,reiste

in wichtiger Mission in die märkischenWälder.Dort drohten „Angehörige desÖffentlichenDienstes dasAnsehen dedemokratischen Institutionen unserLandes zubeschädigen“,notierte er imamtlichen Reisebericht. „DieLoyalitätgegenüber demDienstherrn ist unabdingbar“, schärfte er ihnendarum ein.„Dies wurde einwandfreiverstanden.“

Die persönliche Abmahnung durchHerrn Staatssekretär traf Radikale dbesonderenArt: Mitarbeiter der Forstverwaltung der märkischenHeide süd-lich von Berlin. Sie hatten gewagt, an„öffentlichkeitswirksamen Aktionen“gegen einProjekt teilzunehmen, das dPotsdamer Regierung sakrosankt isden Bau eines Großflughafens imBran-denburger Forst.

So geht es zu, wenn Politiker aus Belin und Brandenburg um Deutschlangrößtes und teuerstes Verkehrsprojringen. Kritiker werden kaltgestellt,Zahlennach Bedarfgeschönt und politischeGegner unter Druckgesetzt.

Der Plan, der deutschenHauptstadtein „Luftkreuz Ost“ zu bescheren, stöauf Kritik nicht nur bei der Bevölkerung, sondern ebenso beimBonnerVer-

kehrsminister und beim Bundesrecnungshof. Längstwarnen Experten auder Luftverkehrsbranche vor einer mölichen Fehlinvestition.

Außer inFrankfurt haltenFlughafen-manager auch in München und Düssel-dorf genügend Kapazitätbereit, um denwachsenden Transkontinentalverkeaufzunehmen.Wollte die Bundesrepublik auch in der Hauptstadtregion eLuftkreuz installieren, würde der Staim Osten mitMilliarden aus Steuergedern gegen seineeigenen,schon finan-zierten Anlagenkonkurrieren.

Bis zu 15 MilliardenMark soll dasehr-geizigeProjekt kosten – ein Geldgeberbisher nichtgefunden. Nachvier JahrewährenderDiskussion, nachDutzendenvon Gipfeltreffen und GeheimbesprchungensowiePlanungskosten von übe30 MillionenMark istnichtsentschieden

Am vergangenen Mittwoch trafsichder Aufsichtsrat der BerlinBrandenburg

Flughafen Holding (BBF), in der Brandenburg,Berlin und derBund zusam-mengeschweißt sind, zueiner Krisensit-zung. Die Grundsatzfrage, ob einGroß-flughafen überhaupt benötigt wird,wurde einmal mehr verschoben. Indiesem Gremium „tobt die schmut-zigste Schlammschlacht, die ich je elebt habe“, klagt der ÖTV-Funktio-när und Arbeitnehmervertreter KuLange.

Der große Plan war noch im Wiedevereinigungstaumel gefaßtworden. Fürdie neue Metropolesollte einneuer Me-ga-Airport wie in Frankfurtoder Parisher – mit vier Start- undLandebahnenund Terminals für bis zu 60 MillionePassagiere. Vor allem Ex-LufthansChef HeinzRuhnau,BBF-Aufsichtsratund Berater derWestdeutschen Landebank,puschte die Regionalpolitiker mseinemTraum vom Airport „in der Grö-ßenordnung von Chicago“. Kosten

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Protest gegen Flughafenprojekt*: Kritiker

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spielten keineRolle. Spätestens 1999wolle er voneinemneuenFlugverkehrs-zentrum inalleWelt starten, phantasierder frühere PotsdamerWirtschaftsmini-ster Walter Hirche (FDP).

Zwar hat dievereinigteHauptstadt sogar drei Flughäfen: Tegel und Tempelhin der West-BerlinerInnenstadtsowieden ehemaligenDDR-Flughafen Schönefeld am südöstlichenStadtrand. Als internationale Drehscheibe desLuftver-kehrs eignetsichaberkeine der drei An-lagen.

In Tegel können Boeing-Jumbos numit Mühe abgefertigtwerden, die Kapazität war schon zuMauerzeitenausge-reizt. In Tempelhof, inmitten von Wohngebieten gelegen, könnengroße Jets ganicht landen. Die Schönefelder Abfertgungshallerepräsentiert bisheute dashöchste StadiumsozialistischerUnter-entwicklung.

Nun sollte allesgroß undteuer werdenFür Brandenburgs Landesvater ManfrStolpe (SPD) kam nur einStandort inFrage: die dünn besiedelte Region um dDorf Sperenberg, 45Schienenkilometevon der BerlinerCity entfernt. Rücktendort dieBau- undFluggesellschaften deWelt an, könntegleich auch die leerstehende frühererussischeGarnisonsstadWünsdorf wiederbelebtwerden, dasLand wäre eingroßes Entwicklungsproblem los.

Das Vorhabenergibt jedoch nur einen Sinn, wenn mit der Inbetriebna

Regierungschefs Stolpe, Diepgen: Jeder Trick ist erlaubt

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me alle drei bisherigenFlughäfen geschlossewerden. Dagegen erhosich sogleichWiderstandin der (West-)BerlineCDU, die ihren Wählernden bequemenStadtan-schluß sowie denWirt-schaftsfaktor Flugverkeherhaltenwill. Gleichwohlsehnte auch BerlinsRegierender Bürgermei-ster Eberhard Diepgen(CDU) hauptstädtischeGröße herbei, ein Großflughafenmußtesein.

Die Berliner CDUmachtesichdeshalb dafüstark, den Ausbau voSchönefeld voranzutreben. Der bestechendVorteil: Der alte Ost-

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Flughafen läßtsich nach und nach, jnach Bedarf,vergrößern.Niemand mußsich auf einMega-Projekt festlegen.

Doch die Ungeduld bei den inBran-denburgallein und in Berlin mitregierendenSozialdemokraten istallzu groß.Die Berliner SPD ist zudemschon langebedrängt vonfluglärmgeschädigten Bürgern der betroffenen Stadtbezirke, dnen der Plan eines Flughafensweit wegvon Berliner Wohngebieten verlockenerscheint.

58 DER SPIEGEL 31/1995

Bündnispartner derSozis ist dieBerli-ner Wirtschaft. Lautstark wirbt HorstKramp, Präsident der Industrie- unHandelskammer, für dieganzgroße Lö-sung. Ein Airport mit 24-Stunden-Betrieb und Anschluß anHochgeschwindigkeitsbahnen ermögliche „einen Wachs-tumsschub von 20 MilliardenMark proJahr für unsere Region“. Das sei nur aßerhalb der Stadt zuverwirklichen.

Die hochfliegenden Pläne in Berlund Brandenburgstießen alsbald auVerwunderungscharfer Rechner. DerBundesrechnungshofmonierte, für dasGroßprojektgebe es überhaupt keinenBedarf.

Die Planer der BBF hattenihre Gigan-tomanie demgegenüberstets mit der An-nahme begründet, in nur zehn Jahrenwerdesich dieZahl derBerlinerFlugrei-senden von 10 auf 25Millionen pro Jahrmehr als verdoppeln.Dies sei eine„Übermaßplanung“, warnten die Prüfedas Projekt sei „nichtverantwortbar“ undberge „Risiken für die öffentlichenHaus-halte in Milliardenhöhe“.

Mit solchenBedenkenhingegenwol-len sich diePropheten desFortschrittsnicht plagen. Die Anhänger desGroß-konzepts verweisen auf dieenormenWachstumsraten des gesamten Luftvkehrs. Schon wegen derrasanten Entwicklung in Südostasien sei in Deutschland in den nächsten 15Jahren miteinemZuwachs von 50 Prozent aufdann 150Millionen Fluggäste jährlich zurechnen,

prognostiziert die ArbeitsgemeinschaDeutscherVerkehrsflughäfen.

An diesemBoom müsse die Haupstadt unbedingt mit einem internationlen Luftkreuz teilhaben, argumentieredie Wirtschaftslobbyisten der Industriund Handelskammer. „Ich bekommkeinen koreanischen Konzern nach Blin, wenn die Manager über Londooder Frankfurteinfliegen müssen“, sagauch Berlins SPD-WirtschaftssenatNorbertMeisner.

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Andere Städtesind allerdings schoweiter, das istBerlins Nachteil.Frankfurtsteigert in den nächstenbeiden Jahrenseine Kapazität um 16Prozent. WeitereReserven werden frei, jemehrinnerdeut-sche Flügedurch die wachsende Bahkonkurrenz verdrängt werden. Düssel-dorf hat den Sprung ins internationaGeschäft schon geschafft, und KölnBonn rüstet für Zuwachs, in ihrem Einzugsgebiet leben viermal soviel Men-schen wie imRaumBerlin. Auch in Am-sterdam-Schiphol ist der Bau einer fün

ten Landebahnbeschlos-sen, ebensoschaffen Paris und Kopenhagen neuKapazitäten.

Zudemhaben dieSteu-erzahler bereits 8,5Milli-arden Mark für denFranz-Josef-Strauß-Flughafen in München-Erdinbezahlt. Wie die Berlinespekulierten die Bayerauf einen „hub-airport“eine Nabe im Luftnetz,von der aus Fracht unPassagiere aus Überseezu anderen europäischenStädtenweiterfliegen.

Doch gerade derFallMünchen zeigt, wie mansich verrechnen kann:Trotz neuester Technistellten mehrere US-Li-

nien jetzt dendirekten Transatlantikverkehrnach München ein.Bislang sind dieStartbahnen desvermeintlichen Ver-kehrsknotens nur zur Hälfte ausgelasteter kostet jährlich fast 100 MillionenMark Zuschuß.

Münchens Chancekommt erst,wenndie Frankfurter Konkurrenz an ihrGrenzen stößt. Würde nunnoch ein zu-sätzlicher Superflughafen in Berlin

* In Woltersdorf bei Sperenberg.

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GeplanterGroßflughafenSperenberg

diesen Wettstreiteintreten, wäre das ggantischeLuftverkehrsareal in Oberbayern endgültig eine Fehlinvestition. Zumindest für die Jets aus Asien wäre eKnoten günstiger, an dem Fracht unPassagiere fasteine Flugstunde früheAnschlußverbindungen finden.

Hinter dem zähenStreit, so räumt einBBF-Experte ein, stehedarum im Grun-de der Verteilungskampfzwischen Osund West. „Warumsollen wir nicht diegleichenChancen im deutschenLuftver-kehr bekommen wie Bayern?“

Im Streit um den Himmel übeDeutschland ist jederTrick erlaubt. Umden GroßstandortSperenberggegen diemaßvolle Schönefeld-Lösung durchzsetzen, hat besonders die BrandenburStolpe-Regierung einen zähenKlein-krieg vomZaun gebrochen.

Weil Bundesverkehrsminister Matthas Wissmann (CDU) den Großflughafnicht fördernwill und schon den Ausstiedes Bundes aus derplanungswütigenBBF androhte,sann Brandenburgs SPDFraktionschef Wolfgang Birthler aufVergeltung. Wissmanns MilliardenSpielzeug, dieMagnetbahn Transrapivon Hamburgnach Berlin, werde am Widerstand aus Potsdam verenden.

Ähnlich unsachlichgeht das schonlan-ge. Als das Ingenieurbau-UnternehmLahmeyer International im August1992in einem erstenGutachten den StandoSperenberg verwarf,ließ Stolpe dasWerk kurzerhand fürwertlos erklären.

Sodann setzteStolpes parteiloser Umweltminister Mathias Platzeck einauf-wendiges RaumordnungsverfahrenGang, dasallein fürExpertisen 22Millio-nen Mark verschlang. DasResultatfielaus wie erwünscht: Sperenberg„menschenfreundlicher undflugtech-nischbesser“ als jederandere Standorso Stolpe.

Dazu mußte das Lärmproblemfreilichgrob übertrieben werden. DieRaumord-

ner hatten kurzerhand mit demSchallpe-gel veralteter Maschinen kalkuliert. DDiepgen-CDUakzeptiertdennauch dasganzeVerfahrennicht und gab bei demRegensburger Jura-Professors UdoStei-ner ein Gutachten in Auftrag, dasihrenStandpunktabsichern soll.

Aber auch die Schönefeld-Fraktiospielt falsch. ZuRechtunterstellt StolpeWirtschaftsminister Burkhard Dreher(SPD), die CDU meine „es garnichternstmit dem großen Luftkreuz“.

Deren Argument etwa, an demaltenOstflughafen sei der Ganztagsbetrischonheute möglich, derAusbauverlan-ge keinförmliches Genehmigungsverfaren, trägtnicht. DiebisherigeGenehmi-gungberuht aufDDR-Recht und läuft inachtJahren aus. Würdentatsächlich alleBerlin-Flüge an den südlichenStadtrandverlagert, müßte spätestensdann ein Ge-nehmigungsverfahren gegen 20 000 ornisierteGegnerdurchgesetztwerden.

Zudemlenkt bald keineFlugliniemehrihre Fernflüge auf einen Flughafen, dnicht ans Schnellzugnetz angeschlosist. In den Planungen derDeutschenBahn AG kommt Schönefeld bisherabernur als S-Bahn-Stationvor, die nächsteICE-Strecke zum geplanten Zentrabahnhof neben dem künftigen Kanzler-amt verläuftknappzehn Kilometerwei-ter westlich. Sperenberg dagegenliegtgünstig an der zukünftigen Schnellstreke durchs sächsischeIndustrierevier nachMünchen.

Doch möglicherweise entpuppt sichder Großflughafendemnächst ohnehinals Luftschloß. Denn völlig offen ist,woher die 15Milliarden Mark kommensollen, die das Luftkreuz Ost kostewürde.

Berlins FinanzsenatorElmar Pieroth(CDU) redetselbst vondrohenderPlei-te, Brandenburg decktseinenHaushaltnur zu einem Viertel mit eigenen Einnahmen,Wissmann muß auf Befehl deFinanzministers 2,4 MilliardenMarkeinsparen.

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Zwar winkte der PotsdamerRegie-rungschef zeitweise mit demAngebot ei-ner privaten InvestorengruppeunterFührung des BaukonzernsPhilipp Holz-mann. Doch derversprichtnur, die rundsieben MilliardenMark für Terminal undLandebahnenvorzustrecken. Dierestli-chen neun Milliarden für Grundstücks-käufe und die Bauvorbereitung müßdie BBF bezahlen.Zudemsoll dieöffent-liche Hand die „Anlaufverluste“tragen,bis die Gewinnzone erreicht ist – und dkann Jahrzehnte dauern.

Mit dubiosen Grundstücksgeschäftenhäufte die Holdingaberschon bisher 56Millionen Mark Schulden an. GleichzweiUntersuchungsausschüsse suchen denach den Verantwortlichen (SPIEGEL7/1995). Mit 110 Millionen Mark Zu-schuß müssen diedrei Gesellschafter deLadenjetzt vor demKonkurs bewahren

So schiennach dem letztenBonnerTreffen von Wissmann, Stolpe und Diegen Anfang Junischon malallesklar. Fürden wachsenden Bedarf derHauptstadtsollte der frühere DDR-FlughafensoforteinemoderneAbfertigungshalle für 230Millionen Mark bekommen,beschloß dieBBF-Troika. Ab dem Jahr2000 könnendort dann bis zu 7,5Millionen Passagiereabgefertigt werden, Tempelhofkannschließen. Ein plausiblerPlan.

Sperenberggalt damit als erledigtLandesfürst Stolpekonntesich nuraus-bedingen, noch bisEnde desJahres nachrisikofreudigenInvestoren zu suchen, dden Airport aufeigene Kosten auf degrünen Wiesebauen – einaussichtsloseUnterfangen.Selbst die gutwilligenBBF-Hausgutachter desConsulting-KonzernsArthur D. Little und des IngenieurbauMultis Lahmeyer International glaubenichtmehr daran. „MitdiesemProjekt istkein Geld zuverdienen“, versicherte eiBerater.

Dochdrei Wochen später waralles wie-der offen. Stolpes MinisterDreher kün-digte plötzlich an,keineMark werde fürSchönefeld freigegeben, wenn das Gnehmigungsverfahren für dasBranden-burger Traumprojektnicht gleichzeitigan den Startginge. Die Finanzierung, beharrteStolpe trotzig,schaffe man „not-falls auchohne den Bund“.

Heraus kam bei derneuerlichenKri-sensitzung amvergangenen Mittwoch eiKompromiß, derallenrechtgibt und dieGrundsatzfrage auf Kosten der Steuzahler vertagt: Schönefeld erhält erstein-mal den schicken neuen TerminalGleichzeitig darf weiter von Größe geträumt werden. Die BBF-Manager müsen parallel für Sperenberg und Schöfeld ein Luftkreuz mit drei Startbahneweiterplanen.

Und die fehlenden Milliarden? Diesol-len die BBF-Planer weiterhin beipriva-ten Investoren inaller Welt suchen unddafür noch mal ordentlichwerben. Ko-sten:fünf Millionen Mark. Y

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Flüchtlingsfamilie Simsek, Pfarrer Brummer: Briefe voller Schmähungen

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Zuflucht in Kirchenwird gegenwärtig 70 Flüchtlingen undAsylbewerbern im ganzen Bundesge-biet gewährt. Die Pfarreien müssen fürUnterkunft und Essen sorgen und stetseine Hausdurchsuchung fürchten.Denn die Kirche ist kein rechtsfreierRaum, das Asyl wird vom Staat nichtanerkannt und ist auch innerhalb derPfarrgemeinden oft umstritten. Den-noch gehen Polizei und Justiz bishernicht gegen diesen formal rechtswidri-gen Zustand vor. Viele Pfarrer undGläubige sehen deshalb in ihren Kir-chen die letzte Rettung für Flüchtlinge,die nach dem neuen Asylgesetz ab-geschoben werden, obwohl ihnen

in der Heimat Repressalien drohen.Der wachsende Druck der Kirchenbringt vor allem die christlichen Partei-en in Schwierigkeiten. Die Gemeindensollten, so schlug der bayerische In-nenminister Günther Beckstein (CSU)als Kompromiß vor, jedes Jahr einigetausend Ausländer vor der Abschie-bung bewahren dürfen, wenn sie dafüralle Kosten übernähmen. Bisher findetBecksteins Idee kaum Gegenliebe –vor allem, weil er gerade den umstrit-tensten Fall, die kurdische Flüchtlings-familie Simsek in Augsburg, davonausschließen will. Vergangene Wocheunterschrieben 225 Pfarrerinnen undGeistliche aus Bayern eine Solidari-tätserklärung für sie.

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Ein Bündel Angst“SPIEGEL-Redakteurin Annette Ramelsberger über eine Kurdenfamilie im Kirchenasyl

eben dem Kruzifix, hinter demBetschemel und denKerzen, hängN im Wohnzimmer des Steppach

PfarrersPeter Brummer, 38, einBild,auf dem ein kleiner Junge dem kathoschen Geistlichenjeden Tag Mut macht„Du fragst mich, wassoll ich tun? Undich sage:Lebewild und gefährlich.“

Draußen im Gartentollt ein andererkleiner Jungeherum, spritzt mit demGartenschlauch in die Blumentröge uquietscht, wenn er dabei naß wird. EMädchen schüttetsich voller InbrunstSand auf den weißen Kragen des Mtrosenkleidchens.Ihre Mutter kommtscheu lächelnd aus derPfarrküche mitdrei Tellernvoll Zucchinigemüse.

Wild und gefährlich sieht dasTreibenim Garten desPfarrers nichtaus. Dochum die vermeintliche Idylle ist ein zäheRingen entbranntzwischen derStaats-macht und einem Kreis von Bürgern,die Menschlichkeit für wichtigerhaltenals Verordnungen.

Brummer undseine Pfarrei bei Augsburg gewähren derkurdischen FamilieSimsek seitdrei Monaten Kirchenasyl.

Es ist eine Familie, für die Amnesty International zum erstenmal in der Gschichte derBundesrepublik eine „urgent action“startete,eineeilige Protest-aktion – sonst letztes Mittel der Menschenrechtsorganisation, um diktato

sche Regime vonFol-ter oderHinrichtungenabzuhalten. Diesmawollte sie denFreistaatan der Abschiebunder Familie in die Tür-kei hindern.

Mutter Sahize Sim-sek, 20, lebt mit ihrenKindern Bilal, 4, undLeyla, 3, in BrummersGästezimmer. VaterFariz Simsek, 29, isaus Angst vor Ab-schiebung vordrei Mo-naten untergetauchtnach ihm fahndet diPolizei, sein Asylbegehren wurde vom

VerwaltungsgerichtAnsbach vorvier Mo-naten endgültig abge-lehnt. 150 Bürger auSteppach und Umgebung schieben inWechselschichten nuTag und Nacht Wachfür den Schutz vonFrau und Kindern.

Den haben diedreidringend nötig: Voranderthalb Wochen

am 20. Juli, zog um 8 Uhr morgenplötzlich Polizei vor der Kirche auf,zehnBeamte in Uniform,weitere in Zi-vil, umstellten dasbenachbartePfarr-haus, die Familie fürchtete dasSchlimmste.

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„Lest diebösen Briefe einfach

nicht mehr“

Die Kunde drang bis in denbayeri-schenLandtag. WennPolizisten gegenGeistliche, Frauen und Kindervorge-hen, wird selbst christsozialenAbge-ordneten unwohl. Innenminister Günther Beckstein mußte erklären, derEinsatz sei nur eine vorbeugenFahndungsmaßnahme,falls Fariz Sim-sek auftauchensollte – wenig wahr-scheinlich, daß der Flüchtling ineinenPolizei-Kordon gelaufen wäre.ErstStunden später brach diePolizei dieAktion ab. Da saßSahize Simseknochimmer zitternd in der Pfarrküche.

Sie sei „ein Mädchen von 20Jahren,das keineZukunft mehr hat“, erbossich Ursula Däubler, 31, eine der Unterstützerinnen von Steppach. Wärend sie mit der KurdinTeller undTassen spült,haben die beiden Frauenur ein Thema: Angst.Angst wegender Vergangenheit, Angst vor der Zkunft, Angst umSahizesMann.

Nur ganz seltenmeldet er sich ausseinem Versteck, Erleichterungbrin-gen die Anrufe kaum: „Sehr schwer

CSU-Stadträtin Hottelet: „Genau in die Augen geschaut“

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immer Probleme“,sagt Sahize, und ihreAugen blik-ken müde.

Sie ist inzwischen von 5auf 40 Kilogramm abgemagert, ihr Sohn Bilal istschwer verstört und aggresiv. Nachts hört PfarrerBrummer, wie die Kinderaus Angstträumen hoch-schrecken, wie dieMuttersich schlaflos imBett um-herwälzt. Wenn die jungeFrau danachgefragt wird,wie sie sich ihre Zukunftwünscht, blickt sie ver-ständnislos in dieRunde.„Was soll ich sagen?“ Sieseufzt leise: „Ganz normaleben, mit meinerFamilie.“

Neben Sahize Simsesitzt die Rentnerin Elisa-beth Mair, 63. Sie tätscheltder Kurdin zärtlich denArm. „Mein kleines Mäd-chen“, tröstet sie, „kein

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Angst, wir halten das hier nochlangedurch.“

Die frühere Religionslehrerin schaukelt die kleine Leyla auf denKnien, alswäre es ihre eigeneEnkelin. „Das kannman doch nichtmachen, die Kinder hieso einzusperren“, empört siesich. So-bald die Flüchtlinge dasGrundstück dePfarrei verlassen, müssen sie damitrechnen, festgenommen undabgeschoben zu werden: „Ich kann sienoch nichtmal mit zum Schwimmennehmen.“

Für Sahize hatRentnerinMair zweiGläser Sauerkirschen mitgebracht ueinen ganzen Beutel Wolle, den sie fdie Muttergeschenktbekam.

Der Aufmarsch derPolizei hat dieBürger von Steppach noch enger um

Flüchtlingsfamilie geschart. „Christentum heißt,sich einmengen, wenn Menschen inGefahrsind“, sagt derPfarrer.Auch Elisabeth Mairwill sich demstaat-lichen Druck nicht beugen. „Ich habemein Lebenlanggedacht, ich binstaats-treu, haltemich an dieGesetze und mache alles richtig“, sagt dieresolute Da-me. Dochseit sie dieGeschichte der Fa

milie Simsek kennt, ist sie überzeugt,daß der Staat hier einen Fehler mac„Und den soll er“,fordert sie, „einfachkorrigieren.“

Als Sahize Simsek 15Jahre alt warfloh sie mit ihrem Mann vor demKriegzwischen Militär undRebellen aus Kurdistan nach Istanbul. Kurz vor der Gburt des erstenKindes nahmenPolizi-sten FarizSimsekfest,weil er Kassetten

mit kurdischer Musikdabeihatte – dafüsaß er 18 Tagelang in Polizeihaft.

Folterer hätten ihn anseinen Füßenaufgehängt, sagt er, und ihn mit eiskatem Wasser übergossen.Dann hättensie Zigaretten aufseinem Kopf und denHändenausgedrückt und ihm einStuhl-bein in den After gerammt.Noch amTag der Verhaftung durchsuchte die Plizei die Wohnung derFamilie in Istan-bul, schlug diehochschwangereFrau zu-sammen.Einige Wochen spätertauchteihr Ehemannwieder auf – so verstörund geschunden, daßSahize ihnkaumwiedererkannte.

Die Ärztin Waltraud Wirtgen von„Refugio“, einem MünchnerZentrumfür Folteropfer, beobachtete beiFariz

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Simsek „panikartige Angstanfälle unHerzattacken“. Anseinen Schilderungen hegt sie keinenZweifel: „Bei demBericht über die Folterwird Herr Sim-sek sehr blaß,schwitzt,bekommtweitePupillen und eine psychomotoriscUnruhe“, die er aber zu unterdrückenversuche. „Ein Bündel Angst“ sei deMann, sagtWirtgen, dasEhepaarSim-sek sei bei einer Abschiebungselbst-mordgefährdet.

Das bayerische Innenministeriumver-sucht, die Furcht derSimseks mit origi-nellen Vorschlägen zu dämpfen: Mankönne ihnen doch ein Funktelefon min die Türkei geben, wurde dem PfarrBrummer imMinisterium erklärt.Dannkönnten sie bei Gefahr in Bayernanru-fen. Außerdem habe die türkische Re-gierunggarantiert, daß ihnennichts pas-siere.

„Für einen Menschen, derschon ein-mal gefoltert wurde“, so Ärztin Wirt-gen, „sind solcheErklärungen absurd.

Das rührt die bayerische Regierunicht: Zweimal schonwurde Simsek ins

Flugzeug gesetzt, einmkonnte ihnsein Anwalt ret-ten, einandermal stoppte iletzter Minute derAnruf deszuständigen Richters beim

Bundesverfassungsgerichdie Abschiebung. DieRich-ter lehnten die Zulassungder Klage jedoch kurz darauf aus formalen Gründenab.

Bayernwill an Simsek einExempel statuieren, denfür Innenminister Becksteiist der Mann einStraftäter:Simsek sei an denKurden-Krawallen von Augsburg beteiligt gewesen, beidenen imSommer1994 Tausende dieAutobahn besetzt hatten,der Flüchtlinghabe dieLeu-te aufgewiegelt.

Dessen Anwalt MichaelSack interpretiert die Vor-gänge hingegen völlig an-ders:Simsekhabeeinen Ast

in ein Feuergeworfen, um dasKurdentanzten. Danach habe erberuhigend audie Menge eingeredet. Auf derAuto-bahnselbst sei er nie gewesen.

Auf jedenFall ist er nichtdas, was deUno-Flüchtlingskommissar als Straftter definiert, der abgeschoben werdkann: Dafür müßteSimsek wegen eine„Verbrechens oderbesonders schwereVergehens rechtskräftig verurteilt“ sein.Doch das ist der Kurde bis heutenicht.

CSU-Mann Beckstein, so PfarrBrummer,ignoriere einfach, was Foltefür einen Menschenbedeute. „DiePoli-tiker waschensich ihre Hände in Un-schuld wie Pontius Pilatus“, rügt deGeistliche, Sohn eines CSU-KreisrateEnkel eines CSU-Bürgermeisters. Di

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„Die Führungsfrageist offen“Der bayerische SPD-Vize Albert Schmid über die Kritik an Rudolf Scharping

Schmid (M.), SPIEGEL-Redakteure*: „Es wird mich niemand hindern“

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SPIEGEL: Herr Schmid, was treibtaus-gerechnet den Generalsekretär dbayerischenSPD, die seit langem im30-Prozent-Ghetto verharrt, öffentlichzur Demontage desVorsitzenden Rudolf Scharping und zur baldigen NomnierungGerhardSchröders als Kanzlerkandidat aufzurufen?Schmid: Ich will nicht Scharpingdemon-tieren, sondern dieWahlchancen deSPD im Bund unddamit auch in Bayernverbessern. Wirhaben in BayerndreiLandtagswahlen verloren,zuletzt aller-dings 1994 im Bundestrend zuge-legt.SPIEGEL: Das geschahunter demKanz-lerkandidatenScharping.Schmid: In Bayern unter RenateSchmidt und mit Scharping – daskannnicht geleugnetwerden. Dennochblie-ben die Ergebnisse der Bundestags- uder Landtagswahl unbefriedigend. Dehalb wird aus der bayerischen SPD dKanzlerkandidaturSchröders gefordertich kann dasnicht unter denTeppichkehren. Im übrigen wirkt nach, daß dieFührungsfrage trotz desPlebiszitszwi-schen Scharping und Schröder imJahre

* Klaus Wirtgen, Annette Ramelsberger vor demLandtag in München.

r1993offengeblieben ist. Es hätte damaeinen weiteren Wahlgang geben msen.SPIEGEL: Ihre LandesvorsitzendeRena-te Schmidt hat gerügt, Ihr Vorschlakomme „zum falschenZeitpunkt“ undsei „nicht hilfreich“.Schmid: Damit muß ich leben. Eswirdmich aber niemand daran hindern, dzu artikulieren und zu kanalisieren, wich in der Partei anStimmung spüre. Jlänger sich die SPD inBayern oder inBonn als Harmonievereinglaubt verste

Albert Schmidgilt als starker Mann der bayerischenSPD, einstweilen noch hinter der bun-desweit populären Landes- und Frakti-onsvorsitzenden Renate Schmidt. Derehrgeizige Jurist hatte nach der bayeri-schen Landtagswahl widerwillig denFraktionsvorsitz an die LandeschefinSchmidt abgeben müssen, durfte je-doch als „Geschäftsführender Vorsit-zender“ in der Oppositionsführung blei-ben. Inzwischen ist er auch stellvertre-tender Landeschef und Generalsekre-tär. Gern erzählt Schmid, 49, die baye-

Steppacher Bürgerbekommen für ihrKirchenasyl auch Schmähungen zu hören – sogar aus dem eigenen SprenDa wird den Frauen vom Pfarrbüro iAnrufen mit Vergewaltigung gedroht,dem Pfarrersogar mitMord. Da kom-men Briefe an, indenen anonymeCho-leriker mit Rechtschreibschwäche pbeln: „Sie Arschloch, fürmich sind siekein Pfarrer, sondern ein Asiland. Sgehören so vieleTage geschlagen, wsie dem Verbrecher undseiner drecki-gen Frau bei uns in Deutschland undunsererKirche Unterkunft gelassen haben.“

An diesem Abend treffen sich dieHelfer im Pfarrsaal der Kirche,singen,beten,sprechensich Mut zu. „Lest diebösen Briefe einfach nichtmehr“, rätBrummer ihnen und erzählt von deNonne, die ihm in derKlosterbäckerezwei Brote für die Simsek-Kinder geschenkthabe. Schon in der Tür,habesie den Pfarrer noch mal zurückgerufe„Da, nehmen S’ für dieSahize auchnocheinsmit.“

Eine Rollstuhlfahrerin, über 90Jahrealt, habe ihm 20 Mark für dieFamilie indie Handgedrückt, berichtetBrummer,und der Tankwart in der NäheschickejedenKunden fort, der über dieSimseksherziehe. Nach derPolizeiaktion kamder Brief einesArztes, der anBecksteingeschriebenhatte: „Ich schämemich,diesePartei gewählt zuhaben.“ Ein an-derer erklärte nach 40Jahren Zugehörigkeit seinenAustritt aus derCSU.

Endlich, sagt eine der Frauen imKreis, sei für sie ihrGlauben „hand-greiflich“ geworden: Elfi Hottelet istCSU-Stadträtin in derGemeindeNeu-säß und vor ein paar Wochen mit deBundesverdienstkreuz für ihrpolitischesund sozialesEngagementausgezeichneworden.

Jetztwollte sie sich derEhrungnocheinmal würdig erweisen: ImLandtag hasie so lange auf den Innenminister gwartet, bis der seiner Parteifreundinicht mehr ausweichenkonnte. „Ich ha-be mir von Beckstein versichern lassedaß er nichts gegen die Familie Simsunternimmt – und ich habe ihm“,sagtsie, „dabeiganzgenau in dieAugen ge-schaut.“ Das war an jenem Tag, als dPolizei die Kirche in Steppachumstell-te.

Drinnen saßen die Helfer vor demRadio, um jede neue Entwicklung zuverfolgen. Spitzenmeldung der Nacrichten an diesem 20.Juli war der Ap-pell von VerfassungsgerichtspräsidenJuttaLimbach zum Jahrestag des HitleAttentats. Die Demokratielebe vonkri-tischen Bürgern, die für dieMenschen-rechte einträten, hörten dieChristenvon Steppach Deutschlands höchRichterin sagen. PfarrerBrummer:„Wir dachten wirklich, die redet vonuns.“ Y

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Rivalen Schröder, Scharping: „Hut in den Ring“

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hen zu sollen, destomehrChancenverspielt sie.SPIEGEL: Selbst Schrödehält es für übereilt, daßSie den Spitzenkandidaten schon 1996 wählenlassen wollen.Schmid: Die Ängste mei-nes Freundes GerhardSchröder amüsieremich. Die SPD-Mitglie-der und die Öffentlichkeimüssen zurMitte der Le-gislatur wissen, wer inRennen geht. Die der-zeitige Hängepartie isschlimmer als die Diskussion und muß beendetwerden.Schröder sondiert natür-lich auch die Stimmung inder Partei. Er ist gut beraten, daß ernicht selbervorprescht. In der Parteist momentan dieFrageScharping oder SchröderThema Nummer eins.Deshalb darf ein Partemann wie ich darübeauch öffentlich reden.SPIEGEL: Wie interpretie-ren Sie dennwohl Schrö-ders Versprechen, erwer-de zum gegebenen Zeipunkt auf ScharpingsGarantie zurückkommenden nächsten Kanzlerkadidaten durchMitglieder-befragung zu bestimmen

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Schmid: Die Richtung dieser Aussagist mir sympathisch. Sie signalisiert, daSchröderbereit ist, seinen Hut in denRing zu werfen, wenn der Ruf zumBei-spiel ausBayern oder aus anderenTei-len Deutschlands erschallt. Wäre dParteivorsitzende automatisch Kanzlkandidat, könnten wir uns einPlebiszitschenken.SPIEGEL: Werden Sie oder derbayeri-scheLandesverband auf dem Mannhemer Parteitag Schröders Kandidatuverlangen?

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Schmid: Das hängt von der weitereinnerparteilichen und öffentlichenDis-kussion ab. Schröder wirdsich in dennächsten Monaten erklären müssenAuf jeden Fall werde ich für eineMit-gliederbefragungwerben.SPIEGEL: Aus welchen Landesverbänden versprechen Siesich Unterstüt-zung?Schmid: Wo wir uns in Opposition befinden, ist der Leidensdruck am gröten.SPIEGEL: Wenn Sie sich allein vonSchröder dasHeil versprechen, müssenSie dann nicht konsequenterweise iNovember auf dem Mannheimer Pateitag Schröderauch als Parteivorsitzendenvorschlagen?Schmid: Nein. In Mannheim wirdScharping wohlunbestritten zum Parteivorsitzenden gewählt. Dann habenwir uns zu überlegen, wie jemand iRennengeschicktwerdenkann, der ei-ne optimale Chance bietet, für die SPauf Bundesebene und mittelbar aLandesebeneerfolgreich zu sein.Nachallem, was ich jetzterkennen kann, ises nichtmehrScharping.SPIEGEL: Halten Sie diese Positionwirklich für glaubwürdig: Scharping isgeeignet für den SPD-Vorsitz, nic

aber für dieSpitzenkandi-datur?Schmid: Der Parteivorsit-zende hat eine Doppefunktion, siewirkt nach in-nen und nachaußen. Ichwill nicht verkennen, daßScharping die internenMechanismen der Partund ihrelogistischeArbeitbeherrscht. Das ist einwichtige Sache, darummuß sich jemand küm-mern.SPIEGEL: Was bedeute„logistischeArbeit“?Schmid: Dabeigeht esbei-spielsweise umOrganisati-onspolitik und um dieKommunikation mit denLandesverbänden.SPIEGEL: Dafür ist dochder Bundesgeschäftsfüh-rer da.Schmid: Um diese Aufga-be hat sich derVorsitzendezu kümmern. Zugegebenes ist nicht die vorrangigAufgabe, sie erfährt aucnicht die große Aufmerk-samkeit vonaußen.Schar-ping bemühtsich ja auchum dieseinterne Kooperation. Insofernspricht vieldafür, daß er seineArbeitals Vorsitzender fortsetzDer Kanzlerkandidat mudagegen die größteöffent-liche Zustimmung errei-

chen. Schröder weiß dieChancen deSPD zu optimieren, Kohl mitKampf-geist zu attackieren und dem GrüneJoschka Fischer dieShow zustehlen.SPIEGEL: Sie sinddoch lange genug imGeschäft, um zuwissen, daß ein vomnächstenJahr an so reduzierterSchar-ping seineAutorität alsOppositionsfüh-rer im Bundestag sofortverlöre. Schrö

der besitzt aber kein Bundestagsmandat, um Scharping imParlamenterset-zen zu können.Schmid: Ich erinnere anzwei ähnlicheSituationen.Ende der fünfziger Jahrewar Erich Ollenhauer Partei- und Frationsvorsitzender undWilly Brandt alsBerliner Bürgermeister Kanzlerkanddat. Und 1980 funktionierte diese Ar-beitsteilung bei derUnion: Kohl warPartei- und Fraktionsvorsitzender, dbayerische MinisterpräsidentFranz Jo-sef Strauß Kanzlerkandidat.SPIEGEL: Schröder, derStrauß derSPD.Wir erinnern daran, daß derKandidat

rische SPD habe ihren vierprozentigenStimmengewinn keineswegs nur demCharisma der Kollegin, sondern minde-stens ebensosehr dem Bundestrendund seinem eigenen Fleiß zu danken.Bundespolitisch engagiert er sich alslautester Werber für eine Kanzlerkandi-datur seines Freundes Gerhard Schrö-der und die Entmachtung des SPD-Chefs Rudolf Scharping. Schmid undSchröder kennen sich aus gemeinsa-mer Bonner Arbeit Anfang der achtzigerJahre. Schröder war Bundestagsabge-ordneter, Schmid Staatssekretär imBundesbauministerium.

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Strauß einwesentlich schlechteres Egebnis einfuhr als vier Jahre zuvorHelmut Kohl.Schmid: Das lag nicht an der Konstruktion, sondern an der PersStrauß.Heute fragt niemand mehr danach, ob derFraktionsvorsitzende einRede hältoder ein MinisterpräsidentEs muß die politischeNummer einssein, und das wäre natürlich der Kanz-lerkandidat mit dem Gewicht seinPerson, seiner Argumentationskraund seiner Medienwirkung.Schröderwäre heutenicht schon soangesehenwenn er nicht seine Möglichkeiten alsMinisterpräsident voll ausschöpfenkönnte undwenn das nicht schon annäherndreichen würde.SPIEGEL: Schröderhatte sich 1993 umbeide Ämter beworben. Warumsollteer jetzt auf denDoppelpack ausKanz-lerkandidatur und Parteivorsitz verzichten?

Die Troika Süddeutsche Zeitung

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Schmid: Die Doppelfunktion würde deAufbaueinesTeams erschweren.Mittel-fristig brauchen wir RudolfScharping,Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine,Renate Schmidt, RegineHildebrandt,Manfred Stolpe undandere in der Führung derSPD. Wennfünf bis sechs Männer und Frauennicht sagen, Kanzlerkandidat soll der werden, der diemeistenChancenhat, werden wir keinen Erfolghaben.Deshalb drängt dieBasis.SPIEGEL: Wer außerSchmid drängelt?Schmid: Ich beobachte, daß andereMit-glieder, vor allem im süddeutschenRaum, auf einen Norddeutschen voZuschnitt Schröders setzen. Erkommtbesser an als der Rheinland-PfälzerScharping.SPIEGEL: Was hat Scharpingbeim Um-gang mit derTroika falschgemacht?

64 DER SPIEGEL 31/1995

Schmid: Er hätte dieseKonstruktion be-sonders sichtbarmachen müssen,ein-schließlicheiner klaren Aufgabenzuordnung. Scharping übertrug zwar Lafon-taineformell dieKompetenz für Steuerund Finanzen.Aber die Steuerpolitikder SPD trug während dervergangenenMonate Scharpingspersönliche Hand-schrift. Er hat die Erhöhung des Kindergeldes und dessenAuszahlung über diFinanzämter vorgeschlagen.SPIEGEL: Scharping hatdoch alle Be-schlüsse von denMinisterpräsidentenund Finanzministern der SPD-geführtenLänder genehmigen lassen, bevor dJahressteuergesetz1996 an denVermitt-lungsausschuß überwiesenwurde. Kannman die Schuld jetztbeim Vorsitzendenabladen?Schmid: Die SPD-Position ist offenkundig vorhernicht hinreichend abgestimmworden, sonst wären Schröder und dHamburger Bürgermeister Henning Vo

scherau jetzt nicht ausgeschert und hten ein höheres Kindergeld, wie voder SPD versprochen, fürnicht finan-zierbar erklärt. Diese Einigkeit muein Parteivorsitzender vorher zustanbringen. Beim Energiekonsenshatteich das Gefühl, daß ScharpingsUnter-stützung für den VerhandlungsführerSchrödersehr ambivalent war.SPIEGEL: Der Parteivorsitzende hadarauf geachtet, daßsich die SPDnicht von ihren Parteitagsbeschlüssenentfernte: Ausstieg aus derKernener-gie.Schmid: Dagegen habe ichauch nichtseinzuwenden. Ich halteScharping beispielsweisevor, daß er, auswelchenGründenauch immer, im Gegensatz zdem NiedersachsenSchröder undauchim Gegensatz zu Bayern ein Interes

an der Fortsetzung der überlebtenKohle-subventionierunghatte.SPIEGEL: Vielleicht, weil die nordrhein-westfälischeLandtagswahlbevorstand.Schmid: Diese Landtagswahlkann bei85 000 im BergbauBeschäftigten nichder einzigeMaßstab dafür sein, was enegiepolitisch richtigist. Auch dieseFragehätte vorhergeklärtwerden müssen: Mit-telfristig muß dieKohlesubventionierunabgeschafftwerden. Wenn die SPD ider Energiepolitik nichteinengewissenKonsens mit Teilen der Wirtschaft hebeiführt – und dafür ist Schröder eingtreten –,wird ihr die wirtschaftspolitischeKompetenz, die für einenWahlerfolg un-verzichtbar ist, nichtattestiert.SPIEGEL: Wie wollen Sie künftig ähnlicheWidersprüche verhindern?Schmid: In seiner Frühzeit hat Scharpinin seinem Landesverband gute programatische Arbeit geleistet. Jetztaberist eine Entwicklung eingetreten, die

die SPD auseinanderdrifteläßt, weil einTeam, für dasScharping Verantwortungtrüge, nichtwirklich zustan-de gekommenist. Unter die-sen Umständensoll sich derVorsitzende auf die perspetivische Arbeit stärkerkon-zentrieren können.SPIEGEL: Etwa die Justie-rung der SPD auf eine rogrüne Machtperspektive imBund, falls das Bündnis derNRW-SPD mit den Alternativen erfolgreich ist?Schmid: Ich halte Nord-rhein-Westfalen für eineNotlösung.Daraus ein Mo-dell zu machen und es asolches zu propagierenempfehle ich niemandemauchSchrödernicht.SPIEGEL: Wer soll die sozial-demokratische Richtlinien-kompetenzzwischenOppo-sitionsfraktion und SPDLändern wahrnehmen?

-Schmid: Natürlich der, dernachher dieRegierung zu übernehmen hat,also derKanzlerkandidat.SPIEGEL: Sie habeneine Führungsdis-kussion losgetreten. Müssen Sie nichdamit rechnen, daßdieser Streit dieChancen der SPD bei den anstehenWahlen in Berlin, Baden-WürttemberSchleswig-Holstein undRheinland-Pfalzschmälert?Schmid: Sie verwenden einTotschlags-argument. Wann denn,wenn nicht jetzt,im ersten Jahrnach nationalen Wahlendarf über so etwas diskutiertwerden?Keiner in Bonn odersonstwo wird gefragt, ob darüber geredet werden daEs wird innerhalb und außerhalb dSPD darüber geredet.SPIEGEL: Herr Schmid, wir danken Ih-nen für diesesGespräch. Y

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Großer SprungGewinn und Verlust vor Steuern derJaguar Cars Ltd. in Millionenbritische Pfund

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B a n k e n

Aggressive Werbung gestopptStill und heimlich ließEberhardMartini, Chef der Münch-ner Hypo-Bank,aggressiveWerbung aus denSchaufen-stern seinerFilialen nehmen. DerBayerische Sparkasseund Giroverband hattesich beim Bayerischen Bankenveband (Vorsitzender:EberhardMartini) über dieReklamebeschwert. UmKunden von anderenInstituten abzuwerben, versprach die fünftgrößte deutscheGeschäftsbankein neu eröffnetesKonto für einhalbesJahr „zumNullta-rif“ zu führen. Auch ärgertensich dieSparkassen über dAussage „Stellen Sie uns auf dieProbe, dann merkenSie,was wir leisten“. Dies sei „imVergleich zu allenKonkur-renzinstituten inhohem Maße herabsetzend“.Insgesamsechs Sprüchebeanstandete dieSparkassenorganisatiodie Hypo-Bank kam prompt derbarschen Aufforderunnach, die Werbung „unverzüglich in allen Niederlassungeund Geschäftsstellen einzustellen“.

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A u t o m o b i l e

Jaguar erwartetschwarze ZahlenDie britischeFirma Jaguar erwartet fü1995schwarzeZahlen. Zumerstenmaseit 1988 schlossen dasletzte Quartal1994 und daserste1995 mit Gewinn.GeschätzterErtrag für1995: 50 Millio-nen Pfund (110Millionen Mark). DieschlingerndeFirma war 1989 für 4,6Milliarden Mark von Ford übernommen worden. BisEnde 1996 werdenweitere 1,6 MilliardenDollar investiertund ein Sanierungsprogramm durchg

setzt. Die Belegschaftwurde bereitsum 48 Prozent auf6400 verringert.Die Fertigungszeit füreinen Jaguawurde von 120 Stunden auf 90Stun-den verkürzt. Nach 30 020Autos imvergangenenJahr sollen diesesJahr38 000 und 1996etwa 45 000 vomBandrollen.

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Ein Ausverkaufist nicht geplantDie Übernahme der notleidenden Iterhotel-Gruppe durch die Gläubiger-banken unter Führung der DeutscheBank, der Frankfurter Hypothekebank und der DeutschenPfandbrief-und Hypothekenbankwird bis zumJahresende dauern.Derzeit prüfen Ex

perten für Gesellschaft- und Steuerecht, wie derEigentumswechsel ambesten zu gestaltensei. Offen ist, obdie Banken die Hotelkette direkübernehmen.Ende 1991 hatten dieInhaber derBerliner Trigon-GruppeKlaus Groenke undAxel Guttmann,29 Häuser der ostdeutschen Hotelkte von der Treuhandgekauft. DieschwierigeLage auf dem Hotel- unImmobilienmarkt sowie Restitutions-ansprüche früherer Eigentümebrachten das Unternehmen unte

Druck: Die Hotelkette ist bei denBan-ken mit gut drei MilliardenMark ver-schuldet.Banker schätzen das operative Defizit auf 140 Millionen Mark.Vergangene Wochebeschlossen diBanken,alle verbliebenen 23 Immobilien in einem gemeinsamen Fondsübernehmen. Um denInterhotel-Aus-verkauf zu verhindern,sollen „prinzi-piell alle Schuldtitel in Eigenkapitalumgewandelt werden“. EinschnellerVerkaufeinzelnerObjekte istnicht ge-plant.

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Knick in der KurveInterview mit demModemacherOtto Kern, 45

SPIEGEL: Früher machten Sie a„Hemdenkönig von Deutschland“oder durch spektakuläre AnzeigekampagnenSchlagzeilen.Neuerdings

macht Ihre Firma Ver-lust, und der Umsatfällt drastisch zurückGeht Ihre Erfolgskurveabwärts?Kern: Nein, sie hat nueinen Knick bekom-men. Wir habenunserProgramm zu sehraus-geweitet und die Kollektionen zu groß gemacht. Daswollen wirjetzt korrigieren, in-dem wir etwa die Sport bekleidungslinie „Generation“einstel-len.SPIEGEL: Ende 1993 haben Sie 60Prozent IhrerGeschäftsanteile an diebörsennotierte Münchner Modehoding MHM verkauft. Ein Fehler?

Kern: Nein, mit Hilfe der MHM konn-ten wir unsereFamilienfirma moderni-sieren und längst überfällige Investitio-nen vornehmen. DerSchritt war nötig,um den Bestand der MarkeOtto Kernlangfristig abzusichern.SPIEGEL: Wie wollen Sie die Verlu-ste und den Umsatzrückgangwettma-chen?Kern: Wir müssen stärker im Auslandaktiv werden.Dort liegen die Wachs

tumsmärkte der Zu-kunft. Deshalb habewir bereits in diesemJahr vier neue Show-rooms in Paris, MailandAthen und Prag eröff-net. Außerdemwerdenwir von 1996an mitunse-ren vorhandenen Kunden ein Franchise-System einrichten.SPIEGEL: Ihr Logoprangtschon jetztunteranderem aufBettwäsche

und Kosmetika. Wird dasLizenzge-schäft noch ausgeweitet?Kern: Ja, demnächst aufUhren undBrillen. Ab 1997wird es darüber hinauauch noch Glas,Porzellan und Besteckunter der MarkeOtto Kern geben.

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Page 67: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

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E i n z e l h a n d e l

Mal früher, mal späterWas in den europäischen Nachbarländern längst üblich ist, soll nun endlich auch in Deutschland möglich werden:Einkaufen am späten Abend. Neue Argumente könnten die quälende Debatte um den Ladenschluß beenden. Einunveröffentlichtes Gutachten belegt: Viele Verbraucher würden längere Öffnungszeiten nutzen.

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ie Anrufe ausSylt kamen beinahtäglich. Fast drei Wochenver-D brachte Günter Rexrodt auf d

norddeutschenSchickeria-Insel,immerwieder schärfte er seinen Mitarbeitedas gleicheein: Über neue Erkenntnissdes Münchner ifo-Instituts zumThema

. . . mehr Lebensqualität: Einkaufsstraße in Hamburg

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Einkaufsstraße in Barcelona: Auch am Abend . . .

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Ladenschlußwolle er auchin seinem Feriendomizsofort unterrichtetwerden.

Nachzweieinhalb glück-losen Amtsjahren und einem gescheiterten Versucals Ladenschluß-Reformewill sich Rexrodt endlichals Anwalt von Verbraucherinteressen und als Vokämpfer für die Marktwirt-schaft profilieren. DieMünchner erarbeiteten imAuftrag der Bundesregierung eine Studie, die deMinister für seineZweckenutzen möchte.

„Der will das als großeLiberalisierungsorgie fei-ern“, glaubt ein Mitarbeiter, unddiesmal lägeRex-rodt richtig: Die Liberali-sierung ist im LadenschlußEntwicklungsland Bundesrepublik längst überfällig.

In der kommenden Woche wird die Studie übergeben – dann kann Rexrodloslegen. Was dieGutach-ter empfehlen, paßt ihmglänzend ins Konzept: DeLadenschlußsoll bis in denspäten Abendverschobenwerden.

Damit istklar: Dashoff-nungslosantiquierte deutsche Ladenschlußgesetdas zu den strengsten in Eropa gehört, istnicht mehrlange zuhalten. Die ent-scheidenden Politiker bhin zu Bundeskanzler Hemut Kohl habensich fest-gelegt, daß siesich an denEmpfehlungen der Gutachter orientierenwollen.

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Die Bundesregierungwollte schonlängstmehr Einkäufe amAbend ermög-lichen. Doch in dervergangenenLegis-laturperiode setzte die HandelslobKohl erfolgreich unter Druck. Die Reform wurde verschoben.Inzwischen haben viele Händler ihre Meinung geän

dert: Selbst der mächtigeDeutsche In-dustrie- und Handelstagsowie derZen-tralverband des deutschen Handwesind neuerdings für einevorsichtige Re-form. Sogar imHauptverband des Deuschen Einzelhandelswird intern umneuePositionen gerungen.

Der Handel ist unteDruck, weil immer mehrKunden und Verkäufer dieÖffnungszeitenumgehen:Flughäfen undBahnhöfeerinnern abends und aWochenende an Fußgägerzonen von Kleinstädten,Tankstellen (Verbraucherspott: „Tante-EssoLäden“) haben sich zuErsatz-Supermärkten ent-wickelt.

In Europa hatmittler-weile nurnoch Irland strengere Öffnungsverbote. Gerade in den kommendeWochen, wenn die Urlauber aus den Ferien zurückehren,werdenviele vollerGroll registrieren, daß Einkaufen in FrankreichoderSpanien viel angenehme

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Reformfreunde Rexrodt, KohlDas Gutachten paßt ins Konzept

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Offene TürenGesetzliche Ladenschlußzeiten (werktags) im Vergleich

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regional bis 22 Uhr

freitags bis 21 Uhr

bis 22 Uhr,Nightshops bis 24 Uhr

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an einem Wochentag bis 21 Uhr

keine Begrenzung

Neuer Vorschlag: täglich bis 20 Uhr(bislang nur donnerstags bis 20.30 Uhr)

keine Begrenzung

24 Uhr1615 17 18 19 20 21 22 23

donnerstags bis 21 Uhr

Frankreich

Italien

Belgien

Großbritannien

Deutschland

Niederlande

Dänemark

Spanien

Schweiz

Vereinigte Staaten

Irland

keine Begrenzungkeine Begrenzung

ist – und auch amAbend mehr Lebens-qualität bietet (sieheGrafik).

In den Rezessionsjahren blieben nwenige deutsche Industriearbeiter voflexiblerenArbeitszeiten verschont. Damit schrumpft das Mitleid derKundenmit der Verkäuferin, die noch abends ader Kassestehenmuß.

Überdies liefern die ifo-Forscherihrer großangelegten Untersuchung tsächlichgute Argumente. Sie haben ekundet, obihre Befragten den Diensleistungsabend amDonnerstag nutzenSie wollten wissen, wie vieleKundenschon einmal inRuhe Möbelaussuchenwollten und dabei gestörtwurden,weilder Ladenschloß. Und sie fragten, odie Verbraucher ihreletzten Einkäufewirklich lieber in denAbend verlagerthätten.

Etwa die Hälfte der Verbraucher, sodas Ergebnis, ist an längeren Einkauzeiten ernsthaft interessiert. Besondbegeistert sind junge, gutverdienendBerufstätige.

Die Ladenschluß-Reform ist nacAnsicht der Gutachter mehr alseineWohltat für Yuppies. Aufgrund von Erfahrungen im Ausland unterstellen sVorteile für die gesamte Wirtschaft: DiZahl derArbeitsplätzesoll wachsen, daWarenangebot üppigerwerden, und diePreise müßten sinken – allerdings nubei einer wirklich weitreichenden Reform.

Ratschläge zur Durchsetzung der Ekenntnisse liefern die Münchnergleichmit. Ärgster Reformgegner, daszeigendie Fehlschläge dervergangenenJahre,sind die Inhaber kleiner und mittlererGeschäfte. Sie fürchten,gegenüber de

Kaufhäusern zurückzufallen. Die könn-ten das Problem der Arbeitszeiten umöglicher Aushilfskräfteleichter lösen.

Die ifo-Expertenhabendeshalb Vor-schlägegemacht, wie die Umstellung füden Mittelstand erleichtert werden könte. Bislang dürfen Einzelhändler ihreÖffnungszeiten nichtabstimmen und nuunter strengen Auflagen gemeinsabeim Großhandel einkaufen.

Das soll sich ändern: Die Ökonomenempfehlen, gemeinsamen Einkauf uWerbung in sogenannten Verbundgrupen zu erleichtern. Der Gesetzgebmüßte dafür das Wettbewerbsrechtdern, die Handelskammernsollen dieKooperation vor Ort ankurbeln.

Die Widerstände gegensolche Vor-schlägesind noch groß. Alschancenreichergilt dassogenannte KorridormodelDabeigibt derStaat vor, wieviele Stun-den pro Woche ein Händlerseine Kun-den bedienen darf, abernicht, wann erdas tun muß.

Die Geschäfte hättenalso nicht längergeöffnet,aber dereinzelne Ladenbesizer könntesich stärker auf dieInteressenseiner Kundschaft einstellen. Wer zuBeispiel imRotlichtbezirkKondomever-kauft, würdesein Geschäft spätabendoffenhalten. Wer einenLaden neben einer Schule besitzt, könntezwarmorgensSüßwaren verkaufen, aber dafürviel-leicht am Samstag überhauptnicht insGeschäftkommen.

Unklar ist noch, ob der KorridordurchZeitgrenzen ergänzt wird. Der DeutscIndustrie- und Handelstag hat ein Kordormodell mit einem Ladenschluß umUhr an Werktagen und 18 Uhr amSams-tag vorgeschlagen. Die maximale Ö

nungszeitsoll bei 68,5Stunden pro Woche liegen.

Diese Obergrenzen halten dieifo-Gut-achter für völlig falsch. Sieempfehlen ei-nen deutlich späterenLadenschluß, damit die Vorteile derFlexibilisierung spür-bar werden. Auch dasStundenlimit leh-nen die Forscher ab.

Ob mit oder ohne Korridor – auf eiEnde desstarrenLadenschlusses stellesich längstVertreter aller Parteien einDie Bundestagsfraktion der FDPsowieWirtschaftspolitiker derUnion möchtenaber kleinen Händlern die Umstellunauf andereSchlußzeitenerleichtern.

Die Liberalen wollen Mautgebührenfür Innenstädte verhindern, umnichtnochmehr Autofahrer aus denStadtker-nen zu drängen. Verkehrsberuhigungund autofreie Tage in denCitys, daszei-gen Untersuchungen,lassen dieEinnah-men der Händler oft schrumpfen.

Ladendiebstählesollen auch in Zu-kunft nicht als Bagatelldeliktegelten,sondernstrafrechtlichgeahndet werdenUnd wer einen kleinenLaden in denneu-en Bundesländernbesitzt, hat neuerdingAnspruch auf die zehnprozentigeInvesti-tionszulage, diegerade für die Ostindustrie eingeführtwird.

Auch aus der SPD, dielange im Gleich-klang mit den GewerkschaftenandereÖffnungszeitenablehnte, kommenneu-erdings Vorschläge. Sowill Uwe Jens,

wirtschaftspolitischerSprecher im Bundestag, bei derReformmitziehen, wenndafür Aushilfskräfte imHandelbessergestellt werden.

Selbst KlausBregger, Chef derMittel-standsvereinigung derCDU, will die La-denschluß-Pläne des Wirtschaftsmisters neuerdings nichtmehr verhindernsondern ausweiten: „Wenn der Handesichumstellt, müssenaberauch die Ban-ken und die Rathäuser ran“, fordert er

GleichzeitigoutetsichBregger als Bekehrter: In seinem Urlaubsort an defranzösischen Coˆte d’Azur, teilte er ver-gangene Woche mit, lerne er die lockerfranzösischen Öffnungszeitengeradeschätzen. Y

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**über den AxelSpringer Verlag(Kirch-Anteil: mind.35%) weitere 24,5 %

***weitere 40% sol-len bis Frühjahr 1996verkauft werden

*mit Sohn ThomasKirch

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(Sat1, Pro 7, Kabel 1)*berlusconi

(Italia 1, Rete 4, Canale 5)

DeutschesSport-FernsehenMünchen

Telepiù Mailand

Tele 5 Madrid

Tricom Paris

Trio Grande Internationale Verflechtungen von Kirch, Rupert und Berlusconi

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Mediaset Mailand

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(Filmnet,Multichoice)

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GoldeneKalaschnikowDer italienische Medienmogul SilvioBerlusconi verkauft die Mehrheit sei-nes Konzerns – und behält dennochdie Kontrolle.

runo Beltrami,deutscherRepräsen-tant von Silvio Berlusconi, hatteBGrund zurFreude: „Er warganz der

alte“, schwärmte Beltrami über denkämpferischenAuftritt seinesChefs, alsder in Mailand den Verkauf vonrund 20Prozent seinesFernsehimperiums Mediaset an ein internationales Konsortiubekanntgab.

Tatsächlich wirkte derDeal desange-schlagenen TV-Chefs und rechtspopustischen Politikers, der 226Tagelang mitseiner Partei Forza Italia Italien regiehatte, wie einBefreiungsschlag.

Zwarbleibt Berlusconi persönlich wei-terhin staatsanwaltschaftlichenErmitt-lungen wegen Beihilfe zurBestechungund Verstoßes gegen dasitalienische Me-dienrecht ausgesetzt.Doch dieSchuldenvon schätzungsweise vier MilliardeMark, dieBerlusconisKonzernFininvestangesammelthatte,sind um fast die Hälfte reduziert; einezweiteVerkaufstranchevon nochmals 20Prozent, die imOktoberan Banken und Anleger geht,soll die Fi-nanzlast völlig beseitigen. Und der Verkauf von weiteren 20 Prozent, die i

Prinz Al-Walid: Vom Onkel gebremst

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Frühjahr an die Börse gebracht werden,soll dieKassendann richtig auf-füllen.

An BerlusconisReich,zu dem vor allem die großen Sender Canale 5, Itlia 1, Rete Quattro gehören, ist künftig eine Riegeschillernder Investorenbeteiligt:i der Münchner Medien

kaufmann Leo Kirch68, der es zusammen mseinem Sohn beiLizenz-geschäften, TV-Pro-duktionen und Fernsehbeteiligungen (Sat 1Pro Sieben) auf mindestens 2,5 MilliardenMark Umsatzbringt;

i der Südafrikaner Johann Rupert, 45, deden ZigarettenkonzerRothmans (PeterStuy-vesant) sowie die Lu-

70 DER SPIEGEL 31/1995

xusgruppeVendome (Cartier, Mont-blanc, Piaget) lenkt und über ein pesönliches Vermögen von mehrereMilliarden Mark verfügt;

i der saudiarabische Prinz Walid Ibn Tlal Ibn Abd el-Asis, 39, der seinVer-mögen von 16 MilliardenMark welt-weit gestreuthat, etwa in Beteiligun-gen an dem US-Finanzriesen Citibandem Kinderpark Euro-Disney, deNobelwarenhausSaks und dem Promnenten-HotelPlaza in NewYork.In der Runde derBerlusconi-Getreue

ist der Saudi-Milliardär einNewcomer.Über einen tunesischen Filmproduzeten, der mit demBerlusconi-Mentor undehemaligen Ministerpräsidenten Betti

Craxi gutbekanntist, gelangte Prinz Walid an „Sua Emittenza“, wieitalienischeBlätter Berlusconinennen.

Possierliche Geschenke, etwa einKrummsäbel und eineKalaschnikow ausGold in Originalgröße, sicherten deEmir die Gunst Berlusconis, dersicheinst mit Baugeschäften und alsMitgliedder Geheimloge P2 hochgearbeitethatte.Der Prinz hält nun 4,1Prozent anMedia-set – eine höhereBeteiligunguntersagteseinOnkel, König Fahd,wegen derSex-Filmchen auf den Kanälen des Italienewie La Repubblicaberichtet.Walid willdie TV-Ware fürseinen SatellitensendArabian RadioTelevision inKairo nut-zen.

Die PartnerKirch undRupertsind für Berlusco-ni allerdings von größererBedeutung – siesind seinewahren „Freunde“. MitihrerHilfe könnte derIta-liener die Kontrolle übeMediaset auchbehalten,wenn er nächstesJahr nurnoch 40 Prozent hälSchon seit einigerZeitagiert das Medien-Terzeim Gleichklang, offen-kundig mit demZiel, dieVorherrschaft auf dem europäischenTV-Markt zuerringen.

Das Trio steuert gemeinsam die MailänderPay-TV-Firma Telepiu`und den Münchner SendeDeutsches Sport-Fernshen. Als nächstes wollendie drei in Italien, Frankreich und Spanien aktiwerden.

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Treu wieKakerlakenDer Umsatz stimmt nicht und derGewinn schon gar nicht: Die Sparlockt ihre Händler mit leeren Ver-sprechungen.

er Mann von der Spar-Zentrakam schnell zurSache: „Sie maD chen denLaden zu“,stellte er bün-

dig fest.Dann legte er den Auflösungs-vertrag auf den Tisch.

Jasmina Pierstorff, 27, und ihrMannSven, 28, die das Lebensmittelgesch

Einzelhändler Sven, Jasmina Pierstorff*: „Wer anfängt, bringt frisches Geld mit“K

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in Neckarsulm als Pächterbetrieben,mochten zunächst die böse Nachrichnicht glauben.Doch derSpar-Vertriebsleiter erklärte ihnen kühl, daß sie keinWare mehr bekämen: „Wenn Sienichtunterschreiben,vollstrecken wirunsereForderungen.“

Den Spar-Partnern ist außer buntWerbefirlefanz und 200 000Mark Schul-den nichtsgeblieben. „Die haben unseinfach abserviert“,sagt Sven Pierstorfverbittert.

Anderen ging es ähnlich. Viele Le-bensmittelhändler wurden von der SpHandels-AG mit abenteuerlichen Versprechungen in dieSelbständigkeit gelockt, ohneeine echte Chance zuhaben.

* Vor ihrem ehemaligen Laden in Neckarsulm.

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Sie mußten fürstrategische Fehlenscheidungen des Spar-VorstandsHamburg geradestehen. Um demeige-nen Großhandelsapparat mehr Umszu verschaffen,hatte dieSpar AGHun-derte von Läden zusammengekaufdarunter eine Reihe unrentablerKlit-schen.

Spätestens mit der gefeierten Übnahme von mehr als2000 HO-Lädenund Verkaufsstellen aus derDDR-Kon-kursmassehattesich dieSpar übernommen. Dramatisch steigerte derKonzernseinenUmsatz, im Gewinnschlug sichdas jedoch nichtnieder.

Der jetzige AufsichtsratschefBern-hard Schmidt, größter Einzelaktionärder Spar, räumte1992 seinen Vor-standssessel. Sein Nachfolger, derehe-malige Rewe-Manager Helmut Dotteweich, will das Unternehmenschlankermachen; erversucht seither vor allemdie Supermärkteloszuwerden, die deKonzernbislang inEigenregiebetreibt.

Die Vertriebsleute und Akquisiteurder Spar in den Niederlassungen gehoffenbar nicht immer sauber zu Werke, wenn sie Einzelhändler überredenwollen, Spar-Läden zu übernehmenMögliche Risiken werden verschwie-gen, oftmals entpuppensich Zusagenals leereWorte.

Besonders grob zeigten sich dieSpar-Leute in den neuen Ländern„Heiße Luft“, sagte Dotterweich zudem Vorwurf, bei der Privatisierungder HO durch dieNiederlassung Magdeburg seinicht alles mit rechten Din-gen zugegangen (SPIEGEL 27/1995).Jetzt muß er „Hinweise auf eigenmäctige und ungedeckte Praktiken“einigerSpar-Manager einräumen (siehe Inter-view Seite 72). Die Staatsanwaltsch

Denn dort empfangen die TV-Zuschauer Programme noch immerfast aus-schließlich überaltmodischeHausantennen;Satellitenschüsseln undKabelnetzesind kaum verbreitet.

Kirch undRupert habenbereits Kapazitäten für rund 200 Kanäle aufgeplantenFernsehsatelliten angemietet, die vFrühjahr1996 an inBetrieb gehen. EineTeil der Programme planen sie alsPay-TV, bei dem die Zuschauer, wiebeimdeutschen Premiere, Gebühren für denEmpfangzahlen müssen.

Die Software für dieses Kauf-Fernshen der Zukunft habenKirch undRupertbereits entwickelt.Ihre gemeinsameFir-ma InternationalDigital Technologiesproduziert Steuer-, Decodierungs- uAbrechnungsprogramme.

In Italien plant Berlusconi, womöglichauch hier mit Kirch undRupert,zudemmit eigenen Telefonnetzen den Eintrittdie Telekommunikation. DieBerlusco-ni-Sender verfügenbereits über ein Netvon Relaisstationen. Es sei „doch lgisch“, soFedele Confalonieri, Präsideder Berlusconi-Dachgesellschaft Finivest, „daß wir uns über einsolches Geschäft Gedankenmachen“.

Kirch, das „Familienunternehmen minternationalen Männerfreundschafte(ORF-Chef GerhardZeiler), ist unterBerlusconis Verbündeten die stärksteKraft. Wegen der engenBande, zu deauch zahlreicheKoproduktionen gehören, ist er denmeisten deutschen Landemedienanstalteninzwischen jedoch su-spekt. Sieargwöhnen, der Männerbunhelfe sich gegenseitig über dasMedien-recht in Deutschland und Italien hinweDurchimmervielfältigereinternationaleAllianzen umgehe ergesetzlich vorgegebenenationale Höchstgrenzen fürSen-derbeteiligungen.

Der Thüringer Medienanstalts-ChVictor Henle, der dengrenzüberschreitendenVerflechtungen nachforschte unsich dabei mangels Auskunftsbereischaft der Beteiligtenverhedderte,miß-traut denNachrichten überKirchs Ein-stieg bei Berlusconi. Zu fragen sei, sHenle, ob essich bei dem offiziellgenann-ten Kaufpreis von 800 MillionenMark„um eine echte Barzahlungoder umeineVerrechnung handelt“. Es könne ja semeint der Medienwächter, daßKirchsRechnung um jenen Betrag gekürztist,den der Münchner womöglichbeimdefi-zitären Sender DSF alsVerlustausgleichfür Berlusconi getragenhat.

In Italien machtsich kaum noch je-mandIllusionen über den „Gesalbten deHerrn“ (Berlusconi über Berlusconi). Ehandelesich, so das MagazinL’Espresso,um einen „Pseudo-Deal“ und ein „Bombengeschäft“ für Berlusconi. Der Vekauf einesTeils vonMediaset,sagtMau-ro Paissan, Vizepräsident derRundfunk-kommission des italienischen Parments, sei doch „nur einWitz“. Y

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„Geringe Bonität“

Interview mit Spar-Chef Helmut Dotterweich über Händlerpleiten

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Quelle:SparGeschäfts-bericht

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Helmut Dotterweich(Spar-Vorstandsvorsitzender)

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Spärliche RenditeUmsätze des Spar-Konzerns in Millionen Mark

Jahresüberschuß in Millionen Mark

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SPIEGEL: In den neuenBundesländern sind viele Spar-Händler fak-tisch pleite. Was wollen Sie jetzttun?Dotterweich: Von unseren 1400Händlern hat heute nur eingeringe-rer Teil Probleme, vorallem jene,die unter stärkerem Wettbewerbste-hen. Zur Zeit prüfenunsere Geschäftsführer vor Ort mit den Handelsvereinigungen, ob Einzelhänler ohne eigenes VerschuldenSchwierigkeiten geraten sind. Wihaben fürsofortigeHilfsmaßnahmenbis zu fünf MillionenMark zur Ver-fügung gestellt.SPIEGEL: Wieso spricht die Spar erjetzt mit denBetroffenen?Dotterweich: Wir waren schon vorden Berichten in den Medien aktiFür 1995haben wir im Osten ein Investitionsprogramm von 30Millio-nen Mark angeschoben. Um dWettbewerbsfähigkeit der Spar-Eizelhändler zu verbessern,haben wirelf betriebswirtschaftliche Beratereingesetzt undwerden weitere Berater engagieren.SPIEGEL: Viele Ostdeutsche wurdemit falschen Rentabilitätsberechnungen in die Selbständigkeit gelockt. Gleichzeitig gab es Finanzirungsversprechen, die nie eingehten wurden.Dotterweich: Das stimmt so nichtWir habenallerdings in EinzelfällenHinweise auf eigenmächtige und ugedeckte Praktikenerhalten.Solltensichdiese Hinweise als zutreffend eweisen, werden wir entsprechendKonsequenzen ziehen.SPIEGEL: Warum wurden Lädenpri-vatisiert, obwohlbekannt war, dadie Einzelhändler die notwendigeInvestitionen nicht finanzierekonnten?Dotterweich: In zahlreichen Fällehat Spar die Finanzierungselbst si-chergestellt, selbstwenn Bankennicht dazubereit waren. DasRisikovon Spar war bei oft geringer Bontät der Händler nur durch ein notrielles Schuldanerkenntnis abgdeckt. DasfinanzielleRisiko lag undliegt letztlich beiSpar.SPIEGEL: Den Interessenten für eGeschäft wurden oft die Handelsumsätze der Vergangenheit vorenthten.

DER SPIEGEL 31/1995

Dotterweich: Das kann nur dieAus-nahmegewesen sein. Die Umsätwurden nicht allen Interessentevorenthalten.Mehrheitlich wurdendie Umsatzprognosen im ersten Btreiberjahr erreicht.SPIEGEL: Gibt es in den neuen Ländern mehrnotleidende Einzelhändler als im Westen?Dotterweich: Der Anteil der Händ-ler aus den neuenBundesländern,die in Zahlungsschwierigkeiten sinist höher als in den alten Bundeslädern.Durchschnittlich sind pro Nie

derlassung etwa 15 Händler in Zah-lungsschwierigkeiten.SPIEGEL: Es gibtSpar-Geschäfte, bedenen innerhalb einesJahres dreodervier Pächter hintereinander nuVerluste gemachthaben. Wie kommso etwas zustande?Dotterweich: Wenn wir einen Standort weiterbetreiben, haben wirsorg-fältig ermittelt, daß er unterbestimm-ten Voraussetzungen auchgewinn-bringend geführt werdenkann. Wirhaben genügend Beispiele aus demWesten und neuerdings auch aus dOsten, wo esnach einemWechsel desHändlers plötzlich geklappthat.

Halle hat Vorermittlungen aufgenommen.

Alles deutet darauf hin, daß esnichtnur um Tricksereien einzelner Spar-Lete geht. NachDutzenden von Händlern iMecklenburg-Vorpommern und Thürin-gen meldensichimmer häufiger Kollegenaus dem Westen, diesich von derSparübertölpelt fühlen.

Auch diePierstorffshatten den Fehlegemacht, den blumigen Versprechungder Spar-Experten zu glauben. Beischafften jahrelang für dieHandelskettemit der grünen Tanne im Logo.SvenPierstorff war schließlich Leiter, seineFrau Jasmina Abteilungsleiterin eineEurospar-Markts.

Im Oktober1992 übernahmen diebei-den einen Supermarkt in Neckarsulden die Spar von der Stadt gepachtet hte. Die Rentabilitätsrechnung verhieden neuen Betreibern eingutesGeschäft.Leider stimmte sie überhauptnicht.

Die Anlaufkostenlagenviel höher, derVerkauflief schlechter als prognostizierStatt der berechneten 3,7Millionen Markschafften dieKaufleute1993 und 1994 einen Gesamtumsatz von gerade 2,1Millio-nen Mark.

„Wir waren Tag und Nacht imLaden“,sagtJasmina Pierstorff.Dochauch so wardas Geschäftnicht mitGewinn zu betrei-ben.

Der nette Spar-Beraterhalf den bei-den: Er stundete die Zahlung fürgeliefer-te Waren. Als sie dannEndeJanuardie-ses Jahres beimNotar einjederzeitvoll-streckbares Schuldanerkenntnis untzeichnen sollten,wunderten sich diePierstorffs zwar,aber sie trautenihremBerater noch.

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Ex-Spar-Händler Lange

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Urlauber (im Düsseldorfer Flughafen): Ra

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VerluderteSittenDie Reiseveranstalter sprechen voneiner Plage: Immer mehr Urlauberbuchen in letzter Minute – zumeistspottbillig.

uf seineBranchesieht Gerd Hes-selmann, Präsident des DeutschenAReisebüro-Verbandes, „eine We

zurollen – da muß ich doch eineWandaufbauen“. Doch dieWoge derBillig-touristen kann auch Hesselmannnichtaufhalten.

Für 299 Markfliegensparsame Urlauber mit Fischer-Reisen auf die tunesche InselDjerba: Beidiesem Preis legder Veranstalter drauf, und auch beReisebüro deckt dieProvision nicht dieKosten.

Tatsächlich sehen die Reiseveranstater die Billigurlauber inzwischen als Plage. „Unberechenbar“ sei der Kunde gworden,klagt ein Reiseverkäufer: VieleDeutschewissen einfach nicht, ob siedemnächst nach Mallorca oder liebernach Florida wollen. Und werkurzfri-stig bucht,zahlt erheblich weniger.

Das hat seinenGrund: Wenn dieVer-anstalter sehen, daß ihre Chartermschinen möglicherweisehalb leer nachMallorca fliegen, undwenn sie nur einen Teil derbestelltenHotelbettenver-kauft haben,senken sie die Preise. D

„Keine Sorge“, erklär-te der freundlich lächelnd, „das machen wganz automatisch.“ Tatsächlich hatte der Ver-triebsleiter der NiederlassungEllhofen bereitsein anderes Pächter-Pächen an derHand. Dashatte, wie demverdutz-ten Sven Pierstorff späteim Arbeitsamt bestätigtwurde,bereits eineneueBetriebsnummer für deLaden beantragt.

Bis zum März durftendie jungen Kaufleute

batte von 20 bis 50 Prozent

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nichtsahnend weiterwursteln,dann kamdas Aus. „Wer anfängt, bringt frischesGeld mit“, mutmaßt dergeschaßte Händler über die Motive seinerEx-Partner.

Vor Gericht ist fürgeschädigte Einzel-händler der Sparwenig zuholen. „Bei mirklopfen ständig Kaufleute an“,sagt derMerseburger AnwaltWolfgangNoethe.„Aber wovon sollen dieeinenlangwieri-gen Prozeß bezahlen?“

Eine Kauffrau, deren Laden im Rheiland trotz 80-Stunden-Woche bisheutekeinen Pfennig abwirft, fühltesich ge-täuscht unddrohte der Spar, die Medieeinzuschalten.

Wenig später schnarrte ein Fax mdem Angeboteines „SPAR-WKZ vonmtl. DM 2500,–“ aus derMaschine – eineWerbungskostenzuschuß genannteSub-vention. Darunter derhandschriftlicheZusatz: „Vorbehaltlich Unterstützungder SPAR in NRW“ –eine deutliche Auf-forderung stillzuhalten.

Trotzdem erstattete derEhemann gegen das Spar-Management Anzeige wgen Betrugs. Die zur Übergabevorgeleg-ten Umsatzzahlen des Vorbesitzers severmutlich gefälscht.

Den zuständigenSpar-Leutenarglisti-ge Täuschung nachzuweisen istschwie-rig. „Selbst wenn der Vertrauensbrucauf der Handliegt“, sagt der BonnerRechtsanwalt KlausToonen, „läßt sichüber den Schadentrefflich streiten.“

Seinem Mandanten EdmundLange,33, hat der Anwalt geraten,sich mög-lichstaußergerichtlich mit der Spar zu enigen, statt jahrelang zu prozessierDer studierte Kaufmannhatte dieSpar-Lebensmittelabteilung im Kaufhof KölnKalk übernommen. Auch bei ihmstimm-ten weder der kalkulierte Umsatz nodie Kosten.

Die veranschlagteGewinnspanne, dawurde Lange bald klar, war blanke Phatasie: 26Prozentsollte ererzielen. Dasmag auf der Kö in Düsseldorfgehen, abenicht ineinem Viertel mitvielenArbeits-losen.

Die Verluste blieben dem rührigen Uternehmer ebenso treu wie dieKakerla-ken, die munter über denTresenspazier-ten, obwohl der Kammerjäger ihnen

mehrfach mit Gas zLeibe rückte.Sein Kon-to rutschte täglich umrund 1000 Mark tieferins Minus.

Im Mai gab LangenachsechsMonatenfru-striert auf. Seit Über-nahme des Ladensdurchdie Spar1994 war er dedritte Betreiber, heutmüht sich bereits derfünfte im Kölner Kauf-hof ums Überleben.

Während Branchen-kenner sich ob solcherFälle nicht sonderlich

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überrascht zeigen,wird in der Ham-burger Spar-Zentrale weiterhinabge-wiegelt. Die schlechte Publicitykommtdem Vorstand äußerst ungelegeSchon seit Monaten sucht die Spanach einem starkenPartner. Für denzunehmenden Wettbewerb ist sie troihrer 14 Milliarden Mark Umsatz auDauer zuklein.

Anfang des Jahres winkte derHan-delsrieseRewe ab. Eine Mehrheit amAktienpaket, unddamit ausreichendeEinfluß, war nicht zu haben. Mit demjetzigen Managementschien den Köl-nern dieSpar nichtsanierbar.

Offenbar sind auch die Verhandlungen mit Tengelmann ins Stockengera-ten. Dabei würden die Mülheimer gernrund 250unprofitable Supermärkte beider Spar abladen.

Dotterweich sieht darin gar keinProblem. Seine Kette sei ein „idealesAuffangbecken“ für solche Flächen.„Unsere selbständigen Spar-Kauflete“, sagt er unmißverständlich, könnten „die Märkte erfolgreich betrei-ben“. Y

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Touristikexperte Hesselmann: „Schmerzgrenze erreicht“

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Kein Reisebüro kanndas günstigste

Angebot herauspicken

geht schonanderthalb biszwei Monatevor dem Abflugtermin los. Um dieFlug-zeuge undHotels zu füllen, locken dieVeranstalter mit Sonderangeboten,der Regel 10 bis 20 Prozentunter Kata-logpreis.

Habenzwei bisdrei Wochen vor demAbflug immer nochnicht genugKundengebucht, fällt derPreis weiter. Dannverramscht der Branchenführer TUI wieviele andere Flüge und Betten an dFirma L’tur aus Baden-Baden.

Unter denUrlaubern hatsich längstherumgesprochen, daß mitsolchenLast-minute-Reisenviel Geld zu sparenist. Faustregel: Je später die Buchudesto günstiger der Preis. EinpaarTagevor Abflug gebucht,wird der Trip nachMauritius erschwinglich: zweiWochenfür 2900Mark – beieinem Katalogpreivon 5400Mark.

Last-minute-Touristen, so hat L’tur ieiner internenStudie herausgefundeentschließensich spontan für eine Reise. Die Kundschaft istjung und flexibel:Mancher, dereigentlichnach Ibizawoll-te, fliegt auch in die DominikanischRepublik, wenn dasAngebot günstigist.

L’tur-Urlauber seien höher gebildeund verdientenmehr als der Durchschnitt der Bevölkerung, behaupteMarketingleiter Markus Faller, „vieleFreiberuflersinddarunter, dieihren Ur-laub gar nicht Monate vorher planekönnen“.

Familienväter und ängstlicheNaturenplanen dagegen frühzeitig. Noch eheNUR, Deutschlandszweitgrößter Tou-ristikkonzern, im Novemberseine Pro-spekte mit den Sommerangeboten1996ausliefert, werdenrund 100 000 Kunde

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vorab ihrenUrlaub bestellt haben: Siewollen schon imOktober sicher sein,daß sie im nächsten August wiederdas-selbe Hotel am selben Ortbekommenwie seit 15Jahren.

Diese extremen Frühbucher belohNUR mit einemRabatt vonmeist 2 Pro-zent. Wer dagegen spätseineReise be-stellt, darf mit einem Nachlaß von 20 b50 Prozent rechnen.

Derzeit verkauft Last-minute-Anbieter L’tur im Schnitt 2000 Reisen proTag, 20 Prozent mehr als im VorjahViele andere Agenturen haben das E

folgsrezept kopiert, Veranstalteroffe-rieren eigene Last-minute-Reisen.

Nun fürchtenviele Reisebüros um ihGeschäft. Bei einem Marktanteil vozehn Prozent „ist dieSchmerzgrenze ereicht“, sagt Hesselmann. FürNUR-Chef Wolfgang Beesersind zehn Pro-zent „eine Katastrophe“. Bei ihm ist idiesemJahr der Anteil derKurzfristbu-cher von drei auf acht Prozenthochge-schnellt.

Keiner in der Branche weiß, wie deZuwachs derBilligreisen zustoppenist.Die Branche hat auf einenimmerwäh-renden Boomgesetzt und ihre Kapazitäten zu kräftigausgebaut.

Zwar verkauften die deutschen Veanstalter im vergangenenJahr 13Pro-zent mehr Reisen. Dochnoch schnellerals die Nachfrage ist dasAngebot ge-wachsen. Schon ein zusätzliches Flug-

zeug mit 200 Plätzen, rechnet NUR-CheBeeser vor,schafft in einer Saison aufden Routen zu denKanarischen Inselund den Balearen 90 000 Touristmehr.

Fastalle Chartergesellschaftenhabenihr Angebot ausgeweitet. Die werdeeben imErnstfall, prophezeitGerdHes-selmann, „L’tur einganzesKontingentauf den Hof kippen“.

Mit einer Werbekampagne warnt TUderzeit vor denBilligreisen. „GuckenSie nicht auf dieMark“, beschwört deTouristikkonzern die Kundschaf„gucken Sie aufdas, was Sie dafür bekommen.“

Aber werhinsieht,stellt fest: DerBil-ligtourist bekommt meistens dasselbwie der normale Katalogbucher. Überaschungenkann auch der erleben, wivergangene Woche dieStiftung Waren-test wieder einmalmeldete.

Noch immer würden, so die Tester, iden ProspektenNachteile blumig um-schrieben: DasHotel „direkt am Meer“bedeutet oft, daßkein Badestrand in deNähe sei. Die Preistabellen seienkompliziert und wirr, daß die meisteKunden sienicht kapierten –selbstRei-sebüros würden zu „40 ProzentfalscheReiseberechnungen“ abliefern.

Noch undurchsichtigersind die Kalku-lationen dervielen Veranstalter. KeinReisebüro kann mehr dasgünstigste An-gebot für denKundenherauspicken; deÜberblickhabenwohl nurnoch dieSpe-zialisten derDuisburgerMarkt Control.

Dort sind dieDaten undKonditionenaller Anbieter gespeichert. SokannWolfgang Grahl vor seinemComputerein typisches Beispielvorrechnen: imSeptemberzwei Wochen an der Algarve, Hotel Almansor in Carvoeiro.

SechsVeranstalter habendiesesHotelim Programm. 1463 Mark, inklusiveFlug, nimmt Transair dafür,2029Markdie TUI, 2449Mark diebaden-württembergischeATT-Touristik. Der Urlaubim Almansor, meintGrahl, könne alsLast-minute-Reise für1600 Mark offe-riert werden – und sei damit trotzdeteurer alseinige reguläreAngebote ausdem Katalog.

Manch angeblich billige Reise hatMarkt Control als Etikettenschwindeentlarvt. In den Schaufenstern der Rsebüros täuschenviele Last-minute-Of-ferten nur einen günstigenUrlaub vor.

Die Sitten seien „verludert“, räumL’tur-Mann Faller ein, glaubt aber:„Der Last-minute-Markt ist nichteinzu-dämmen.“ DaswirksamsteRezept gegen die Last-minute-Urlauber seinichtdurchzusetzen – Frühbucher mit einespürbarenNachlaß zu locken.

Vom Umsatz,klagt NUR-Chef Bee-ser, blieben den Veranstaltern bestefalls zwei Prozent Gewinn: „EinRabattvon fünf oder garzehn Prozent ist bedieser Margenicht drin.“ Y

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T a r i f p o l i t i k

Ritual aus der Steinzeit“Streit im Arbeitgeberlager: In Scharen verlassen die Firmen ihre Verbände, um den strengen Bestimmungen derTarifverträge zu entkommen. Mit Haustarifen versuchen die Deserteure aus den Chefetagen die Gewerkschafts-macht zu brechen – dabei haben sie mit neuen Tücken zu kämpfen.

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uf geschliffenediplomatische Formulierungen hatTyll Necker nieAbesondersviel Wert gelegt. Seit de

Maschinen-Fabrikant aus Bad Oldeslnicht mehr den Bundesverband dDeutschen Industrie anführt, hat erauch die letztenHemmungenabgelegt.

„Die Tarifpartner in Deutschland haben sich völlig von der Realität ent-fernt“, Gewerkschaften und Arbeitgberverbände „mißbrauchen ihr Monpol“, meint der knorrige Mittelständler.Schon seit vielenJahrenseien die Tarif-abschlüsse in derMetallbranche „nichmehr marktgerecht undschwer prakti-kabel“.

Necker, 65,sprichtaus, wasviele Un-ternehmer früher nur in internenZir-keln zu sagen wagten,inzwischenaberimmer lauter auch in der Öffentlichkeitdiskutieren: FlächendeckendeTarifver-träge mit ihren starren Regelungen übBranchen- und Bezirksgrenzenhinwegsind nichtmehrzeitgemäß.

Die Front der Kritiker wird täglichbreiter. „Wassich zwischen denTarif-partnernabspielt“, meint JanKleinewe-

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fers vom Verband DeutscherMaschi-nen- und Anlagenbau (VDMA), glei-che einem „Ritual aus derSteinzeit“.

Die Mitglieder der Arbeitgeberver-bände murren,viele Firmen verlassendie starre Organisation,andere habeihren Austritt angekündigt. DieterKirchner, Hauptgeschäftsführer desGesamtverbandes dermetallindustriel-len Arbeitgeberverbände, sprach in dervergangenen Woche von der „Existenz-krise unseresTarifsystems“. Erdrohtean, was längst schon imGange ist –„die Selbstauflösungunseres Verbandes“.

Äußerer Anlaß für dieKritik ist derim März abgeschlossene Tarifabschlfür die gut 8000Firmen in 13verschie-denen Branchen derMetall- und Elek-troindustrie. Erst nach wochenlangemGezerre hattensich die IG Metall undder mächtigeArbeitgeberverband Gesamtmetall auf eineLohnerhöhung vonrund vier Prozentgeeinigt.

„Diesen Abschluß“, höhnt der Rosenheimer Antennen-HerstellerAntonKathrein, „hätte ich mit meinenMitar-beitern inwenigenTagen erreicht.“

Klagen über zuhohe Tarifabschlüssegehören zur Tagesordnung imUnter-nehmerlager. Diesmalaber greift dieKritik weiter. Längstgeht es nichtmehrnur um falscheTaktik und zu hohe Abschlüsse ineiner Tarifrunde, bei der daZiel, flexiblere Arbeitszeiten auszuhandeln, gründlich verfehltwurde.

räsident Gottschol: Durch Klagen alarmie

Die neueKritik zielt auf denKern:Erstmals steht der Flächentarifvertrselbst zurDisposition. Alarmiert durchden Aufruhr im Arbeitgeberlager boIG-Metall-Chef Klaus Zwickel dem Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Gsamtmetall, Hans-Joachim GottschGespräche übereine Tarifreform an.

Der Streit entzündet sich an den immer gleichenReizpunkten. „PauschaleRegelungen bei den Arbeitszeitensindviel zu starr“, bemängelt Barbara Dörrvom ComputerkonzernUnisys.

Gefragt sind flexible Lösungen, mitdeneneine Firma in Flautezeitenweni-ger Arbeitszeitanordnen kann. Bei guter Auftragslage wollen dieArbeitgeberdagegen Mehrarbeitverlangen können,ohne sofort Überstundenzuschläge zalen zu müssen. Das gehenur, so der Rosenheimer Unternehmer Kathrein„wenn wir zu einer Jahresarbeitszekommen“.

Anlaß für Kritik bieten auch die im-mer feiner ziseliertenNebenabreden iden sogenannten Manteltarifen. „VieleMittelständler blicken nicht mehrdurch“, weiß Arnulf Jagenlauf vom Ar-beitgeberverband Südwestmetall. Relungen wie die „Lohnsicherung beiälte-ren Arbeitnehmern“,gibt Jagenlauf zu„sind schonsehr kompliziert“.

Früher regelten die Tarife nur dMindestbedingungen. „Jetzt istfast al-les, was von denFirmen individuelldraufgelegtwurde,tariflich festgeschrie

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ben“, klagt Ex-BDI-ChefNecker.

Die selbst vonFunktio-nären attestierte Reglungswut, die Arbeitgeber und Gewerkschaftein der Nachkriegszeit inmehr als 270 000Tarifver-trägen festgezurrthaben,begleitet die Arbeitneh-mer von der Wiege bizur Bahre. Siereicht vonden Prämien zurGeburteines Kindes über vermögenswirksame Leistungeund Weihnachtsgratifikationen bis zum Sterbegeld. „Der freie Tag zugoldenen Hochzeit deEltern ist doch ein

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Nicht nur Mittelständlerkehren dem Unternehmer-

lager den Rücken

Alles geregeltBeispiele von Tarifvertragsbestandteilen der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen

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§ 6 ManteltarifZuschläge für Mehr-, Spät-, Nacht-, Sonntags-und Feiertagsarbeit

1. Der Zuschlag beträgt für

a) die beiden ersten täglichenMehrarbeitsstunden

e) Sonntagsarbeit

h) Spätarbeit am 24.12. von 17 bis20 Uhr sowie Nachtarbeit in derdem 1.Weihnachtstag und demNeujahrstag unmittelbar voraus-gehenden Nacht

25%

70%

150%

vom Fach-arbeiter-lohn

§ 8 ManteltarifFreistellung von der Arbeit/Ausbildung

b) bei Niederkunft der Ehefrau

c) bei eigener Silberhochzeit

f) bei Eheschließung von Kindern,Geschwistern und Eltern

g) beim Umzug des Arbeitnehmers . . .

i) bei schwerer, mit Bettlägerigkeit verbundener Erkrankung des . . .

Ehegatten . . .

2 Tage

1 Tag

1 Tag

1 Tag

bis zur Dauervon 2 Tagen imKalenderjahr

§ 22 ManteltarifZahlung im Sterbefallan Hinterbliebene

Hinterläßt der Arbeit-nehmer. . . einen unter-haltsberechtigten Ehe-gatten . . . so ist dasregelmäßige Arbeitsent-gelt . . . für den Sterbe-monat und. . . bis zumEnde des folgendenMonats weiterzuzahlen.

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WOCHENARBEITSZEITin Stunden*

URLAUBS-TAGE*

* gilt für die Metallindustriein Westdeutschland

Anachronismus“, höhnt IBM-Personamanager Eckard Reimers.

Viele Unternehmer habenihre Kon-sequenz aus dem wachsenden intertionalenDruck auf Löhne undArbeits-zeit gezogen. Nicht nur inOstdeutschland, auch in Betrieben im Westen, ewa am Bau, in derLandwirtschaftoderim Speditionsgewerbe, schuften immmehr Menschen zu Arbeitsbedingungund Löhnen unterhalb deroffiziellenTarife. Gegenwehr kommt allenfallsvon den Gewerkschaften.

Auf dem Bau akzeptierenBilligarbei-ter aus Süd- und Osteuropa mit 6 MaStundenlohn Konditionen, zudenenkein deutscherMaurer dieKelle in dieHand nehmen würde. Zwarsorgt einEnde Juni in Bonn vorgelegtes Gesetdafür, daß ausländischenBauarbeiternvon 1996 an deruntersteTariflohn von21 Mark pro Stundegezahlt wird.Vieländern aberwird das Gesetznicht.

Die sogenannte Entsenderichtlinieauf zwei Jahre begrenzt undgilt auchnur für Arbeiter im BauhauptgewerbDie SPD würde gern deutsche Löhfür alle festschreiben –doch im geeintenEuropa ist das unmöglich.

Der Trend zeigt in die andereRich-tung. Auch inSpeditionen und Lagerbetrieben ist die Abweichung von der Trifnorm inzwischen gängigePraxis. Sosind etwa in Lübeck die Hafenbetriebgeschlossen aus demArbeitgeberver-

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band ausgetreten. Umnicht ebenso anEinfluß zu verlieren, offerierte der Unternehmensverband Hafen Hambuden Firmeneilig ein neuesAngebot: dieassoziierte Mitgliedschaft.

Dadurch könnensich dieFirmenpoli-tisch weiter durch ihre Lobbyvertretenlassen, sindabernicht mehr an die vomVerband ausgehandelten Tarifverträggebunden.Fast ein Drittelaller Firmen,die im Hafen denWarenumschlag unandereDienstleistungen besorgen,ste-hen inzwischen auf derListe derassozi-ierten Mitglieder. Für RolfFuchs vonder Gewerkschaft ÖTV ist das „ein

Katastrophe“. „Der Tarifvertrag ver-kommt zur leeren Hülse“, fürchtet er.

Die Flucht aus dem Tarifvertrag hauch diebislang strafforganisierte Metall- und Elektrobranche erreicht. Iden letztenMonaten kündigtenmehr alsdrei Dutzend Firmenihre Mitgliedschaftin den Arbeitgeberverbänden. VieleChefs, weiß der Südwestmetall-Geschäftsführer Jagenlauf, beziehensich inihren Kündigungsbriefen ausdrücklichauf die starren Flächentarifverträge, dden Unternehmenkeinen Spielraumlas-

sen. Vor dreiJahren zählte sein Ver-band noch 600 Mitglieder,inzwischensind es nur gut 500.

Nicht nur Mittelständler wie dieSpin-delfabrik Süßenoder die LaupheimeUhlmann Pack-Systemekehren demUnternehmerlager den Rücken. Aurenommierte größere Firmen wie dTextilmaschinen-Hersteller Schlafhoraus Mönchengladbach, der HeilbronnWerkzeugbauer Läppleoder die Com-putermultis IBM undUnisys wollensichnicht mehr von Gesamtmetall vertretelassen.

Vor allem dieFirmen der EDV-Bran-che, die aus alter Tradition zum Bereivon Gesamtmetall gehört, fühlensichzunehmend imfalschenLager. „Mit Re-gelungen, die fürDreher undSchlossegemacht sind,kann einEDV-Dienstlei-ster einfach nichts anfangen“, meinUnisys-PersonalleiterinBarbara Dörr.

Die große Freiheit bricht mit deFlucht aus dem Arbeitgeberlagermeistaber nicht an. Wollen die Bosseeineneigenen Haustarif abschließen, müssensie sich mit denGewerkschaften an enen Tischsetzen,denn dieBetriebsrätesind nicht befugt, Tarife auszuhandelFür sie gilt dassogenannte Günstigkeits-prinzip: Sie können mit derFirmenlei-tung nur Verbesserungengegenübedem geltenden Tarifvereinbaren.

Doch bei ihren Alleingängen laufendie Unternehmer eingroßes Risiko. Ob

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IBM versucht Mitarbeitermit unfeinen Mittelngefügig zu machen

die Verhandlungen auf Firmenebeden Unternehmern dieerhofften Vor-teile bringen, hängt vomWohlwollender Gewerkschaften und ihrer Vertraensleute in den Betrieben ab.

So zwang die IGMetall den Münch-ner ComputerkonzernDigital Equip-ment (DEC), der nieeinem Arbeitge-berverband angehörte undseine Ge-hälter stets individuell ausgehandehatte, einen Anerkennungs-Tarifvetrag zu unterzeichnen. Nach einem vder Gewerkschaft angezettelten Strverpflichtete sich Digital, das gesamtTarifvertragswerk der Metallbrancheder jeweils gültigen Fassung anzuweden.

So mußte DEC ohne Übergangsregelung die 36-Stunden-Woche einfüren und auch den Kündigungsschuterheblich verbessern. „Daran wäre dieFirma bald kaputtgegangen“,sagt einDEC-Manager.

Ähnlich erging es ClausZoellner,dem Chef der Briloner Akkumulatorenwerke Hoppecke.Nachdem Zoell-ner aus dem Arbeitgeberverband, dpikanterweise von seinemSchwagerKlaus Murmannangeführt wird,ausge-treten war, meldetesich die IG Metall.Die Folge: Zoellner mußte vorweni-gen Wochen jenen Tarifvertrag unte

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schreiben, dem er mit seiner Flucaus dem Arbeitgeberlager entgehwollte.

Besondersschlau glaubte es der damalige IBM-Deutschland-Chef HansOlaf Henkel anzustellen, als erEnde1992 aus demArbeitgeberlager aus-scherte. DaHenkel, inzwischen Chefdes Bundesverbands der Deutschendustrie, nach dem Austritt aus de

Metallverband seineFirma in verschie-dene rechtlich selbständige Teile zelegte, waren dieneuen IBM-Ablegernicht mehr an dieGesamtmetall-Konditionen gebunden. Nur im Produktonsbereich blieballesbeim alten.

Anschließend verabredeteHenkelmit der Deutschen Angestellten-Gwerkschaft (DAG ) einen HaustarifDie DAG sagte gern zu, obwohl sviel weniger Mitglieder in der IBM-Belegschaft hat als die IGMetall.

Der seitApril 1994 geltende Haustarif brachte für die IBMernicht nur dieRückkehr zur 38-Stunden-Woche, au

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die Löhne werden nun streng naLeistung bezahlt. 50 bis 60MillionenMark spart derMulti dadurch jährlichin Deutschland ein.

Doch der schlanke Haustarif hat diArbeit für Reimers undseine Crew,die sich jetzt um alle Regelungensel-ber kümmern müssen, erhöht. Gewachsen ist auch das Konfliktpotentia„Die Situation ist sehr angespanntmeint der Düsseldorfer IBM-Betriebsrat Wilfried Glißmann.

Die Betriebsrätesollen einer neuenEinstufung allerMitarbeiter in diever-schiedenen Gehaltsgruppen desneuenTarifs zustimmen. Vor allem die Betriebsräte mit einemMitgliedsbuch derIG Metall sind damit nicht einver-standen, der Hamburger Betriebshat seine Zustimmung komplettver-weigert.

IBM versucht die renitenten Mitar-beiter derzeit mit unfeinen Mitteln gefügig zu machen. GehaltserhöhungeUrlaubsgeld undandereSonderzahlungen wurden gestrichen.

Der Gewinner bei IBM stehtschonfest: die Gewerkschaften. Seit derComputermulti aus dem Arbeitgeberlger ausgeschert ist,behaupten IG Metall und DAG unisono: „Wir habenbeachtlichenZulauf.“ Y

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Sozialforscher Claus„Zum Scheitern verurteilt“

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. . .mit deutschen Tugenden?Selbsteinschätzung ostdeutscher Existenz-gründer; Rangliste der Eigenschaften

Weitblick15

Kreativität16

Einfühlungsvermögen17

Anpassungsfähigkeit18

Ordnungssinn19

Kompromißfähigkeit20

Risikobereitschaft21

Optimismus8

Entscheidungsfähigkeit7

Zielstrebigkeit6

Aufrichtigkeit5

Fleiß4

Pflichtbewußtsein3

Verantwortungsbewußtsein2

Zuverlässigkeit1

Quelle: ISIS, Magdeburg

Aufwärts.. .Wie werden sich neugegründete ostdeut-sche Unternehmen in den nächsten zweiJahren entwickeln – Selbsteinschätzung:

leichtverbessern58,8%

stark verbessern

11,4%stark ver-schlechtern3,9%leicht ver-schlechtern

6,9%gleich-bleibend18,9%

K o n k u r s e

Viel Wertauf FamilieEine Studie für das Arbeitsministeri-um in Sachsen-Anhalt behauptet:Ostdeutschen Firmengründern man-gelt es an Unternehmergeist.

ür die Pleitewelle inOstdeutschlanhaben diePolitiker in den neuenFLändern stets wohlfeile Erklärun-

gen parat. Imersten Halbjahr1995gin-gen täglich 16Betriebe in den Konkursmeist wird die „dünneEigenkapitaldekke“ (BrandenburgsWirtschaftsministeBurkhard Dreher) für denCrash verantwortlich gemacht.

Die Regierung in Sachsen-Anhaweiß esbesser.Eine für 180 000 Markvom Arbeitsministerium in Auftrag gegebene interneStudie kommt zu demalarmierenden Ergebnis: Daseigentli-che Manko liegt in der Persönlichkeitder Ost-Chefs.

Die häufigbeklagten Probleme, etwmangelnde Kapitalausstattung der Btriebe, der Wegfall osteuropäischerMärkte oder knauserigeBanker, sindnur vordergründig entscheidend.Wich-tiger sei, so die118seitigeUntersuchungdes Magdeburger Instituts fürsozialwis-senschaftlicheInformationen undStu-dien (Isis), daß bei denmeisten Exi-stenzgründern, „Mißverständnisse übedie Logik unternehmerischen Handelns“ bestünden.

So würdenOst-Chefs im deutlicheGegensatz zu ihren Kollegen aus dWesten „klassischeHaltungstugendenwie Pflichtbewußtsein,Zuverlässigkeitund Fleiß präferieren, „wichtige Unter-nehmertugenden“, etwaKreativität, Ri-sikobereitschaft und Kompromißfähig-keit, seien dagegen unterentwickelt.

Kein Wunder:Fastalle Existenzgründer, im Durchschnitt bereits stattlich43 Jahre alt, haben ihrbetriebswirt-schaftlichesHandwerk in den Führungs-etagen vonDDR-Kombinatengelernt.Dort zählten in der RegelUnterordnungund Planerfüllung,einen Beschluß zkritisieren,konnte denendgültigenKar-riere-Knick bedeuten.

Mit eingeübten Verhaltensmusteraus einerZeit, in der es Marktkonkurrenz nicht gab, läßt sich auch die ofteklatanteFehleinschätzung der eigenSituation erklären. Diemeisten der2166Befragten zeigten sich „gegenwärtighoch zufrieden“. Sie glaubensich in ei-ner guten Wettbewerbsposition.

Gezielte Marktbeobachtungfindetselten, bei fast zwei Dritteln der be-fragten Betriebe nahezu garnicht statt.Was heuteabzusetzen ist, so der fromme Glaube, wird sich morgen auchnoch verkaufen lassen.

Daß viel zuwenigeWaren außerhalder neuenBundesländer eine Chancehaben, irritiert nur wenige Jungunter-nehmer. Die Entwicklung zukunfts-trächtiger Produkte spielt in den Planungen offenbarkaumeine Rolle.

Selbst die vielzitierte sozialeKompe-tenz, der umgängliche Führungsstil osdeutscher Manager,kann schnell zumBumerang werden. „Man kenntsichseit Jahren“, sagt Isis-GeschäftsführerThomas Claus: „Da fällt es schwer, ewa dem Kollegen Müllermitzuteilen,du mußtjetzt gehen.“

Kurioserweise richtetsich dieses Solidargefühl nur nach innen. Kooperationen mit anderenUnternehmengibtes kaum. Mögliche Synergien werdennicht genutzt, alteKontakte scheinenvergessen. Wer nicht zum eigenen B

trieb gehört,wird als Konkurrentgese-hen.

Daranwird sich sobaldnichts ändern:Beinahe 60 Prozent der befragten Uternehmer, so dieStudie, wünsche„solche Kooperationsbeziehungen ggenwärtig nicht“.Eine intakteregionaleWirtschaftsstrukturkann sich so nichtentwickeln.

Importierte Westmanager, glaubtThomas Claus,seienkeine bessere Lösung. „Die kommen mit denhiesigenStrukturennicht klar.“

Bleibt nur die Schulung derFirmen-gründer im kapitalistischen Neufünf-land. Dieser „weiche Standortfaktor“(Claus) müßte nach Ansicht derIsis-Ex-perten von denLandesregierungenvielstärker berücksichtigt werden. „Sonstsind vieleBetriebe zumScheitern verurteilt.“

Einen Lichtblick gibt es allerdings inmitten der kleinständischen Gründer-welt: Der Ost-Unternehmer könne a„prägender Neuerer“angesehenwer-den, der bereit ist, „viele Entbehrun-gen“ in Kauf zunehmen. Erlegt Wertauf ein intaktessozialesUmfeld undsei-ne Familie, dafür verzichtet er vorerauf teure Urlaubsreisen.

Die Forscher sehen in dieser „arbeiethischen Dimension“, so die hübscUmschreibung für die Bereitschaft zerhöhterSelbstausbeutung, „zumindekurzfristigeVorteile, die zur Kompensation anderer Schwächen dienen können“. Y

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„Jede Spritze kommt zurück“SPIEGEL-Redakteur Ralf Klassen über junge Bodybuilder aus Frankfurt

Nachwuchs-Bodybuilder Marcus, Octai, „Neil“*: „Zweite Woche und schon

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ie verirrte Wolken furchen diKondensstreifen der Jets lanWweiße Strichekreuz undquer in

den blauen Himmel über Frankfurt. Dhinten, Richtung Süden,liegt derRhein-Main-Airport.

Octai blinzelt müde in dieSonne undschiebtsich ächzend auf die Schattenseder Parkbank. Er träumt vomFlughafen.Nicht die üblichen Flughafenträume voFernweh, Palmen odereinem anderenLeben: „Ein Job in der Gepäckabferti-gung, das wär’s.“

Die Jets, die Startbahnen, dieKoffer –all das ist nur wenigeKilometer von Oc-tais Wohnort Nied entfernt, einemklei-nen Städtchen, dassichFrankfurt vor einpaar Jahreneinverleibt hat. Und dochsind der Flughafen und derbegehrte Posten für ihn so unerreichbar wie Austrlien oder Katmandu. „Istalles dicht“,sagt er, „selbst die Aushilfsjobs.Kriegendie Studenten.“

Dabei wäreOctai ein idealerPacker.Keiner von den Jungs, die nach dem dten Samsonite erst mal Pause macmüssen. Der 19jährige Türke hateinenungewöhnlich massigen undkompaktenKörper. Sein wuchtigerRumpf läßt ihnviel größererscheinen als dieknapp1,75Meter, die ertatsächlich mißt. Seinbun-tes Hemd, Größe XXL, ist an Rücken,Brust und Schulterstraff gespannt.

Nicht alles anOctaiwirkt so vital: DieAugen sind trübe undentzündet, seinHals istdick angeschwollen, und von hinten drückt die Nackenmuskulaturweithoch –fast sieht es soaus, alssitze derKopf direkt auf den Schultern. DasZeug,heißt es, macht jedem einen dickenHals.

„Hi, Marcus“, begrüßt Octai seineFreund.Marcus ist ein Hüne,knappzweiMeter groß,eckig, gutehundert Kilo-gramm schwer. Er trägtKickboxerstie-fel, abgeschnittene Jeans und ein T-Shdessen Ärmel erweit aufgerollthat, umdie mächtigenOberarme zu präsentie-ren. „Hey,Octai“, ruft Marcus in tiefsteBaßlage, „hasteschon gepumpt? Geisiehst duaus.“

Mürrisch blicktOctai hoch: DasGere-de über Muskeln nervt ihnheute. „Mann,ich bin noch nicht fit“, sagt er, „allesschlapp. Ichbauedoch gerade erst wiede

* Mit Octais Pitbull-Terrier Jason.

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auf.“ Mit einem verächtlichen Blickkrempelt er den rechten Ärmel hocund spannt den Arm einwenig an: EinimposanterBizeps bäumtsich empor.

„Nicht genug“, sagtOctai, „dassinderst 40.“ So 48 Zentimeter Umfangmüßten esschon sein, „dann reden wiweiter, amEnde der Kur“.

„Kur“ ist die szeneübliche Bezeichnung für Muskelaufbau durch Anaboka („AnaboleSteroide“), die DesignerDrogen im doppeltenSinne sind: in La-bors hergestellte Präparate für diePro-

duktion vermeintlich perfekter Körper.Octai und Marcusnehmen denStoffschon seit einpaar Jahren.

Die Anabolika-Kids von FrankfurtNied sind keine Ausnahmen, keinedurchgedrehtenEinzelgänger, die demKörperwahn derneunzigerJahre auf besonders exotische Weise verfallen sinAnabolika-Mißbrauch istnicht – wieman lange glaubte – auf einpaar tumbeBodybuilder oder rekordgeile Leicht-athleten beschränkt: Zwar gibt es inDeutschland noch keine bundeswe

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Setzen einer Anabolika-Spritze, Marcus beim Training: „Geil siehst du aus“

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Untersuchung über gedopteJugendli-che. Dochnach Vergleichen mit Ländernwie Frankreich und GroßbritannieschätzenExperten, daßhierzulanderund100 000 Muskelbesessene, meist junBurschen,schlucken und spritzen, wadas Zeug hält – dassindgenausoviele wieKokain- undHeroinabhängige.

„Geradejetzt, im Sommer,wollen allenochschnellbrutal aufbauen“,sagt Oc-tai.Weil erauch mit Anabolika dealt, haer einen guten Überblick über denMarkt.

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„So groß war die Nachfrage noch niesagt er, „mittlerweile laufen mir selbst d15jährigennach.“ Octai war 16, als er mden künstlichenMuskelmachern anfing

Was hatten sie ihmnicht allesverspro-chen, nachdem er alsjungesTalent vonseinem kleinenFrankfurter Verein zudem berühmtenRingerklubdraußen imHessischen gewechseltwar: Weltmeisterwürde er werden, bestimmt,vielleicht so-gar Olympiasieger. Bald waren Octaschmale Schultern blau von all dewuchtigen Männerlob.

In der 48-Kilo-Klasse kämpfte er da-mals, knapp die Hälfte seinesheutigenGewichts. Er war ein eleganterRinger,mit flinken Beinen,schnellenAugen undeinem feinenStil. Octaihatteviel Talentund trainierte nochmehr, doch irgend-wann reichte das nichtmehr aus: „Umwirklich Spitze zusein, fehlte mir dieletz-te Kraft. Die macht den Unterschiedsagt er.

Aufgebenwollte er nicht. „Ich hatteendlich einZiel, die erste echte ChancemeinemLeben.“Marcus verhalf ihm zuseiner erstenKur, acht Wochenlangspritzte sich Octai irgendein türkischesZeug in dieMuskulatur undschlucktebil-lige Pillen. „Ich kam ganz übeldrauf“,berichtet er, „ichhatte Schweißausbrü-che und Alpträume.“ Und dannfügt ermit der verqueren Logik, diefast allenAnabolika-Kids zu eigen ist, hinzu„Aber eshalf.“

Er wurde größer,bulliger und zunächsauch erfolgreicher. Seineneue Kraftkompensierte zuerstnoch, daß erlangsa-mer geworden war und seineReaktionennachgelassenhatten – eine Nebenwir-kung derDrogen. Aberbaldmußte er im-mer mehr nehmen, umseinen träge unschwererwerdenden Körperwettkampf-fähig zu halten.

Die Siege fielen ihmnicht mehr soleicht, der Verein ließ ihn hängen: „Diehabennichts gezahlt,keine Fahrtkostenund so.“ Sein Vater, Müllwerker inFrankfurt, konnte ihnnicht mehr unter-stützen. „Da hab’ ich es haltaufgege-ben“, sagtOctai, und er mühtsichverge-bens, dabeigelassen zu klingen.

Ein paar Pokale undFotossind ihm ausder Zeitgeblieben – und die Sucht naeinem starken Körper. Seit damalskurt

er mehrmals imJahr, „nur für mich“,beteuert er, „ich brauche daswirklichnur für mich“.

Das Zeugdazu bekomme er hauptsächlich „vonFreunden, diegern verrei-sen“, sagt er und grinst. SüdeuropäischeLänder wieSpanien, Portugaloder Ita-lien gelten imMoment als beste Adressen für den Stoff. DieQualität ist gut,die Beschaffung problemlos: EinpaarScheine ersetzen beimanchem Apotheker das an sich nötige Rezept.

Noch einfacherkommt man anosteu-ropäischeWare, die gibt es an jederdeutschenEcke. „Doch dasganze Ost-Zeug ist zwar billig, aber kompletteMist“, sagtOctai. Er hat auchschonPil-len und Ampullen aus Polen,Bulgarienund Rußland probiert, „die machen nschlapp und bringenkaumKilo“.

Deutsche Anabolika, diehierzulandevon bekannten Pharmafirmenoffiziellzur unterstützenden Behandlung vKrebs- und anderen Schwerstkrankenhergestelltwerden,seienokay, abervielzu teuer: „Das hauensich nur dieYup-pies rein.“ Die wollen weniger trainieren und schnellere Ergebnisse,sagt Oc-tai, „die glauben echt, die könntensichihren Körper kaufen“.

Er und seineKumpel trainierenfastjeden Tag im Kraftraum.Aber ohne

Anabolikaund der Körperkult der neunzigerJahre haben unter Deutschlands Ju-gendlichen eine neue Sucht er-zeugt: Rund 100 000 meist jungeMänner spritzen sich oder schluk-ken muskelbildende Präparate. DieDopingmittel, die bisher nur mitSpitzensportlern in Verbindung ge-bracht wurden, sind zur Massendro-ge geworden und auf dem Schwarz-markt problemlos zu beschaffen.Für ihren Traum von bizarren Bizeps-bergen wie bei ihren Vorbildern Ar-nold Schwarzenegger oder SylvesterStallone riskieren die Nachwuchs-Bodybuilder schwerste Nebenwir-kungen: von Wutanfällen bis zumHerzinfarkt.

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Muskelmittel komme manirgendwannnicht weiter. „Diese Grenze, die mannicht überschreitenkann, die nervt.“

Angst davor,erwischt zuwerden, ha-ben sie kaum: Zwar ist der Handel mAnabolika strafbar,wird aber, da dieStoffe nichtunter das Betäubungsmittel-gesetz fallen, in derRegelweit geringerbestraft als ein Drogendeal – wennüberhauptverfolgt wird.

„Klar wissen die vom17., daß wir dasZeug nehmen“, erzähltMarcus, „aber

Marcus, „Neil“ (r.) beim „Aufpumpen“: „Die Leute sollen Respekt haben“

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Bodybuilder-Idol Schwarzenegger*Muskeln ohne Doping?

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die kümmert das überhauptnicht“ –das „17.“ ist das Polizeirevier im Nachbarstadtteil Hoechst. „Und von dnen“, behauptet Marcus, „spritzendoch auch einpaar, ich kenne die audem Studio.“

In ihrem Fitneßstudio in FrankfurKelsterbach – „ein echter HardcorSchuppen,nicht so ein Tingeltangelladen“ – nehmejedenfalls jeder Stoff.„Im Hochleistungsbereich geht es augar nicht ohne“, meint Marcus. „Werwas anderes behauptet,lügt – fertig.“

„Der Schwarzenegger“, davon istMarcus überzeugt, „hat doch auch gspritzt, aber der hat Geldgenug, umsich dasnicht anmerken zulassen.“

Vor einigenWochen ist die Clique zein paarSchlagzeilen in den Lokalzetungen gekommen, nach einerMassen-prügelei miteiner Gang aus demNach-barstadtteil. Seitherwechseln die meisten Bürger von Nied auf dieandereStraßenseite, wenn sie Octai undseineFreunde an der Parkbank sehen.

Doch auch die Anabolika-KidshabenÄngste, und wenn sie ihre Träume vSchwarzeneggeroder dem Job amFlug-hafen nicht mehr mit derWirklichkeitzusammenbekommen, redenMarcusund seineFreunde mit DagmarThiel.Sie ist Sozialarbeiterin in dem Verein„Kind in Nied“ und findet, daß man

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das ruhigenglischaussprechen unddannübersetzen sollte.

Sie kenntMarcus und dieanderen etwa 40 Jugendlichen, die regelmäßigihr kommen, seit etlichenJahren. Ei-gentlich ist das „Kinderhaus“ des Vereins nur fürKinder bis zu 14 Jahren gedacht – „aber in dem Alterfangen dochdie Probleme erstrichtig an“.

„Marcus ist dafür das besteBeispiel“,sagt sie. Der 22jährige isteiner derälte-sten aus der Clique,abernicht nur des-

halb der Wortführer. Nach einem gutenSchulabschlußbekam er eine Ausbil-dung bei Hoechst alsKunststoffschlosser, beendete sieerfolgreich und leistetdanach Zivildienst. Er ist verheiratetund hat eine eigeneWohnung – im Ver-gleich zu seinenKumpeln einsensatio-nell gerader Lebenslauf.

„Und“, fragt Dagmar Thiel, „nütztihm das irgendwas?“ Nurweil er in sei-nem erlernten Berufnicht mehr arbei-

* Im Film „Conan, der Barbar“.

ten möchte, habe er kaumeine ChanceFür die anderen aus der Gruppesehe esnoch düsterer aus. „Die Jobs, indenendiese Kidslanden können“,sagtThiel,„werden immerknapper.“ In die Handwerkslehrstellen drängenseit einigenJahrensogarAbiturienten. Diemeistender Hilfsarbeiten, diewenigstens einbißchen Sicherheitboten,sind wegratio-nalisiert.

Kein Job = keineZukunft = Muskel-protz? Soeinfach ist die Gleichung scher nicht.Aber dieeigene Stärke, sagtThiel, sei das einzige, worauf diesJungs nochvertrauten. Zu oft habe diGesellschaftihnen klargemacht, daß sauf ihre anderen Fähigkeiten keinenWert legt. So sind die Muskelmacherwohl mehr Mutmacher für den Kampals den sie das Leben verstehen.

Octais besterFreund ist Jason –zwarkein Terminator, aberauch ein respektablesKraftpaket: SeineBrust ist mas-sig, seineBeinmuskulaturbullig ausge-prägt. Der dicke Hals geht kurvenlosden riesigen Schädel über.

Nein, alles Natur, nix Stoff, beteuertOctai: „Der kriegtnichts von demZeug,ich bin doch nicht wahnsinnig.“Wahr-scheinlich istJason,seinPitbull-Terrier,deswegen nochganz friedlich.

Andere, sagt Octai, „Idioten undSchwachsinnige“, die würden jaauch ih-re Hunde aufpumpen.Tatsächlich istdie Versuchung für Kampfhundebeszer groß, aus ihrem potentiellenKillereiner Overkiller zumachen.GeradePit-bulls, Rottweiler und Mastinos sprechebestens auf Anabolika an, dienicht nurstark, sondern auchaggressivmachen.

Aggressionen, aber auch Angstzustände und Depressionensind psychi-sche Folgen derhohen Dosierungen, dsich Heranwachsende währendihrerKuren verabreichen. Die physischenNebenwirkungen füllen mittlerweileganzeLehrbücher: von Herz- undKreis-laufbeschwerden bis zuInfarkten undKollapsen, Schilddrüsen- und Stoffwechselproblemen, Impotenz undirre-parablen Leber- undNierenschäden.

Die Akne, die Octai auf Brust undRückenbekommen hat, ist daerst nurein optischesProblem,genauso wie dieHautrisse an denArmen –nicht immerkann die Körperhülle mit demWachs-tum der Muskelfülle Schritthalten.

Marcus umschreibt das so: „JedeSpritze kommt zurück.“ Aber: „Ichkann jaauch von derTreppefallen – dasist auch Risiko.“Außerdem, soberuhigter sich, lasse ersich regelmäßig vonsei-nem Arztdurchchecken. Der Medizineist ihm von Freunden aus demStudioempfohlen worden. „Derweiß, daß ichdas Zeugauch ohne ihn nehmenwür-de“, sagtMarcus, „da ist es ihm liebemich dabei zu kontrollieren.“

„Ich bin ja froh, daß er keineDrogennimmt“, sagtClaudia, OctaisFreundin,

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Party in einem Berliner Luftschutzkeller: Morbide Atmosphäre

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die zusammen mit ihm und ihremdrei-jährigen Sohn in derwinzigen Woh-nung seinerEltern lebt. Octai sei einwirklich netter Kerl, nur beim „Auf-bauen“ gefährlich launisch. Gott seiDank ist Octai der dritte Bodybuilderden sie zum Freund hat – „ich habe Efahrung“.

„Trotzdem krieg’ ich immer noch genug ab“, sagt sie undmeint nicht dieSchläge,wenn Octai mal wieder eine„roid rage“ hat, wie inAnabolika-Krei-sen ein unmotivierter Wutausbrucheißt. „Immer dann,wenn Octaikurt“,sagt sie lakonisch, „dann hab’ ich Pik-kel wie er. Krieg’ ich übers Spermamit.“ Die durch Anabolika produzierten Hormonkonzentrationenliegen biszu 4000mal höher als dienormalen,vom Körperselbsterzeugten Mengen.

Claudia holt alte Fotos von Octai aihrem Portemonnaie.Gerade maldreiJahresind seit den Schwarzweißaufnamen vergangen.Aber sie zeigeneinenanderen Menschen.

Ein hübscher Bursche war Octai dmals, gutproportioniert, mit fast sanf-ten Gesichtszügen, „da konnte ersogarnoch ein bißchen modeln“,sagt siewehmütig.Wenn Octai heute von Bühnen redet,meint er nicht die Mode-laufstege,sondern Auftritte beiBody-building-Wettbewerben, vondenen erträumt. Nach der Sache mit dem Ringen, finden seineFreunde, habe ersichvollkommen verändert.

Seine Lehre alsKfz-Mechaniker haer abgebrochen: „Ichwollte mir nichtsmehr sagen lassen.“ Ein nervigerChef,ein paar dummeKollegen, die ihn ständig anmachten,dazu das frühe Aufstehen – da schmißOctai alleshin.

Seither schlägt er sich mitkleinenJobs durch. Hauptschulabschluß,abge-brocheneLehre, ein paar Jahrearbeits-los, eine mieseAdresse und dannnochTürke – „viel bleibt da nicht“.

Seine Kumpel aus dem Fitneßklubesorgen ihm „Aufträge“, wie er esnennt. DieKumpel fahrendicke Ami-Schlitten, haben ein paarRotlichtbars„und ein paar Miezen“ in Frankfurt,aber mehrwill er darüber nicht erzäh-len.

Als letzter an diesemAbend kommtein schmaler Bursche mit langenHaa-ren zur Parkbank, der„Neil“ genanntwerden möchte.Neil ist 17 und machtzur Zeit die erste Kur seinesLebens.„Zweite Woche undschon dreiKilo zu-genommen“,sagt er stolz. Er möchteauf 75 Kilo kommen, rund 10 mehr, aer jetzt wiegt, „damit ich nach einbiß-chen was aussehe und dieLeute etwasmehr Respekt vor mir haben“.

Neil ist sich sicher, daß er bei 75 Kilaufhörenkann: „Klar, kein Problem.“Ganz sicher? Ein Blick aufOctai undMarcus,dann kommt einschmales Lächeln zurAntwort. „Na ja.“ Y

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P a r t y s

Tequila imUntergrundPartys in unterirdischen Katakom-ben sind die neueste Attraktion derBerliner Szene.

ou wanna go tohell?“ raunte derFremde neben ihm.Leigh Abbott,Y37, unterwegs auf den nächtlich

Straßen Ost-Berlins,ließ sich nichtzweimal bitten. Eine Einladung in dieHölle – das roch nach einem guten, seguten Abend. Abbott,britischer Wahl-berliner, folgte demUnbekannten,ver-ließ die Oranienburger Straßezugun-sten einer dunklenSeitengasse undfandsich ineinem Hinterhof wieder.Dort lif-tete sein Begleiter einen Gullydeckevom Boden, wies mit einem kargen„Welcome“ auf eine Leiter undver-schwand in dem schwarzenLoch vor ih-nen.

Ein paar Metertiefer, in den Kata-komben unterBerlins Mitte, strandeteAbbott aneiner improvisiertenBar. BeiTequila und Techno amüsierte ersichdort zusammen mit einpaar DutzendGestalten.Weil es so schönwar, wollteer ein paar Wochen später denAusflugwiederholen, doch die Hölle warschonwieder geschlossen.

Daß sich derGully überhaupt vor Ab-bott aufgetanhatte, war GlückssacheDenn derEintritt zu Partys dieser Ar

ist eingeweihten Szenegängern vorbehalten. Sowissen nurwenige, was die Holztreppe verheißt, die in manchen Nächtenauf dem Bürgersteig derLinienstraßeebenfalls im StadtteilMitte, steht.Folgtman ihren Stufen,gelangt mandurch einFenster in eine Wohnung, vondort in denKeller und endlich in einstraßenähnli-chesTunnel- und Hallensystem. Wosichum die Jahrhundertwende Brauerknechte abrackerten, tanzt und trinheute der Underground.Illegal, verstehtsich.

Berlin vonunten, das ist fürParty-Wü-tige dieneueste Attraktion der Metropole. Ähnlich wie inParis, Moskau und NewYork hatsichseit derWendeeine Subkul-tur im Ostteil der Stadt etabliert, die iarchaisch anmutenden Ambiente voKellern, Kriegsbunkernoder in der Ka-nalisation aufblüht. Jemorbider die At-mosphäre, desto lebendiger die Gäst

„Sabor da Favela“, Geschmack dElendsviertels, lautet derzugkräftige Na-me eines Etablissements unweit voCheckpoint Charlie. Die Schrotthaldaus Matratzen, Autoreifen, Brettern unGlasscheiben im Hof läßt nicht vermten, daß in der Ruinedahinter gut gekühlte Caipirinhas der Verkaufsschlager sin

Im Schein vonTeelichtern trommelt eine dreiköpfige Combo brasilianischeRhythmen. Anderweitiges Entertain-ment istnicht möglich, „unswurde derStrom abgestellt“, erklärtMarcus. VorvierJahren hatte der 28jährige Physikstudent aus Rio de Janeiro die Mauerrebesetzt,anfangs zuWohnzwecken. Später machte Marcus in SachenKeller-Kul-tur, befreite das Untergeschoß von Kolen und Sperrmüll und arrangierte Party

„Einen besonderenKick haben dieLeute immer gesucht.Heute haben wir

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Unterirdische Diskothek „Tresor“: Heftiger Kick

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bessere Möglichkeiten,des-halb sind die Kicksheftiger“,glaubt Ingo Tscharnke. De39jährige organisiert sezwei Jahrzehntenskurrile Fe-ste. Und neuerdings auchsol-che, welche seinStammpu-blikum sonst scheut: kommerzielle Großveranstaltungen. Mehrere tausendTech-no-Freaks ravten nach dLove Parade im „Time-Tun-nel“: In den weißgekachelteFußgängerwegenunter dem

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Alexanderplatz heizten zwölf DJs uneine zehnköpfige Live-Bandein.

Gern hätte Tscharnke, dessen AlHippie-Erscheinung nicht sofort auf enen Mann vomTechno-Fach schließeläßt, auch die benachbartesechsspurige Autounterführung in Beschlag genommen. „Aber das ist eine heiligeKuh für die Stadt“, resignierte er naclangen Verhandlungen mit den Behöden.

Kein Wunder, daß angesichts debürokratischen Hürdenläufeviele Par-tyveranstalter liebergleich in die Un-terwelt abtauchen. Klubs wie das„WMF“ mußten dreimal umziehenobwohl das einstige öffentlichePissoirunter dem PotsdamerPlatz gut besuch

war. Da bildet die Techno-Höhle „Tre-sor“ eine Ausnahme.Seit fünf Jahrenschon toleriert dieStadt die Partys indem unterirdischen Safe, der früher dSchätze des Wertheim-Konzerns behbergte.

Auf rund 30 schätztTscharnke dieZahl der Veranstalter, dieregelmäßigzu ungenehmigten Grooves in dHauptstadt laden.„Vieles läuft legal“,so wie der Tunneltanzunter demsowje-tischenEhrenmal, zu dem er demnächstbitten wird. Aber manchmalöffne ebenauch einAkkubohrer dieentsprechenden Türen,ersetze eine Strickleiterfeh-lende Stufen, wenn es zur „KriegsendParty“ in einen ehemaligenLuftschutz-bunker geht.

Daß es nicht nur beimHandbohrer bleibt, weißDietmar Arnold von derArbeitsgemeinschaft „Unterden StraßenBerlins“. „Aufder Suche nachvermeintli-chen unterirdischen Geheimnissen haben manche LeutSchweißbrenner und Sprenstoff im Gepäck“, ärgert sichder Stadtplaner, der unteanderem für denSenat Bun-keranlagen vermißt. Beisei-nen Untertage-Streifzüge

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trifft er gelegentlichauch auf die Hinterlassenschaften von Graffiti-Partys. „DSprüher verschaffensich über dieNot-ausgänge derU-Bahn Zugang ins unterirdische System und geisterndort bis andie Zähne bewaffnetherum“, so Ar-nolds Erfahrung. „Wenn dieeinen Zugbesprühthaben,wird das vor Ort gefeiert.“

Trotz der Geheimniskrämerei bleibedie Fetennicht immer ungestört.Gera-de hattensich 200 Gäste vor dem Tor enes Lichtenberger Industrielagersver-sammelt, da ertönte derSchlußpfiff.„Das Lager stehtzwar leer, ist aberein-sturzgefährdet“, argumentierte diePoli-zei, die vorab über die Feier informieworden war. Y

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Torloses TorDas Internet entwickelt sich zumneuen Medium für Kirchen undSekten, Gurus und Satanisten.

ess Weiss ist 23Jahre alt, einjungerAmerikaner,gerade mit derSchuleJ fertig und ohne Job. Erlebt bei sei-

nen Eltern in derKleinstadt Boca Raton in der Nähe von Miami, undweildie Suche nacheiner Stelle länger dau-ert und die öden Samstagabendeein-fach nicht enden wollten, hat er mitein paar Kumpels eineneue Religiongegründet.

„SuperChurch“ nennen dieJungsaus Florida ihreSekte, der Name isschon ein eingetragenes Warenzeichtäglich schauenmehrere tausend Gläubige in der SuperChurch vorbei.DochJess und seineFreunde habenkeineKirche gebaut, keinstaubigesHinter-zimmer als Versammlungsort gemiet

Religionsangebote im InternetMehr als 700 Kongregationen

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Die Anhänger treffensich zumMeditieren imvirtuellen Daten-raum.

Eine Texttafel mit der Kir-chenhierarchie, einpaar grobgerastertePorträts derKirchen-gründer, die 15wichtigsten Ge-bote der SuperChurch („Kaufniemals einFrettchen“, „WennDu die Spurwechselst,benutzeden Blinker“) bilden denKernder Juxreligion. Die komischFaszination entsteht wie beernsthaften Religionen auch iKopf. Der Bildschirm wird zumMeditationsmedium.

Ob Spaßgemeindeoder eta-blierte Staatskirchen,raffgierigeSekten oder versponnene Gur– mehr als 700verschiedeneKongregationen und Glaubenrichtungen scharen imInternetalte und neue Schäfchen umsich. Diegenaue Zahlschwankt,täglich entstehen neueReligi-onsaußenposten, aber daschließtauch manche Cyberkirche ihre Pforten wieder.

Von den Atheisten bis zu deAnhängern der altiranischenLehre von Zarathustrareichtdas digitale ReligionsangebotDa gibt es Bilder vonZengärten(„Suche das torlose Tor“),neueInfos von den Hare Krishnaoder Gesänge der Buddhisten

Manchmal mieten die SektekommerzielleComputer, um ih-re Informationen im Internet zveröffentlichen.Doch viel öfter

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mißbrauchen eifrige Studenten UniRechner, umreligiöse Infos ins Netzeinzuspeisen. AmerikanischeUniversi-täten gestatten ihren StudentenSpielereien im Netz alsReligionsfrei-heit.

Die Teufelsanbeterrund um denAmerikaner Anton Szandor LaVey(„Die Satanische Bibel“)haben ihr um-fangreichesMaterial („Hell – The On-line Guide toSatanism“) auf den Computer derMarshall-Universität im USStaat WestVirginia gespielt. So erreichen die Satanistenmehr als 35Millio-nen Internet-Benutzer auf derganzenWelt. Und die Lehren des1986 gestor-benen GurusJiddu Krishnamurti („DieWahrheit ist ein Land ohneWege“)sindauf einem Computer der TechnischeUniversität Berlinabrufbar.

Ob Satansanhängeroder brave Ka-tholiken, die Chancen, über den Dateraum neue Jünger anzusprechen,sindfast schondemokratisch gerecht.Nie-mand überwacht dieAngebote, esexi-stiert keineZensurbehörde, und wer interessante Texte und Bilder im Netz pbliziert, kannfast immer auch mitPubli-kum rechnen.Allein spannende Inhaltentscheiden über die Beliebtheit.

Die Internet-Fans, in der Überzajung, männlich und finanzkräftig, sinfür alle Religionen interessant. Diejun-gen Single-Männer sind es schließlichdie am schnellsten aus denetabliertenKirchen abwandern. Der New YorkeErzbischofJohn O’Connerpredigt des-halb bereits regelmäßig zur Cybergmeinschaft, seineThemenreichen vonMoral bis zu praktischen Gebetstip„Ich fühle mich wie auf dem RaumschiEnterprise“,sagt derKatholik.

Zu den aktivstenNutzern desCyber-space gehören diegeschäftstüchtigeScientologen. „Wir werden sämtlicheMittel desInternet benutzen, umScien-tology international zu verbreiten“heißt es in Dokumenten der SekteSchon sprechen Anhänger derAbzok-kersekte von einerneuen Ära.

Aber auch Scientology-Opfer tummeln sich im Internet: EinregelrechterKleinkrieg tobt zwischenGegnern undFürsprechern der Sekte, die oftver-sucht, Kritiker mit juristischenMittelnmundtot zu machen. Die Kontrahentbeschimpfen sich, versuchen denCom-puter desjeweiligen Widersachers mieiner Lawine von elektronischenBrie-fen zu verstopfenoder löschen Bot-

schaften – ohne Zustimmungdes Autors.

In einem elektronischenBriefforderte ElaineSiegel vom Bü-ro für „Spezielle internationaleAngelegenheiten“ (auch als Gheimdienst der Sektebekannt)die Scientologenauf, im Inter-net möglichst vielepositive Bei-träge über die Gemeinschaftpublizieren. Kritiker sollten audiese Weise aus dem Netzver-trieben werden. Siegel: „Wirwerden nicht länger dulden,daß unsereReligion im Internetkritisiert und geplagt wird.“

Schließlich sind vieleCyber-space-Surfer, oft zu spätStundeallein vor demCompu-ter, leicht zu beeinflussen„Einer Person, für die deComputer zum Partnergewor-den ist, fehlt ein wichtigeremo-tionaler Bereich. Das ist diLücke, in welche die Sektenhineinspringen können“, sagtSusanneSchaaf von der Zürcher Sektenberatungsstelle IfoSekta.

So gefährlich sind Spaßrelgionen wie „The FirstChurchof Cyberspace“oder dieSuper-Church von Jess Weiss gewinicht. Doch ersteSuchterscheinungen, so derCyber-Messiashätten sich auch schon beisei-nen Anhängern eingestel„Einige Typen schreiben mibis zu 15 Briefe proTag, diesind einfachirre.“ Y

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Turnierreiter bei den Kaltenberger „Ritterspielen“: „Die Bayern ständig verdroschen“

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Ben Hur im BierdampfEin bayerisches Mittelalter-Spektakel ist zur Urlauber-Attraktion geworden

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loß vier müßten noch sterben under Monarchistenbund gewinneBdann wäre er „König von Bayern

und könnteendlich für demokratischeZustände sorgen in seinemLand. Alserstes würde er dieDiktatur der Münch-ner Bierbrauer sprengen undseinenhauseigenen Sud aufs Oktoberfestschwappen lassen, daßdenen – vonPau-laner, Hacker und Löwenbräu bisSpa-ten,Augustiner undHofbräu – ihrWas-ser bis zum gschwollnenHals stünde wegen der königlich-wittelsbachischeKonkurrenz aus Kaltenberg.

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Er würde den Oktoberfesbreitärschenschon zeigen, wo deBarthel den Most und der BürgeseinBier holt: wie man nämlich ei-ne wirkliche Volksgaudiaufzieht.„Was sich auf der Wiesn ab-spielt“, schimpft PrinzLuitpoldvon Bayern, „hat mitbayerischerTradition schonlang nichtsmehrzu tun: zotige Lieder, Schunkel-partien und südamerikanischSchnulzen! Da steigen dieLeuteauf die Tische undmachen dieübelstenVerrenkungen. Das isrheinischer Karneval.“ In seinemKaltenberger Wiesn-Zeltdage-gen könne man eine MusikohneVerstärker erleben unddazu ein

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Programm, „das die Leut vom Hockreißt“, abernicht auf die Tische.

Der Brauprinz weiß, wie man ein Faaufmacht, wie manFamilien zurGaudispornt: mit wiesenbunten Gaukelsplen, Bratwürstenund, vorallem, mit Rit-tergeschepper. Und so hob er vor numehr 15 Jahren die „Kaltenberger Rittespiele“ aus derTaufe, und esging damitwie mit seinem Bier: Sienahmen rapidezu an Kraft undRuhm und anUmsatz so-wieso.

Da sind sie nunalle, dieNarren mit ih-ren traurigen Witzen, die Wahrsage

Ohren- und Flötenbläser, die Bratenwender und Tofu-Bäcker, die Feuerschlucker und die Luftschlangenspuker: in seinem Prinzenschloß, neugtisch überzipfeltes Mittelalter, drobenam Hügel,zwischen Wäldern, WiesenRehgehegen. In den Lüften schreit undlacht undradaut es undstinkt oder duf-tet; thailändischeRittermägde räumedie Holztische ab, undechte Neger spülen die Gläser entspannt mit Pril.

Und siehe,dort hasten sündhaft tätowierte Landsknechte zur Toilette iTann, undweißgekalkte Clowns überge

ben sichsanft hinterm Fahnenmast. Doch dann, im größtenHitzestau, Glock drei, Fanfarenstöße, brausendeHollywood-schwälle, und alles kriecht ausSchenken undZubern, stopftletzte Würste in schweißnassHälse, gießt nach mit „KönigLudwig Dunkel“ und „Prinzre-gent Luitpold Weissbier“ undtrollt sich überabfallende Knüppelwege und waldigePfade denKlängen entgegen.

Ben Hur! Die Erinnerung andas Gladiatorenspektakel dränsich auf, wenn mit einem MazwischenEichen und Erlen daOval des Kampfplatzes sichtb

Die Ritterspieledes Prinzen Luitpold von Bayern, die alljährlich aufdem hoheitlichen Schloßgelände im oberbayeri-schen Kaltenberg stattfinden, sind – laut Eigenwer-bung – das „größte Ritterturnier der Welt“. Auf jedenFall ist es die aufwendigste Veranstaltung dieser Artin Süddeutschland, wo historischer Klamauk derzeiteinen Boom erlebt. In diesem Jahr ritten, fochtenund prügelten sich über 1000 Darsteller bei demmehrtägigen Mittelalter-Spektakel, das der Prinz als„Gegen-Oktober-Fest“ ins Leben gerufen hat. Rund100 000 Menschen besuchten das Volksfest undsorgten beim Hausherrn für gute Laune: Sie trankenmehr als 100 000 Liter Bier seiner Brauerei.

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„Ritterspiele“-Besucher in der „Badestube“, Zweikampf in der Arena: „Geschepper und Bratwürste“

Veranstalter Luitpold (M.): Ruhm und Umsatz

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wird, mit zehntausendwaberndenTri-bünenguckern im Freizeitoutfit, ebuntes Wimmeln undSchwitzen um eine Sandarena, überschwallt von dieseMusik-Teppichfliesen aus 20 Schlachund Liebesfilmen. Von den Rändernstinkt herrlich dasSauerkraut aus deGarküchenherunter,fließen aus rollenden Zapfstellen Bier, Cola undSelters.

Einziehen die eisernen GladiatorenPolyesterharnischen, reitende Räuberim praktischenKettenhemd,ihre Knüt-tel, Lanzen, Morgensternegeschultertdie Piken zum piken gefällt, denBlickgespitzt über Bärten, so rückt das voins Oval. Die Fahnen, dieTrommelraß-ler, Fanfarenzüge, Dudelsäckler undPfeifenpieper: Abordnungen fremdeBurgen und Bürgerstädte – wie beOktoberfesteinzug! Jetzt dieRitter hochzu Roß mit aufgepflanztenLanzen,die-sen endslangen Turnierstangen, undgefährlichen Blechtüten über wüstSchädeln: Aufgeht’s zum „Turnier vonAshby“!

Ashby? Ist nicht die S-Bahn-StatioGeltendorf in der Nähe? Schon,aberaus Ashby stammt Ivanhoe,Ritter allerRitter, und sostoßen nun die normannschen mit den angelsächsischenHaude-gen zusammen, und eine Königin Rowe-na präsidiert demTurnier übermEin-gangsportal; auch heißt es,Robin Hoodwerde vorbeischauen, und überhauptwerdealles gefährlich undsehr prächtigwerden.

Es wurde rechtulkig. Die Leute rittendurchs Oval und haschten mitSäbelspit-zen nach Tüchern, schleuderten im Glopp ihre Spieße aufSchilde undrittenwilde Gesellen übern Haufen,durchbra-chen Strohfeuerwände undschlugensich wacker. Klar wird auch, wieviel

Zeit die damalshatten und mit wie wenig sie zufriedenwaren, unddaß,wennso ein Turnier derGipfel desEntertain-mentsgewesen sein soll, dasMittelalterschon seine unterhaltlichenDurststrek-ken haben mußte. Dochhalt! Der warschon ganz vergessen: Daflattert ganzin Grün an einem Drahtseil unvermitteRobin Hood über dieRitterschaft undstürzt sichhinab aufsie! Prinz Luitpoldist hingerissen.

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Er ist überhaupt daLustigste. Hockt be-geistert amRand undzuckt, wann immer einer den andern erschlägt undwenn dieRitter aufeinanderprallen, daß die Lanzan der Sollbruchstellwüst zersplittert„Profis, harte Profissind das! Dieschenkensich nix!“ schreit Ho-heit und schwemmt diLust und dasGrauenmit „König LudwigDunkel“ hinab.

Eine echte französi-sche Kaskadeurstruppe hat er engagier

Kerle, die schon durch Leinwandeperitten, die, aus demSattel gekippt,sichvon den Rössernrasend mitschleifenlassen, daß es nur sostaubt.

Der Fußtrupp, diewilden Schwert-und Spießgesellen, sind aus dem Tscchischen, ein ganzes Wallensteinlagdas zivil in GroßraumzeltenzwischenAutos, Fernsehschüsseln und (immer-hin) eisernen Stockbetten campiert. Nihre Marketenderinnenhaben sie zuHausegelassen. Diestehen nach wie vo

entlang der Straße von Hof überEgernach Prag.

„Zu Anfang“, sagt der Prinz undsei-ne Schneckerlhaarebeben, „zuAnfanghab’ ich ein paar Freunde aus der Ggend in Rüstungen gesteckt, dSchmied hat die Schwerter gehämmert,und so sind sieangetretengegen dieProfiritter aus Frankreich. Das war arweil die Bayern ständig verdroschenwurden; das waren ja reineAmateure:

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Zahnärzte und Hobbysegler und Jursten.“ Also hat ersich kurzerhand Rekken aus dem perfiden Albion geho„Grausig“, sagt derPrinz, und jetztbebtseine scharfe Spürnase zwischen denflinken Augen, „die Engländer warenpraktisch immer besoffen“,Profitrin-ker, Profischläger, Ritter ehernicht.„Die haben dann untereinanderKopf-gelder ausgesetzt: 500Mark fürs Abste-chen – mitmassivenLanzen.Irgendwiewar das gefährlich.“ Jetzt dagegenhabe

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man alles im Griff mit TschechenFranzmännern und all den Jahrmarkfiguren außenrum.

Hoheit schwelgtderart, daß ihm daHemd aus der Knitterhose hochrutscht und denlilienweißen Unterho-senbund zum Gürtel macht:1200 ste-hen in seinem Sold bei diesem „gröten Ritterturnier der Welt“, zu dem aacht Tagen,wenn’s gut undwarm her-geht, 100 000 zusammenströmen (10 bis 43 Mark Eintritt in „Die Weltdes Mittelalters“), umdort in gemein-samer Heiterkeit so 100 000 Liter Bizu verzischen, Bier von königlicherHoheit.

„Der Ansager im Turnier ist einech-ter Bayern-3-Moderator,und, schaunSie, diese Musiker da hab’ ich in d

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DDR entdeckt, dassind die RollingStones des Mittelalters! Da fallen dMädels um, wenn die aufspielen!Traun fürwahr, dassind vier wilde,glatzköpfig nacktbrüstige Mannsbilderin Fellstiefeln, die daeinen gewaltigenDudelsack und platzende Trommelogien mit schrägemZink loslassen,auchwenn kein Mädel umfällt.

Doch Hoheit stürmt schon weiterdurch Wald und Budenlager: „Da,dieseHandwerker! Dermacht Seile aus Seegras, der ausHanf, dem sein Ketten-hemd da, selbstgemacht, besteht a30 000 Drahtringen! Da drübengibt’sMohrenkopfwerfen, hier Schupfnudelund da spielenzwei gotische Weibleineinen Reimschwankzwischen Husten-saftpredigern und Seiltänzern; undwenn sich wer schmutzig fühlen sollte,hier hätten wir einen Originalbottichsamt kühlem Wasser!“ Und warmWeibleinstehen dabei, und esriechtsei-fig und sündig.

„Wo sonst könnensich ganze Famili-en einen Taglang so amüsieren und walernen dabei und schauen undessen undihren Spaßhaben miteinander?“

Na ja, möcht’ mansagen, es ist jheut’ schondirekt schwer, eine Stadt zdurchschlendern,ohne daßsich einemirgendwelche Meistertrinker (in Ro-thenburg) oder garschon Kinderzeche(in Dinkelsbühl) in den Weg lagern. Ikaum einer Altstadt kannst du noch eEis löffeln, ohne daß neben dirgrad ei-ner antiken Bürgerstochter der Hals agehacktwird und Knittelverse dich umprasseln.

Paddelst du auf einem Fluß,kommtdir bestimmt eineSchifferlkolonne indie Quere, die „den Weg desSalzes“ hi-storischnachrudert,wozu an denUfer-wegen schwere Rösseralles niedertrei-

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deln, wasnicht aus dem 14.Jahrhunderstammt.

„Neuburg feiert seine höfische Ver-gangenheit“ mit Armbrüsten undSchweinswürsten, „Historisches Spektakel in der Kronacher Altstadt“: Rittekämpfen,Spielleute spielen; inDorfentobt der „Bierkrieg“ von 1910 (ohneRitter, dafür mit Abfackeln riesigerWirtshausfassaden); irgendwo ballAndreas Hofer mit 500 Darstellern, 2Rössern und 20 000 Schuß über die Wsen; in Kaufbeuren tänzeln1600Kinderund 120 Pferde; in Burghausenbringt esder Tatort-Kommissar und Wandertrupenchef Martin Lüttge nur auf 100 Bügermitspieler bei der „Abschaffung deSalzprivilegs“, wasohne Rösser kaumabgehen dürfte, und beiNeuschwanstein soll demnächst ein Musical übeLudwig II. steigen.Konstantin Weckewirft schon mit Noten um sich, manrechnet mit Hunderttausenden und meinigenPferden.

So also müßte eine bajuwarischVolksgaudi aussehen, aber davon,fin-det Prinz Luitpold, haben dieHerrenund Damen in München keineAhnung,die einen wie ihnpartout nicht auf dieMünchner Wiesn lassen, wo sie dovon seinemAhndl ihrenNamen „There-sienwiese“hat, ja, die’s ohne seine ur-eignenUrvorfahren garnicht gäbe: Wienämlich derbayerische Ludwig und dipreußische Therese1810 geheiratet haben, stifteten sie das „Oktoberfest“ alskönigliches Patent für Bürgergaudi.Aber daran wollen sich die geldigenBourgeois von heut’ erst garnicht erin-nern, diebayrischesBier in Containereinsperren und südlichen Brauerstolzmit nordischen Versicherungen und Ivestmentschachteln versippen und vwässern. Statt dessensind sie stolzdrauf, „Bierbarone“ zu heißen, wo e

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„Mit den Kommunisten,da hast noch

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der Luitpold, doch vonHaus aus einPrinz ist mit gut 800JahrenaltemBlau-blut in seinen 44jährigenAdern.

Freilich haben die Münchner (andeals die drumrum hausendenRestbay-ern) immer schon ihre Wittelsbachescharf beäugt, habenihnen etwa1295die herzogliche Münzstätte einfach zetrümmert und 100 Jahre später diebei-den Herzögesamt den Patriziern füsechsJahre aus derStadt geschmisseund derweil, wie zumHohn, einerstesRitterturnier auf ihrem Marktplatzver-anstaltet und esgewiß mit demeben ge-gründeten Spaten-Bräu kräftig begos-sen.

SeineHoheit, derPrinz Luitpold vonBayern, halten zuGnaden,sah, 600 Jah

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Hamburger MCC-Gottesdienst: „Gerade noch geduldete Seelsorgeempfänger“

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Nestwärmeim GhettoDie Metropolitan Community Churchgewährt Schwulen und Lesbenreligiöse Zuflucht.

ir lieben Menschen,grad’ weilsie anderssind“, singen 30 MänW ner und 5 Frauen.Beim Refrain,

einem inbrünstigen Hal-le-lu-ja,beugtsich Thomas Friedhoff, 39, zu seineFreund und drückt ihmeinen Kuß audie Lippen. Als ersich wieder aufrich-tet, wird an seinem schwarzenHemd einPriesterkragen sichtbar. Friedhoff gein die Mitte desSaals undsagt: „Im Na-men Gottes, der uns Vater und Muttist.“

Friedhoff ist Pastor der Kirche füSchwule undLesben inHamburg. Wiejeden Sonntagabend feiert die „Metrpolitan Community Church“ (MCC) imCVJM-Haus an der Alster ihren Gottedienst. Die Idee einer eigenen Kirchfür Homosexuelle findet immermehrAnhänger: In Köln hatsichebenfalls ei-ne Gemeindegebildet, und auch inFrankfurt wirbt ein MCC-Aktivist umBrüder und Schwestern für eineneueGruppe.

Der von seiner Kirche gefeuerschwulePastor Troy Perryhatte1968 inLos Angeles die ersteMCC-Gemeindegegründet. „Metropolitan“ steht für denGroßraum LosAngeles, „Community“für die Gemeinschaft der Gays.Inzwi-

schen gibt es in 14 Ländern mehr als 28MCC-Gemeinden. Die größte, inDal-las, hat für 3,5 MillionenDollar eine ei-gene Kirche gebaut, die „Kathedralder Hoffnung“. Vor demAltar, einemWinkel aus rosaMarmor, versammelnsichsonntags bis zu1400Gemeindeglieder.

Zur Hamburger Gemeinde gehörrund 100 Lesben undSchwule, davonsind 25 feste Mitglieder. „Wir wollen eine Kirche, in der wirmehrsind als gerade noch geduldete Seelsorgeempfger“, sagt Friedhoff. 60 Prozent deHamburger MCC-Mitglieder, schätzer, waren in eineranderenchristlichenKirche, bevor sie zurschwulen Basisgemeindekamen.

Friedhoff gelangte über die JesuPeople zu einer Baptisten-Gemeinund studierte Theologie. Als ersichwährend der Vorbereitungszeit aufsPfarramtoutete,stellte derGemeinde-vorstand ihn vor die Alternative: kündi-gen oder gekündigt werden. „Und ichwar damals so blöd, selbst zugehen“,sagt Friedhoffheute.

Ein Drittel der Hamburger MCClekommt wie ihr Pastor ausevangeli-schen, meist fundamentalistischen Frkirchen, die Homosexualitätschlicht zurSünde erklären. Folglich haben Lesbenund Schwule in ihren Reihen keineChance, akzeptiert zu werden.

Obgleich sich in den evangelischenLandeskirchenviele Theologen undLai-en für sexuelleMinderheiten stark machen, fehlt der in manchen Gemeindepraktizierten Liberalität noch immer dekirchenamtliche Segen. Dieevangeli-schenBischöfe vonHamburg,Schleswigund Lübeck etwa wendensich in einemKonsenspapierzwar gegen die Diskriminierung Homosexueller in derGesell-schaft. Für ihreGemeinden abergelten

re später, die Zeit füreine Gegenrevolution gekommen, und er belagerte vseinem Ritterschloß Kaltenberg aus dHochburg München – zunächst mitBraunbierattacken undWeißbierwo-gen, indem der studierteJurist und gelernte Unternehmer ausseiner gleichnach der Geburt gekauften Brauere(mit dem sehrfamiliären Ausstoß von16 000 Hektolitern) ein Imperium mheute 400 000 Hektoliter errichtetund er nannteseinen Sud „königlichbayerisch“.

Das haben ihm die Münchner grichtlich verbieten lassen, so heißtseinBier jetzt halt „Von königlicher Ho-heit“, weil daserlaubt ist und übrigensviel pfiffiger.

Weil er an seiner Brauerei Spaßfand, fing er an, solche Biersiedereienschlüsselfertig zu exportieren. „Mitdem Ostblock“,sagt er, „ist das bombigangen“: 16 Stück hat er alleinnachUngarn verkauft, „dieGenossenschaten haben korrektgezahlt“, und nochheut mache die „Kgl.bayerische Bierstube“ in Budapest den größten Umsatzdort.

Der schon geplanteVorstoß bistiefin den Osten – Kaltenberger „KönLudwig Dunkel“ sollte noch in denhin-tersten Kolchosen verzapftwerden –scheiterte an derWende: „Mit denKommunisten“,sagt der Prinz und wirsentimental, „da hast noch verhandeund handeln können“, aberjetzt in die-sem Raubritterkapitalismus mit Mafund Bankrotten überall, wär’ aller Treuund Glauben hin.Luitpold retirierte inden Bannkreis seines Schlosses, wmittlerweile Ritter tobten, Hendlbrie-ten und das Volk durchseine Wiesenschwappte.

Seine Kaskadeure aber werden nweiterziehen nach Schweden, wohLuitpold sie empfohlen hat, zum„Stockholm Water-Festival“, die frohBotschaft der weltumspannendenGau-di dergestalt weiterpflanzend. UndKaltenberg werden dafür die edleRösserAndalusiens anrollen samt kosbaren Kutschen, zur großen „Fiesta“.Neben denen, sagt der Prinz, istdie Wiener Hofreitschule direkttot,beamtenmäßig verwelkt. Natürlichgäb’s dazu Sherry,spanischeSachenalles toll: „So washaben Sienoch nichtgesehen.“

Hoheit glüht schon wieder, sein Im-presario Hans Pilz glimmt leise mit,und der Brauerei-Marketingchef, eechter Pschorr, rechnet mit erhöhteBierausstoß trotz Vino fino.

Und die Münchner mit ihremOkto-berfest? Ah geh, HendlbratereienSchunkelschmarrn undGeplärr! Wärenwir im Mittelalter, wir würden nachRitterart sagen: Die können ihn imArsch lecken.

Michael Skasa

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andere Regeln: „Das ZusammenlebhomosexuellerPaare im Pastorat ist mder Leitbildfunktion des Pastorsoderder Pastorin nichtvereinbar.“

Ob sich dasoberkirchenrätlicheDen-ken noch vor dem Jüngsten Tag ändert,ist fraglich. DieMCCler sind esleid, inden großen Kirchen immer wieder dFrage diskutieren zu müssen, obHomo-sexualität mit christlicherEthik zu ver-einbaren sei. Sie möchtenjetzt schonschwul und gläubig sein undsich dafürnicht ständigrechtfertigen müssen. „Wwollen ein Netzwerk zur Selbsthilfesein“, sagtFriedhoff.

Den Apostel Petrus, der im See Gnezareth zuversinkendroht, vergleichter mit dem Schwulen, denFreunde undKollegen nach dem Coming-outfallen-lassen. „Ich fühle mich wohl inunsererGhettokirche“, sagt Frieder, der imGottesdienst Gitarrespielt. Im Ghettogibt’s kein kunsthistorischwertvollesKreuzrippengewölbe und keine majestischeOrgel, aberNestwärme. Bei Got-tesdiensten im CVJM-Saaloder imFrei-en dient einTisch, geschmückt mit enem gebatikten Regenbogen, alsAltar.Zum Abendmahlwird Traubensaft aueinem Steingutbecherkredenzt.

Pastor Friedhoff ist mit 14 Wochenstunden angestellt.SeinGehalt, dassichnach dem Tarif des Öffentlichen Dien-stes für Sozialarbeiterbemißt, kommtaus Spenden undfreiwilligen Mitglieds-beiträgen zusammen. Halbtags arbeFriedhoff beim Hamburger Aids-Prä-ventionsprojekt „Hein & Fiete“. Seitsich dort herumgesprochenhat, daß ePastor ist, „nehmen mich schon maJungs beiseite und stellen mir mit hocgeklapptem MantelkragentheologischeFragen“.

Den schwulen Mitchristen jedoch idie MCC ein Dorn im Auge.ReinhardSchünemann von der ökumenischen Ar-

MCC-Kathedrale in Dallas: Schwul und gl

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beitsgruppe „Homosexuelle undKir-che“ (HuK) fragt: „Muß das sein?“ DieHuK kämpft für Schwulenrechte in degroßen Kirchen, und Schünemannfin-det es „grundsätzlich schade, wenn Brüder und Schwestern von der Kirche dSchnauzevoll haben undihren eigenenKram machen“.

Auch Alexander Hottes, derFrank-furter MCC-Aktivist, hat diechristlicheBruderliebe schon zu spürenbekom-men: „Normale Schwulengruppen begrüßen unser Engagement,aber vonder HuK und der SchwulenKatho-lischen Gemeindegab’s großen Wider-stand.“

Jede MCC-Gemeinde ist autonoSie schickt lediglicheinmal im Jahr ei-nen Plan an den Vorstand deseuropäi-schen Distrikts inEngland. Die Hamburger Gruppe ist mittlerweile in dieKlasse der privilegiertenGemeindenaufgestiegen: Sie muß nur nochalle fünfJahreeinen neuenPlan vorlegen.Dar-über hinaus findet keine Kontrolle deRechtgläubigkeitstatt.

Die MCC verstehtsich als überkon-fessionelleBasisgemeinde. In den Liedern und derLiturgie legt sie großenWert auf „inklusive Sprache“, die Frauen nicht semantisch diskriminiert. DaGesangbuchlied „Ich steh’ in meineHerren Hand“haben dieJungs umgedichtet, es heißtjetzt „Ich steh’ in mei-nes Gottes Hand“. Und unter demGlaubensbekenntnis steht alsFußnote,daß der HeiligeGeist im Hebräischen„ruach“ heißt undweiblich ist.

Offiziell nenntsich die MCC „Kirche(nicht nur) für Lesben undSchwule“.Doch der Zusatz in Klammern, die Hterosexuellen,sind faktischeinewinzigeMinderheit. „Wir hattenlange eine Vor-zeige-Hete“, gesteht Friedhoff, „aberdie ist ohneunserZutun lesbisch geworden.“ Y

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„Gott, was haben wir getan?“

Die unheimliche Geschichte der Atombombe (II) / Von Peter Wyden

Truman, Stalin auf der Potsdamer Konferenz*: „Abwerfen, sobald einsatzbereit“

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Erste Atombombe*„Resultate übertreffen Erwartungen“

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ie mir dieseReise auf die Nervegeht“, vertraute Harry S. TrumaW seinem Tagebuch anBord des

US-Kreuzers „Augusta“ an. Derameri-kanische Präsident war auf dem WegSiegerkonferenz in Potsdam mit demwjetischen Herrscher Josef Stalin unddem britischen Premierminister WinstoChurchill, die am 17. Juli1945begann.

Truman, derungehobelte Politiker audem provinziellenBundesstaatMissouri,war ein Außenseiter geblieben, einTakti-ker ausschließlich aufinnenpolitischemTerrain. Nach dem Tod des großFranklinDelanoRoosevelt kurz vor demKriegsende inEuropadurftesichTrumanzwar mit dem Siegeslorbeer schmücken.Aber auf seinen Schultern lag auch dEntscheidung über den Einsatz der ersAtombombe, derenerfolgreicher Tesbei Alamogordo in der Wüste NewMexi-cos unmittelbar bevorstand.

Der Krieg gegen dieJapaner tobtnoch. Truman, der Oberbefehlshabdesseneinzige militärischeErfahrung dieeines Artillerie-Hauptmanns imErstenWeltkrieg in Frankreichwar, fühltesichbeklommen: „Ich würdelieber eine Bat-

* Links: am 24. Juli 1945; rechts: Foto-Sequenzvon der Test-Explosion bei Alamogordo in den USAam 16. Juli 1945.

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terie abfeuern“,schrieb er in sein Tagebuch, „als ein Land führen.“

Die kriegsmüden Völkererwartetenvon dem Führer derwestlichenWelt, dererstseitMitte April Präsident der Vereinigten Staaten war, eine überzeugenRolle auf dergeschichtsträchtigenKon-ferenz in Potsdams Cecilienhof.

SechsJahreKrieg hatten 55MillionenSoldaten undZivilisten dasLebengeko-stet. DieSowjetunion alleinhatte 20Mil-lionenTote zu beklagen.WeiteTeile Eu-ropas und Japanslagen zerbombt inTrümmern. DieWelt ersehnte einEndedes Blutvergießens.Truman, Churchillund selbst der skrupellose Stalin wolltihren Völkern Frieden bringen,schnellund entschlossen.

WeitereSchlachtfelder sollten vermieden werden.Aber dieEntwicklung triebschondarauf zu. Die Planung für eine InvasionJapansging in dieEndphase. DaQuartiermeister-Korps der U. S.Armyhattebereits 370 000 „PurpleHeart“-Or-den in Auftrag gegeben, die denOpferneinersolchen Invasion verliehenwerdensollten.

Zu Beginn der Konferenz stand dAtombombenoch nicht imVordergrund.Truman wollte vor allem densowjeti-schenDiktator zumKriegseintritt gegenJapan überreden. Das,hoffte Truman,

würde diese „Barbaren“schnell zur Ka-pitulation zwingen.

Vor dem Einsatz derAtombombe,sollte sie denn funktionieren, hattenicht nur Wissenschaftler wieAlbertEinstein gewarnt.Dabei hattesich derNobelpreisträger noch1939 in einemBrief an Roosevelt für die Entwicklunvon Kernwaffen ausgesprochen.

Es warenebenauch Politiker und Mi-litärs gewesen, dieBedenken hattenjener Staatssekretär im Marineministeum Ralph Bard etwa, der unter Protevon seinem Posten zurückgetretenwar,der Vize-KriegsministerJohn McCloy,eher ein Falke, der„politische Lösun-gen“ empfahl. Undnicht zuletzt rietenalle Top-Militärs des Präsidenten, die

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Brennendes Hiroschima nach dem Atombomben-Abwurf am 6. August 1945: „Hat so Pompeji ausgesehen?“ FPG

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ihn nach Potsdam begleitethatten, vomEinsatz derBombe ab.

Trumans engstenMilitä rberater, Ad-miral William Leahy, quältenmoralischeSkrupel. DerLuftwaffen-Stabschef GeneralHenry H. Arnold war derAnsicht,seine konventionellenBombardementhätten den Japanern defacto bereits dieNiederlage beschert. DerheftigstePro-test kam jedoch vonGeneralDwight D.Eisenhower, dem Oberbefehlshaberalliierten Streitkräfte inEuropa. Erhoff-te, „daß wir ein solches Gerät niemals ggen einen Feind einsetzen müssen,dennich sähe es ungern, wenn dieVereinigtenStaaten als erste eine soschrecklicheWaffe in den Krieg einbringen“.

Das war, nachdem am 16.Juli dieerstevorsichtig verschlüsselteMeldung vomerfolgreichen Test inAlamogordo um19.30 Uhr beiTrumaneingetroffen war„Operation heute morgen.Diagnosenoch nicht abgeschlossen, dochResultateerscheinen zufriedenstellend und übtreffen bereitsErwartungen.“

Von diesem Tag an warTruman „einanderer Mann“, soChurchill. Erhatte dieTrumpfkarte in derHand, die ihn zummächtigstenMann derWelt machte, mitder er Stalin, der inPotsdam zunehmenaggressiv undfordernd wurde, in dieSchrankenweisenkonnte.

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Am 24. Juli erwähnte TrumanStalingegenüber so beiläufig wie möglich, daßdie USA eine neue Waffe von unge-wöhnlicher Zerstörungskraft hätten.Der Georgierverzogkeine Miene. Tru-man konntenicht ahnen, daßStalin vonseinemAtomspionKlaus Fuchs auf demlaufenden gehalten wurde.

Enttäuschtkommentierte der Amerikaner Stalins Reaktion: „Er sagtenur,er sei froh, das zu hören, undhoffe, wirwürden dasgegenJapan mitErfolg zumEinsatz bringen.“

Zwei Tage vor demEnde derPotsda-mer Konferenz, am 31. Juli,hatte sich

Truman genau dazu entschlosseSchriftlich gab er denhistorischen Befehl: „Release when ready“ – abwerfesobald einsatzbereit.

ie Lehrerin Katsuko Horibe hatte aD Morgen des 6. August1945 über-haupt nichts gehört. Plötzlich war daLehrerzimmer der Honkawa-Grunschule in derInnenstadt vonHiroschimamit seinemBlick auf die T-förmige Aioi-Brücke in blendend-bläuliches Licht ge-taucht. Es war kurz nach8.16Uhr.

Das Fenster neben ihr zerbarst.Glasprasselte auf ihren Kopf und den linke

„Einen großen Knall“würde die erste Atombombe machen,sagte einer ihrer Väter, der US-Wissen-schaftler J. Robert Oppenheimer. Nochweniger als der Physiker wußten dieMilitärs über die Wirkung der Waffe,die vor 50 Jahren, am 6. August 1945,über dem japanischen Hiroschima ab-geworfen wurde. Hitler-Deutschlandwar besiegt , aber der Krieg gegen Ja-pan tobte noch. Die Völker warenkriegsmüde, und Amerikas PräsidentHarry S. Truman hoffte, die neue Ge-

heimwaffe würde Japan rasch zur Kapi-tulation zwingen. Die Atombombe, de-ren Abwurf er am 31. Juli – noch aufder Siegerkonferenz in Potsdam – be-fahl, war auch ein Trumpf der USA ge-genüber dem hartnäckig taktierendenSowjetherrscher Josef Stalin. Die mili-tärische Notwendigkeit sowie die mo-ralische Frage der ersten Atombom-ben-Einsätze, bei denen in Hiroschimaund Nagasaki etwa 180 000 Men-schen sofort und Zehntausende späteran den Strahlenfolgen starben, sindbis heute umstritten.

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Arm, doch sie spürte nichts. Siewarfsich unter einen Schreibtisch,machtesich jedoch gar nichtmehr die Müheihren Kopf zu schützen, wie sie esLuftschutzübungen gelernthatte: Hän-de vor die Augen, Daumen in die Oren. Was immer passiert war –offen-kundig war es schon wieder vorbei: Ewurdestill und schwarz wie dieNacht.

Für 8.30 Uhr war eine Konferenzangesetzt. Da die Straßenbahnjetzt imKrieg nicht mehr so zuverlässig fuhr,

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Überlebende Horibe200 Meter von der Bombe entfernt

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„Die ganze Stadt auf einenSchlag zerstört. Das muß eineneue Art von Bombe sein.“

hatte Katsukoeine frühere Tramgenom-men und war als erste eingetroffen. Drettete ihr das Leben.Alle ihre zehnKol-legenkamen auf dem Weg zurSchule um.

Unzählige Zufälleentschieden andie-sem schwül-heißenMorgen inHiroschi-ma über Tod und Leben, als mit „LittleBoy“, wie die Amerikaner sie nannteerstmals eineAtombombegegen Men-schen eingesetztwurde.

Zufall war, daß die Wunderwaffe iheigentlichesZiel, die Aioi-Brücke, um250 Meter verpaßte undstatt dessen i550 Meter Höhe über Dr. KaoruShimasKrankenhaus explodierte, nur 200Metersüdöstlich von derHonkawa-Schule. DaShima-Krankenhaus verschwand voErdboden, undalle seinePatientenver-dampften in derHitzewelle derBombe,während ein gnädiger Zufall den Eigentümer des Hospitals in dieVororte ge-führt hatte. Dortradelte Dr.Shima vonHausbesuch zu Hausbesuch.

Das „Hypozentrum“ der Bombe befand sich im Hof seinesKrankenhausesEs war der PunktNull, die Nabe des nuklearen Todesrades, der Punkt auf dErdbodendirekt unterhalb derExplosi-on: Er wurde der Mittelpunkt imneuenSchreckensuniversum Hiroschima.

88 von 100 Menschen, diesich inner-halb einesRadius von 500 Meternaufge-

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haltenhatten,starbensofort oder noch amselbenTag, die mei-sten anderen hattenicht mehrsehr langezu leben. JedePer-son, die inHiroschi-ma zunächst überleb-te, sollte später erfahren, wie weit dasSchicksal sie um 8.1Uhr vom Hypozen-trum plazierthatte.

Das gesamteZen-trum vonHiroschima

brannte völlig aus. In nicht einmal ei-ner halben Sekunde verursachten Hzestrahlen von über3000 Grad Celsiusbei den Opfern im Umkreis von 3,Kilometern Verbrennungen dritteGrades.Diese Temperaturreicht aus,um 14 Kilometer weiter ein Blatt Papier zu entzünden.

Bis heute istungewiß, wieviele der350 000 Einwohner den schnellenAtomtod starben. Die Schätzungenschwanken zwischen 80 000 un140 000.

Wer, wie die Lehrerin Horibe, naheam Hypozentrum war und überlebttat diesnur, weil er sich in einem derwenigen stabilen Gebäude inmittvon Holzhäusern aufhielt. Diedrei-stöckige Schule war ausStahlbeton gebaut.

Auch die 120 Meter lange Aioi-Brücke hielt stand, wenn auch ihrSteingeländer wie Kegel in den Flußpolterten und einige Abschnitte derBetondecke wieMeereswellen gekräuselt waren.

Sobald Katsuko Horibe ihre Sinnewieder beisammenhatte, rannte sie auden Schulhof, hinein in wirbelnde Woken aus dichtem, dunklem Staub.Dortfand sie sieben stöhnende Kinder. Si

bluteten und hattenschwarzeVerbren-nungen. IhreSchuluniformen warenzer-rissen.Hauthingihnen in Fetzen von deKörpern.

Die Lehrerin sahsich nach einemFluchtweg um.Flammen versperrten deWeg zur Aioi-Brücke. „Zum Fluß“schrie sie denKindern zu, „das ist derein-zigeAusweg.“ Wasser, dasheilige Was-ser der vielen Flüsse derStadt: Es würdehoffentlich die alles verschlingendeFeu-ersbrunst aufhalten.

Die wenigenMeter zum Ufer desbrei-ten Motoyas-Flusses schienenendlos.Als Katsuko Horibe mit den vorSchmer-zen schreienden Kindern diesteileTrep-

pe am Fuß der gepflegten, zwei Meter hohenKaimauer erreichte, geriet sie in einen Sog voLeibern, der zumWasserdrängte. Die Kinderver-lor sie aus den AugenSie sah sie niemalswie-der.

Der Motoyasschien inFlammen zu stehenBrennende Reste voHäusern, vorüberdrif-tendes Holz von den nahe gelegenen Sägewe

ken versperrten Schwimmern denWeg. Die meisten dervielen vorbei-treibenden Körperschienenohne Le-ben. Einige Menschen sprangen voder Kaimauer in diesen Kessel, dimeistenkauertendicht an dicht am gueinen Meter breitenFelsufer – gefangen in einer Falle.Ihre Gesichter,ihreKörper waren durch Verbrennungegrotesk aufgebläht. Viele lagen iSterben. Sieriefen „Mutter, Mutter“.Anderewarenschontot.

Katsuko Horibe warsicher, daß ihjungesLeben nun mit 18 Jahrenunaus-weichlich zu Ende war. Der Schockließ nach, und sie bekamgroßeSchmerzen. Ihr Gesicht, ihre Kleidunwaren blutüberströmt. Sie erbrach eimerkwürdige gelbe Flüssigkeit,immeraufs neue, und esstand für sie festdaß ihre Welt, daßganz Japan unterging.

Sie vergrub ihrenwertvollsten Be-sitz, die Monatskarte für die Straßenbahn, unterSteinen.Dann verließ siedie Gruppe sterbender Menschen aUfer und tauchte bis zumHals in denMotoyas ein. Ab und zuschluckte sieein wenig Flußwasser und biß eiStückchen von dem Apfel ab, der asie zugetrieben war.

Später ging sie zu ihrer Schule zurück, woein überlebenderKol-lege siefand. Gestützauf seinenArm, überglimmende Schotterstraßenvorbei an derAioi-Brücke, entkam

Katsuko Horibe der Hölle underreichteden Bauernhof ihrerEltern auf demLande.

akae Ito gehörte zu den 10 000 „Frei-S willigen“, die tagtäglich Häusernie-derreißen mußten, umFeuerschneisefür den Fall eines feindlichenLuftan-griffs zu schaffen. Sie warstolz aufihreAufgabe,leistete sie doch so, genau wdie Männer,ihren Beitrag zum Krieg.

Um 8.15 Uhr war ihrAbrißtrupp voreiner Reihe vonHolzhäusern angetreten. Ihre dicken baumwollenen Luftschutzhauben baumelten ihnen überRücken. „Losgeht’s!“ befahl derLeiter

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Überlebender MaeokaLinderung mit dem Teekessel

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der Gruppe, ein Börsenmakler. Dabrannte plötzlich FrauItos rechteSchul-ter. Sie schlug dieFlammen mit ihrenArbeitshandschuhen aus. Die Hanschuhe fingenFeuer. Dannwurde esdunkel, nichts brannte mehr, und FraIto fand sich unter den Trümmern deHauses wieder, das siehatte abreißesollen.

Die Gesichter derjenigen, diesichret-ten konnten,waren durch Verbrennungen so geschwollen, daß sieglaubten, sieseien blind. Sie hieltensich für Überle-bende eines konventionellenBomben-angriffs,auch noch, als es zu regnen bgann, einenunheimlichen schwarzenklebrigenRegen, der ölige Flecken aufihren Kleidern hinterließ.

Als der Rauchsichverzog und sie vonihrem Standort zu Füßen desHijiyama-Hügels auf daseineinhalb Kilometewestlich liegende Stadtzentrumschau-ten, sahen sie nur noch die TsurumBrücke, sonst stand nichts mehr.„Merkwürdig“, sagteeiner der Männer,„die ganze Stadt aufeinen Schlag zer-stört. Das muß eineneue Art vonBom-be sein!“

Eine Masse schwarzverbrannter,blu-tender Menschen drängte über dBrücke, die rettende Lebensader. IhHaare,gekräuselt von derHitze, stan-den ihnen vom Kopf ab. Die meistewarenfast nackt und so von Brandwunden entstellt, daß man ihr Geschlecnicht erkennen konnte.Schreiend undwimmernd hielten sie ihre Hände unArme hoch, mit nachaußengewinkel-

Bombenopfer auf der Flucht*: Mit hocher

ten Ellbogen: Auf diese Weisevermie-den sie, daß diewunden Hautflächeaneinanderrieben.

Die verzweifelteMenge aus der Staddrängte immer weiter den Hijiyama-Hgel hinauf, während unten, um dieTsu-rumi-Brücke herum, das Chaos anschwoll. Hunderte vonMenschen stauten sich vor der Brücke.Viele waren vorSchmerzen in die kleinen Feuerlösch-bottiche gesprungen, die mancheFami-lien bei ihren Wohnhäusern errichtehatten.Dicht an dicht gedrängt, erhoff-ten sie dort Linderung.

hobenen Armen fort von den Flammen

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Die meisten Flüchtlinge wa-ren Schulkinder.Ihre Gesich-ter waren so schwarz ver-brannt, daß sieeinandernichtzu erkennen vermochten.

ie TelefonistinTaekoTera-D mae, 15, wargerade von ihrer Teepause zurück, hatKopfhörer und Mikrofonwie-der angelegt, als sie denBlitzsah. 550 Meter war dasFern-sprechamt, einBetonbau, vomHypozentrum entfernt.

Kisten mit Schaltern und Kabeln stürzten auf sie. Sie kroczur Treppe, die war von deKörpern derKolleginnen blok-kiert. Die meisten warentot.

Vom Fenster zum Rathauhin konnte Taeko sehen, dadie ganze Stadt inFlammenstand. Nur derHijiyama-Hü-gel im Osten schien unver

sehrt. Siesprang aus demFenster undrannte inRichtung Tsurumi-Brücke losblutend, barfuß, auf demlinken Augeblind. Niemandsonstrannte. DieStraßewar vollerversengter,geschwollener Leiber, dielangsam, schweigend,sicherbre-chend, mit hocherhobenenArmen undim Wind flatternden Hautfetzenvorwärtsschlurften, fort von denFlammen, fortvon der Stadt.

Taeko gelang es, vorbei anLeichen,Trümmern und Halbtoten ans andeUfer desFlusses zuschwimmen. Auf hal-ber Höhe des Hijiyama-Hügels traf sie

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auf eine endloseSchlange vonVerletzten, die vor einer behelfsmäßigen, von Schwesterund Soldaten betriebenen Nostation unter einer Hänge-brücke saßen. TaekosGesichtwar inzwischen so geschwolen, daß sie nur noch durch enen winzigenSpalt zwischenden Lidern des rechten Augesehenkonnte. DieMenschenschrien nach Wasser, vieleflehten: „Tötetmich! Bitte tö-tet mich!“

Als Taekoschließlich an dieReihe kam, nähten dieSolda-ten ihre SchnittwundenohneBetäubung und bandagierteihr den Kopf. Als siezusam-menzuckte, sagte einer derMänner: „Sie sollten stärkersein, sonst können wirnicht ge-winnen!“

iner der Polizisten, die deE Flüchtlingen über die Tsurumi-Brücke und die Straßzum Hijiyama-Hügel hinauf

* Aus einer Sammlung mit Zeichnun-gen von Hiroschima-Überlebenden(ebenso die Zeichnungen auf denSeiten 106 und 108).

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halfen, war MotojiMaeoka, 18,seit ei-nem Monat im Dienst. Aufseinem Posten im Temonintempel am Fuß des Hgelshatte erleicht verletzt überlebt.

Da weit undbreit niemand das Kommando zu habenschien, beschloß er egenmächtig, dieKarawane derVerzwei-felten hügelan zu schicken.Doch schonam frühen Nachmittag wurde ihmklar,daß es vieledieser Flüchtlinge nichschaffen würden. Durst schien sie unsäglich zu quälen.

Maeoka hatte inseiner Polizistenausbildung gelernt, daß Wasser für Vebrennungsopfer sehr schädlich sei.Den-noch füllte er einen großen Teekessmit Wasser undwanderte mit ihmlos.Viele der Menschen lagen imSterben.Ihnen mußte er die Tülle desKesselszwischen dieLippen schieben.Sein Le-

Tote und verletzte Bombenopfer: „Zum Fluß, das ist der einzige Ausweg“

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ben lang bliebMaeoka fälschlicherweisedavon überzeugt, daß er den TodvielerMenschen beschleunigt hätte,weil erkei-nem das Wasser verweigernkonnte.

hinzoHamai war 38 Jahre alt undLei-S ter der Städtischen Versorgungsabtlung, als dieBombe sein Haus ineinerVorstadtHiroschimas zerstörte. Verant-wortungsbewußt machte ersich auf, umin sein Büro imRathaus zu kommen. Lebensmittel waren ohnehinschon sehknappgewesen, als die Stadt noch unzstört war. Bald würde esHunger geben

Das Rathausstand in Flammen, deBürgermeister war darin mit 280 städti-schenBeamten umgekommen. Niemahatte die Feuerwehrgesehen,also arbei-tete siewohl nicht.

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Hamai übernahm die Führung überne kleineGruppe von Beamten, die er ader Straße fand – die Überreste derstaat-lichenAutorität. DieUngeheuerlichkeides Notfallsmachte aus Hamaiaugen-blicklich eine respektheischende Figu

Er brauchte Lastwagen, und er war atorisiert, in Notsituationen die Fahrzeueines Panzerwagen-ÜbungszentrumsSüden der Stadt zu benutzen. Diedortverantwortlichen Offiziere, sture Bürokraten,verweigerten sieihm. Es gabkei-ne Fahrer, und die HerrenOffizierewoll-ten gerade Feierabend machen und nHause gehen.

Hamai, normalerweise höflich undsanftmütig, gerietaußersich.Wußten dieMilitärs dennnicht, daß die Überlebenden in Hiroschima vomHungertod bedroht waren? „Wassoll denn dasPanzer-

wagen-Training noch bringen?“ brüllteer. Er bekamseine Lastwagen.

Für den Rest des Tages und dieNachtüber war Hamaiunterwegs, verteilte Lebensmittel und sorgte fürneue. Erschleppte Säcke mit Brot auf seinem Rüken durch die Straßen und organisierdaß Reisbälle in großen Mengen gekowurden. Erlegte alleRegeln derjapani-schen Höflichkeit ab und schrieVorge-setzte an. „Ichmerkte garnicht, daß ichdas tat“, erinnerte ersich später. „Ich ar-beitete wie imTraum.“

1947 wählte ihn der Rat der Stadt zuBürgermeister.

atoshi Nakamura war Reporter bS Domei, der offiziellen staatlichenNachrichtenagentur Japans. Als d

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Bombefiel, hatte er gerade 13Kilome-ter westlich vonHiroschima imHaus ei-nes Freundes mit dem Frühstückbegon-nen. Da zerbarsten die Ostfenster dHauses. Nakamurawurde zuBoden ge-schleudert. Erranntenachdraußen undsah den riesigen schwarzen Rauchpüber Hiroschima aufsteigen, dersich ineinen Flammenball verwandelte. Es saus, als blühte jählings eine phantastischeBlume auf.

Nakamurafuhr mit dem Rad nach Hiroschima. Die Bilder und Geräusche dsterbenden Stadt prägtensich ihm un-auslöschlichein. In der Sendestation dlandesweiten, staatlichkontrolliertenRundfunkanstalt NHK fand er einfunktionierende Telefonleitung. Vodort erreichte er die NHK-Schwestersttion in Okayama, der nächsten größeren

Stadt fünf Kilometer öst-lich in Richtung Tokio. Eswar 11.20Uhr.

„Bitte leiten Sie diefol-gende Nachricht soforan das Domei-Büro inOkayamaweiter“, bat erden Mann am anderen Ende der Leitung unddik-tierte seine unfaßbareBlitzmeldung: „Am 6. Au-gust, etwa um8.16 Uhr,flogen einoderzwei feind-liche Flugzeuge überHiro-schima und warfeneineoder zwei Spezialbombenab – möglicherweisAtombomben –, welchedie Stadt vollkommenzer-störten.“

Bald darauf kam Nakamura direkt zu dem Leiteseines Büros inOkayamadurch. Der Bürochef warverärgert über Nakamuraerste Eilmeldung. Er bestand auf einer vernünfti-geren zweiten Story oh-ne die vorangegangeneÜbertreibungen. Dieoffi-ziellen Mitteilungen der

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Armeeführung in Tokioseien weitweni-ger beunruhigend.

„Dann erzählen Sie diesen Pfeifen bder Armee, daß sie die größten Idiotender Welt sind!“ brüllte Nakamura insTelefon und diktierte weiter jede Einzelheit, die er seit seinemersten Anrufgesehenhatte. Dabeiliefen ihm die Trä-nen über das Gesicht inseinNotizbuch.Wie sollte Hiroschima denn geholfenwerden, wenn die Verantwortlichen dAugen vor denTatsachenverschlossen

m 7. August, dem Tag nach dem AAwurf der Bombe, kehrtenTausendeMenschen zurück, die am Vortag adem Inferno hattenfliehen können. Siehofften, Überresteihres früheren Le-bens zu finden.

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Überlebender Hamai„Ich arbeitete wie im Traum“

Überlebender Desaki

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Susumu Desaki, ein Schüler vozehn Jahren,wohnte in der Nähe deÖstlichen Exerzierplatzes, wo er deüber die großen Grünflächendahinga-loppierenden Pferden der Soldathatte zusehen können. Susumu suchtseineMutter. Irgend jemand hatte ihmerzählt, daß er aufdiesem Exerziergrund, seinem altenSpielplatz, nachihr fragen sollte.Dort war dasEvaku-ierungszentrum der Stadteingerich-tet.

Susumus Vater war zur Zeit deBombenexplosion auf Geschäftsreise,seine Mutter hatte umsieben Uhr daHausverlassen, umsich beieinem Ab-rißkommando zu melden. Sie hattwie immer, seine einjährige Schwestauf dem Rücken mitgenommen.Susu-mu wartete, daß es Zeit würde, zurSchule zugehen. Er hattenichts Be-sonderes gehörtoder gesehen, als esich unvermittelt unter den TrümmerseinesHauses wiederfand.

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Überall drehten Menschen Leichenum und schauten suchendin die unkenntlichen Gesichter.

Als er sich wiederans Sonnenlicht geabeitethatte,waren vonden Häusern nur nocunheimliche Skelettübrig; er konntedurchsie hindurchsehen, ahätte er Röntgenau

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gen. Die vorbeieilenden Menschen mihren abstehenden,wirren Haaren ka-men Susumu vor wie der „SchwarMann“ aus dem Bilderbuch. Viele„schrien und rannten wie gejagteSchweine“,erinnerte ersich.

Von seinenEltern hatte derJunge gelernt, daß er Gefühlenicht zeigen dürfe,also weinte er nicht überdas, was er sahEr weinte auch nicht, als ihn eine Nacbarsfrau mitaufsLand nahm.

Als er am Morgen des 7. August alein zurückkehrte, hatte erschrecklicheAngst. Wo war seine Mutter? Vom

Haus seiner Familie war nicht einmaein Dachbalken übrig. Susumu grub imStaub und fandschwarze Überrestesei-nes Dreirades undseiner Schlittschuheverbogen wie von der Fausteines Rie-sen. Tränenlosrannte er zum ÖstlichenExerzierplatz. Was erdort sah, machtihn schwindlig, erkonntesich kaum aufden Füßen halten.

Leichenberge überall.Drei Feuer lo-derten, um die Toten zu verbrenneund Soldatenhoben Grubenaus, um dieÜberreste zu vergraben. Verletzte bdeckten den Boden, soweit Susumublicken konnte. Er kam kaum durchohne auf jemanden zutreten. Viele

stöhnten und flehtenum Wasser. Niemanhalf. Einige versuchteständig aufzustehennur um immer wiedeumzufallen.

Ungefähr in derMit-te des Feldes war deSammelplatz für das,was von der Militär-garnison Hiroschimaübriggeblieben war.Verwundet und apathisch saßen die Uniformierten herum.Kein Offizier schiendas Kommando zu haben. Die einst sobewunderten Armeepferde waren nur nocKadaver. Es stank bestialisch.

In der Hoffnung, die Mutter zufin-den,schritt Susumu langsam dieReihender Toten undVerletzten ab. Obwohl esichtief zu ihnen hinunterbeugte, war eoft unmöglich, soetwas wie Gesichtszüge auszumachen.

In einigerEntfernung entdeckte er ene Frau, die ihn anseineMutter erin-nerte. Sie saß auf dem Boden undwieg-te ein Baby in denArmen. Endlich

weinte Susumu undrannte zu ihr. IhreKleider waren zerfetzt. Das Gesicht wso geschwollen, daß sie nichtsprechenkonnte. Und die Verbrennungenseinerkleinen Schwesterwaren so schwer, dasie kaumnoch lebte.

Susumu begriff, daß er jetzt dasOber-haupt derFamilie war. Dem Baby wanicht mehr zuhelfen, es starb. Zusammen mit einemFreund sägteSusumuBretter von zerborstenen Türen ab, ngelte einen Sarg für die Schwester unbrachte ihn zu einemnahe liegendenBehelfskrematoriumunter freiem Him-

mel, wo schon viele Menschen warteten. DieJungenstellten ihren zu einemStapelanderer Särge. Am nächsten Tagholte Susumu die Asche undbrachtesie zu Verwandten, die sie auf dem Fmilienfriedhof beisetzen wollten.

Ein Onkel schenkte Susumu einFlasche Kokosöl, um damit die VerbrennungenseinerMutter einzureibenFür die meisten Verbrennungsopfwar Öl die einzig verfügbare Medizin:Speiseöl, Rizinusöl,Rapsöl, Maschi-nenöl. Täglichwusch Susumu die Verbände seinerMutter. Trotz all seinerMühen wimmelten Maden in ihrenWunden.

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Als seinerMutter dieHaareausfielen, dachte Susumu, jetzt würdsie sterben. Überall inder Nachbarschaftraff-te der Tod Menschedahin, nachdem sie ihrHaareverlorenhatten.Niemand wußte, wamit ihnen geschah undwarum. Weit und breigab es keinen Arzt unkeine Krankenschwester, die man hättefra-gen können.

Die wenigen Kran-kenhäuser imZentrumwaren hoffnungslosüberfordert. Zu denKranken kamen Ströme von Besuchern, dihofften, ihre Verwand

ten wiederzufinden, lebendoder tot. Ge-nauso hofften dieHilflosen darauf, ge-funden zu werden. Im400-Betten-Hospital des RotenKreuzes, dem größten undmodernsten KrankenhausHiroschimas,machten Patienten aufsichaufmerksamindem sie ihreNamen mit denFingern aufdie Wände der Empfangshalle schrieb– mit ihrem Blut.

Auf den FlüssenkreuztenkleineBootemit weißen Wimpeln, aufdenen ingro-ßen Lettern die Namenvermißter Ver-wandtergeschriebenstanden.

Überall in derStadt, vor Löschwasserbehältern, an den Flußufern, drehtMenschen Leichen um und schautennen suchend in die unkenntlichenGesich-ter; in den Krankenhäusern wurden diePatientengefragt: „Wer sind Sie?“ DieGesichter taugtennichtmehr zurIdentifi-kation, sicherer war es, nachanderenMerkmalen – der Taschenuhr etwa –fahnden.

er ArztMichihiko Hachiya wardurchD den Abwurf derAtombombeschwerverletztworden. Erschaffte es,sich die200 Meter vonseinemWohnhaus in denGarten desKrankenhauses zu schleppewo er zusammenbrach. Hier gehörtehin, wenn auchnicht alsPatient. Er warder Direktor und hätte aufseinem Poste

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sein sollen, als dasmaßlose Unglück übeseineStadtkam.

Inmitten von Stöhnen und Gestank elangte er wieder das Bewußtsein. Chirgische Instrumente, FensterrahmeBruchstücke von Wänden und MöbelnHaufen vonGlasscherben übersäten dBoden derStation, auf der er lag.

Zwei seiner Ärzte, beide verletzt,ver-suchten ihn am Aufstehen zuhindern. Siehatten in dervergangenen Nacht 40 Wuden ihres Chefs genäht.

Die Medizinerahntennicht, daß nur 28der 300 Ärzte in Hiroschima nocheinsatz-

Japanische Bombenopfer: „Unerträglicher Schmerz“S

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fähig waren, alsinner-halb 24 Stunden2500Kranke undVerletztein das Fernmelde-Hospital mit seinen 125Betten drängten.

Patienten wurdeüberall zusammengepfercht. Sie lagen inden StationsflurenKorridoren, Toi-letten, Treppenhäusern, sogar draußenvor dem Krankenhaus.

Hachiya habe un-glaubliches Glück gehabt, erzählten ihmseine Mitarbeiter. Erlitt nicht an den ver-breitetsten Sympto-men: offenen,eitrigenVerbrennungen, Erbrechen und einerauf-fälligen Form vonDurchfall.

Einige Patientenhatten bis zu 50blutigeStuhlgänge in einerNacht. Es gab keinBettpfannen. Wo im

Opfer im Löschwasserbecken: „Vom Tod überrascht“

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mer die Patienten gerade lagen,kotetensie sich einoder urinierten. Es gab kauPersonal, das den Sterbenden beistekonnte.

Die Ärzte meinten, es mit einer asteckenden bazillären Ruhr-Epidemiezu tun zu haben.Hachiya ordnete denBau einer Baracke an, umwenigstensden Anschein einer Isolierstation zu ewecken.

Zu den ersten Besuchern der gschundenen Stadt zählten Arztkollegvon Hachiya. Der Anblick derfliehen-den Soldaten sei nochschrecklicher gewesen als dieToten, die denFluß hinab-trieben, berichtete einer derKollegen:„Die Männer hatten keine Gesichtemehr. Ihre Augen,Nasen und Münderwaren weggebrannt, und es sah aus,seien ihreOhren abgeschmolzen. Makonnte kaum unterscheiden, wovorneund wo hinten war.“

Ein anderer Arzt berichtete: „Ich saLöschwasserbecken bis zumRand mitToten gefüllt, die aussahen, als wäre

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sie bei lebendigemLei-be gekochtworden. Ichsah einenMann, der dasblutige Wasser trank.Ein Becken warnichtgroß genug für alle, dihinein wollten. Ich weißnicht, wie viele, derenKöpfe über den Beckenrand baumelten, so vomTod überrascht wur-den.“

Als dieser Arzt er-zählte, er habe gehöreine „spezielle neueBombe“ sei für dieVer-wüstung Hiroschimaverantwortlich, stellteHachiya erleichtert festdaß er offenkundig audem Weg der Besserunwar: Seinewissenschaftliche Neugier meldetesich wieder.

Wie konnteeine ein-zige Bombesolch über-wältigenden Schadeanrichten? Das mußt

schon eine sehrspezielleBombe sein.Nur wenigeMenschenhatten eine Ex-plosion gehört.Niemand hatteauch nurdie Spur einesBombenkratersgefun-den.Hachiya dachte an die Durchfallekrankungen in seinem KrankenhausWaren mit der BombeGiftgas oderBakterien abgeworfen worden?

Als die Nacht zum 8. August hereinbrach, überkam dennoch bettlägerigenMediziner ein Gefühl tiefster Verlasseheit. Seine Frau lag verletzt in einembenachbarten Bett.Hilflose Patien-ten schluchzten und stöhnten, sie

riefen „Mutter!“ und „Eraiyo!“ („DerSchmerz istunerträglich!“).

Die Dunkelheit und dieAbgeschlos-senheit vom ganzenRest derWelt schie-nen Hachiya grenzenlos. Es gab keKerze, keinRadio, keine Information.Eine Frage ließ ihn nicht einschlafenWas war in Hiroschima geschehen?

An den folgendenzwei Tagen wurdedas Krankheitsbild derBombenopfernoch rätselhafter. Die Patienten mnormalemDurchfall schieden nun aucBlut aus. Einige klagten über wundeZahnfleisch, und die Ärzte stellten a

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den Körpernkleine,purpurroteFleckenfest. Das waren subkutane BlutungeHachiya bezeichnete sie als „bizarr“. DFlecken sahen aus, alsseien siedurch äu-ßere Einwirkung verursacht worden,doch die Patienten sagten, ihnennichtszugestoßen, was mit diesenrotenPunkten inVerbindung zu bringen war

„Eine bislang nichtbekannteVerlet-zung“, notierte derDoktor. War sie aueine plötzliche Veränderung im atmosphärischenDruck zurückzuführen,her-vorgerufen durch die große Sprengkrund die Hitze derBombe?

Gequält von den Gerüchen derLei-chenverbrennungenschrieb der Arzt:„Angesichts der glühenden Ruinen unflammenden Scheiterhaufen frage imich, ob Pompeji in seinen letzten Tagso ausgesehenhat.“

Erst eine Woche nach dem Bombeabwurf fiel für Hachiya das erste erhelende Wort über die Waffe, die seineUmgebungausgelöschthatte. EinalterFreund, einMarineoffizier ausOkaya-ma, begrüßte ihn: „Es ist einWunder,daß du überlebt hast.Schließlich ist dieExplosion einer Atombombe einefurchtbare Sache.“

Atombombe!Hachiyahatte in der Taschon früher im Krieg Gerüchte über ene solche Waffevernommen. Siesollteangeblich Inseln von der Größe Saipamit zehnGrammWasserstoff in dieLuftjagen können.

Aber ervermochte einesolcheBombenicht mit Strahlungoder mit denSympto-men seinerPatienten in Verbindung zbringen.Selbst als der Offizier ihm erzählte, eines der Marinehospitäler dRegion habe beiseinen Hiroschima-Patienten niedrige Werte bei denweißenBlutkörperchen festgestellt, schöpftHachiya keinenVerdacht.

Die Krankheitsverläufe gabenmedizi-nische Rätselauf. Der ZustandeinigerschwerverletzterPatienten bessertesichunerwartet.Andere, dieeinenrelativ ge-sunden Eindruck gemachthatten, bra-chen mit blutigem Auswurf,Erbrechenund rotenBlutfleckenunter derHaut zu-sammen und starben innerhalbzweierTage.

Insgesamt gingen die Fälle von BluDurchfall undErbrechenjedoch zurückso daß Hachiya seineursprünglicheTheorie über den Abwurf einerbiologi-schenBombe begraben mußte: „Je meich nachdachte, desto verwirrter wurich“, schrieb er in seinTagebuch.

Im nächsten Heft

Siegesfeier in Los Alamos – Schock fürdie deutschen Forscher Hahn und Hei-senberg – Die verstrahlten Opfer verblu-ten innerlich – US-Mediziner: „Eine sehrangenehme Art zu sterben“ – Hiroschimaund Nagasaki waren militärisch sinnlos

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„Keine Gleichheit der Waffen“Der niederländische Anwalt Michail Freiherr Wladimiroff,50, ein Nachkomme russischer Emigranten, verteidigtbeim Jugoslawien-Tribunal in Den Haag den bosnischenSerben Dusko Tadic, 39. Als Beteiligter an ethnischen Säu-berungen soll Tadic Kriegsverbrechen begangen haben. Erwar in München verhaftet und später an das Uno-Gerichtausgeliefert worden.

SPIEGEL: Hat TadicSie IhresslawischenNamenswegen alsPflichtverteidigerakzeptiert?Wladimiroff: Er empfindetmich alseinenMann ausseinemKulturkreis. IchhatteTadic schon in München besucht unmich perDolmetscher mit ihm unterhalten. Jetzt muß ich

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les für ihn regeln: ob er einenKugelschrei-ber haben kann, ob er Häftlingskluft tragenmuß oderZivilkleidung anziehen darf. Nuüber mich hat erKontakt mit der Außenwelt. Tadicsitzt allein ineinemUno-Neubauder Strafanstalt Scheveningen/DenHaag.Mehr alszehn Bewacher passen auf ihnauf.SPIEGEL: Tadic ist der Beteiligung aneinemDutzend Morden, derMißhandlung von 16Menschen und der Vergewaltigung angklagt. Weshalb verteidigen Sie so einMann, warum fechten Sie dieZuständigkeitdes Tribunals an?Wladimiroff: Nach derUno-Charta ist der Scherheitsrat nichtausdrücklich befugt, einTribunal zu etablieren. Es gehtalso umeine

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Interpretation der Charta.Zweitens wird jede Handlungvier- bis fünfmal abgerechnet: Kriegsverbrechen imSinneder Genfer Verträge, der HaagerLandkriegsordnungVerstoßgegen die Menschlichkeit im Sinn der NürnbergerUrteile. Das ist absurd.Zudem ist dieAnklage sachlichunzureichend.SPIEGEL: Liegt darin eine Chance für die Verteidigung?Wladimiroff: Es besteht eineUngleichheit der WaffenWährend dasTribunal 100 Mitarbeiterhat, stehe ich alsVerteidiger allein. Ichbekomme ein Salär von 45 Marfür die Stunde undnicht die Mittel, um ein Team zubil-den, das vor Ort die Fakten um dieAnschuldigungen gegen meinen Mandanten nachprüfenkann. In meiner Nothabe ichmich an meine Studenten ausUtrecht gewandt,wo ich Vorlesungen halte. Diehelfen mir begeistert.SPIEGEL: Nun hat das Tribunal auch Anklagegegen diebosnischen Serbenführer Radovan Karadzˇic und Ratko

Mladic erhoben.Welche Konsequenzen hdas?Wladimiroff: Friedensverhandlungen werdschwieriger.Denn diebosnischen Serbenführer können nun ihr LandnichtmehrverlassenUnd dortsind sie nichtfestzunehmen.Selbstwenn die Blauhelmtruppen die Macht dahätten, wäre das unmöglich, weil die Unokei-ne Polizeigewalthat.SPIEGEL: Und wenn Karadzic und Mladicdoch vor das Tribunal kämen?Wladimiroff: Dann würden hier amerikani-scheStaranwälte auftauchen und die Verteigungohne Honorar übernehmen. Sie würdein Medienspektakel entfesseln,anschlie-ßend Bücher schreiben – und reichwerden.

R u ß l a n d

Jelzins teuresAbenteuerDie Kosten desKaukasus-Krieges haben jetzt erstmalsunabhängige Ex-perten vom MoskauerInstitut fürWirtschaftsanalyse errechnet: Rund30 Billionen Rubel (über 9MilliardenMark) verschlang Moskaus bislangachtmonatiger Militä reinsatz inTschetschenien. Noch einmal dieseSumme würde für den Wiederaufbbenötigt. Während dasrussischeVer-fassungsgerichtnoch dieRechtmäßig-keit der Marsch- und Schießbefehvon Präsident Jelzin prüft, ist dVorsitzende einer parlamentarischUntersuchungskommission bereitseinem – nicht von allen seinen Ausschußkollegen geteilten –Urteil ge-langt: „Die Tschetschenenrepublikso das Fazit desnationalbewußteRegisseurs und Schriftstellers Stanlaw Goworuchin, habe „dasvolleRecht aufUnabhängigkeit“. Dies seiim Interesse Rußlands,welches dadurch selbst „Unabhängigkeit vonden tschetschenischenVerbrecher-gruppen“ gewönne.

S o m a l i a

Warlords rüsten für neue SchlachtenEin verschärfter Machtkampf der Kriegsherren in und umMogadischu seit demAbzug der Uno beunruhigtSomaliasNachbarstaaten. So kündigte MohammedFarahAidid die Aufstellung einerArmee an. DerClanchef verfügtbereits übereine Flotte von 80 Kleinlastern samt aufmontierten Geschützen („Technicals“).Mit einer Delegation aus Libyen verhandelte Aidid – einer von drei selbsternten Präsidenten – über Finanz- und Waffenhilfe. Indessenwurde Aididslangjähri-ger Finanzier undneuer GegenspielerOsmanAtto vorübergehend in Nairobfestgenommen, wo ersich mitzehnsomalischen Clanführerngetroffenhatte. Präsident Danielarap Moi warnteAtto und seineVerbündeten davor, diesomali-schen Streitigkeiten nachKenia zu tragen.

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Alte Gardegegen den ChefFrankreichs Kommunisten alteSchlages sägen amStuhl des als zusozialdemokratisch verdächtigten KFührers und Präsidentschaftskandidaten RobertHue, 48.Ermuntertdurchdie kommunistische Nostalgiewelleden ehemaligen Ostblockstaaten uden überraschenden Erfolg der Trokistin Arlette Laguiller bei den Präsdentschaftswahlen im April diesesJahres(5,3 Prozent und damit nur 3,Prozentpunkte hinter demKP-Kandi-daten),agitieren sie an derBasis ge-gen ihren Führungsgenossen. Die Ation gegen denjovialen Hue orchestriert dessen VorgängerGeorgesMarchais, 75, der noch immer in dehöchsten Parteigremiensitzt. DerAltstalinist hat Hue nicht verziehendaß der im Wahlkampf die 20jährig„Verspätung“ rügte, mit der Frankreichs KP sich von Stalins Verbre-chen distanzierthat.

L i b y e n

Gaddafi bekämpftFundamentalistenSondereinheiten derlibyschen Sicherheitskräfte verhafteten vergangeWoche über2000 Mitglieder der mili-tantenMoslembruderschaft und andrer islamischerUntergrundorganisationen. Vorausgegangen warenblutigeUnruhen in derlibyschen HafenstadBengasi, wo bewaffnete Ultras ein Gfängnis stürmten und inhaftierte Ge-sinnungsgenossenbefreiten. Revolutionsführer Gaddafi hatte die invielenarabischen Staatenillegal tätige Mos-lembruderschaft jahrelang als„Wegge-fährten auf dem rechtenPfade“geprie-

sen und zeitweiligTer-roraktionen der Fundamentalisten in Ägyptenund Jordanien unterstützt. Doch nun empören ihn der Führungsanspruch der Moslembrüder, ihre Wühlarbeitin Libyens Armee undPolizei sowie ihre Kri-tik an Gaddafis „isla-mischem Sozialismus“.

Radio Tripolis nannte die in Ungnadgefallenen Verbündeten „Feinde Allahs“. Libyens Beziehungen zuIranund zum Sudan sankeninfolge derVerhaftungswelle auf einenTiefpunkt.

A U S L A N D

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B o s n i e n

„Dann helfen wir uns selbst“Können deutsche Tornados am Boden bleiben, wenn die Nato in den Kampf um die bosnischen Schutzzonen ein-greift? Die Bonner Regierung befürchtet, den Einsatzauftrag in einem bedrohlich größer werdenden Krieg erweiternzu müssen. Doch der Nato-Rat hat vorgesorgt, daß aus dem US-Plan für massive Luftschläge vorerst nichts wird.

Tornado-Befehlshaber in Italien*: „Wenn die Nato bittet, werden wir nicht nein sagen können“

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as Szenario: Kurz nacMorgengrauen steigenDNato-Jets von Stützpunk

ten in Italien und von einemUS-Flugzeugträger in deAdria auf. In mehrerenStaffelnnehmen die BomberKurs aufGorazde, die von Serben attakkierte Moslem-Enklave in Ostbosnien.

Es ist der bisher härtesLuftschlag, den die westlichMilitärallianz gegen die serbischeSoldateska führt: kein Be-schuß einzelner Panzermehr,sondern massive Bombarde-ments von ArtilleriestellungenVersorgungslinien und Führungsbunkern.

Doch derPreis isthoch. EinhalbesDutzendamerikanischeund britischer Jetswird von derserbischen Flugabwehr abgschossen.Drei Pilotensind tot,die anderenbleiben vermißtDie Regierungen in Londound Washington empörensich,sie machen Deutschland für dVerluste verantwortlich.

Denn als dieEinsatzanforderung an dieNato kam, lehnteder deutsche BrigadegeneWalter Jertz die Teilnahmesei-ner in Italien wartendenECR-Tornados mit knappen Worteab: Der Deutsche Bundesta

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habebeschlossen, daß dieTornados nurzum Schutz der SchnellenEingreiftrup-pe der Uno starten dürften – und diebei der VerteidigungGorazdes nicht dabei.

Vorige Woche waren dieTornadosauf dem norditalienischen FliegerhorPiacenza noch nicht einmal einsatzbreit. Dochschontrieb diese düstere Vi-sion des Ernstfalls fürDeutschland dieFührer der BonnerRegierungskoalitionum. Seit dieNato den Serben mit „Luft-angriffen bislang ungeahnten Ausmaßes“ (US-VerteidigungsministerWil-liam Perry)droht, könnte aus derschau-rigen Vorstellungschnell Realität wer-den.

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Der Fraktionschef derUnion, Wolf-gang Schäuble, denkt bereits an eineAusweitung des Tornado-Auftragdurch Bundeskabinett und ParlameDann dürften die Bundeswehr-Jetsnichtnur die SchnelleEingreiftruppe und denTotalabzug der Uno sichern, sondernden Nato-Luftangriff.

„Wenn die Nato darum bittet“, erklärte Schäuble vorVertrauten, „wer-den wir nicht nein sagen können.“ EineSondersitzung des Bundestages, soUnionsführer, könne „sehrschnell fälligwerden“.

* Brigadegeneral Walter Jertz, General JohannDora auf dem Fliegerhorst in Piacenza.

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Öffentlich schweigt Schäuble. Nochgilt die Mahnung des KanzlersDeutschland dürfesich nicht „durch dieHintertür in einen Krieg hineinziehenlassen“. Mit seinem Verteidigungsminster Volker Rühe (CDU)hatte HelmutKohl die Tornado-Mission so eng bgrenzt, daß ein Einsatz unwahrschelich schien.

Eine Erweiterung desAuftrages kom-me „nicht in Frage“, versicherte deKanzler. Selbst bei verstärktem Drän-gen der Alliiertenwolle er sichnicht tie-fer in das Balkan-Abenteuer verstrickenlassen. „Die Frage ist nur“, soMichaelGlos, Chef der CSU-Landesgrupp„wie lange wir diesenDruck aushalten.

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Im stillen eint Kohl, Schäuble unGlos die Hoffnung, daß dieNato garnicht fliegen muß; daß die Serben voden Drohungen derAllianz einknicken;daß die markigen Versprechen, dBosniern in den bedrängten Uno-Schutzzonen beizustehen,nicht einge-löst werden müssen.

Nicht mehr „nur Nadelstiche“ hatteUS-Verteidigungsminister Perry debosnischen Serbenführer Radovan Karadzic angedroht, sondern „dasBom-bardementganzerRegionen“. In Ame-rika brach wiederKriegsfieber aus: Wieim Golfkrieg mit Saddam Husseinvor-exerziert, müßten die Serben aus dLuft zum Frieden gebombt werden.

Doch die großen WortewarenwenigeTage später als Phrasen entlarvt. ADienstag vorigerWoche eroberten dieSerben dieostbosnische Schutzzone Zˇ e-pa. Vor den Augen derinternationalenFriedenswächter wurden Männer ge-waltsam vonihren Familiengetrennt.

Im Schatten der bosnischen Kämpsahen auch dieKroaten dengeeignetenZeitpunkt gekommen, erneutmilitä-risch loszuschlagen. Präsident FranjoTudjman prahlte öffentlich, erwerde al-le serbisch besetzten Gebiete seinesStaates zurückerobern –ohne Rücksicht

Verteidigungsminister Rühe*, Nato-Partner Clinton, Perry: „Luftangriffe bislang ungeahnten Ausmaßes“

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auf möglicheFriedensbemühungen dUno.

Im Mai, als die kroatischeArmeeerstmals seitAusbruch desBalkan-Krie-ges den Serben inWestslawonien einempfindliche Niederlage zufügte, hatteder Kroatenchef die Befreiung der Krjina versprochen. Nunließ er seineTruppen im Verbund mit denbosni-schen Kroaten auf diekroatischeSer-benhochburg Knin marschieren: Wärend die Serben inBosnien zurErobe-rung der letzten Moslem-Enklaven asetzen und dafür alleihre militärischen

* Mit Uno-Generalsekretär Butros Ghali bei derBosnien-Konferenz in London.

Kräfte bündeln,wollen die Kroaten dieausgedünnten Stellungen desGegnersüberrennen.

Als Vorwand für seine Initiativenimmt Tudjman dieBeschlüsse derLon-doner Bosnien-Konferenz vom vorvegangenen Freitag. Die Westmächte hten den Serben wieder einmal mit Vegeltungsschlägen aus derLuft gedroht,falls die ihren Eroberungsfeldzug in Osbosnien fortsetzen sollten.

Mit großer Enttäuschung registriertjedochZagreb, wiegleichgültig sich derWestengegenüber demVorrücken derSerben auf Bihac´ zeigte. Die regierungsnahe Tageszeitung Vjesnik fragte:„Wird Europa auch beideAugen zu-drücken, wenn die Serben Dubrovnoder Zagreb unter Feuer nehmen?“

Vor allem die Ankündigung deOberbefehlshabers derserbisch-bosnischenArmee,GeneralRatkoMladic, erwerde sich nach der EntscheidungBosnien wieder „der kroatischen Fragzuwenden und einen „direkten Zugazur Adria“ fordern,weckten inZagrebschlimmste Befürchtungen. Geschüwerdendiese Ängstedurch Berichte dekroatischen Geheimdienstes, wonaBelgraderneutmassiv in dasbosnischeKriegsgeschehen eingreifen könnte.

Obwohl die kroatischen Streitkräfschon über moderne Waffensystemeverfügen – darunter französische Mi-rage-Kampfbomber und SAM-10-Raktensysteme – fürchtet Tudjman diemili-tärische Konfrontation mit BelgradWenn seine Soldaten es hingegen nmit den Einheiten derbosnischen undkroatischen Serben aufnehmen müssso die Überlegung, sei derSieg gesi-chert. Tudjman: „Wenn dieWelt nichthilft, dannhelfen wir uns selbst.“

Auch ein anderer ertrug die Untätig-keit von Uno undNato, dasAuseinan-derklaffen von Wort und Tat, nichtmehr. Tadeusz Mazowiecki legte amDonnerstagsein Amt alsSonderbericht

erstatter der Uno-Menschenrechtskomission für Ex-Jugoslawiennieder – ent-täuscht undverbittert über daskollekti-ve Versagen von Uno undNato.

Die Londoner Konferenz habe denFall Srebrenicasohne Widerstand akzeptiert und nur Gorazde ernsthafSchutz versprochen – genauwissend,daß zur gleichenZeit Bihac und Zepaunter serbischem Beschuß lagen. „Vebrechen wurden mitSchnelligkeit undBrutalität verübt“, so die Anklage dePolen, „die Antwort derinternationalenGemeinschaft war dagegen langsam uunwirksam.“

Weiterhin zögern dieeuropäischenStaaten, dendezimierten und auf einemkaum lebensfähigen StreifenLand zu-sammengedrängten Bosniernwirksamzu helfen – solange der Krieg auf deBalkan sich nicht zu einem Flächenbrandausweitet. Diesgilt erst recht fürdie Amerikaner.

Auch der Beschluß des US-Senadas Waffenembargo gegen die Bosnaufzuheben, dientvornehmlich der Beruhigung des eigenen schlechtenGewis-sens.Reale Wirkung wird das Votumder vorigenWoche, obwohl von Uno-Truppenstellern in Bosnienheftig kriti-siert, kaum entfalten.

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Mit Sicherheit wird PräsidentBillClinton sein Veto einlegen. Zudemsoll das Waffenembargo nur aufgehoben werden, wenn die Unprofor-Blahelme aus Bosnien abgezogenodervon der Regierung in Sarajevo zuvrausgeworfenwurden. Und auchdannwollen die Amerikaner erst alleinehandeln, wenn vorher derUno-Sicher-heitsrat und die Uno-Vollversammluneine allgemeineAufhebung abgelehnhaben.Diese Prozedur würdesich bisweit ins nächsteJahrhineinziehen.

Aber auch Zagreb wacht argwöh-nisch darüber, daß zu deneingekesselten Verbündeten kein modernesKriegsgerät gelangt. Dajeder größere

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Waffentransport nur über den Lanweg von den kroatischen HafenstädtenSplit und Ploce aus zu den Bosnierkommen kann, müssen dieAmerika-ner bei Tudjman eine Genehmigueinholen.

Das mußtenauch die Senatorenwis-sen. Sie hätten essich leichtgemachthöhnte Richard Holbrooke, Abtei-lungsleiter im US-Außenministerium„Sie wollten halt nur einepolitischeGeste machen.“

Präsident undKongreß sind sich ei-nig, daß der Einsatz von US-Bodetruppen inBosnien umfast jedenPreisverhindert werden soll. Aber dazumuß auch der drohende Totalabzugder Uno-Blauhelme vermiedenwer-den, als Abzugshilfe hat Clinton deNato 25 000US-Soldaten versprochen

Clinton ist in der Klemme: Die ohnehin militärisch fragwürdige Strategieden auflodernden Balkan-Krieg ader Luft einzudämmen, wurde in der

Serbische Flugabwehrrakete SA 10: Kriegsfieber in Amerika

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EinsatzbefehlDeutscher Briga-degeneral Jertz

im Zweifel Rücksprache

VerteidigungsministerVolker Rühe

Heiße Drähte Befehlsstruktur zum Bosnien-Einsatz deutscher Tornados

Schnelle Eingreiftruppeder Uno in Bosnien

Anforderungvon Luftunter-stützung

bittet umUnterstützung

im Zweifel Rücksprache

Nato-Hauptquartier Süd

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Deutsche Tornados 3

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informiert

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Einsatzbefehl

vorigenWoche von den Russen und dUno torpediert.

Von den Ankündigungen, die atlantsche Allianz werde bald zu schnellenmassiven Luftschlägen fähigsein, bliebnach den Nato-Sitzungen vorigerWochewenig übrig. GegenAlleingänge ist Vor-sorge getroffen.

Das „Zwei-Schlüssel-System“, dasbis-her bei Luftschlägen dieZustimmungvon Nato und Uno forderte,wird nichtabgeschafft.Uno-Generalsekretär Butros Butros Ghali stimmte nur zu, die Bfehlsgewalt vonseinemzivilen Jugosla-wien-Beauftragten YasushiAkashi aufden französischenUno-General BernarJanvier inZagreb zudelegieren.

Janvier hatLuftschläge in derVergan-genheitähnlich zögerlichgenehmigt wie

116 DER SPIEGEL 31/1995

der Japaner. Inschwerwiegenden Fälen muß Janvier auch weiterhin Rücsprache mit Akashi und Ghalihalten.

Auch der politische Arm der Natowollte sich von denAmerikanernnichtganz ausschalten lassen.Bevor es zumassiven Luftattacken abseits einerumkämpften Enklavekommt, etwa ge-gen das Hauptquartier vonSerbengeneral Mladic, muß der Nato-Rat befragt werden. In diesemGremium sit-zen die Vertreter der 16Nato-Staa-ten.

Vor allem aber wurde den Amerikanern der Wunsch nicht erfüllt, ohneRücksicht aufBlauhelm-Geiselnloszu-schlagen. In den geheimen Nato-Vehandlungen verlangten die US-Vertrter sogar, die Geiselnahme vonBlau-helmen durch die Serben zum Auslösvon Luftschlägen zumachen – einenicht akzeptableIdee für die Franzo-sen und Briten, dieeigene Soldaten iden Schutzzonenhaben.

Es bleibt das Trauma jedes Blau-helm-Kommandeurs, seine Soldatenkönnten erneut von den Serben alsbende Schutzschildemißbraucht wer-den. Auch beim Fall der SchutzzoneSrebrenica und Zˇ epa war den UnoKommandeuren dieSicherheit der eigenen Uno-Truppe wichtiger als dieVerteidigung der eingekesselten Bonier. Als britische und französische Sol-daten derSchnellenEingreiftruppe vo-rige Woche mit Artillerie und PanzerPosition am Berg Igman bezogen,galtdies eher dem Schutz der anderenBlauhelme als der VerteidigungSaraje-vos.

Im Kreise seiner Nato-Kollegen mokierte sich auch Bonns Wehrministeüber die Blauhelm-Offiziere in Bosnien, die tatenlos den ErschießungVergewaltigungen undVertreibungenin ihren Schutzzonen zuschauten. „Wsind das fürGeneräle?“fragte Rühe.

Dabei versucht derDeutscheselbstgenauso, das Risiko fürseine Soldatenzu minimieren. Als etwa GeneralinspekteurKlaus Naumann („Wir müssenweg vom Schönwetter-Image einkriegsabstinentenArmee“) vor knappdrei Wochen in ein Treffen derGene-ralstabschefs derUSA, Frankreichsund Großbritanniens drängte, stoppihn der Minister. „Deutschland ist keiTruppensteller“, hielt er dem Vier-Sterne-General vor.

Rühe fürchtete,allzu demonstrativesAuftreten könnte bei den VerbündeteBegehrlichkeiten wecken.Inzwischentrafen bereitsneue Wünsche desNato-Oberbefehlshabers fürEuropaein: Fürden denkbarenAbzug der Uno bitteUS-General GeorgeJoulwan um Nachschubeinheiten zum Einsatz in Kroatiund einen Flugsicherungstrupp inSplit.

In einemBrief soll Joulwan nach Rühes Wünschen nun beschiedenwerden,daß die Bundesregierung ihren verspchenen Bosnien-Beitrag auf keinenFallaufstocken wolle: „Und damit Endeder Durchsage.“ Y

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Es ist keiner mehr übrig“SPIEGEL-Reporter Walter Mayr über den Kronzeugen eines Massenmords an Srebrenica-Flüchtlingen

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att lastet der Sommerdunst übden Bauerndörfern im NordostenS Bosniens. Die Maisstauden steh

mehr als mannshoch, und das Heu istHaufen getürmt. MitKopftuch und knö-chellangenPluderröcken trotzenFrauensamt Kleinkindern am Wegrand dMittagsglut. Sie suchen ihre Männerund neueBleibe.

Sicher scheint, daßetwa 30 000Mos-lems aus derUno-Schutzzone Srebrenca nach qualvollen Märschen und ebärmlichenTransporten die von der Regierungkontrollierte Gegend umTuzlaerreicht haben.Unsicher ist, wievieleihr Vertrauen auf denSchutz der Weltgemeinschaft mit demLebenbezahlt ha-ben.Seit dem Fall Srebrenicasunter un-tätiger Beihilfe niederländischer Blauhelme vor drei Wochen gelten5000 bis10 000 Menschen alsverschollen odervernichtet.

Vor allem bleibt ein Rätsel, was mden Männern geschah, derentwegeFrauen im Flüchtlingslager am Flughafen Tuzlasich dieAugen rotweinen. Andie hundertFliehendesollen sich, halluzinierend oder vom Hungerfast zumWahnsinn getrieben, mit Handgranten, Pistolen und Stricken selbst getöhaben,sagen dieeinen. Tausendeseienserbischen Granaten undMG-Salvenzum Opfergefallen, sagen dieanderenGenaues istnicht bekannt,sagt die bosnischeArmee.

Verborgen hinter Stacheldrahtrolleund umgeben von Schützenpanzesitzt im Flüchtlingslager amFlughafenTuzla ein jungerblonder Mann imtarn-farbenen Kampfanzug. Er weiß, wo dMänner vonSrebrenica geblieben sinMevludin Oric ist 25, Vaterzweier Kin-der – und Augenzeugeeines beispiellosen Verbrechens.

Dem Staatsanwalt hat er seine Gschichte erzählt, der Armeeführungauch. Seine Akte wird den umständli-chen Wegnehmen zumTribunal gegendie Kriegsverbrecher in DenHaag. Oricwar unter den mehr als zehntauseMännern ausSrebrenica und Umgebung, die am 10.Juli in den Buljina-Wald flohen.

Wie die anderen im 15Kilometer lan-gen Treck derElenden hatte erschonnach dem immer stärker werdendenGranatenhagel der erstenJuliwoche ge-spürt, daß die Serben Ernst machwürden. Daß sie dem Rest derWelt,vertreten durch einarmseliges Bataillon

verängstigter niederländischerSoldaten,zeigen wollten, wieeine internationaleSchutzzone ungestraft sturmreif gschossen underobert werdenkann.

Oric kam nicht weit auf seinem Wein die Freiheit durch dieostbosnischeBerge. Kurz hinterSrebrenica geriet deTreck, der sich im Schutz dürftig bewaffneter Soldaten aus derEnklaveknapp 100 Kilometer nordwestwärtkämpfen sollte,unterschweren Beschuder bosnischenSerben.HunderteZivili-sten sind tot zurückgeblieben.Oric ludeinen Verletzten auf dieBahre undtrug

ihn, gemeinsam mit einemKameradenweiter in Richtung der vermeintlicheFreiheit.

Er wird, wie die anderen im Flücht-lingszug, kurz vor dem Dorf KonjevicPolje wieder beschossen. DerTraumvieler Vertriebener von einemneuenLeben nach drei JahrenIsolation undGeiselhaft in den Händen der Serbeendet für immer im Feuer derTschet-nik-Heckenschützen entlang des JadFlusses.

Übereinstimmend erwähnen Dutzen-de Augenzeugen, die vor künftigen

Der KronzeugeMevludin Oric kann aus eigener, leid-voller Erfahrung über den Verbleib vonmehreren tausend Moslems berichten,die nach dem Fall der Schutzzone Sre-brenica verschwunden sind. Daß diemeisten von den siegreichen bosni-schen Serben getötet wurden, fürchtetauch Emma Bonino, EU-Kommissarinfür Humanitäre Angelegenheiten: „Ichmuß mit dem Schlimmsten rechnen.“Sie hatte in den Flüchtlingslagern vonTuzla ohne Ergebnis nach den Ver-

schwundenen geforscht. Auch in demAnfang August erscheinenden Berichtdes Uno-Menschenrechtsbeauftragtenfür das frühere Jugoslawien, TadeuszMazowiecki, werden Gewalttaten ge-gen die Zivilbevölkerung nach dem FallSrebrenicas „in enormem Umfang“ do-kumentiert – neben der Untätigkeit derWeltgemeinschaft wohl einer derHauptgründe für den Rücktritt Mazo-wieckis. Überprüfungen dieser Aussa-gen durch unabhängige Journalistenhaben die bosnischen Serben vor Ortbislang verhindern können.

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Srebrenica-Flüchtlinge in Tuzla: Vom Hunger fast in den Wahnsinn getrieben

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Kriegsverbrecherprozessen Zeugnislegen wollen, daß sie Leichenrund umden Ort Konjevic´ Polje gesehen hätten,und viele Männer, die – Armehinterdem Kopf verschränkt – in der Nähe dFußballfelds auf ihrEndewarteten.

Auch Oric ist in einen Hinterhalt geraten, als dieSonne überKonjevic Poljeaufgeht am 11. Juli. Von 35 Soldatewerden sie eingekreist.

Die Männer tragen Uniformen, dlaut Belgrader Behauptungen imbosni-schen Krieg nichtauftauchen können –Uniformen der jugoslawischenArmeedes PräsidentenMilosevic, der offiziellam Kampfnicht beteiligt ist. Er seisichsicher, sagtOric, daß die Männer vojenseits der bosnischenGrenzegekom-men seien. Als Bosnien nochTeil Jugo-slawienswar, habe erselbst dieseUni-form getragen.

„Sie gaben uns Wasser, fordertenMark und zwangen uns mit vorgehaltenen Waffen, Tschetnik-Lieder zusin-

Serbenführer Karadzic, MladicLanger Weg zum Kriegsverbrecher-Tribunal

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gen“, sagt Oric. Inzwei Bussen werdeseine Weggefährtenund er nach Bratunagebracht.

Vor der Grundschule „Vuk Karadzic“ hal-ten die Busse. DieSchule ist mit Häftlin-gen überfüllt, desglei-chen dasnebenanlie-gende Stadion, Fas-sungsvermögen an d5000 Menschen. Oric´und seine Mitinsasseübernachten unteAufsicht bosnisch-serbischer Polizei imBus.

„Als die erstenzweiaus unserem Bus gholt wurden, habe ichdas Todesurteil erwartet“, sagt er. Die ganzNacht über hört e

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Schüsse und Schreie aus der 50MeterentferntenSchule. Ererkennt Ilija ausdem DorfSpat bei Bratunac wieder, deMann mit dem mächtigen Schnurrbaraus der nahen Zinkmine.Ilija wählt dieOpfer aus.

Um 11 Uhr morgens am Mittwochdem 12. Juli,kommtHoffnung aufunterden Geiseln. Es heißt, dieFahrtgehe inRichtung Kladanj, wo ein Austausch mserbischen Kriegsgefangenen vorgehen sei. Doch in Konjevic Polje, wonoch die Leichen liegen, biegen dieBus-se ab. Es geht nach Zvornik, in dieser-bischbesetzte Stadt an derDrina, an derGrenze zuRest-Jugoslawien.

„Kopf zwischen die Knie“, sei abZvornik im Bus verfügt worden, sagtOric. Er tat, wie ihm geheißen. Ausdem Augenwinkelerkennt er den OrKarakaj und danach den Weg ins Tüber einen staubigenPfad. Im nächsten

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Dorf hält der Bus vor derSporthalle. ImInneren warten 300gefangene Bosnieauf dem Basketballfeld.

„Rückt zusammen, es kommennochLeute“, schreien serbische PolizisteDie Bosniersind ruhig undglauben, siewürden gegen Kriegsgefangene gtauscht.Gegen 14 Uhr ist dieSporthallevoll. An die 2500 Männer drängensichnun im Gebäude.

In der Halle führt – laut Aussage deKronzeugenOric – GeneralRatkoMla-dic Regie, Oberkommandierender dbosnisch-serbischenStreitkräfte undVerhandlungspartner der Vereinten Ntionen. „Sieh mal, da ist auch Karadzic“, sagen einige derinterniertenbos-nischen Moslems. DieMenge im großenSaal derSporthalledreht die Köpfe undraunt.

Radovan Karadzˇic, der politischeund RatkoMladic, der militärischeExe-

kutor serbischer Allmachtsphantasiam selben Tag im selbenRaum –einfachzu hochrangig scheint die Besetzungeinen einfachen Gefangenenaustausc

Bald wird erschreckend klar, was dgroße Bahnhofbedeutet. Ab 14Uhr,sagtOric, werden die erstenGruppen zuje 25 Mann an denRand derHalle ge-führt: „Am Ausgang wurden jedem mweißen Stoffbinden dieAugen verbun-den, dann gab eseinenSchluckWasserund ab auf die zweiLastwagen, die bereitstanden.“

Oric ist früh an der Reihe. Es ist dsechsteGruppe, 125 Männer sind vorihm verschwunden.Auch ihm wird amAusgang der Sporthalle eine weißeBin-de über die Augengestreift, auch er darWassertrinken, bevor es auf dieoffeneLadefläche des Lastwagensgeht. Erzün-det sicheine Zigarette an, und als er sHaris, seinem Vetter, reichen will,schiebt er die Stoffbinde einwenig wegvon den Augen. Ersieht, daß der Lastwagen ins Brachlandsteuert.

Nachzwei Minuten Fahrt über die Eisenbahngleise vonZvornik nach Bratu-nac sind sie amZiel. „Aussteigen und zzweit antreten“, brüllt jemand imKom-mandoton. „Siewerden uns erschießensagtVetterHaris zuOric, der seineHandergreift. Sekunden späterfallen die er-sten Schüsse. Haris stürzt und reißtOricmit, den dieSalveverfehlt. Er spürt daBlut des Cousins auf seinemnacktenOberkörper.

Oric bleibt liegen, stelltsich tot. ImFünf-Minuten-Takt, sagt er, peitscheKalaschnikow-Salven durchsGrenzlandan der Drina. DieLeiche seinesVetterslastet schwer aufihm: „Die wenigen Ko-ranverse, die ichkannte, habe ichgebe-tet.“

Nach sechsStunden, es gehtgegenAbend, wird er ohnmächtig. Bis zuletzt

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„Grenzt uns nicht aus!“Ministerpräsidentin Tansu Ciller über ihre Demokratie-Bemühungen

Regierungschefin Ciller, Militärs: „Die Streitkräfte bekennen sich zur Demokratie“

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SPIEGEL: Das Europäische Parlamenthat den Beitritt der Türkei zur Zollunion von wesentlichen SchrittenAnkarasin RichtungDemokratie undMenschen-rechte abhängig gemacht.GlaubenSie,daß die jetzt verabschiedeten Verfasungsänderungen den Ansprüchen derEuropäischenUnion genügen?Ciller: Die Erwartungen und Bedürfnis-se des türkischen Volkes sind für uwichtiger als alles andere. Ich weiß

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nicht, ob unsereReformbemühungen ider Türkei dieEuropäischeUnionzufrie-denstellen. Bei der Zollunion handeltsich umeine vertragliche Verpflichtungdie sich aus den in densechzigerJahrenzwischen der Türkei und derEuropäi-schen GemeinschaftunterzeichnetenAbkommen ergibt. Wenn jetzt mit derZollunion überhaupt nicht zusammenhängende Angelegenheiten als Vorbdingungen gestelltwerden, ist das keingesunde Einstellung.SPIEGEL: Etliche Europa-Parlamentarier wie der Fraktionsvorsitzende der Lberalen, Gijs de Vries, kritisieren dieVerfassungsänderungen als „nicht aus-reichend“ und machen eineAufnahme indie Zollunion von weiterenReformenabhängig. Sind Siedazu bereit?Ciller: DieseDiskussion finde ich falschSeit übereinemJahrhundert haben in deTürkei zum erstenmalZivilisten eineVerfassungsänderungvollzogen und damit einen Prozeß der demokratischReformeneingeleitet.Zudemhaben wirgerade einen weiteren sehrbedeutendenSchritt in dieserAngelegenheit unternommen: Der vom Parlamentverab-schiedete Fünfjahresplan siehtvor, eini-

hat er Schüsse gehört. Als er wiedaufwacht, fällt Regen auf die kargeFelder. Eine weitere Stunde vergehehe eine Stimme sagt: „Genug. Es iskeiner mehr übrig. Drei Mann bleibenzur Wache.“

Weil seit dem Nachmittag Raupenund Schaufelbagger dasErdreich fürMassengräber aufgerissenhatten, warOric zur Flucht gezwungen. ErhatteGlück: „Die Wachen verschwanden,wurdestill.“

Um Mitternacht herrscht Grabesrhe, und Oric´ wagt, sich zu bewegenEr streift dieAugenbinde ab und siehordentlich geschichtet, die Leichen dLandsleute inzwei Reihen vonjeweilsmehreren hundert Metern. ImMond-licht erkennt er Gräben, gutdrei Me-ter tief, die offensichtlich amFolgetaggefüllt werden sollen. „Sie haben die2500 Mann aus der Halle erledigt“,sagtOric.

Weinkrämpfe schütteln ihn, als erdie Nachthinausläuft: „Ich binfast vorAngst gestorben.“ Wielange er in dieWälder geflüchtet ist, kann Oric nichtmehr schätzen.Aber er weiß, daß eplötzlich, etwa aus 100Metern Entfer-nung, eineStimme hört: „Bist du verletzt?“

Es ist Burem, einMoslem, der auchdem Tod entgangen ist.Oric schließtsich ihm an, hört auf zuweinen, kon-zentriert sich aufs Überleben, auf dieFlucht. „Alleine wäre ich verrückt geworden“, sagt er.

Sie lassenflehende Verwundete zurück, die nicht mehr laufen können,und marschieren Richtung Krizˇevici.Unterwegs tauschen die beiden Flücht-linge ihre Geschichten aus.Burem er-zählt, daß GeneralMladic in einem ro-ten Ford die Exekution beobachtet hbe. Burem will die Augenbinde ver-schoben und zugesehenhaben.

Ein dritter Flüchtling stößt zuihnen.Sie laufen sieben Tagelang durch dieWälder Ostbosniens. Sie essen grüÄpfel und rohe Pilze. Viermal feuerndie Serben aufsie. Doch Oric überlebtund erreicht am elften Tag seinFlucht moslemischesGebiet.

Er ist nun schmal wieeine Zaunlat-te, und seinBauerngesicht ist von deSonne gegerbt, dieHaut aufgerissenEr hat Glück gehabt: AuchseineFraulebt, seine Kinder sind wohlauf. NurOrics Vater überlebtenicht.

„Es muß einenGott geben, dermichgerettet hat“,sagt der jungeMann, derin einer multikulturellen Umgebungaufgewachsen ist. SeineErfahrungenhaben ihn zueinem überzeugtenReli-gionskämpfer gemacht. „Vor demKrieg war ich zu 30Prozent Moslemjetzt sind es 100Prozent.“

Mevludin Oric wird seine Aussagenzur Massenhinrichtungbeeiden, wannimmer es nötig ist. Y

Tansu Cillererregte 1993 Aufsehen, als sie dieNachfolge des zum Staatspräsiden-ten aufgerückten RegierungschefsSüleyman Demirel antrat. Die inAmerika ausgebildete Professorinfür Wirtschaftswissenschaften underfolgreiche Geschäftsfrau versuchtdie Menschenrechte und die Demo-kratie zu stärken – und gerät in Kon-flikt mit Militärs, die im Kurden-Kon-flikt auf Gewalt setzen. Ciller, 49,sucht jetzt verstärkt die Annäherungan Europa.

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Ciller-Herausforderer Erbakan: „Ausbeutung religiöser Gefühle“

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Türkische Fundamentalisten: Zulauf in den Elendsvierteln der Großstädte

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ge Befugnisse derZentralregierung aukommunale Verwaltungen zu übertrgen. Dies ist eine sehrwichtigeEntwick-lung auf demWeg, die Verwaltungen zstärken undeine breitereBasis an dedemokratischenPraxisteilhaben zulas-sen. Wir werden die Reformenkonse-quentfortsetzen.SPIEGEL: Nicht nur Euro-Parlamentarier beklagen die halbherzigen Verfasungsänderungen. Dieliberale Istanbuler TageszeitungCumhuriyet kritisiert,daß etwaAngehörige der Streitkräfteweiterhin nicht für Rechtsbrüche belangt werden, die sie während derMili-tärdiktatur begangenhaben.Ciller: Die Phase desMilitä rregimes hadie Türkei hintersichgelassen. Wirwol-len uns auf die Zukunft orientieren,stattmit der Vergangenheit abzurechnen.SPIEGEL: Selbst Ihr Koalitionspartner, die Republikanische Volksparte(CHP), ist mit dem Umfang der Refomen unzufrieden. Die Änderungeklagte der CHP-Vorsitzende undstell-vertretende Ministerpräsident HikmetCetin, entsprächennicht den Vorstel-lungen seiner sozialdemokratischen Ptei.Ciller: Es ist nur natürlich, daß jedepoli-tischeParteiunterschiedlicheErwartun-gen hat. Es ist aberauch unumgänglich,daß die Verfassungsänderung, die eineZweidrittelmehrheit des Parlaments efordert, das Ergebniseines demokrati-schen Konsensus seinmuß. Immerhinhaben wir schließlich einen gemeinsamen Nenner gefunden.SPIEGEL: Im RahmenIhres Reformpaketeswollten Sieursprünglich auch denumstrittenen Artikel 8 des Anti-TerrorGesetzes streichen, der schon freieMei-nungsäußerungen wie die Forderunnachmehr Autonomie für Kurden unteschwere Strafe stellt.Warum haben Si

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vor den Falken in der eigenen Partei zrückgesteckt?Ciller: Der Artikel 8 stehtganzoben aufmeiner Prioritätenliste. Das Parlamewird sich nach den Sommerferien dambefassen, und auch in dieser Angelegheit werde ich versuchen, einen Kosens zuerreichen.SPIEGEL: Erst vor wenigenWochen hatder stellvertretendeStabschef AhmetCörekci klargestellt, daß dieMilitärskeine AufhebungdiesesArtikels zulas-sen werden.Ciller: So hat der General dasnicht ge-sagt. Für die Aufhebung des Artikelsist allein dasParlament verantwortlichUnd mein Ziel ist, der Meinungsfreihein der Türkei zu ihrerzeitgemäßen Bedeutung zu verhelfen.SPIEGEL: NebenBekenntnissen zur Demokratie undMeinungsfreiheiterwartet

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das Europa-Parlament von IhrerRegie-rung ein entschiedenes VorgehengegenFolterungen, über dieMenschenrechtsorganisationen immer wieder berichteWie wollen SieMenschenrechte inIhremLand künftig besser durchsetzen?Ciller: Im Bereich der Menschenrechhaben wireinige Defizite –aber andereLänder haben die auch. Um dieWichtig-keit der Menschenrechte zubetonen, haben wir ein Ministerium für Menschenrechtsfragen eingerichtet, unddiesesThema gehörtjetzt auch als Lehrfach zunseremSchulwesen. Undbitte: Auchwenn es die Vorwürfe der Folterseit lan-gem gibt, so ist es doch auch eine Tatche, daßdiese Vorwürfe zueinem erheblichen Teil auf mangelhaften undfal-schen Informationen basieren, die zDiffamierungskampagnen gegen uns bnutzt werden.SPIEGEL: Alle guten Absichten Ihrerseiteinmal unterstellt – Sie scheitern doletztlich an derEngstirnigkeit derSicher-heitsdienste undMilitärs, denheimlichenRegenten des Landes.Ciller: Sie könnendoch nichtbestreitendaß die Türkei demokratisch-parlametarisch regiert wird. Die türkischeStreitkräftebekennensich zurdemokra-tischenRegierung und unterliegenmei-ner politischenAutorität.SPIEGEL: Die Militärs haben währendder vergangenenJahre aufeinegewaltsa-me Lösung desKurdenproblemsgesetzt– und das Land ineinenfolgenschwerenKonflikt gestürzt. Haben Sie dieHoff-nung, bis zu Neuwahlen, die spätesteim Herbst 1996 stattfindenwerden, dieKurden zubefrieden?Ciller: Meine Aufgabe ist es, unser Vovor der terroristischenBedrohung zuschützen, undgegenTerror gibt es aufder ganzen Welt nur ein Mittel: die Bekämpfung durch Sicherheitskräfte –selbstverständlichunter Achtung de

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NeuerDeckmantelDer Sicherheitsdienst erhält mehrMacht – wie in KGB-Zeiten wiederals Geheimpolizei. Und ein neuerChef kam: der Kreml-Kommandant.

ie werden immer aggressiver“stöhnt der ehemaligeGulag-Häft-S ling Sergej Grigorjanz. Es geb

wiederwillk ürlicheVerhaftungen,Tele-fonkontrollen, er berichtetsogar vonmedizinischenExperimenten anSolda-ten, dieeinen Einsatz in Tschetscheniverweigern.

Der ehemalige Dissident Grigorjanjetzt Präsident der Menschenrechtsornisation „Glasnost-Fonds“, klagt drussischeGeheimpolizei FSB an, de„Föderalen Sicherheitsdienst“ – ei

Jelzin-Günstlinge Korschakow, Barsukow: Schleichende Machtergreifung

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Stück aus der Konkursmasse deswjetgeheimdienstesKGB.

Grigorjanz hat in der GorbatschowÄra als Herausgeber desMagazinsGlas-nost mehrmals erleben müssen, wiesein Büroeingebrochen wurde; von deTäternfehlte stets jedeSpur.Unter demPräsidenten BorisJelzin erlebte er denGeheimdienstchef Sergej Stepaschinder gesagthatte: „Wir müssen unbe-dingt einen starken Sicherheitsdienswiederherstellen.“Doch jetzt wird wo-möglich allesnochviel schlimmer.

Stepaschinhatte wie in alten Zeitenim Landesteil Tschetschenien gewütet.Weil er dennoch die GeiselnahmeBudjonnowsk nichtverhindernkonnte,

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feuerte ihnJelzin. Zum Nachfolger berief er vorigeWoche perUkas Nummer755 den ebenerst zum Generaloberdes Sicherheitsdienstes beförderten Mi-chail Barsukow, 47. Der hat die FrunsMilitä rakademieabsolviert und gehörzu Jelzins Seilschaft.

Ergebenheit hatte ihm beiBeginnsei-ner Karriere noch dieKPdSU abgefor-dert: Barsukow trat als Zugführer insKreml-Regiment des KGB ein, in danur kräftige,gehorsameProvinzjünglin-ge berufen wurden,galt es doch, glei-chermaßen den LeichnamLenins unddie regierenden Greise zu bewachen.

In dieserZeit schloßBarsukow engeFreundschaft mit AlexanderKorscha-kow, seinemKameraden in der 9. KGBAbteilung (Personenschutz). Der avacierte zum Leibwächter des MoskaueStadtparteichefs Boris Jelzin, blieb desen getreuer Schatten überalle Ab- undAufstiege hinweg und gewann soEin-fluß und denDienstrangeinesGenerals

PartnerBarsukow wurde1992Kreml-Kommandant. Inseinen Aufgabenbereich fiel bislang die Behütung derSpit-zenbürokraten – außer ZarBoris, fürden seinKumpel zuständigwar. Kor-schakowarbeiteteseit langem aufeinen

-Super-Geheimdienst hin,unter seinemFreund und Trinkkumpan Barsukow.

Bereits vor zwei Wochen meldetenrussische Medien dessenneuen Auf-stieg: BesorgteDemokraten imJelzin-Umkreis hatten die Ernennung per Idiskretion verhindern wollen,weil ihnendie schleichende Machtergreifung dbeiden Ober-Prätorianerunheimlichwird. Doch das DementiBarsukowsglaubte schon damalsniemand.„Jelzinwill den Mann“, befand einehemaligerKGB-General, „weil er dieStaatssicherheit allein auf Jelzin fixiert.“

Für das neue Amt ordnete derKreml-Chef seinem Protege´ einenProfi als Er-sten Stellvertreter bei, den Leiter d

rechtsstaatlichen Prinzipien.Außerdemwill ich die wirtschaftliche und sozialEntwicklung derRegion vorantreiben.SPIEGEL: Und das sollreichen?Ciller: Je schneller wir denTerror besie-gen, destoeher kommt derAufschwung.SPIEGEL: Zur größten Gefahr für IhrRegierung sind,neben dem Kurdenproblem, dieIslamisten von der Wohlfahrtspartei geworden. In Umfragenliegt diePartei von NecmettinErbakan miteinemViertel aller Stimmenweit vor Ihrer Par-tei des RechtenWeges. Wiewollen Siemit dieserHerausforderungfertig wer-den?Ciller: Das türkische Volk istbesonnenEs bekenntsich zum laizistisch-demokratischenRegime. Ich glaube, daß dStärke der Wohlfahrtspartei hochgspielt wird. Ihr Stimmenanteil bei deletzten Kommunalwahlensollte nicht alsMaßstab fürallgemeineWahlenangelegtwerden. Meine Parteiwird nach denWahlen im Jahr 1996 alleine an dieMacht kommen.SPIEGEL: Die Wohlfahrtspartei, die, wiviele fürchten, aus derlaizistischen Tür-kei mit ihren 60Millionen Moslems ei-nen Gottesstaat machenwill, ist aufstramm antieuropäischemKurs undsam-melt damit kräftig Stimmen – nicht nur inden immer größer werdenden Elendvierteln Ankaras undIstanbuls.Ciller: Die Integration der Türkei in deWestenwird dieWerte der modernen Zvilisation undderenEntwicklung unum-kehrbar machen.Europadarf unsabernicht ausgrenzen, sonstbesteht die Gefahr, daß Ideologien, die auf der Aubeutung derreligiösen Gefühle des türkschen Volkesberuhen, an Bodengewin-nen. Die Beeinträchtigungoder Nicht-Realisierung der Zollunion würde deZielen derreligiös-fundamentalistischeStrömungen dienen. Dassollten die Eu-ro-Parlamentarierbedenken.SPIEGEL: Die Islamisten werfenIhrerRegierung Versagen in der Bosnien-Plitik vor und fordern ein Eingreifen auseiten der moslemischen Brüder. Müs-sen wir demnächst auf demBalkan miteiner Art IslamischenEingreiftruppe un-ter Führung der Türkei rechnen?Ciller: Das ist kein Religionskrieg. IBosnien werdenalle vom Westen seitJahrhunderten vertretenen Werte udie Prinzipien des internationalenRechts mit Füßen getreten. Und dieternationale StaatengemeinschaftsiehtdiesemGeschehen tatenlos zu und prvoziert damit in der islamischenWeltFragen und Kritik. Es istfalsch, in Bos-nien einen Konflikt zwischenChristenund Moslems zusehenbeziehungsweisdas Problem in einensolchen Konflikt zuverwandeln. Noch ist es für eine Intevention auf internationalerEbenenichtzu spät. Die Türkei ist bereit,jegliche ihrzugewieseneVerantwortung zu übernehmen. Y

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Gegenspionage, Wiktor Sorin, 52. Dbeiden präsentierteJelzin denFSB-Ab-teilungsleitern vorigenMontag imSana-torium Barwicha nahe Moskau,wohiner sichnach seinerHerzattacke aus deZentralklinik begebenhatte.

Das Krankenhaus war ihm bequees liegt in Sichtweite vonseiner Woh-nung im Stadtviertel Krylazkoje. Imsel-ben Hauswohnt auch Barsukow, dessEhefrau TatjanaengenKontakt zurJel-zin-Gattin Naina hält.

Barsukowsteigt zueinem der mächtigsten Männer Rußlands auf. ImAprilhatte Jelzin ein von derDuma verab-schiedetes Gesetz „Über die Organe deFöderalen Sicherheitsdienstes“ abgzeichnet. Mit derneuenRechtsgrundlage für die rund 75 000hauptamtlichenAgenten vomInlandsgeheimdienst wanicht nur die fünfte Namensänderunseit Aufl ösung des KGB1991 verbun-den,sondern auch eindeftiger Machtzu-wachs. „Neuer Deckmantel für dasalteKGB“, befand dieliberale Iswestija.

Wie die alte Geheimpolizeiverfügtder FSB nun wieder über eine eigeUntersuchungsabteilung für Festnamen und Verhöre.Zwischendurch wafür solche Exekutivmaßnahmen di

Geheimdienst-Förderer JelzinSpitzel und Lauschangriffe

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Staatsanwaltschaft zuständig.Diese Gewaltenteilung,klag-te Barsukows AmtsvorgängeStepaschin, mache diegehei-me Tätigkeit „viel schwieri-ger“.

Jetztaber dürfen die Gehei-men in ihren grauen Konfektonsanzügen mit ausgebeulTasche (da steckt die Pistodrin) schon aufVerdacht Woh-nungen durchsuchen, auch Rgierungsbüros undGeschäfts-räume, selbst von ausländschenPrivatunternehmen. Skönnen Telefone abhören,über jeden BürgerDatensam-meln, Unterlagen beschlag-nahmen, falsche Dokumenteund Decknamen benutzen. Ale dabei angewendeten Meth

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den gelten als Staatsgeheimnis und svor parlamentarischenoder richterli-chen Kontrollen sicher.

Das neue Gesetz wertetauch den Posten des Direktors auf – mitAussicht aufBeförderung zum Armeegeneral iRang eines Ministers. Barsukow dadie 14 FSB-eigenen Gefängnisse ausbauen. Ihmsteht eine eigene Kamptruppe zurVerfügung. SeineLeute kön-nen jenseits derLandesgrenzen agiere

Der FSB kämpft gegenSpione, Ter-roristen, Waffenschmuggler, Rauscgiftdealer und organisierte Kriminellund betreibt dabei künftig auch eigeneWirtschaftsunternehmen. Damitlegali-siert dasneue Gesetz nureinen bestehenden Zustand: Früheres KGB-Ver-mögen ist in Firmen überführt worde

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die auch im Auslandoperieren. Dasbringt dem Dienst zudem Devisenein.

Bei soviel Machtfülle fürchten demokratische Politiker und Menschenrechler die Aushöhlung der GrundrechteSelbst ein Jelzin-Berater meint, dasneue Gesetz bedeute die Wende „zunem halbautoritären Modell mitpolizei-staatlichenElementen“.

Gab es in Sowjetzeiten nur das KGund den MilitärgeheimdienstGRU, sorivalisieren jetzt gleich sechsGeheim-dienste miteinander. Da der FSB auTechnologie-Spionagebetreiben darfkommt er dem AuslandsgeheimdiensSWR ins Gehege. Einer „Agentur füRegierungsverbindungen“ obliegt dtechnische Kontrolle allerDatenbankender Sicherheitsdienste in derGUS; dazuüberwacht sie sämtliche Telekommunkationsverbindungen der zentralen uregionalenrussischen Behörden, Parla-mente und Gerichte.

Die „Hauptverwaltung Schutz“(GUO ), bisherunterBarsukows Befehlsichert mit 40 000Mann Präsidialver-waltung und Zentralregierung. Deselbständige „Sicherheitsdienst des Psidenten“ (SBP), aus denGUO-Trup-pen ausgegliedert und allein Korsch

kow unterstellt, hält nochmalsHundertehochbezahlterNahkämpfer von denein-stigenKGB-Eliteeinheiten „Alpha“ und„Wimpel“ unterWaffen.

Jüngst rügteBarsukow noch dasZau-dern des FSB,politische Untersuchun-gen anzustellen. Erselbst ist nun ermächtigt, die Parteien auszuforschenSpitzel zurekrutieren undLauschangrif-fe zu starten, wo immer es ihm gefällt.

Das Wuchern der Geheimdienstever-setzt den Regierungskritiker Grigorjain Furcht. Im Januar kam untermyste-riösen Umständensein Sohn Timofej,20, ums Leben. „EineindeutigerAuto-unfall“, meinte ein Ermittler.Grigor-janz glaubt nicht daran; vorsorglichschickte erFrau und Tochter insExilnach Frankreich. Y

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Abhängigkeitund TodIm Südpazifik formiert sich Wider-stand gegen die Atomtests aufMururoa. Aber auch die Angst vorRepressalien nimmt zu.

eit Tagen ist für die Männer undFrauen von der Südsee-InselRapaS an Ausschlafen nicht zudenken.

Ab fünf Uhr morgens rauscht der Vekehr von Papeete, dem HauptortTahi-tis, an ihrerprovisorischenBambushüt-te im Zentrumvorbei, Dieselbusse unZweitakt-Mopeds knattern keine fünfMeter nebenihren Kopfkissen die Ruedu General de Gaulle entlang.

Doch den Demonstranten, die pSchiff von dem 1200Kilometer südlichgelegenen Eiland auf die Hauptinsangereistwaren, ist der Lärmegal. Siehalten mit zwei Dutzend PapeeterMahnwache vor dem Regierungsgebde und dem französischenHochkom-missariat. „Wir habenviel zu lange ge-schlafen“, sagtAnnie Tuabua.

Die 30jährige Polynesierin ist einder wenigen, die mit ihrem Protest ggen die Wiederaufnahme der Atomtests auf dem südpazifischenAtoll Mu-ruroa zitiert werdenwill. Ihr Vater ar-beitete jahrelang auf einemSchiff, dasbei Mururoa dieRadioaktivität unter-suchte. Heute quälen den 58jährigenMann undefinierbare Leibschmerze„Die Bombe“, sagt Annie, „hat nurAbhängigkeit und Todgebracht.“

Die gaullistischeTerritorialregierungunter Präsident GastonFlosse und diefranzösische Verwaltung haben aufmutmaßliche Widersacher großDruck ausgeübt und Beamten mit„Folgen“ gedroht. Viele der 200 000Französisch-Polynesierarbeiten direktoder indirekt für die Armee oder dieRegierung. Sie fürchten um ihrenJob,falls sieoffen gegen dieneueVersuchs-reihe auftreten.

Wie es weitergehensoll, weißkeiner.Die Insulaner möchtensich im Septem-ber mit einem eigenenBoot der „Rain-bow Warrior II“ und der „MV Green-peace“ anschließen, wenn es zSchiffs-DemoRichtung Mururoa geht.Doch ob sieeinen Eigner finden, desich dorthin traut, istfraglich: Die Mili-tärs habenwiederholt gedroht, jedesSchiff innerhalb der Zwölf-Meilen-Zo-ne zu beschlagnahmen und die Beszungen festzunehmen.

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Tahitianischer Unabhängigkeits-Politiker Temaru* (r.): Charisma und Kampfesmut

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Mururoa

Tahiti

AUSTRALIEN

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Hawaii

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Neukaledonien(französisch)

CookInseln

Samoa

Marshallinseln

Französisch-Polynesien

1000 km

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Ein paar Männer von derMahnwa-che meißeln „Mururoa“ auf einen her-beigeschlepptenGrabstein, andere beginnen mit demAufbau einer zweitenBambushütte an der Verkehrskreuzu– was einesofortige Räumungsdrohungvom Papeeter Bürgermeister zur Folghat.

Da lacht Gabriel Tetiarahi unbeeindruckt. „Ein großes Friedensdorfsolles werden“,sagt er. Tetiarahi ist derHauptorganisator des Widerstands, dDreh- und Angelpunktaller Informa-tionen, ein Mann mit Ideen so buwie sein Hawaiihemd. Er ist einer deKöpfe von „Hiti Tau“ („Es ist Zeit“).

Diese NGO (non-governmental oganization)wurde 1991 alsregierungs-unabhängiges, alternativesNetzwerkgegründet. Ihr Ziel: für die Rechte dertahitianischenUreinwohner, derMao-his, und gegenAtomtests zu kämpfen48 weitereNGOs mit insgesamt 30 00Mitgliedern sind auf fast allen InselFranzösisch-Polynesiens angegliedertUnd sie sind weltweit aktiv:Drei Hiti-Tau-Mitglieder reisen beispielsweisegerade nachGenf, um die Uno zubit-ten, sich gegen die französischen Tesauszusprechen. „Chirac übergehtunse-re bürgerlichen und politischenRech-te“, sagt Kämpfer Gabriel.

Tatsächlich ist dasProblem, das deneue Präsident in Paris verursachthat,nicht nur ein ökologisches. DenMen-schen in Französisch-Polynesien stößbitter auf, daß sienicht mitentscheidedurften. „Frankreich bestimmt übe

* Am 14. Juli nach dem Anlegen der „RainbowWarrior II“ in Papeete.

uns wie über eine Kolonie“, klagt Aktivistin Roti Make aus Papeete. „Dbehandeln uns wie Idioten. Ausunse-ren Traditionenhaben sieFolklore ge-macht, unsere Rechte und Identitätraubt. Damit istjetzt Schluß.“

Jahrzehntelanghaben sich die Ein-wohner einesolche Behandlunggefal-len lassen. DasVolk, das duftendeBlüten ebenso verehrt wie Hügel unWälder, Tänze ebenso wie heitere Msik, wußte nurwenig über dieGefah-ren von Atomtests. Außerdem kamit dem französischenMilitär vielGeld in die Inselwelt. Milliarden Dol-lar pumpte Frankreich inseinen Südsee-Hinterhof und machte ihn zu enem relativ wohlhabenden Territorium. Die Preiseaber stiegen, und miihnen die Abhängigkeit der Bürger,Arbeit anzunehmen und zu behalte

Schließlich gewöhnteman sich notgedrun-gen an ein Leben m„la bombe“.

Doch seit PräsidenFrancois Mitterrand1992 die Atomtestsstoppte, wurde aucder Geldfluß geringerDie Polynesier begannen, überzivile Alter-nativen zur Atomrü-stung nachzudenkenUnd sich dieFrage zustellen, wo die nationale Identität deMaohis, die immernoch etwa die Hälfteder Bevölkerungaus-machen,geblieben is

– und die Verfügungsgewalt über ihLand. Maohi-Landeigentümer gründeten auf vielen der InselnNGOs, umihre Landrechte durchzusetzten.

Als die Air France und einige multinationale Konzerne im Westen von Thiti ein riesiges Hotel der Meridien-Kette errichten wollten, besetzteMaohis 1992 denBauplatz. Auf der In-sel Tupai blockierten sie, mitHinweisauf ihre Landrechte, ein Bauvorhabejapanischer Investoren. AufTahiti ver-hinderten sie ein StaudammprojeAuf Moorea zwangen sie die Regierung, eine Volksabstimmung über enen Golfplatzbau abzuhalten, und gwannen.

Mitten in diese Bestrebungen nacmehr Mitsprache platzte Chiracs herrsche Entscheidung – Wasser auf dMühlen von OscarTemaru undseiner

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Ein Erlaß fehltNun will Greenpeace Jacques Chirac per Gericht stoppen

Staatspräsident Chirac*Statthalter am Fischbüfett

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apanerinnenwollen keine Louis-Vuitton-Taschen mehr kaufenJTeile von Sylt sind champagner

frei. Der französischenSektion vonGreenpeace istdieserProtestgegendie von Jacques Chirac angekündig-ten Atomtests zuzahnlos: Siewilldem Staatspräsidenten, einer derheiligtenInstitutionen der Republikdurch eine andere Institution bei-kommen – denStaatsrat (Conseild’Etat).

Die Umweltkämpfer haben bediesem höchsten VerwaltungsgericFrankreichs gegen den Gaullisteine Anfechtungsklage erhobendurch die sie die unterirdischen Eplosionen verhindern wollen. Begründung: Die Atomtests verstoßgegen ein französisches Öko-Gesetzund verletzen internationale Umweltabkommen, die Frankreich uterzeichnethat.

Ein Verfahrengegen den Staatchef, freut sich Greenpeace-AnwaJean-Jacques de Fe´lice, 67, werde„Anlaß für eine nationaleDebatteüber die Atomtests“ sein. Der Maˆ-tre kennt sich aus: Er siegte fürGreenpeaceschon gegen die Paris

Greenpeace-Anwalt de Felice

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Regierung, nach-dem französischeAgenten vor zehnJahren den Frie-denskutter „Rain-bow Warrior“ imHafen von Auck-land gesprengt haten.

Die juristischeOffensive der Um-weltschützer ver-spricht einebislangbeispiellose innerfranzösische Kon-frontation: JacqueChirac,Inhaber derhöchsten Staatsgewalt, gegen den

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Staatsrat, das edelste der sogenaten Grandscorps del’Etat* – Frank-reich gegenFrankreich.

Der Staatsrat, dessen Wurzelndie Monarchie zurückreichen unden Napoleon übernahm, istseit

* Die vier anderen sind: Rechnungshof, Fi-nanzinspektion, Präfektencorps und Auswär-tiger Dienst.

DER SPIEGEL 31/1995

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1872 zugleich Beratungsorgan deRegierung wie auch Gericht.Seineetwa 200 Mitglieder – Politiker, Jursten, hohe Beamte,Unternehmervon denen die Hälfte ihren Berufennachgeht – haben ein Begutach-tungsrecht für Gesetzesvorlagen dRegierung und Erlasse. Chirac,Maıtre de Fe´lice, habe demStaatsragegenüber eine Unterlassung beggen: Er hat die Atomtests in einPressekonferenz am 13. Juni ankündigt, dieser verbalen Botschabisher aber keinenschriftlichen Er-laß (der dem Staatsrat zur Begutatung hättevorgelegtwerden müssen)nachgereicht.

Aber wird der Staatsratsich je ge-gen den Staatspräsidenten stemen? DieStaatsratsmitglieder, Sälen der Republik und derfranzösi-schen Staatsräson, sind vorwiegendAbsolventen der Elite-Ansta„Ecole nationale d’administration“

Fragwürdig wird ihre richterlicheUnabhängigkeit gegenüber deStaatschefdurch eine sehrfranzösi-sche Absonderlichkeit: dieVerwi-schung derGrenzenzwischenExe-kutive und Justiz. Präsident d

höchsten Verwaltungsgerichts ist nominell der Premier-minister, derzeiChiracs Gaullistenfreund AlainJuppe.Der tatsächlicheChef des StaatsratRenaudDenoix deSaint-Marc, ist alseinstiger General-sekretär linker undrechter Regierungen aucheher einMann der Exekuti-ve. Ein Drittel allerStaatsratsmitglie-

der, daruntervieleMinisterialbeamte,

-sind vom Staatspräsidentenodervom Regierungschefernannt.

Wann der Staatsrat entscheideist nicht festgelegt – erkannsein Ur-teil auch vor sich herschieben, bidie Atomversuche vorüber sind.

Ende vergangener Woche boChirac Greenpeaceeinen „ernsthaften Dialog“ an – allerdings mit demVerteidigungsminister.

„Tavini Huiraatira“ (Polynesische Befreiungsfront).

Neun Monate vor denParlamentswahlen erhält die Unabhängigkeitsbewegungviel Unterstützung, und das,obwohl derTahitianer Temaru, Bürgermeister deStadtFaaa, außerCharisma und Kampfesmut nichtviel vorweisenkann. Wederhat er eine Vorstellung, wie eine unahängige Regierung aussehen könnte,noch Ideen füreinewirtschaftlicheEnt-wicklung desLandes.

Doch wie managitiert, dasweiß er.Drohendruft seine BewegungalleAthle-ten, dieMitte August zu den vonParis ge-sponserten Südpazifischen Spielen in Tahiti erwartet werden, zum Boykott au„Wir könnennicht für IhreSicherheit garantieren.“

Doch auch Frankreichs StatthaltGaston Flosse hat Sinn für Populistsches. Schlagzeilenträchtig wie einst derdeutsche Umweltminister Töpfer, ddurch den „sauberen“ Rheingeschwom-men war, ludFlosseParlamentarier unHofberichterstatter zum Lustwandeauf die TestinselnMururoa undFanga-taufa ein.Tagsdarauf berichteten die LokalblätterLa DepecheundLes Nouvelles– beide gehören zum VerlagsimperiuHersant (Le Figaro, France-Soir) – sei-tenlang über den Ausflug.

Sie zeigten die Politiker beimSchwim-men,beim Kokosmilchschlürfen und la-chend vor demFischbüfett: „Alles istgut,nichts radioaktiv, nichts kontaminiert.“Außerdemseien dieKrebserkrankungenicht zahlreicher als anderswo und übhaupt sei esungesünder, in Großstädtezu leben als aufMururoa. Um dieletztenZweifel auszuräumen,sprach Flosse amAbend vor derlokalen Abstimmung viaFernsehen eine Viertelstundelang zusei-nem Volk und versicherte, daßAtom-tests unschädlich seien. Die Delegierteim Territorialparlament votierten in e

* Am 13. Juni bei der Ankündigung der Atomwaf-fenversuche.

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Autor Gingr

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„Thor eins an Siegfried“SPIEGEL-Redakteur Hans Hoyng über den Polit-Thriller desKongreßführers und Clinton-Gegenspielers, Newt Gingrich

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m 6. Dezember1941, einen Tagvor dem Überfall der japanischeALuftwaffe auf Pearl Harbor, läuft

die Weltgeschichte aus demRuder: Imdritten Kriegsjahr stürzt der deutschOberbefehlshaber Adolf Hitler, erstenmit dem Flugzeug abund, zweitens, fürmehrere Wochen insKoma.

Ein Triumvirat (PropagandaministeGoebbels,Reichsmarschall Göring, GeneralstabschefHalder)nutzt dieZeit fürein paar Kurskorrekturen, von dender Führerbesser nichtsweiß. Sowirdim Atlantik der U-Boot-Kriegbeendet

ich: Gewaltphantasie mit politischer Moral

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um den USA keinen Vorwand zum Eingreifen zugeben. Eingeschickter Rückzug an der Ostfronthilft, das bisdahinEroberte zusichern.

Zwei Jahre später hat dann derlängstgenesene GröfazGrund zur FreudeDer strategisch geschickte Eingriffsei-ner Statthalter führte zur Kapitulationder Sowjetunion und zu einem günstigenWaffenstillstand mit GroßbritannienNun herrscht Hitler vom Atlantik bizum Ural.

Ist er’s zufrieden? I wo. In seinemnach dem Absturz vernarbten Gesiclauern, wer hätte esbezweifelt, die„kalten, erbarmungslosenAugen einesHais auf der unablässigenSuche nachBeute“.

Den fischigen Führer beschert unskein durchgedrehter Thriller-AutoDie Ehre gebührteinem Politiker, demFreunde und Gegnerebenfalls unbändigen DrangnachmehrMacht attestierenNewt Gingrich, Sprecher desRepräsen-tantenhauses, unerklärter Bewerberdie Präsidentschaft, finten- underfolg-

reicher Gegenspieler voBill Clinton. Sein soeben erschienener Roman „1945“schildert die PhantasieOperation „Arminius“, ei-nen detailliert ausgematen deutschen Überfallauf Großbritannien und diUSA*.

Washington – einDoradofür politische Literaten oderliterarische Politiker?

Anders alsetwa imTsche-chien eines Va´clav Havelblieben Literatur und Politikin den USA bislangstrikt ge-trennt. Soverhindertenbei-spielsweise kluge Wähler,daß NormanMailer Bürger-meister von NewYork oderGore Vidal Senator von Kalifornien wurde. Und gutberatene Konsumentenspar-ten lieber ihr Geld, als esfür Jimmy Carters unseli-ge Gedichte oder GarHarts zu RechtvergessenLiteraturversuche auszugeben.

Das könnte sich ändern:GingrichsRoman ist ein Er-folg. Und sein fast zeitgleicerschienenes Buch mit Re

zepten zum konservativenUmbauAme-rikas (Eins, zwei, viele Disney Worldswill der Speakerschaffen,darunterauch– „so unmöglich ist das garnicht“ – ei-nen richtigen „JurassicPark“) steht be-reits auf Platz eins der Bestsellersten**. Und das,obwohl das Gingrich

** Newt Gingrich: „To Renew America“. Harper-Collins, New York; 260 Seiten; 24 Dollar.

* Newt Gingrich: „1945“. Baen Publishing / Si-mon & Schuster, New York; 382 Seiten; 24 Dol-lar.

ner für Paris sowieso nicht verbindlicheResolution für die Atomtests.

250 Kilometer nordwestlich, auf deInselTahaa,sitzt deroppositionelle Ab-geordneteMonil Tetuanui auf der Terrasse seinesHauses und träumt von deMachtübernahme.Stolz zeigt er auf dieVanillestangen, die auf demTisch liegen;danebeneine schwarzePerle. „Damit,und mit Öko-Tourismusbauen wirunse-re eigene Wirtschaftauf.“

Drei Männer tretendurch dasGatter,setzensich undtrinken Kaffee. Alleblik-ken auf die Lagune hinaus, auf die weißStrände der vorgelagerten Inseln. ASteg dümpelt daswinzigeAuslegerkanumit dem Tetuanui so gern zumFischenaufsMeer fährt. In der Eckenimmt Zieh-sohn Sam zu den fröhlichen Klängen dSüdseemusik einenThunfischaus. Vonder ungeteerten Straße herdringt das La-chen der Boule-Spieler.

Dann beginnen die drei Männer zusprechen. Von derZeit, als sie aufMuru-roa arbeiteten. VonKollegen, die konta

miniert waren, und von einem Tag auf den andereverschwanden. Von ver-brannter Haut nach Atom-versuchen und von tagelagem Erbrechennach Fisch-genuß. Von radioaktiveStoffen, die in die Lagunentwichen.

Sicher, sie sind regelmäßuntersucht worden, doch dErgebnishaben sie nieerfah-ren. Wenn oberirdisch gezündet wurde, kamen sie aein Boot und wurdenfortge-bracht. Von unterirdischenTests hörten sieerst am Vor-abend. Dannmußten sie aueine zehnMeter hohePlatt-form steigen, wegen deFlutwelle. „Einmal“, sagtAntoine, der Koch, „war daganzeRestaurantweg.“ Siehabensich gefürchtet, wenndie Erdewackelte wie bei einem Erdbeben.

Als sie auf Mururoaange-kommen waren, hatten snichts von Atomtests gewußt. Als sie davonerfuh-ren, wußten sienichts damitanzufangen.Unter den1000Arbeitern auf Mururoa wa

das keinThema. Erstviel später, nachTschernobyl, ist ihnenalles klar gewor-den.Jetztsind sieentschieden gegen dAtomtests. „DieFische, die gestern bMururoaverseuchtwurden, könnenheu-te bei uns ins Netz gehen.“

Aber öffentlich aussprechen, was sgesehenhaben, können sienicht. Jederhat sichvertraglich verpflichten müssenden Mund zu halten. Undeineswissen siegenau: „Wenn wirreden,machen die unfertig.“ Y

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Bürgermiliz in Michigan: Genug Mumm, um die Heimat zu retten REUTER

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„Wir müssen uns wohlmal ein paar

Deutsche schnappen“

Manifest ganzohne heißen Sexauskom-men muß.

Der wird im Nazi-Reißer schon auSeite zwei geboten, wo die Verwandlung eines „schmollendenSex-Kätz-chens“ in „Diana, die Jägerin“ geschil-dert wird. Gingrich, Historiker vonHaus aus, kenntsicheben beideutschenWehrmachts-Tanks („Maschinendonnvon Tiger- undPanther-Panzernschlugin Wellen über ihm zusammen“) genasogut aus wie bei den WaffeneinerFrau(„Er erzitterteunter der Berührung ih-rer Finger“).

Das Erfrischende an diesem sattStück Trivialliteratur ist, daßsich in denUSA ein Politiker für so etwas nichschämt. Wenn es demFilmschauspieleRonald Reagan niepeinlichwar, von ei-nem Schimpansen an dieWand gespieltzu werden, dann kann esseinempoliti-schen Enkel Gingrich auch egal sein,wenn bei derSchlacht umWorte am PCdie Metaphernentgleisen: „Die Kugelnkotzten aus demKampfflieger.“

Gingrich hat gern und häufig dendurchaus geistesverwandtenBestseller-Kollegen Tom Clancy gelesen. DeKrieg, erfahren wir von beiden, ist einSache für richtigeMachos, denen esnichts ausmacht, wennaußer Kugelnund Napalm (war1945schonerfunden)auch mal Leichenteile durch die Lufliegen.

Überhaupt:Gingrich, der sich gele-gentlich mit Peitsche ablichten läßt ungleichwohl inseinerReparaturanleitunfür Amerika zu Recht die herrschen„Kultur der Gewalt“ beklagt, ist ihrsel-ber hoffnungsloserlegen – größeren Wi-derstandscheint er gar nicht erstgelei-stet zuhaben.

Blutiger Höhepunkt desschießwüti-gen Opus ist eindeutschesKomman-dounternehmengegen die amerikanschen Atomlabors von Oak Ridge iTennessee. Die angreifenden norschenRecken („Thor eins, Thor eins,bitte kommen“, „Hier ist Siegfriedzwei“) sollen möglichst vielezivile Wis-senschaftlerumbringen. Mit Sturmge-

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wehren in derHand müssen GeneralLeslie Groves, historisch der militäri-sche Leiter des Atombombenprojektund StabschefGeorge C.Marshall, derspätere Außenminister, höchstpersönlich die anstürmenden Nazi-Hordenver-treiben.

Zum Glück für Gingrich sind dierea-len Weltkriegshelden alle tot und könen kein Schmerzensgeld für das verlgen, was der Republikanerführerihnenantut. Auchsonst beweist derAutor beider Namensgebung einegewisseHinter-fotzigkeit. Einer der deutschen Erzschurkenwird als Professor Dr. Friedrich von Schillervorgestellt.

Dabeisind, die Fairneß gebietet essagen, nichtalle Deutschen indiesemRomanNazis undnicht einmal alle Nazis fies.Wenn aber,sind sie sograuen-haft wie der SS-Offizier Richer, dermassenmordend über die Einwohnvon Oak Ridge herfällt.

„Richer ließ das Magazin seiner Luger herausspringen“, schreibt der Vekündergeistig-moralischerErneuerung„während erzärtlich auf dashalbeDut-zend Mädchen herabblickte, die er .gerade getötethatte. Das war einwun-derbares Gefühlgewesen, besonders adie einewirklich Hübsche anfing zuwei-nen, nachdem er ihrefünf Freundinnenzunächst gezwungenhatte hinzuknienund sie dannsystematisch, eine nach danderen,abgeschossenhatte.“

Die – eherpeinlichen –Gewaltphan-tasien des Republikanerchefs werdnatürlich geadelt durch einepolitischeMoral, wie sie ähnlich auch in seinemBuch ohneBlut und Sex vertretenwird.Amerika ist hier wie dort eine Demo-kratie, diestets gefährdet istdurch auf-geblähte Bürokratien, opportunistischeKongreßabgeordnete,vaterlandsverrä

terische Peacenickssowie Politiker, dieihre Macht zu eigener Lust nutzen undas Land dabei ins Unglück stürzenDas schmollende Sexkätzchen, dassichauf den Knien desStabschefs imWeißenHaus räkelt, istselbstverständlicheineAgentin derNazis.

Wenig verwunderlichauch, daß dieKavallerie, die in der Stunde höchstBedrohung alsRettererscheint, imvor-liegendenBuch,ganz dem Zeitgeistent-sprechend, eine Bürgermiliz ist. Gin-grich weiß eben, wernoch denMummhat, die Heimat zu retten: Veteranaus dem ErstenWeltkrieg greifen imletzten Moment zu ihrenKnarren undvertreiben die Angreifer. „Weckt diLeute auf“, ermuntert sie ihr Anführe„wir müssen uns wohl mal einpaarDeutsche schnappen.“

Was passiert wäre, wenn es damschon Einschränkungen des amerikanschen Grundrechts auf halbautomasche Sturmgewehre gegeben hätte,schildert Gingrich in seinerRezept-sammlung für daswunderbare neuAmerika: „Polen und Ungarn hattenkeine Waffen, mitdenen sie ihr Landund ihre Freiheit hätten verteidigenkönnen. Afghanistan dagegen war eschwerbewaffnetesLand, und deshalbwaren dieSowjets nicht in derLage, denGeist der Freiheit zu besiegen.“ Dkommt, wie wir nun alle wissen, audem Lauf vonGewehren.

In seinem Bestseller „To RenewAmerica“ klagt GeschichtsprofessoGingrich darüber, daß es heutekeinenJulesVerne oderH.G. Wells gebe, derseine optimistischen Visionen für dstrahlendeAmerika der Zukunft in populären Romanenverbreiten könne.Ebensoheftig klagt er, daßeine zyni-sche, selbsternannte kulturelle Elite d„Kernwerte der amerikanischenZivili-sation“ und den Glauben an höherWerte unterminierthabe.

Gott und Gingrich werden’s richten„Fortsetzung folgt“ heißt jedenfallsdie letzte Drohung des Politiker-Ro-mans. Y

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Page 130: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

Strand von Copacabana*: „Wir müssen den öffentlichen Raum für die Bürger von Rio

Strandschöne, Begleiter: „Mischung aus Nizza und Bangladesch“

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Prinzessindes MeeresComeback der Copacabana – mitBürgerinitiativen und neuer Politikkämpfen Einwohner von Rio um ihrberühmtestes Viertel.

ommissar Deraldo Peralha,einstChef desPolizeireviers inCopaca-Kbana, bekämpfte die Sünde mit ei

ner Apfelsine. Männer, die in zuengenHosen über den StrandschlendertenzwangPeralha, eineOrange hinter deHosenbund zustecken.Fiel die Fruchtdurch das Beinkleid zuBoden, konnteder Verdächtige des Wegesziehen.Bliebdie Orangestecken, mußte ereine Nachtauf dem Revier verbringen. DasobszöneKleidungsstück ließ derOrdnungshütedannzerschnippeln.

Polizist Peralha war eine LegendeCopacabana.Unerbittlich kämpfte er füSitte undMoral in Rio de Janeiros berühmtestem Stadtviertel. Er verbot dKüssen in der Öffentlichkeit und wachdarüber, daß die Badenden züchtig be-deckt ins Wasser gingen.

Das war 1958, im „goldenenJahr“ derCopacabana. In elegantenKlubs und Re-staurants spieltenBrasiliensbekanntesteMusiker. An der Strandpromenadefla-nierten die Touristen, in den Anweshinter der Avenida Atlaˆntica feierten dieReichen rauschende Feste.

KommissarPeralha ist heute 80 Jahalt und lebt am Fuß desZuckerhuts. InRios StadtviertelCopacabana aberregtsichlängstniemand mehr überenge Ho-sen auf – eher übernicht existente. Anden Ampelkreuzungenliften Transvesti-ten ihre Röckchen und strecken den Atofahrern ihr entblößtes Hinterteilentge-gen. An der Avenida Atlaˆntica, der be-rühmten Strandpromenade,schlagensichStrichmädchen, oft nur im Tanga, umdie Kunden.

Viele Einheimische, vor allem aucTouristen, mieden in den vergangenJahren Rios bekannteste undvielleichtschönstePromenade, dieauch äußerlichimmermehr in Dreck undSchund zu verkommen drohte.Denn Jugendbanderaubtenhier mit dem Messer Passantaus.

Doch jetzt gibt esHoffnung auf einComeback der Copacabana. Für„Prinzessin desMeeres“, wie das Vierteeinst besungenwurde, haben Bürger

* Vorn: Wachposten der Polizei.

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zahlreiche Kampagnen gestartet. Dbeginnen zu greifen: In diesemSommerregistriertenPolizei und Bürgervereineimmerhin 20 Prozentweniger Überfälleals 1994.Auch Autodiebstahl undEin-brüche sind drastisch zurückgegange

Die Stadtverwaltung investiertMillio-nen in das StadtviertelCopacabanaEndlich wird es U-Bahn-Anschluß erhalten. Bürgersteige,Strandpromenadund Teile der Kanalisationwerden repariert. Ein neuerFahrradweg verbindeden Strand von Copacabana mit dStadtzentrum und den Stränden vIpanema und Leblon.

An der Avenida Atlantica, dem Aus-hängeschild desStadtteils, ist die Renaissance am deutlichsten zu spüren.Der berühmte Strandwird nachts durchgehend beleuchtet, neueKioske undBars säumen die Promenade. Bis spät

die Nacht bummeln Touristen und Eiheimische jetzt wieder amWasser. DasLuxushotelCopacabanaPalace aus dezwanzigerJahren, dem vorkurzem nochder Abriß drohte, istrenoviert wordenund strahlt inneuem Glanz.

In den Seitenstraßenspielen Altstarsder brasilianischen Volksmusik unNachwuchsmusiker. „Erstmalsseit Jah-ren spüre ich, daß es mitCopacabanaaufwärtsgeht“, sagt der MusikexperteSergioCabral.

Cabral zählt zur altenGarde der Copacabana-Boheme. Er kannteviele derKünstler, die das Viertel in den fünfzi-ger und sechzigerJahren zumNabelBrasiliensmachten. In einemunschein-barenKneipeneck an der Rua Duvivietraf er regelmäßig die Musiker Joa˜o Gil-berto, Tom Jobim und den Komponisten CarlosLyra.

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Den verschüttetenGemeinsinn der

Cariocas wiederbelebt

„Wir spielten und tranken solange,bis die Anwohner mitFlaschen warfen“erinnertsichCabral. Den aufgebrachteNachbarn war esgleichgültig, daß zu ih-ren Füßen ein neuerMusikstil geborenwurde: Das Flascheneck, wie dieKnei-penzeile im Volksmundgenannt wurdegilt als Wiege des BossaNova. Späteverkam sie zum Pornoklub,wegen ein-schlägiger Dienstleistungen von deuschen Sextouristen „Bläserstübchen“genannt.

Jetzt ist diePraca Lido zwar immernoch dasZentrum desRotlichtbezirks.Doch die Straßensind sicherer geworden, die Boheme kehrtallmählich zu-rück. Rios Stadtverwaltung und die Bsitzer der Sexklubs wollen die „Bläsestübchen“jetzt der brasilianischen Musik zurückgeben. „Eswird immerProsti-tution in Copacabana geben, das gehzu seinem Nachtleben“, meintCabral.„Aber ihr Anteil schrumpft auf ein normalesMaß.“

Copacabanas Abstieghatte in densechzigerJahren begonnen, als deridyl-lische Streifen zwischen Hügeln unMeer zum Ziel für Rios aufstrebendMittelschichtwurde. Spekulantenrissendie Einzelhäuser und herrschaftlichAnwesen nieder, die bis dahin dStadtbild geprägthatten, zogen zehnbis zwölfstöckigeHochhäuser mitHun-derten vonwinzigen Apartments hochDas Volknannte dieBlocks „Viu Tudo“(Alles gesehen): EinBlick durch dieEingangstür genügte, um die ganzeWohnung zu überblicken.

Der unkontrollierte Bauwahnver-wandelte Copacabana in ein urbanSchlachtfeld. Bald drängten sich etwa600 000 Einwohner auf den 636Hektar,das ist die höchste BevölkerungsdichLateinamerikas. Copacabana wurdene „Mischung aus Nizza und Bangldesch“, schrieb dieZeitung O Globo.

Der Exodus derMittelschichtbegann,als die Gewalt überhandnahm. Wer esich leistenkonnte, zog in dieschwerbe-wachten Luxuswohnungen vonBarra daTijuca, einer Satellitenstadt 20 Kilometwestlich vonCopacabana. Zurückblie-ben die Alten und dieArmen. DerBau-boom dersechzigerJahre hatteauch dievier Favelas des Viertels anschwellenlas-sen, denWildwuchs der Slums auf deHügeln.

Bis vor wenigenJahren lebten die Hügel und der „Asphalt“, wie dieArmen diewohlhabenden Stadtviertelnennen, infriedlicher Symbiose. Die Hausangesteten und Pförtner von Copacabanawohn-ten in den Elendsvierteln,aber sie hegte

kaumGroll gegen die Reichen: Copacbana gewährte Arbeit und Auskommfür alle. Wochenendsstiegen reicheFrau-en in die Favelashoch, um bei Wunderheilern Rat zu suchen. Beim Fußball aStrand und beim Sambamischtensich Ar-me und Reiche.

Die Angststellte dasZusammenlebein den vergangenenJahrenjedoch auf ei-ne harte Probe. Banden vonDrogen-händlern, diesich in denFavelas eingenistet hatten, führten in denStraßen vonCopacabanaKrieg um ihre Reviere.Überfälle und Wohnungseinbrüchmachten das Leben zur Hölle. „Zum er-stenmal verspürten dieMenschen Furchvor Klassenkampf und Bürgerkrieg“, einnert sich SergioCabral.

Die Regierung des Gouverneurs Lenel Brizola bisApril 1994hatte zumVer-fall der öffentlichen Ordnungbeigetra-gen: Mafiabosse undandere Verbreche

stiegen in die Politikauf. Die Cariocaswie die Einwohner von Rio genanwerden, waren dem Mobhilflos ausge-liefert. Zum 100. Geburtstag der Copacabana vor dreiJahren hatte derNieder-gang seinenTiefpunkt erreicht. „DieMenschen warenmoralischgebrochen“,erinnert sich Elisabeth Sussekind vonder Bürgerinitiative „Viva Rio“. „Werwollte sich noch überSchlaglöcher auf-regen, wenn die Stadt von Gangsterngiert wurde?“

Ein Jahrnach dem Jubiläum metzeleine Todesschwadron vor der Candlaria-Kirche in Rios Stadtzentrum achStraßenkinder nieder. Das Massakmarkierte die Wende.Besorgte Bürgeriefen ihre Initiative zur Rettung desStadtteils, „Viva Rio“, insLeben. Denanfangs belächelten Intellektuellen glang es mitFlugblattaktionen, mitInfo-Veranstaltungen und zahlreichenNach-barschaftsgesprächen, den verschütte-ten Gemeinsinn der Cariocaswiederzu-beleben.

Im Gefolge von„Viva Rio“ sprießenjetzt auchandere Bürgervereine in Copacabana. Die Schauspielerin SoniBraga trommelteeines Sonntag morgens einige Freunde zusammen undsammelte den überquellenden Abfvon Rios Straßen. AnTankstellenver-teilten die „Loucos Varridos“ (TotaVerrückte), wie sie ihreGruppe nannteMülltüten an die Autofahrer.

Als die Stadtverwaltung in Copacabna 50 Bäume fällen lassen wollte, lösdas eine Protestlawine aus – vorweni-gen Jahrennoch hätten dieCariocas resigniert.

Bürgernahe Beamtepatrouillierenjetzt nach amerikanischem Vorbidurch Copacabanas Straßen undStrand. SiesollenVertrauen bei der Bevölkerung wecken.Jeder Einwohner isaufgerufen, diePolizei zukontrollieren:Wenn die Patrouillen sich verspäten,melden Anwohner dassofort weiter.

Auch dieFavelas,bislang alsVerbre-chernester berüchtigt,sollen befriedetwerden. Vertreter von denArmenhü-geln suchen gemeinsam mit „Viva Riound der Stadtverwaltung nachneuenLösungen für die wilden Siedlungen.

Der Bürgermeister,Wirtschaftspro-fessor Ce´sar Maia, der im Aussehedem schrägenamerikanischen KomikeMel Brooks ähnelt, machte zu Anfanseiner Amtszeit vor allem als Witzbovon sich reden. Inzwischen zollen dieCariocas ihm jedoch Respekt. DieStadtkassensind wohlgefüllt,Baustellenzeugen überall in Rio von derneuenAufbruchstimmung.

„Wir müssen den öffentlichenRaumfür die Bürger zurückerobern“,philoso-phiert Maia, der den Kampf liebt, aucwenn eraussichtslosscheint. Im Amts-zimmer steht eineFigur seines VorbildsDon Quijote. Y

131DER SPIEGEL 31/1995

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Friedensschluß zwischen israelischen und jordanischen Soldaten, israelischer Tourist: „Nur sechs Gäste“

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J o r d a n i e n

GeplatzteTräumeNeun Monate nach der Aussöhnungmit Israel ist die Hoffnung auf einenWirtschaftsboom verflogen: DieFriedensdividende blieb aus.

awwaf Sujuf schlägt mit derFaustauf den Gartentisch, daß die dünNwandigen Teetassen klirre

„Einen Monat schonwarte ich auf dieversprochenen Touristenbusse, dobislang lassensich höchstens sechs Gste am Tag blicken.“

Dabei haben derjordanische Besitzedes einzigenKoscher-Restaurants in darabischen Welt undsein israelischeKompagnon Ben-Nahhas aus Haifa gglaubt, ihr auf jüdische Küche umgestelltes Restaurant „Istanbul“ werdesich alsGoldgrube erweisen.Doch nichteinmal die Angestellten derfrischeingerichteten israelischen Botschaim benachbarten Forte-Grandhoin Ammans noblem GeschäftsviertelSchumeissanikommen zum Essenvor-bei.

Fahd el-Fanik, Inhaber einer florie-renden Handelsfirma in der jordanischenHauptstadt,klagt über „kriminellverschleppte Friedensversprechungder Israelis.Auch der ehemaligeMini-sterpräsident Ahmed Ubeidat glaubtnicht mehr an dendollarschweren Segeder sogenannten Friedensdividen

132 DER SPIEGEL 31/1995

„Die Hoffnungen unseres Volkes wareumsonst, dieIsraelis wollten uns nur auder arabischen Phalanxherausbrechen.

Der Optimismus, den die Jordaninach Unterzeichnung deshastig ausgehandelten Vertrags mitIsrael im Okto-ber 1994zeigten, ist verflogen. Der Friede verschärfte bestehende Problemsteigende Lebenshaltungskosten, bükratische Hürden,Bestätigung vonVor-urteilen – kein gutesOmen für dennah-östlichenFriedensprozeß, den ohnehwie vergangenen Montag ein Bombeattentat in TelAviv, immer wieder Ge-walttaten erschüttern.

Obwohl sich mindestens die Hälftedes Staatsvolks aus Palästinensernsammensetzt, die in denIsraelis an erster StelleLandräuber undBesatzer erblicken, hattesich dieMehrheit der Be-völkerung schonseitJahren mit derExi-stenz Israelsabgefunden. Die MadrideNahostkonferenz1991, auf der zum erstenmalseit der Gründung des jüdischenStaates so geharnischte Israel-Feinwie Syrien und die PLO mit israelischeOffiziellen zu ernstgemeinten Friedengesprächen zusammentrafen, löst

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Hoffnungen auf einArrangement midem „zionistischenErzfeind“ aus.

Das Oslo-Abkommenzwischen derPalästinenserführung und derisraeli-schen Regierungschien den Weg „in einbesseresMorgen“ (PLO-Sender „Stim-me Palästinas“) zu weisen. „Wir wagewieder, an unsereZukunft zuglauben“,frohlockte Ammans Staatsfernsehenvor allem im Hinblick auf die Wirt-schaftslage des haschemitischen König-reichs.

Die war völlig zerrüttet: Nach demGolfkrieg waren die Finanzspritzen aSaudi-Arabien und Kuweitausgeblie-ben, Ammanhattesich nicht vom Ver-lierer Saddam Husseindistanziert undmußte büßen. DieLandeswährung, derDinar, verlor 40 Prozent ihrer Kauf-kraft, der Lebensstandard sank umDrittel. Die Arbeitslosigkeitstieg auf 30Prozent.

Der Friedesollte denBoom bringen,und der Auftakt warvielversprechendAus Kuweit vertriebene Palästinenswagten längst überfällige Investitionen.Mammutprojekte wurden angekündigZusammen mit Israel und den USAwollten die Jordanier einen Kanalgra-ben zwischenTotem Meer und demGolf von Akaba, umdessen Gefälle zuStromerzeugung zu nutzen undchemi-scheIndustrie anzusiedeln.Autobahnenund Schienenstränge solltenbeide Län-der verbinden. Doch die Pläne ruhnoch immer in den Schubladen. „Unsre Träume sind geplatzt“, grämtsich dieParlamentsabgeordnete TudschanFei-sal. Sie gibt, wie so viele, vor allem deIsraelis die Schuld.

Daß in solcheiner AtmosphärekeinHandelsaustausch gedeiht,liegt auf derHand. Die erste, vorerst sicher letztejordanische Lastwagenkolonne, diebil-ligen Zementnach Israelschaffenwoll-

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Videoaufnahme aus dem Moor von BodminSchwarze Panther ausgesetzt?

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te, kehrte nach acht StundenWartenwieder um.

Die israelischenGrenzer verlangtenfünf Dollar Zoll pro Tonne, zuzüglicheiner „Einreiseerlaubnis“ von 150 Dolar pro Fahrzeug.Derart verteuertenZementkauft natürlich kein Israeli.

Außer ein paar hundert jüdischenTouristen, diesich vomisraelischen Badeort Eilat aus einenSechs-StundenAusflug insgrenznahe antikePetragön-nen, spürt dieTouristenbranche keineAuftrieb. „Die Israelis könnenruhig zuHause bleiben“, schimpfte dieEmp-fangsdame des überdimensionierTouristenhotels El-Tiba, „die bringenohnehin ihreBrote undMineralwasserflaschenmit.“

Alte Vorbehaltegegen Israelbrechenwieder auf. Das Personal der Konditrei im Amra-Hotel weigerte sich,eineisraelischeKundin zu bedienen.Selbstdie Touristenpolizei war machtlos: DGeschäftsführerin ließ den Laden kur-zerhand für einen Tagschließen.

Zudem fehlen noch immer durchgehendeBuslinien, Pkw dürfen dieGren-ze nicht passieren, Flugverbindunggibt esnicht. Unflexibilität überall, auchin Amman.Kein jordanischer Wechsletauscht israelischeSchekel, hebräischeZeitungen oder gar Bücher werden östlich desJordannicht verkauft.

Ammans Parlament hatte dennauchkeine Eile, die altenIsrael-Boykottbe-stimmungen aufzuheben, was lautFrie-densvereinbarungen schon letztenJanu-ar hätte erfolgen müssen.Erstvergange-nen Mittwoch stimmten dieAbgeordne-ten zu – unter ProtestislamistischerVolksvertreter.

Noch haltensich die Fundamentalistenzwar mit grundsätzlicher Majestätkritik zurück, aber eine Erosion deMacht Husseins istnicht mehr unwahr-scheinlich. Als Vertragsgegner sichkürzlich zu einer Protestkundgebunversammelten, die Behörden hatten nuwenige Stunden vorher die bereits eteilte Genehmigung zurückgezogekam es zu einem Handgemenge mit dPolizei. Mehrere Demonstrantenwur-den festgenommen. Siehatten skan-diert: „Setze den Weg nichtfort, Kö-nig!“

Doch der Herrscher braucht denNah-ost-Friedensprozeß – und hofft weitauf wirtschaftlichen Fortschritt. Aberwenig spricht dafür, daß die fürOktoberin Amman anberaumteNahost-Wirt-schaftskonferenz erfolgreicher ausgehwird als das arabisch-israelische Cablanca-Treffen vom vorigenHerbst, daskeinenInvestitionsschub auslöste.

„Alles Seifenblasen“, sagt der Golheimkehrer Salman Abu el-Saud, de„im Vertrauen auf dieversprochenebesserenZeiten“ vier Bürohäuser hoch-zog. Die teuren Natursteinbautenste-hen leer. Y

G r o ß b r i t a n n i e n

Nessieauf PfotenRätsel im Moor von Cornwall: Blut-rünstige Raubkatzen reißen Schafeund Kälber, behaupten die Bauern.Behörden meinen, sie spinnen.

it seinem buschigenBackenbartwirkt John Goodenough, 66, wM Englands Antwort auf Kaiser

Franz Joseph.Doch anders als derMon-arch pflegt der Schaf- undRinderzüch-ter die volkstümlicheSprache: „Ichgel-te jetzt hier als der letzteArsch.“

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Diesen häßlichen Ruf hatsich BauerGoodenougheingehandelt,weil er un-beirrbar an dieExistenz von geheimnisvollen Raubkatzenglaubt, die aus seineHerde 14Schafe sowie 3 Kälber gerissenund bis auf die Knochenaufgefressenhaben.

Goodenough undsein Sohn Robert,41, bewirtschaften auf derGoodaver-Farm 121 HektarWeideland imeinsa-men Moor von Bodmin.Diese vonperl-klaren Bächen durchzogene Hügelland-schaft im Herzen derGrafschaft Cornwall war bislangeher als Heimstatt füFuchs, Dachs und Kaninchenbekanntdenn alsJagdrevier gefährlicherRaub-katzen.

Doch nicht nur dieGoodenoughsfan-den in ihrer Herde durch gewaltigePrankenhiebeverstümmelte Tierkadaver. Insgesamt 77 gerissene Schafe uKälber registrierten die örtlichen Behö

den seitAnfang 1994 beianderenBau-ern im Umkreis von 20 Kilometern.

Außerdem hatten indiesemZeitraumDutzende Personenunheimliche Begegnungen mit großen Katzen, darunter uverdächtige Zeitgenossen wie Streiffahrende Polizisten und pensionierteRichter aufMoorspaziergängen. Sie berichteten übereinstimmend, die Kreatren – nur für Sekunden zu sehen –seienkräftiger und mächtiger gewesen aHauskater undverweisen auf Schnappschüsse und Amateurvideos.

Alles nur Spinner, diegeschädigtenBauern ebenso wie all dieerschrockenen Fußgänger, die den „Bestien voMoor“ Aug in Aug gegenüberstandensagt das britische Landwirtschaftsminsterium. Eshatte aus der fernen Haupstadt eigens zwei Wissenschaftler inHochmoor entsandt, um demSpuk aufden Grund zugehen.

Nach 29 TagenintensivenFahndensdem Auswerten vonFilmmaterial und

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der Vernehmung vonAugenzeugen, gabedie Biologen SimonBaker und CharlesWilson Entwarnung:No panic, es gebekei-ne Anhaltspunkte füdie Existenz der Bestien vom Moor. Un-scharfe Bilder deRaubtiere zeigten inWahrheit verschmusteHauskatzen auf Mäusepirsch. Die Schafund Kälber wiederumseienBeute vonstreu-nenden Füchsen undHunden geworden.Alles sah nacheinerArt Nessie auf vierPfoten aus.

Tierforscher glau-ben dennoch, daß imVereinigten König-

reich Raubkatzen infreier Wildbahnexistieren –Pumas etwa und womöglichein paarschwarzePanther.Douglas Ri-chardson, Kurator des LondonerZoos,setzt seinen „wissenschaftlichen Rufdarauf, daß im Moor von Bodmi„große Katzen herumtigern“.

Wahrscheinlichwurden sie von exzentrischenTierfreunden ausgesetztdennseit 1976 ist derBesitz vonRaub-tieren in Großbritannienmelde- undgebührenpflichtig. Das hat nach Exper-tenmeinungeinige der Besitzer bewogen, diemeist noch jungenTiere freizu-lassen.

Gegen die „Ignoranz der Behörden“sieht Bauer Goodenough nur einMit-tel: Man müsse so eineRaubkatzeein-fangen und dann in den Fluren deLondoner Landwirtschaftsministeriumaussetzen: „Malsehen, ob sie uns danglauben.“ Y

133ER SPIEGEL 31/1995

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Badende in Baggersee

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Filmszene aus „Die Vögel“

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Östrogene doch ungefährlich?

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Der Streit um Nutzen und Risiken von Östrogenpräparaten in denWechseljahren(SPIEGEL27/1995)wird durch eine weitere Studie genährt, diejetzt in den USAveröffentlichtwurde. ÜbereinenZeitraum vonachtJahrenwurde ermittelt,wel-che von 537 an Brustkrebserkrankten Frauen im Alterzwischen 50 und 64Jahrenmit Östrogenen behandelt worden waren.Danach war der Hormontherapie, w

Untersuchung auf Brustkrebs

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sich beim Vergleich miteinerGruppegleichaltriger gesunder Frauen her-ausstellte, kein erhöhtes Brustkrebssiko anzulasten. Dieser Befund steim krassen Gegensatz zu den EkenntnissenandererUS-Forscher, dieder Östrogentherapiejüngst einebrustkrebsfördernde Wirkung zuge-schriebenhatten. Diewidersprüchli-chen Ergebnisse, räumen dieForscherein, könntenzwar Verwirrung unterden Betroffenen stiften,seien aberbei einerWissenschaft, die „im Fluist“, nicht zuvermeiden.

34 DER SPIEGEL 31/1995

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Hitchcock-Vögelnach der NaturDie knapp 2000 Finken, Krähen undSeemöwen, die inHitchcocks Film„Die Vögel“ Menschen angreifendurch Kamineeinfliegen und Schrekken verbreiten, waren dressiert.Dochdie Filmszenehatte einen realen Hintergrund, wiejetzt der MeeresbiologDavid Garrison von derUniversity ofCalifornia in Santa Cruz herausfan

Garrison hatteGruppen vonPelikanenund Kormoranen untersucht, die1991in der Bucht vor Santa Cruz „planlosim Kreise schwammen und dabei ebärmlich krächzten“.Mehr als 100 vonihnen waren damalsverendet. In denaufbewahrten GewebeprobenfandGarrison hohe Konzentrationen dgiftigen Domoinsäure. Sie stammte,wie weitere Untersuchungenergabenaus „blühenden“Meeresalgen, von denen sich Anchovisschwärme ernähhatten, diewiederum den Vögeln alsNahrung dienten. Bei einerDurchsichtder Zeitungsarchive fandGarrison,daß es 1961 in Rio del Mareinen ähnli-chen Vorfall gegeben hatte: EinSchwarm Sturmtaucher war damaüber die Stadt hergefallen,hatte Auto-scheinwerfer zerschlagen undMen-schen angegriffen; einige derTierehatten Anchovisresteerbrochen, dieoffenbar mit der giftigen Säure verseucht waren. Hitchcock, der in deNähe von Rio del Mar lebte, hatte deinschlägigenZeitungsartikel angefordert. Zwei Jahre später begann er mder Verfilmung der Erzählung voDaphne duMaurier.

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T e c h n i k

Neue Camcorder mit TV-QualitätDie ersten Camcorder mitdigitaler Bild- undTonaufzeich-nung stellteSony letzteWoche in Tokio vor. DieDigital-technik,vergleichbar dem Übergang von der Langspielpte zur CD, bringt eine erhebliche Verbesserung der Bildqlität mit sich: Sonys „DigitalHandycam Camcorder“errei-

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chen mit 500Bildzeilen nahezu Fernsehqualität; dasSpit-zenmodell DCR-VX1000arbeitet wie Profikameras mit drBildchips (für dieFarbenRot, Gelb,Blau). EnormeVortei-le bringt dieneueTechnik beim Filmschnitt, da diedigitalgespeichertenAufnahmen praktisch ohne Qualitätseinbu-ßen beliebig oftkopiert werden können. EinenKrieg derSysteme wie seinerzeitzwischenBeta und VHSwird es beiDigital-Video nicht geben. Alle Herstellerhabensich aufSpezifikationen geeinigt, die Sony jetztverwendet.

U m w e l t

Schnelltestam BadestrandEinenSensor, der über die Menge dKolibakterien in Badegewässernohnezeitraubende LaboruntersuchungAufschluß gibt, wurde am FraunhofeInstitut für Biomedizinische Techni

(IBMT) im saarländi-schen St. Ingbert ent-wickelt. In geringer An-zahl sorgen die Kolibakterien im menschlichenDarm für eine geregelteVerdauung. Im Über-maß können sie Durchfall verursachen. Miden bisher gängigen Untersuchungen mußtenaus den entnommeneWasserproben Kultureangelegtwerden, Ergebnisse gab eserst nachdrei bis vier Tagen. Beidem neuenSensor wirdauf eine schwingendeMembran eine biolo-gisch aktive Schicht auf-

getragen, etwaAntikörper gegenKoli-bakterien. Kolibakterien aus deWasser lagernsich an derMembranab. Je mehr Bakteriensich ansam-meln, destoschwerer wird dieMem-bran, die Schwingungsfrequenz sinentsprechend der Menge vonKolibak-terien im Wasser. Auf diegleicheArt,so erklären die IBMT-Forscher, könnten auch Lebensmittel aufSalmonel-lengehalt überprüft werden.

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W I S S E N S C H A F T

G e n e t i k

Die rotten uns aus“SPIEGEL-Reporter Jürgen Neffe über Kleinwüchsige, die Genforschung und den neuen Roman von John Irving

„Little People“ in Denver*: „Wir sind nicht behindert, wir werden behindert“

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ie Leute vom Zirkus nennen ih„Vampir“. Denn bei ihnen findetDDr. Daruwalla, 59, was er such

Blut. Nicht irgendwelchesBlut. Wannimmer der Arzt aus Kanada alsGast-chirurg inBombayweilt, treibt seine un-gewöhnliche Leidenschaft ihn nicht nan den Rand derManegen, sonderauch hinter dieKulissen der Arenen.Dort läßt erZirkuszwerge zurAder.

Als ein kleinwüchsiger ClownnamensVinod von ihmwissen will, wasgenau erdenn vorhabe mit dem Blut, antwortder Doktor: „Ichsuche nach diesem gheimnisvollenDing, das aus dir eineZwerg gemachthat.“

„Ein Zwerg zusein istdochnichts Ge-heimnisvolles“,kontert Vinod, der mitseiner normalwüchsigenFrau einklein-wüchsigesKind hat.

„Ich suche nach etwas indeinem Blut,das,falls ich esentdecke, anderenMen-schen helfenkann, keine Zwergemehrzur Welt zu bringen“, erklärt Dr.Daru-walla. Da fragt ihn der Clown: „Warumwollen Sie, daß eskeine Zwergemehrgibt?“

Ob der Mediziner dieUrsache dehäufigstenForm vonKleinwuchs findenwird, das Gen für „Achondroplasiehat von Anfang anallein im Ermesseneines Mannes gelegen: des amerikanschen SchriftstellersJohn Irving. Dr.FarrokhDaruwalla ist dieHauptpersonin dessenneuestemRoman „A Son ofthe Circus“. Nach fünfjähriger Denk-und Schreibzeit hat derErfolgsautor ausNeuengland („Garp und wie er dieWeltsah“, „Das Hotel New Hampshire“

Kleinwüchsige beim Sportturnier*Wachstum der Röhrenknochen gestört

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136 DER SPIEGEL 31/1995

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„Owen Meany“) erneut ein ebenswichtiges wie gewichtigesWerk vorge-legt, das demnächst unter dem Titel„Zirkuskind“ knapp tausend Seitenstark auf deutsch erscheint.

Der Arzt, sein Hang zumindischenZirkus, die Suche nach demGen, dasBlut und dasdrohendeEnde derZwer-ge – allesErfindung, reine Spekulationdie allenfalls als Spiegel derRealitätUnbehagen unterKleinwüchsigenher-vorrufen könnte.

EndeJuli vergangenen Jahres jedocals Irvings Manuskript seinem Verlabereits druckfertig vorliegt,wird dieFiktion plötzlich von der Wirklichkeitüberholt, die nunihrerseits fast wie einSpiegel derFiktion wirkt: Ein wahrhaf-tiger Wissenschaftlernamens JohnWas-muth, damals 48, gibt dieEntdeckungdes „Zwergen-Gens“ bekannt.

Zufall? Auf den erstenBlick muß esso scheinen, zumalsich Dr. Wasmuthund Dr. Daruwalla grundlegendvonein-ander unterscheiden. Derblutsaugende

* Oben: beim Wildwasser-Schlauchbootfahren;unten: beim Baseball.

Das „Zwergen-Gen“wurde im Sommer letzten Jahresentdeckt. Die Suche nach der Erb-anlage, Ursache der häufigstenForm von Kleinwuchs, ist zugleichein Thema im neuen Roman desSchriftstellers John Irving (Titel:„Zirkuskind“), der in Kürze aufdeutsch erscheint. Im Roman sorgtder Arzt, der das Gen finden will, un-ter den Kleinwüchsigen für eineähnliche Unruhe, wie sie der realeGenfund ausgelöst hat.

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Schriftsteller Irving„Woraus bestehen wir?“

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Arzt, Irvings postmoderne AndeutuneinesGrafen Dracula im Gen-Zeitalteist aus anderemHolz geschnitzt als desympathische,eher unscheinbare Professor an der University of California iIrvine bei Los Angeles.Tingelt der eineals Feldforscher durchstickige indischeZirkuszelte und suchtdort außer demBlut auch die Freundschaft derZwerge,hat der andere währendseiner Forschertätigkeit im kühlenGenlabor zunächstnichts als Chromosomen, DNA unBiochemie im Sinn. MitKleinwüchsigenkommt John Wasmutherstmals in Kon-takt, nachdem er das „Zwergen-Gegefundenhat.

Und die Blutproben? Der Genetikmuß seinInstitut nicht einmal verlassenum an das gewünschte Material zu glangen. Er nimmtsich einen „Katalogfür Zellinien“ zur Hand undschlägt un-ter Achondroplasie nach. In demgroß-stadttelefonbuchdicken Wälzer werdenZellkulturen von Menschen mitfast al-len bekannten Leiden undgenetischenAbnormitäten angeboten.

Kaum 50 Dollar kosten dieBindege-webszellen, dieWasmuth ordert, einNebenposten unter den GesamtkosseinesProjektes. Sie werden inspeziel-len Ampullen undtiefgefroren auf flüs-sigem Stickstoff geliefert, von seinenMitarbeitern in Plastikflaschen miNährlösung übertragen und zur Weitevermehrung in Brutschränkegestellt.Äußerlichhaben die Zellen nurnoch die

Kleinwüchsigen-Familie Scott„Sie sollten abtreiben“

Temperatur derKulturflüssigkeit,normale Körperwärme von 37GradCelsius, mitMenschen gemeinsam

Unter den rund 200 bekannteArten „krankhaften“Kleinwuchsesmacht Achondroplasie mit etwdrei Viertel aller Fälle den weitaugrößten Teil aus. Durcheine Stö-rung beim Wachstum der langeRöhrenknochen kommt es zu Mkromelie, was Mediziner mit „kurze, plumpe Gliedmaßen“ übersezen: Die allzu kleinen Hände, Ar-me und Beine stehen in sonderbrem Kontrast zu unproportionagroßem Kopf undrelativ gewalti-gem Rumpf. Das „Mißbildungssyn-drom“ kann auch zu Schädeldefomationen führen. Doch „diegeisti-ge Entwicklung“, merkt dasKlini-sche Wörterbuch an, „ist normal“.

Kurz geratene Menschen wieLil-ly im „Hotel New Hampshire“ odeder ewig winzige Prediger OwenMeany sind ein zentrales Motiv imWerk des Dichters, der früheRingkämpfer war.

Wenn er amSchreibtisch vorsei-ner geliebten IBM-KugelkopfSchreibmaschine sitzt, denBlick

über die weiten HügelVermonts, inSandalen,T-Shirt und Shorts, einSil-berarmband am Handgelenk undeinenBleistift hinterm Ohr, fällt es zunächstschwer, ihn mit der Vorstellung vomkopfbetonten Erzählgenie in Einklang

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zu bringen.Seine stämmigen Beine wirken einwenigzu kurz für die mächtig ge-blähte Brust, für diemus-kelbepackten Arme undauch für den großen Kopmit ergrautem, abervollemHaar. John Irving verkör-pert wie kaum ein andereseiner Zunft das Ringenzwischen körperbewußteInstinkthaftigkeit und In-tellektualität, aus demauch die Handlungensei-ner Romanegemacht sind

Das „Zirkuskind“, vor-dergründig einKrimi, han-delt vom Anderssein deSchwulen und Transsexuelen und Ausländer undZwerge, vom pathologi-schen Haß vielerMenschenauf allesAndersartige undvom Fremdsein. Als JohWasmuth denRomangele-sen hat,schreibt erJohn Ir-ving in einem Brief, daß esich wünschte, er hätte daWerk frühergelesen.

Der Biochemiker, Sohnkleiner Leute aus einerKleinstadt in Illinois, siehtauf eine saubere akademsche Karriere zurück, die

ihn schon1977 insOrange County beLos Angelesbrachte. Damals, „imMit-telalter der Genforschung“, sei nockeine Redegewesen vom „Human Ge-nome Project“, zu dessen führendenKöpfen Wasmuthheute zählt.Eines derHauptziele dieses biomedizinischeMammutunternehmens zurEntschlüsse-lung desgesamten menschlichenErbgu-tes ist das Verständnis derErbkrankhei-ten – und am EndederenBeseitigung.Beinahe wöchentlichwerden neue Genfunde gemeldet, doch mit jederEntdek-kung verstrickensich die Wissenschaftler tiefer in dasDilemma, ihrewichtig-ste Fragenicht beantworten zu könnenWas ist eigentlichKrankheit?

„Ich weiß selbst nichtgenau, wo mandie Grenzeziehen soll“, gestehtWas-muth. Es seinicht immer so leicht zuentscheiden wie bei den eindeutigen Gbrechen Alzheimeroder Mukoviszido-se. SindAlkoholsucht, Depression, Aggressivität undHomosexualität krankhafte Veranlagungenoder lediglich au-ßergewöhnlicheAusprägungen des normalen Menschseins? Istjemand, dersehr klein ist,aber ansonsten ein völlig„normales“Leben führt,schonkrank?

„Achondroplasie“, hat John Was-muth gelernt, „gehört in den grauen Breich.“ Eines vonungefähr 20 000 Neugeborenen kommt mitdieser erblichenWachstumsstörung auf dieWelt. Gene-tiker sprechen von einem „dominanteErbgang“,weil beim Zusammentreffeder zwei elterlichen Erbanlagen ein„beherrschendes“ Gen ausreicht, damdas Syndrom auftritt. Kommen beiachondroplastischenEltern aber zwei

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der Genezusammen, was nach denklas-sischen Mendelschen Gesetzen iSchnitt bei jeder vierten Befruchtunpassiert, hat ihr Kind keine Überlebenchance: Es stirbt kurz nach derGeburt.Nach derselben Formelwird einer vonvier Nachkommensolcher Eltern nor-mal groß –aber die Hälfte von derenNachwuchs bekommt ein dominantesGen mit und bleibt klein.

Etwa 80 Prozent derkleinwüchsigenKinder habenindes normalwüchsige El-tern. Ihr Kleinwuchsresultiert aus eine„spontanen Mutation“ – einer während

Kleinwüchsige Zirkuskünstler„Die Zwergenwelt in alle Ewigkeit fortsetzen“

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der Ei- oder Spermazellreifunggeschehenen Veränderungeinesnormalen Gens zumZwergen-Gen. In Zellkulturen solch eines„sporadischenFalls“, perKatalogbestellt, hat Wasmuth nach dMutation gesucht. Das klingesagt er, allerdingseinfacher, als esei: „Eine einzige der rund100 000 menschlichenErbanlagenist schwieriger aufzufinden als dNadel imHeuhaufen.“

Hinter den „Gen-Jagden“ audem Abenteurervokabular dForscher steckt vor allem eintönge Laborarbeit, beiwelcher Ge-nauigkeit mehr zählt alsGeniali-tät. Während der langweiligenElektrophoresen undlangwieri-gen Sequenzierungen derDNA-Bausteine läßt der starreBlick aufden Genotyp – den Aufbau deErbgutes – mitunter den Phäntyp vergessen: diebetroffenenMenschen, ihrLeben, ihr Leiden

„Zu jener Zeit“, räumt Was-muth ein, „habe ich über Zwergnoch nichtnachgedacht.“

Spürbarer als injedemanderenLand begreifensich in den USAdie organisierten „kleinen Menschen“ nicht als ein verstreuteHäufchen Behinderter, sonderals eineGruppeAndersartiger: eine Minderheit wie viele anderemit eigener Identität, eigenerKul-tur. Und wie die GehörlosenoderKörperbehindertensind auch sieweniger auf Mitleid aus als auMinoritätenrechte. Vor allemJüngere verzichten auf diepoli-tischkorrekteBezeichnung „shorstature“ und nennensich nach

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dem Vorbild der „Krüppel“ und „Tauben“ selbstbewußt „dwarfs“,Zwerge.

Einzelnsind dieKurzen mit dem Watschelgang und dermanchmal durchdringendschrillenStimme stets dieAnders-artigen. Wenn aber die Ausnahme zRegelwird und fast allesehr klein sindkönnen sie dasseltene Gefühl genießein der Mehrheit zu sein, der Instanz fDurchschnitt undNorm.

Zum diesjährigen Treffen der „LittlePeople of America“ (LPA) AnfangJuliin Denver sind weit übertausendTeil-

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nehmerangereist,inklusiveGastdelegationen ausetlichen Ländern, unter anderem aus Japan und Deutschland –ver-mutlich die größte ZusammenkunfkleinwüchsigerMenschen, die jestattge-fundenhat.

Acht Tage lang leben sie zusammenunternehmen gemeinsame Ausflügeveranstalten Talent- und Modenschaen, spielen Tischtennis, BaseballoderVolleyball, heben Gewichte,laufen umdie Wette,diskutieren, hörensich Vor-träge an, und jedenAbendgibt es Discound Tanz.Kleinwüchsigeheiraten in der

RegelKleinwüchsige – und aufZusam-menkünften wie dieser ist die Chancam größten, Partnerkennenzulernen.

Bei ihren Treffen kommen sie deWeisenahe, wieZwerge in derSage leb-ten: eingeschlossenesVolk, daszusam-menwohnt, inSippen und Familien. ZubefristetenHeimat des Völkchens wirddas Hotel. Dort erinnern die vielenHocker zumDraufsteigen in Aufzügenan öffentlichenTelefonautomaten, amBuffet und dieTreppchen an der Rezetion daran, daßdies eigentlich ein Plat

von Normalwüchsigen fürNormalwüch-sige ist – für „Standardmenschen“, wsie bei der zwölfköpfigenAbordnungdes deutschen „VereinsKleinwüchsigerMenschen“ (VKM) heißen.

„Wir sind nicht behindert“, lautet ihrCredo, „wir werden nur behindert.Hier müssen dieGroßen vor denKlei-nen auf die Knie,wollen sie mit ihnenreden,statt vonoben herab auf die „Zukurz-Gekommenen“ hinunterzuschauoder sieschlicht zu übersehen.

Der Genetiker John Wasmuth ist zuVortrag eingeladen. Begrüßt wird

er von LPA-Präsidentin RuthRicker, die erseinerzeit alsersteangerufenhatte. Ererinnert sichnoch, wie er sie am anderen Ede immer wieder sagen hörte:„Die haben das Gen gefundedie haben das Gengefunden“,und wie sie ihn dannfragte: „Istes dennwahr?“ und er ihr antwortete: „Ja, das läßtsich nichtmehr rückgängig machen.“

Und dann erzählt Wasmutden Zuhörern in knappenWor-ten seine Story: daß seinLaboreigentlich als eines von weltwesechs seit1983 an der bislangaufwendigsten und langwierig-sten Suche nacheinem Krank-heitsgen beteiligt war – derErb-anlage für Chorea Huntingtonjenes grausame Nervenleidendas irgendwann imLeben ein-setzt und unweigerlich zum Toführt. Daß jedoch ein konkurrierendes Labor dasHuntington-Gen 1993 schließlich fand unddaß er, Wasmuth, fälschlicher-weise auf ein anderes Gen gesetzthatte.

Anfang 1994 deuten die Er-gebnisse anderer Forschergruppen darauf hin, das „ZwergenGen“ liege amEnde von Chro-mosom 4 – in demselben Breich, den Wasmuth schongründlich studiert hat. Da holter, der sich bisdahin nie für dieWachstumsstörung interessiehat, seinen falschenHuntington-Kandidaten wieder hervor undläßt sichZellkulturen vonKlein-wüchsigen schicken.Gleich imersten Experimentfindet er die

Mutation, binnensechsWochensind dieArbeiten abgeschlossen – die schnellGen-Isolierung allerZeiten istgeglückt.

Verblüffenderweiseliegt die Mutati-on bei nahezuallen Kleinwüchsigen, deren Erbgut Wasmuth untersucht,haar-genau an dergleichen Stelle desGens.Eine vergleichbare Ausschließlichkeist noch nie beobachtet worden. DStelle istaußerdem die mit der größtebekanntenNeigung zurMutation im ge-samtenGenom. Fast scheint es so, aziele irgend etwas in derNatur punktge-

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Genetiker Wasmuth, Kleinwüchsige*: Eingriff ins Roulette des Lebens

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recht immer wieder genaudorthin, damitneue Zwerge entstehen.

Diese Besonderheit hat es Wasmuermöglicht,sehrschnelleinen einfachenGen-Test zuentwickeln, mit demsichAchondroplasie bereits im jungen Fetfeststellen läßt.Damit könnenauch jenedoppelt-dominanten Nachkommen emittelt werden, die nach derGeburt oh-nehin keine Überlebenschancen hätten.Vorbei derHorror bei Zwergenpaarennach einerSchwangerschaftvoll Angstund Ungewißheit ein todgeweihtes Negeborenes in Händen zu halten.

Obwohl sie den Nutzen desTests faseinmütig begrüßen,herrscht nachWas-muths Vortrag gedrückteStimmung un-ter den „Little People“ – bis eine etw40jährige Frau aufgebracht von ihremStuhl klettert und ruft: „MeinVater hatmir noch mit 77 erklärt, eine der größtenEnttäuschungen seinesLebens war dieGeburt einer kleinwüchsigenTochter.Können Siesich vorstellen, was passiewäre, wenn es damals schon den Testgeben hätte?“ Schluchzend verläßt sden Saal.

Nun häufensich dieWortmeldungenaus denennicht nur dieWahrnehmungbesorgter Individuen spricht, sondedas Bewußtsein einesdurch den Fortschritt bedrohtenVolkes.

„Wenn normalwüchsige Eltern denTestbenutzen, umkleinwüchsigeKeimeabzutreiben“, erregtsich ein ältererHerr, „dannheißt das für unsnichtsande-res, als daß wir unerwünschte Menschesind.“ Artig und schüchtern lächelnd höder Wissenschaftler denZwergen zu, dieer hier erstmals als Gemeinschafterlebt.

„Mein erster Gedanke war: Ver-dammt, diewerden uns ausrotten“, ezählt Sandra Scott, 38, Vorsitzende dbritischen KleinwüchsigenvereinigunSie habeschonerlebt, daß ein Arzt ihsagte: „Dieses Kindwird zu teuer, Siesollten abtreiben.“ Sie hat den Junge

Zwerge im Film*Terror der genetischen Norm?

dennoch geboren,gesund und kleinwüchsig wieseine Schwester, wie SadrasEhemann undauch ihreEltern.

Für Brain Morris ausMichigan,Vatervon sechs kleinwüchsigenKindern, vierbiologisch, zwei adoptiert, und seineFrau Linda ist die Vorstellungabsurd,„ein Kind abzutreiben,weil es sower-den wird wie wir“. Durch die Genfor-schung ist der erfolgreicheGeschäfts-mann, Inhabereines Wirtschaftsprüferbüros mit 15 Angestellten, vom Abtrebungsbefürworter zum -gegner geworden. DenTest würde er lieber verbieten, als ihnallgemein zuzulassen,auchwenn ihn einige Eltern nutzenwollten,um Normalwüchsige zugunsten Kleinwüchsigerabzutreiben.

„Wir wollen die Zwergenwelt inalleEwigkeit fortsetzen“, erklärt er,„des-

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halb möchten soviele Zwergeauch Zwerge auf die Weltbrin-gen.“ Er wisseaber,sagtMor-ris, daßZwerge in Deutschlananders über das Kinderkriegedenken. „Bei unssagensich diemeistenKleinwüchsigen“, ver-rät Harald Berndt,Vorsitzen-der des deutschenVKM, „daßwir nicht noch mehr so Leutewie uns in die Welt setzensoll-ten.“ In diesem Gefühl vonMinderwertigkeit glaubt Morrisden „langen Schatten des Drten Reiches“ zuerkennen.

Bei der „British RestrictedGrowth Association“, erzählSandra Scott, mache bereits dWort von der „neuen Eugenik

* Oben: David Brookfield undRuth Ricker beim Kongreß in Denver;unten: in dem MGM-Film „Freaks“ vonTod Browning, 1932.

die Runde. Diese kommende Erbgesundheitslehre werdeohneKonzentrati-onslager auskommen, ihr genüge dTerror der genetischenNorm auf demWeg zum „perfekten“ Kind.

In einigen Biotech-Firmenwerden zurZeit sogenannte DNA-Chipsentwik-kelt, die bereits infünf Jahrenserienreifsein könnten. Mit derenHilfe wird esmöglich sein, zuvergleichsweise geringen Kosten Gene zu Hunderten au„krankhafte“ Mutationen zu testenWas heutenoch als Spielart derNaturgilt, könnte schonmorgen als meß- unkorrigierbarer Fehler behandeltwer-den. Sowird beim Roulette des Lebensdas Genetik heißt, dieKugel aus demSpiel genommen.Ohne denNachwuchsvon Normalwüchsigenaber, diesich undder WeltkleinwüchsigeKinder ersparenwollen, würde das Volk derZwergekleiner und kleiner, bis essich als Sagenerscheinung in der Historieverlöre.

„Den Tag, an dem derletzte Zwerggeborenwird“, sagt David Brookfield,ein Kleinwüchsiger aus LosAngeles,„möchte ich nichterleben.“

Genau vor diesem Hintergrund hatJohnIrving seinenRoman „Zirkuskind“geschrieben. Virtuos läßt er denbiologi-stischen Zeitgeist als unaufdringlichGrundtonmitschwingen. Es geht um dAufklärung einer Mordserie,abereben-so um die alte und zuletzt wiederheftigaufgeflammteDebatte über dieVerer-bung des menschlichenVerhaltens: In-wieweit sind Eigenschaftenangeboreninwieweit sind sieumweltbedingt?

„Ich interessiere michsehr fürGene-tik“, sagt Irving, „unddenke oft darübenach, woraus wir eigentlichbestehen.“Eine Sachebeschäftigt ihn besondersKönnte den Millionen Homosexuellen

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Lust gezügeltMit einer Hormonkur aus der Gen-Retorte verloren fettsüchtige Mäu-se 30 Prozent Gewicht. Kommt indrei Jahren die Speck-Spritze?

ett, verfressen und träge lungertdie Mäuse in ihren Käfigen. IhrFBlutzuckerspiegel war stark er-

höht; die Körpertemperatur zuniedrig,der Stoffwechsel schlapp. Vergebenpumpte die Bauchspeicheldrüse deTiere Unmengen desblutzuckersenkenden HormonsInsulin insBlut.

In Wallung gerieten die erblich fetsüchtigen Mäusenur, wenn es anFressen ging. Unaufhaltsam verfielendie Nager der Korpulenz.

Dann kam die Wende. Miteinerneuartigen Hormonkur aus der Gentechnik-Retorte begann in den Laboder Rockefeller University in NewYork und der kalifornischen Biotech

Normalmäuse, fettsüchtige Maus: „Schöne Zeiten“

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Firma Amgen das große AbspeckenVier Wochenlang spritzten dieUS-For-scherteams um JeffreyFriedman undFrank Collins den feistenNagern täg-lich bis zu 500Mikrogramm dessoge-nannten ob-Hormons unter dieBauch-decke.

Frappante Erfolge, so verkündetendie Forscher letzte Woche im US-Facblatt Science, habe dieSpritzkur bei denpummeligen Mausmutanten gezeitigt:Rund 30Prozentihres Körpergewichthätten die fettsüchtigen – englisch„obese“ (ob) – Mäuse durch die Bhandlung mit demHormon verloren.Auch vermindertesich die bisdahin un-

gehemmte Freßlust der ob-Mäuum 60 Prozent.

Schon geringeMengen des hormonelen Appetitzüglers, der von gentechnisch manipulierten Bakterienerbrütetwird, hätten bei den erbkranken Mäusen zudem Blutzucker- und Insulinwernormalisiert, meldete die Amgen-Foschergruppe um Collins.Auch körperli-che Aktivität und Stoffwechselratensei-en auf Normalwerte emporgeschnellt.

Die Resultate der gentechnischeSchlankheitskur versetzen diePharma-zeuten und Manager beim US-Untenehmen Amgen inBegeisterung: „Wirhaben schöne Zeiten“,frohlockt Tho-mas Hecht,MedizinischerDirektor beider deutschen UnternehmenstochteBinnensechsMonatenwerde die Firmadas natürlicheSchlankheitshormon aucam Menschen testen.

Für zunächst 20 MillionenDollar ha-ben die kalifornischenGentech-Manager die Verwertungsrechte für das oGen von der New YorkerRockefellerUniversity gekauft (SPIEGEL23/1995).Den Gendefekt dererblich dickleibigenMäusemutanten hatteRockefeller-For-scherFriedman im bis dahin unbekanten ob-Gen derMaus lokalisiert. Kurzdarauf enttarnten die US-Forscherauch

das menschlicheob-Gen. Seither hof-fen die Pharmaexperten auf einwirksa-mes Schlankheitsmittel für Übergewictige.

Rund einDrittel der Bevölkerung inden Industriestaaten muß nach Einschzung der Mediziner als übergewichtiggel-ten. Bis zu 15Prozent der indiesen Län-dern lebendenMenschen leidenunterkrankhafter Fettsucht. Die wucherndPfunde werden von den Epidemiologals Risikofaktoren für Volkskrankheitewie Arteriosklerose und BluthochdrucDiabetes und Krebseingeschätzt.

„Fettsucht“, glaubt Amgen-MedizineHecht, „ist zu mehr als 50Prozentgene-

etwas Ähnliches blühen wie demkleinenVolk der Zwerge?Falls es, wiemancheWissenschaftlerbehaupten,genetische„Marker“ für Homosexualität gibt, dipränatal testbarsind – welchenGebrauchwürden Menschen davon machen„Werden nicht schonKeime abgetrieben“, überlegt der Schriftsteller, „nuweil sie weiblichsind?“

Anders als Dr. Wasmuth hat Dr. Darwalla beziehungsweise sein Spiritus retor frühzeitig recherchiert, wiesich dieEntdeckung des Zwergen-Gensauswir-ken könnte: Währendeines Indien-Besuchs hatJohnIrving Zirkuszwerge mitseinerIdee vomblutsammelnden Genetker konfrontiert. Der Dialog, in dem dekleine Clown Vinod den „Vampir“schließlichfragt: „Warumwollen Sie, daßes keine Zwergemehrgibt?“, hat tatsächlich stattgefunden –zwischen demDich-ter und einemKleinwüchsigen.

Am Ende desRomansstellt Dr. Daru-wallaseine Gen-Sucheein. „Ich hätte dasManuskript noch umschreiben können“,sagt Irving, „aber ich habe es sogelassenDenn es hatetwas zubedeuten, daß eaufgibt.“

„Wenn ich das Zwergen-Gennicht ge-sucht hätte“, wiederholtJohn Wasmuthdas Standardargumentaller Wissen-schaftler auf dieFrage nach Verantwortung, „dann hätte esdoch einanderer getan.“ Ein Erlebnisaber habe ihn „beein-flußt wie nichtsanderes“: Als dieeigeneTochter, sein einzigesKind, schwangeist, deuten frühe Ultraschalluntersuchungen auf einegeistige Entwicklungsstörung des Fetus hin. Da es bereits eiGen-Test für das Gebrechengibt, fragtsie ihn um Rat.

Zu seiner eigenen Überraschungder Genetikprofessor ihr ab. „Zu jedanderen hätte ichgesagt: Das ist eineklu-ge Sache, mach den Test.Aber das warmeine Tochter. Also war meineAntwort:Die Wahrscheinlichkeit, daß was pasiert, ist sowinzig,mach dir keine Sorgenvergiß es einfach.“ Siegeht dennoch zumTest, Ergebnis:negativ.

Nicht zuletzt wegen dieserErfahrungendet derFachartikel über dieEntdek-kung des Zwergen-Gens, für Forschhöchst ungewöhnlich, miteiner politi-schenForderung: Der Test dürfe nur zVermeidung todgeweihter, doppelt-dminanter Kindereingesetzt, jedeandereAnwendung müsse verboten werden.seinem Brief an Irving schreibtWasmuth:„Hätte ich Ihr Buch gelesen, bevor ich dEinleitung zu unseremwissenschaftli-chen Artikel schrieb, ich hätte abgekufert.“

ÜbereinerLaborbank inseinem Insti-tut hängt zwischenNotizen und Meßergebnissen ein unscheinbaresBlatt Pa-pier: „I want to be in touchwith reality“,hat jemand daraufgeschrieben – „ichmöchte mit der Wirklichkeit in Verbindungsein“. Y

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Zentrumder Sonne

Mensch (37°C)

Temperatur im Weltall(–270,4°C)

Erdmittelpunkt(4000 bis 7000°C)

kälteste LufttemperaturAntarktis (–89,2°C)Nachtseite desMondes (–130°C)

273,15 Kelvin= 0°Celsius

Gasflamme (1600°C)

Sonnenoberfläche (5700°C)

Atombomben-explosion

2,7 Kelvin

Glühdraht einerGlühlampe (2300°C)

Quecksilber wird supra-leitend (entdeckt 1911)

4,2

Helium wird supraflüssig

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1987 Universität Bayreuth

1994 USA

Kälte-Rekord Juni 1995(niedrigste bisher im Laborerreichte Temperatur)

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Physiker messen Temperaturen in Kel-vin. Null Kelvin entsprechen –273,15Grad Celsius, dem absoluten Nullpunktder Temperatur.

Thermometer der WeltTemperaturskala in Kelvin

tisch bedingt.“ Ob das Übel auch beiMenschen maßgeblich imob-Gen-defekt zu suchenist, erscheint Fachleuten noch alszweifelhaft. „Fettsucht iseine polygene Erkrankung“, konsta-tiert der Hoffmann-La Roche-ForschArthur Campfield; ein komplexes Zusammenspiel imErbgut, meint der US-Wissenschaftler, sei für die Neigunzum Speckansatz verantwortlich.

Gleichwohl nähren gerade Camp-fields Forschungsbefunde die Hoffnugen der Pharmamanager: Auchnachdirekter Injektion des ob-Hormons inHirn, ohne Umweg über denBlut-kreislauf, verweigerten seine ob-Mäudas Futter, ihr Körperfettschmolz da-hin.

Den Expertengilt nunmehr alsgesi-chert, daß das ob-Hormon,gebildetvon den Fettzellen des Körpers, imGehirn seine Wirksamkeit entfaltet.Dort, so meinen die Forscher, dämpes das Appetitzentrum.Zudem bringedas Botenmolekül auch denStoffwech-sel in Schwung.

Mit dem ob-Faktor glauben die USWissenschaftler jetzt dasmolekulareRelais für die natürliche Gewichtskotrolle in Händen zu halten. Als nächstes müßten Wirksamkeit und Nebeneffekte der Hirndroge am Menscheerprobt werden.Bereits in dreiJahren,so hofft Hecht, könnte das Präparat aArzneimittel zugelassenwerden.

Dann sitzen die US-Pharmazeutewomöglich auf einer DiamantmineBei rund 200Millionen Übergewichti-gen allein in denVereinigten Staateund der EU könntesich die Fettbrem-se auf der Basis desob-Hormons alsabsoluter Pharma-Renner erweisen.Mehr als 30Milliarden Dollar jährlichlassensich dieUS-Bürger das –bislangmeist nur von kurzfristigem Erfolg gekrönte – Abspecken kosten.

„Selbst wenn wir nur zehn Prozender Patienten erreichen können“, sin-niert Amgen-ManagerHecht, „ist daseine Dimension, wie sie noch nie dwar.“ Y

Genforscher FriedmanRechte am Fettsuchtgen verkauft

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Eisiger BlockForscher melden einen Tieftempera-turrekord: 16millionenmal kälter alsim Weltraum.

er Fleck in demGlaskolben wanur so groß wie ein Bakterium unD nach 15 Sekundenschon wiede

verschwunden.Aber noch drei Nächtenach der rätselhaften Erscheinung btete derPhysiker Eric Cornell über deMeßdaten.Dannstand für ihnfest: „EinTraum istwahr geworden.“

Sein Forscherteam vom National Institute of Standards and TechnologyColorado hat Anfang Juni einen Zustand der Materiegeschaffen, der nizuvor im Universumexistiert hat: ImZentrum einer Wolke aus RubidiumAtomen schlossensich rund 2000dieserTeilchen zu einer ArtSuperatomzusam-men.

Statt wie gewohnt kreuz undquer um-herzutorkeln, tanzten die RubidiumAtome auf einmal im gleichenTakt.Wären nochmehr Teilchen derart ver-klumpt, hätte man das Superatomviel-leicht sogar mit bloßem Auge sehenkönnen: alseinen ziegelsteinroten Balder düster inmitten der Glaskammschwebt.

Schon vor 70Jahren hatte AlbertEin-stein, nach Hinweisen des bis dahin ubekanntenindischen Physikers Satyedra Bose, das Entstehensolcher bizar-ren Atomblöckevorhergesagt. Aus deBerechnungen ergabsich, daß die„Bose-Einstein-Kondensation“ erstunmittelbarer Nähe des absolutenNull-punkts der Temperaturauftauchenwür-de. Der nie erreichbare Tiefpunktliegtbei null Kelvin (minus273,15GradCel-sius); jeglicheBewegung von Teilchewürde dortaufhören.

Einstein behielt recht: Erst0,000 000 17Grad oberhalb des Temperatur-Nullpunkts erzielten Cornell unseine Kollegen, die ihre Ergebnisse jeim WissenschaftsblattScience vorge-stellt haben, denlange erhofftenDurch-bruch. Mit Laserstrahlen undMagnet-fallen hatten sie die Rubidium-Atomtrickreich abgebremst und aufdieseWeise immer weiterabgekühlt – bis zumneuen Frostrekord.

Im Reaktionsgefäß der US-Forschwar es am Enderund 2,7Grad, rechne-risch aber 16millionenmal kälter als imeisigenLeerraumzwischen denSternen.Im Laufe einer jahrzehntelangen Janach der tiefstenTemperatur haben diEismänner somit einen weit größerenTemperaturabgrund übersprungen

jenen natürlichen, der von den kältestGefilden im Weltall bis zum feurigeInnern von Sonnenreicht (sieheGra-fik).

Einige Forscher spekulieren, die numehr erreichteRekordkälte könnte dazu beitragen, noch genauere Zeitmeszu bauen. Bei denheutigen Atomuh-ren, die in einer Million Jahren höchstens um eineSekundevor- oder nach-gehen, gibt die Schwingungsfrequenvon Cäsium-Atomen denTakt vor.

Ließensich die Cäsium-Teilchenwei-ter als bisher abkühlen, würden siesichlangsamer bewegen. DerZeittakt könn-te dann noch genauergemessen werden. Y

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US-Atomrakete Titan II im Silo*„Wir wissen nicht, wie das Plutonium reagiert“

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TeureOldtimerDie USA haben auf Atomtestsverzichtet. Aber die Wartung deralternden Bestände an Sprengköp-fen verursacht erhebliche Probleme.

orschen,bauen, zünden undwiederforschen – mit diesemRhythmusF lebten die Atombombenbauer i

den USA fast 50Jahrelang. DutzendePrototypen haben sieentwickelt, 60 000Bomben hergestellt, 50 000 verschrotet, 1029mal ließen sie bei über-oderunterirdischen Testexplosionen die Ede beben.

Von dieserGewohnheit mußtensichdie Bombenbauerverabschieden. Nacdem Ende desKaltenKrieges dürfen sieunter derClinton-Regierung keine neuen nuklearen Sprengköpfemehrentwik-keln und keine altenmehr testen.

Seither ist Forschern und Ingenieurdie Aufgabegestellt, das schrumpfendAtom-Arsenal inSchuß zuhalten:Alte,nach früheren Maßstäben schrottreifBomben müssen auch weiterhin sogründlich gewartet werden, daß dAtomladungen ihre tödliche Sprengkraft jederzeitvoll entfalten können, zu-verlässig wie amersten Tag.

Während Frankreichs PräsidenJacques Chirac mit seiner geplantAtomtest-Serie im Südpazifik diehalbeWelt gegensich aufbringt, haben sichdie Amerikaner einwissenschaftlicheWartungs- und Forschungsprogramzugelegt, das „Stockpile Stewardshand Management Program“ (SSMP).Der zahm klingende Titelsteht in Wahr-heit für eine Fortsetzung desWettrü-stens mitanderenMitteln.

Allein im kommenden Jahrwill dasfederführende Energieministerium füden Erhalt desAbschreckungspotentiaund der technischen Überlegenheit dUSA rundvier Milliarden Dollar ausge-ben. In den nächsten zehnJahrenwirddas Programmvoraussichtlich 40Milli-arden Dollar kosten. Mit dem Geldwer-den neue Laborparkshochgezogen unComputer vonbislangunerreichterLei-stungsfähigkeitentwickelt.

Wenn der Start-2-Vertrag über atomare Abrüstung in Kraft tritt, dürfendie USA im Jahre2003 nurnoch 3000bis 3500Sprengköpfe in ihren Arsenalehaben,5000weniger alsbisher. All die-se Wasserstoffbomben aus sieben Breihen werden dannmindestens 20 Jah

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re alt sein –wahre Oldtimer,dennbisherblieben nukleareSprengsätze nur fünf bachtJahrelang im aktivenDienst.

Ein Datum zumAbwracken der Veteranengibt es nicht. Nach demjetzigenStandsoll dasverminderteOverkill-Po-tential füralle Ewigkeithalten. Dietech-nischenProbleme, die dabei auftretestellen die Atombomben-Manager vovöllig neue Probleme:i Im Plutoniumkern, dem Herzstück d

atomarenSprengkörpers, bauensichdurch radioaktiven Zerfall mit derZeit

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Verunreinigungen durch Helium au„Plutonium“, sagtBombenentwickleJames Mercer-Smith imForschungszentrum Los Alamos,„gibt eserstseitrund 50 Jahren aufErden. Wirwissennicht, wie es reagiert, wenn es alter

i Alle Bomben, die für dasArsenal von2003vorgesehen sind, benötigenTri-tium, ein radioaktives Isotop deWasserstoffs. Dieses Gas hat eHalbwertzeit von nur 12,3 Jahren.Ständiger Nachschub ist notwenddoch seit 1988, alsmehrere Atomfa

* In Tucson, Arizona.

briken geschlossenwurden, besitzendie USA keine Tritium-Produktionsstätte mehr.

i Die radioaktive Strahlung aus dSprengladung setzt den übrigenMate-rialien zu.

i Der konventionelle hochexplosivSprengstoff im Zündmechanism(siehe Grafik) zerfällt nach einigenJahren.

i Metallteile unterliegen der Korroson, an der Bombe entstehen Harisse und winzige Löcher.

Mercer-Smith, einevon nur noch 40 aktiven Waffendesignerin den USA,vergleichtdie von Altersschwäche bedrohtenNukle-arladungen, die estartklar halten soll,mit einem Flugzeugdas 20 Jahrelang imHangar parkt. „Ichdarf die Maschine anschauen, ich darf eipaar Instrumenteüberprüfen, abernie-mals das Triebwerkanlassen.Aber dann,eines Tages“, sorgt esich, „soll ich auftan-ken und losfliegen.“

Die Leistungsfähig-keit einer greisenKernwaffe zu bestimmen „ist viel schwieri-ger, als eine brandneue zu bauen“,sagtMercer-Smith. WelcheProzessesich in einembetagten Sprengkopabspielen, sei keinemForscher genau bekannt. „Bisher“, soder Bombenbauer„mußten wir soetwasnicht wissen“, das Ar-senal wurde immerwiedererneuert.

Computersimulatio-nen sollen die Wissenslücken nun schließenhelfen. Für Victor Reisvom Energieministeri

um sind sie „unser wesentliches undmanchmaleinzigesMittel, wie wir Alte-rungsprozesse in Materialien und in dBombe insgesamt vorhersagen könen“. Doch diedazu benötigten Rechner existieren noch nicht: Sie müssenGeschwindigkeit und Speicherkapazivon heutigenGroßrechnern um mehals das 1000fache übertreffen.

Bei den geplanten regelmäßigen Wtungs-Checks an denBombenwird nochein weiteresProblem auftreten. Im nuklear-industriellen Komplexverschwin-den wegen der miserablen Auftragslaviele Waffenfabriken, Zulieferer un

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Heißer KernZündmechanismus einerPlutoniumbombe(schematische Darstellung)

Atombomben bestehen ausmehreren Schichten.Sensoren direkt unter demStahlmantel geben über eineelektronische Steuerung denBefehl zum Zünden. Zuerstdetoniert chemischer Spreng-stoff, der den Plutoniumkernummantelt. Die Explosionpreßt das spaltbare Materialzusammen, so daß sich aufengstem Raum eine kritischeMasse versammelt. Im selbenAugenblick gibt eine Neutro-nenquelle den Anstoß für dieKettenreaktion. Die nukleareExplosion beginnt.

Zünder

Plutonium-kern

Äußere Bomben-schicht auschemischemSprengstoff

Steuerelektronik

Sensoren

Neutronen-quelle

staatlicheLaboratorien. Die Ingenieurvon Los Alamos teilen damit die Nötvon Oldtimer-Sammlern: Ersatzteisind nicht mehr zu haben, neueTeilepassen nicht. AllesErneuerungsbedürtige muß neugebaut werden.

Selbst den vereinzeltenNachbaukompletter Bomben als Ersatz für agewrackte schließen dieForscher nichaus. Auch in diesen Remakes kämeneue Materialien zum Einsatz. Umfestzustellen, ob sie tauglichsind, stün-den wiederum nur Simulationen unnichtnukleare Experimente zur Verfgung.

Darüber hinausfordern die Forscheeinen gewaltigenTechnologiepark, umweitere Waffenforschung zubetreiben.Neue, leistungsfähigere Bomben sollenzwar nicht gebaut, aber fix undfertigkonstruiert und als BlaupausenComputerabgespeichertwerden.

Derzeit sind mindestens zehnneueForschungsstätten für die US-Nuklear-gemeinde in Planungoder bereits inBau. Eine derAnlagen besteht aus 19Lasern, mit deren gebündelter Energdie Wissenschaftler denZustanderzeu-gen können, der beieiner Kernfusioneintritt: 100 Milliarden AtmosphärenDruck und 100Millionen Grad Celsius.

Nach Informationen des InsiderblatBulletin of the Atomic Scientistsdrän-gen Forscher im Verein mit PentagoStrategen auch auf sogenannte hydnukleare Tests. Dassind Atombom-benversuche in Miniatur, beidenen geringste Mengen des Bombenstoffsein-gesetztwerden. Damit hattensich dieWaffenkonstrukteure schon währenddes Teststopps von1958 bis 1961behol-fen.

Bis Ende 1996 hat dasEnergiemini-sterium solche Testsuntersagt. Für die

Sprengkopf-Inspektion*: „Auftanken und

-Zeit danach ist dieEntscheidung nocnicht gefallen. JASONs, eine Gruppeamerikanischer Verteidigungsberatwarnt: Der Wert der Experimentesteheim Zeitalter des – für1996vorgesehene– allgemeinen Testverbots inkeinemVerhältnis zu ihren Kosten und der negativen Signalwirkung auf andereAtommächte.

Sind solcheExperimente und Anlagen für die Waffenforschung unve

losfliegen“

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zichtbar oder, minde-stens teilweise,milliar-denteurer Schnick-schnack? Kritikerwen-den ein, daß essichauch um Ersatzbefriedigungen fürBomben-bauer handle, diekei-ne Bomben mehrbau-en dürfen. Die Experimente in den Atombombenlabors, gibtVictor Reis vomEner-gieministerium zu„müssen eine techni-sche Herausforderungdarstellen, damit sihochqualifizierte wis-senschaftlicheTalenteanziehen, wie wir siefür das Wartungsprogramm brauchen“.

* Wissenschaftler in LosAlamos üben an einer At-trappe.

Der Wissenschaftlerschwund ist in dTat beträchtlich. 1800Expertenarbeite-ten noch1987 in denLabors von LosAlamos, nur 750blieben davon übrigauf 600 könnteihre Zahl im nächstenJahr schrumpfen. Die meisten Expeten, dienoch bei der letztenTestexplosi-on am 26. September1992 in der Wüstevon Nevada dabei waren, „gehen in dnächsten zehnJahren inRente“, heißtes in Los Alamos besorgt.

Die ruhestandsnahen FachleuteZerstörung werden nunausgiebiginter-viewt, ihr Wissen wird abgespeichertabrufbar für spätere GenerationeDennnach wie vorsollen dieLeute vonLos Alamos in der Lage bleiben,Atom-bombentestweise zu zünden.Innerhalbvon zwei bisdrei Jahrennach Erteilungdes Auftrags aus Washington, so dMaßgabe, müßte der Boden vonNeva-da wiederumbeben können.

Kritiker halten das gesamteStockpileStewardshipProgram für überdimensio-niert. Sie fragen: Müssen alte Atom-bombenwirklich so gut sein wieneue?Ein früherer Pentagon-Beamter, dsich 30 Jahre lang mit Nuklearwaffenbeschäftigt hat, sagt: „Die Frage stelltsich nicht, ob eine alteBombe hoch-geht. Hochgeht sieganz sicher.“

Die einzige Unbekannte sei diSprengkraft, die sie noch entfalte„Entwickelt sie 350 Kilotonnen, 24oder nur220?“

Das wäre, im ungünstigsten Fall,auchnoch16malHiroschima. Y

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MZ-Motorräder in der DDR (1964): „Großer häßlicher Fisch“

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SächsischerEintopfDer Motorradhersteller MuZ wirdbald schwere Maschinen der oberenPreisklasse herstellen – Rettung fürden kränkelnden Ostbetrieb?

s sieht aus wie ein galaktischKampfinsekt aus dem FilmstudEund heißt so wie eingiftiges Reptil

aus Indien.SeineHeimat ist das Land dehölzernenNußknacker.

Der Prototyp namens „Kobra“ drehderzeit Proberunden in derlieblichenHügelwelt desErzgebirges –Vorbote ei-nes sächsischenHochleistungsmotorrads, das im kommenden Jahr vom Balaufen soll. DerHersteller ist das Motorrad- und Zweiradwerk Zschopau (MuZ

Mit einem 80-PS-Zweizylinder vonYamaha und einem Preis um 20 000Mark soll die MuZ Kobra in dasHoch-land angesehenerMarken wie BMW,Triumph oder MotoGuzzivorstoßen. Sowill es Geschäftsführer Petr-Karel Ko-rous, 39, der denehemaligenDDR-Be-trieb MZ vor drei Jahren von derTreu-handanstalt übernahm und in MuZ umbenannte.

Neue MuZ Kobra (Prototyp): Galaktisches Insekt

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Damals stellte dassächsische Unterneh-men ein knatterndzweitaktendes Einheitsmotorradher, vonSpöttern HoneckerHarley genannt – ungemein robust, abeim Westen praktischunverkäuflich. Dervon Korous engagier-te LondonerDesignerRichard Seymour sanachdenklich auf daOstprodukt und sag-te: „Großer häßlicherFisch.“

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Inzwischen wurde das ZschopaueZweiradwerk umstrukturiert. Von ehemals 3000 Angestellten bliebenknapp200 übrig. Dasriesige Fabrikgebäudesteht leer, produziertwird heute nurnoch auf dem Gelände der ehemaligAutomatendreherei in Hohndorf bZschopau.

Über 50Millionen Mark sind mittler-weile in das UnternehmengeflossenFür die Kredite bürgen der FreistaSachsen, derBund und Korous mitzweiweiteren Gesellschaftern. Die Schuldlasten schwer auf dem sächsischen Be

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trieb, der nochweit davon entferntist,Gewinne abzuwerfen. ProMonat machtMuZ eineMillion Mark Verlust.

Knapp 4000 Maschinen wirdKorousin diesemJahr verkaufen. UmschwarzeZahlen zuschreiben, müßte er den Asatz verdoppeln. Doch das ist mit degegenwärtigenModellprogramm nichtzu machen.Seit der Privatisierung setzMuZ zunächst nur auf Einzylindermaschinen dermittleren Hubraumklasse.

Technisch sind dieneuen MuZ-Ma-schinen erstaunlichgut. Das imvergan-genenJahr vorgestellte Modell Skorpion mit Yamaha-Motor (34 bis 50 PS) gwann vor kurzem einenVergleichstes

im FachblattMotorrad gegeneinen ja-panischen und einenitalienischenKon-kurrenten. Dennochwollen nur wenigeüber 10 000 Mark für den sächsischenEintopf ausgeben.

„MuZ hat ein Riesenproblem, das ider Name“,sagtMladen Tomic,Mitin-haberbeim FrankfurterMotorradhänd-ler Matheis & Klose. Entmutigt kündig-te er den Vertrag mitMuZ, nachdem edie Marke ein Jahrlang betreut undkaum ein Motorradverkauft hatte. Ko-rous sieht dieUrsache der Absatzflauteher bei der Händlerschaft: „Man muß

MuZ ebenoffensiv verkaufen und nichwarten, bis die Kunden vonselber kom-men.“

Daß die Probleme von MuZzumin-dest teilweise hausgemacht seien, bhauptet die Zeitschrift Motorrad.„Großzügig“, kritisierte dasFachblatt,„verfährt Korous offenbar mit Firmengeldern.“ Der Cheflogiere etwa ineinerPrivatwohnung auf dem Werksgelände,die offiziell als Firmenkantine für450 000 Markerrichtet worden war.

Korous gab zu, daß das stimmt, recfertigte sich jedoch, es sei nur einÜbergangslösung wegenlaufender Bau-arbeiten und erzahle für die bean-spruchten RäumeschließlichMiete. Imübrigen erteilte er demRedakteur lebenslangesHausverbot beiMuZ.

Daß Korous nicht gerade wohlwol-lend mit Kritikern verfährt, bestätigenauch ehemaligeMitarbeiter. Produkt-entwickler HennesFischer, der im vergangenenJahr von Yamaha zu MuZ gewechseltwar, verließ nach wenigen Monaten frustriert dasUnternehmen. Korous lasse „andereAuffassungen übedie Lage von MuZ nicht gelten“.

Den energischen Führungsstil dTschechenbekommenderzeit vor allemdie Entwickler zu spüren, die am künfti-gen TopmodellKobra arbeiten. Korousder selber begeistert und rasant Motrad fährt, mischt sich des öfteren alTestfahrer ins Geschehen. Nachdrülich grollt er etwa über dieharte Fahr-werksabstimmung („springt wie ein Ziegenbock“).

Von den Qualitäten des Geschäfts-führers als Erprobungspilotsind dieTechniker in Zschopauallerdings nichtganz überzeugt. Kaum war dererstePrototyp fertig, jagte der Chefdamitlos. Die Testfahrtendetenach wenigenKilometern mit einem MotorschadeVor lauter Übermut hatte Korous deZweizylinderprompt überdreht. Y

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Hiroschima-Opfer 1945: Schreckliche Demonstration militärischer Überlegenheit

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Hiroschima gleich Auschwitz?Hannes Stein und Richard Herzinger über die Rede vom „atomaren Holocaust“

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ie Kampagne der neuen Rechten zum 8. Mai war nurVorspiel. Im Reigen der 50. Jahrestagefolgt in Kürze einDDatum, dassich von denGeschichtsrelativierern nochviel

besserausbeuten läßt: Am 6. August1945fiel die Atombombeauf Hiroschima.

Schon jetztkann mansich denAufruf ausmalen, den Rechtintellektuelle aus diesemAnlaß in dieWelt setzenwerden. IhrressentimentgeladenesArgumentwird sich ungefähr so anhören: Wennsich dieDeutschen immerwieder für ihreUntatengeißeln lassen müssen, warumgilt dasdannnicht auch für dieAmerikaner,diese heuchlerischenUmerzieher des deutschVolkes, die doch ebenso großeSchuld aufsichgeladenhaben?

Dieses Mal könnten die neuen Rechten mitihrem Versuchdie Westintegration der Bundesrepublik alsFolge einesUnter-

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swerfungsaktes hinzustellen, aufgroße Resonanz stoßen.Denndie Gleichsetzung von Hiroschima und Auschwitz gehörtseitJahrzehnten zum Standardrepertoirepazifistischer, linker undlinksliberaler Moralwächter. Wiediese Gleichsetzung in linkeund rechter Variante funktioniert,kannmodellhaft an der Ar-gumentation zweier zivilisationskritischerDenker studiertwerden: Günther Anders undCarl Schmitt.

Im Jahre1964hielt Günther AnderseineTotenrede für dieOpfer derdrei Weltkriege –sowohl derzwei wirklichen histo-rischen Kriege als auch eines künftigennuklearenSchlagab-tausches.Andersbezeichnete den Abwurf der amerikanischAtombomben auf Japan alsMassenmord, und er ernannte i– mitsamt den nuklearen Testversuchen, die auf ihnfolgten –ausdrücklich zu „Zwillingsereignissen“ vonAuschwitz undTreblinka: Die Amerikaner hättensich „am Feind infiziert“,als sie im Wettlauf mit denNazis den Bau derBombevoran-trieben. So wie vor ihnen Hitler hätten dieStrategen des Pentagon Massenliquidierungen zumPrinzip ihrer Politik erho-ben.

Die Atombombe,meinteAnders, könnenicht als Mittel zuirgendeinem vernünftigenZweckeingesetztwerden. Sie ist füihn ein ontologischesUnikum – fast eine Art Person. Si„benimmt“ sich wie einNihilist; sie „betrachtetalles alseiner-lei“; sie hat sogar eine Maxime. Zugleich theologisiert derPhi-losoph die Atombombe, wenn er schreibt, sie werde „adunkle Wolke“ über sämtlichen künftigenGenerationen hängen und ihnen den Wegweisen so wieGott denKindern Isra-els in der Wüste.

Nachdem die Israeliten der Säule ausFeuer und Rauchlan-ge genug gefolgtwaren, wurde ihnenendlich dieOffenbarungam Sinai zuteil;analog stiftet dieAtombombe bei AnderseinemetaphysischeGemeinschaft, die von apokalyptischer Anzusammengehalten wird.

Die letzte Gefahrder atomaren Auslöschung der Menschheit wird seit densechziger Jahren immer wieder mit Hitlers „Endlösung derJudenfrage“ verglichen. Die Rede vom „atomaren Holo-caust“ war unter Friedensbewegten so geläufig wie beiAtomtestgegnern. Zum bevorstehenden Gedenken an dieKatastrophe von Hiroschima droht eine Wiederauflage die-ses Apokalypse-Schemas – so fürchten die Autoren der hierabgedruckten SPIEGEL-Polemik. Letzten Endes geht es, wieim Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre, um die Relati-vierung der Nazi-Verbrechen. Der Germanist Herzinger, 39,und der Anglist Stein, 30, veröffentlichten kürzlich bei Ro-wohlt das Buch „Endzeit-Propheten oder die Offensive derAntiwestler“, eine Streitschrift wider die Verachtung des„gefühlskalten“ westlichen Liberalismus.

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1945*: Singulärer Horror einer kriminellen Ideologie

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„Dunkle Wolkeüber den künftigen

Generationen“

Die Atombombe ist ein Produkt der „Gerätewelt“ ansich, das logischeErgebnis der entfesseltenModerne.Hiro-schima zieht in derRechnung des Philosophenalso die Summe aus Auschwitz undDresden: Die Amerikanersind dieSachwalter der „Gerätewelt“, und im Atomblitzhaben siedie technologische Zivilisation zur Kenntlichkeitentstellt.

Der rechtskonservative Staatsrechtler Carl SchmittAnfang der sechzigerJahre zuganz ähnlichenErgebnissenwie der linke Pazifist Günther Anders. Schmitt erklärte1963, die „technisch-industrielle Entwicklung“habe „dieWaffen des Menschen zu reinenVernichtungswaffen geste

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„VernichtendeLogik von Wertund Unwert“

gert“. Die „letzte Ge-fahr“ – die totale atomareVernichtung – erwachse aus der „Unentrinnbarkeit einesmoralischen Zwangs“Menschen, die zumMittel der vollständi-gen Auslöschungande-rer Menschen greifewollten, müßten nämlich zuvor „die Gegen-seite als Ganzes füverbrecherisch erklären, für einen totalenUnwert. Sonst sind sieebenselbstVerbrecherund Unmenschen. DiLogik von Wert undUnwert entfaltet ihreganze vernichtendKonsequenz und ezwingt immer neue,immer tiefere Diskri-minierungen, Kriminalisierungen und Ab

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wertungen bis zur Vernichtung allenlebensunwerten Lebens“.

Letzten Endesrichte sich diese Vernichtung gar nichtmehrgegen einen „wirklichen Feind“, sondern diene nur noc„einer angeblich objektivenDurchsetzung höchsterWerte, fürdie bekanntlich kein Preis zu hoch ist“.Erst dieAbleugnung

* Im österreichischen Mauthausen.

der wirklichen Feindschaftmache die „Bahn frei für dasVer-nichtungswerkeiner absoluten Feindschaft“.

Bei Schmitt erscheint dienukleareKriegführung somit alsSteigerung der Massenvernichtungsaktionen des 20.Jahrhun-derts. Wenn die Amerikaner zudiesem Mittel greifen, folgensie dem gleichen „moralischenZwang“ wieeinst die National-sozialisten – sie seiengezwungen, fremdesLeben für unwertzu erklären.

Dies ergebesich ausder Verfügungsgewalüber Atomwaffen undin letzter Instanz auder „technisch-industriellen Entwicklung“selbst.

Die rechten und dilinken Versuche, dieUrsachen moderneMassenvernichtungen

zu erklären, haben zumindest eines gemeinsam: Beideverwischendie fundamentalenpoli-tischenundmoralischenUnterschiedezwischenHiroschima und Auschwitz. Sie führen nichtnur theoretisch in die Irre; sie zerstören auch esentielle Kriterien, diezur Feststellung historscher Schuld undVer-antwortung unentbehlich sind.

Im selbenJahr, in dem Günther Andersseinezivilisations-kritischeRedehielt, also1964, hat sichHannah Arendt gegedie Gleichsetzung der „Endlösung“ mit dem damals so gnannten „Megatod“gewandt.Gegenalle Versuche vonpazifi-stischerSeite, den möglichen Nuklearkrieg als eine Fortsezung der „Endlösung“ darzustellen, bestandArendt auf ein-deutigen Unterscheidungenzwischendiesen beidenEreignis-sen – nach drei Kriterien, die immer noch gültig sind.

Erstens: Der Abwurf derAtombomben aufHiroschima undNagasaki mag einVerbrechengewesen sein – wieauch die sy-stematischeBombardierung der deutschen Städte, die jakei-nen militärisch-strategischenZweck verfolgte,sonderneinzigder Demoralisierung der deutschen Bevölkerungdiente. Ge-naugenommen müßte mandiese Bombardementsdeswegenals terroristischeAktionen bezeichnen.Aber wenn sie auchkeine im engerenSinn militärischeFunktion hatten, sostan-den sie doch in einem eindeutigenZusammenhang mit deKriegführung der Alliierten. Die Bombardements waren Bstandteil von Kriegshandlungen.

Zu keinem Zeitpunktverfolgten die Alliierten dieAbsicht,das deutscheoder japanische Volkauszurotten; ihr Ziel wavielmehr, die feindlichenNationen mitallenMitteln, die ihnenzur Verfügungstanden, zum Aufgeben zuzwingen.Nehmenwir an, der Abwurf derAtombombe sei – wieneuerdings behauptetwird – beschlossenworden,obwohl die amerikanischRegierung wußte, daßJapanlängst zurKapitulation bereitwar. Dann hätte derAbwurf freilich nichts mehr mit derKriegsentscheidung zu tungehabt, sondernschon auf politi-scheVorteile in einer Nachkriegsordnunggezielt.Aber auchin diesem Fall wäre dernukleareSchlagnoch der Logik derDurchsetzung bestimmterKriegsziele gefolgt.

Ganz andersverhält essich mit der „Endlösung“. Der Be-schluß, die „jüdischeRasse“ bis zum letzten Individuumaus-zurotten, hatte unabhängig davon Bestand,welche kriegeri-schenZiele Deutschland verfolgte. DiesystematischeErmor-dung der Juden wäreauch in Friedenszeiten weitergega

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gen.Allenfalls könnte man behaupten, daß dasnationalsozialistische Deutschland seinerOpfer ohne Eroberungskriegnicht hättehabhaft werden können.

Auch wennErnst Nolte das Gegenteilandeutet: Der Mordan sechs MillionenJuden warkein Mittel der nationalsoziali-stischen Kriegführung. Die Juden wurdennicht getötet, weildie Nazis denKrieg gewinnen wollten,eherschon obwohl siediesanstrebten.

Dies führt uns zu einem zweiten, nochwichtigerenUnter-scheidungskriterium. Die „Endlösung“ konnte durchgeführtwerden, ohne daßirgendeinanderer als dieselektiertenOpferin Mitleidenschaft gezogenoder gar dieganze Menschheitaus-

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„Nuklearkrieg undEndlösung

unterscheiden“

gelöschtworden wäreGewiß würde einwelt-weiter thermonuklearer Krieg so etwas wieine „endgültige Lö-sung“ aller Menschheitsfragen bedeutenVon der „Endlösungder Judenfrage“ würddiese sich jedoch da-durch unterscheidendaß letztlich alleMen-schen tot wären – während dienationalsozialistische „Endlösung“ausschließlich die voden Mörderndazuaus-erseheneGruppe betraf.

Der singuläre Hor-ror von Auschwitz besteht gerade darin, daer partikular und nichtuniversalwar – sowohbei der Auswahl deOpfer als auch in der

Friedensplakat (in Mutlangen 1983): Fakten vernebelt

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Intention der Täter. Auschwitz warebennicht überall möglichund hätte nicht vonjeder beliebigenanderenMacht der Mo-derne angerichtet werden können. Esbedurfte dazu eineganzbestimmten Ideologie, und es bedurfte desganzkonkre-ten Willens, diese kriminelle Ideologie umjedenPreis zu verwirklichen.

Dagegenbesitzt dernukleare MegatoduniversalenCharak-ter. Er würdeausnahmslos jeden Sterblichenbetreffen. Uni-versalen und nichtpartikularen Charakter hattenauch die An-griffe auf Hiroschima und Nagasaki. Diesgilt ungeachtet deTatsache, daß von ihnen nur eineganzbestimmteGruppe vonOpfern betroffen war;denndieseOpfergruppe wurdeexem-plarischoder, wenn man sowill, willkü rlich ausgewählt; ihreAuswahl war nicht – im Sinne der Logik der „Endlösung“ –spezifisch. DerEndzweck desatomarenAngriffes war nichtprimär, die Einwohner von Hiroschima undNagasaki zu töten. Eigentlich ging es um dieDemonstrationmilitärischerÜberlegenheit, unddieseDemonstration hättegrundsätzlichauch an jederbeliebigenanderen Gruppe vonMenschenexe-kutiert werden können.

Das dritte Kriterium der Unterscheidungbetrifft eine Fra-ge, die nicht erst seit der Erfindung der sogenannteAuschwitzlüge virulentwurde: WelcheBedeutung hat die hstorische Faktizität für dieInterpretation vonGeschichte? DeUnterschiedzwischen der „Endlösung derJudenfrage“ unddem drohenden „nuklearen Megatod“ ist zunächst einmal,daß jene tatsächlich stattgefundenhat, währenddieserledig-lich eine Möglichkeit darstellt. DasFaktum der „Endlösung“ist konkret, die Möglichkeit desMegatods dagegenabstrakt.Wer aber ein konkreteshistorisches Ereignis miteinem potentiellen zukünftigen gleichsetzt,schwächt die Fähigkeit, denRealitätsgehalt desersteren wahrzunehmen.

Die grünen Pazifisten der frühen achtzigerJahrephantasier-ten von einem bevorstehenden „nuklearen Holocaust“,dem deutschen Volk von seiten „der Supermächte“drohe.SolchenPhantasienfolgte in den späten achtzigerJahren dieOffensivejener rechtenGeschichtsrevisionisten, die die Reatät von Auschwitz überhaupt inFrage stellten.Indem die grü-nen Pazifisten dasWort „Holocaust“ usurpierten, setzten sdie möglichendeutschenOpfer eines künftigen Atomkriegesmit den realen Nazi-Opferngleich.

Eine solche Universalisierung desJudenmords läßtAusch-witz zum bloßen Beispiel, zum Vorspiel für die eigentlichnoch kommende Katastropheschrumpfen. In letzter Konsequenz vernebelt sie den Unterschied vonWirklichkeit undMöglichkeit. (Diese Tendenz wurde durch postmoderneSimu-lationstheorien und dasGerede vom „Posthistoire“ kräftigverstärkt.)

Aber wardennnicht auch derAbwurf derAtombomben auHiroschima und Nagasaki ein reales Ereignis? Und ist es asichts desgrauenvollen Leidens derOpfer nicht menschenverachtende Pedanterie,penibel zwischen dem „Prinzip Ausch-witz“ und dem „Prinzip Hiroschima“ zu differenzieren?

Kein Zweifel: Im Angesicht desSchicksals derOpfer hat je-de Theorie zuschweigen. Es wäreaber fatal, wollte man ausder Gleichheit desLeidensauf dieGleichheit der Ursachenfüralle Untatendieser Welt schließen. Wer an demprinzipiellenmoralischenUnterschiedzwischen Auschwitz undHiroschimafesthält,will nicht postum die Opferklassifizieren; er möchteaberzwischen den Tätern undihren Taten unterscheiden.

Die moralischeDifferenz zwischenHiroschima und Auschwitz besteht darin, daß diesystematischeAusrottung einer bestimmten Bevölkerungsgruppeper se– alsoimmer undunterallen Umständen – einnamenlosesUnrecht ist, zunächst unvergleichbarjenem Skandalon des Atombombenabwurfs.einem Streitgespräch mit demPazifistenFranz Alt machte dePhilosophAndre Glucksmann den Unterschied deutlich.fragte: Hätten die Juden imWarschauerGhetto Atombombenbesessen, wären siedannnicht berechtigt gewesen, denDeut-schen mit einemnuklearenAngriff zu drohen – unddieseDro-hung notfalls wahr zu machen? DieAntwort muß lauten: Jasie wären dazu berechtigt gewesen.

Dieses Beispiel führt zudem, wasGlucksmann die„Philoso-phie der Abschreckung“nannte. DerAbwurf einer Atom-bombe kann untergewissenUmständen dasletzte Mittel der

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Japanischer Terror in China (1931): Verschleierte Greuel

Philosoph Glucksmann

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„Die Bombeals letztes Mittel

der Notwehr“

Notwehr gegeneinen Vernichtungsfuror sein, deralles bis-her Bekannte anmoralischer Verwerflichkeitsprengt.Viel-leicht war der Angriff aufHiroschima gerade nach dieseKriterium vollkommen unberechtigt; er mag sogarschreckliches Verbrechen wider die Menschheit gewesesein. Umdies zubeurteilen, muß manjedoch prüfen, womitdiese Tat gerechtfertigtwurde. Um den Mord an deneuro-päischenJudenmoralisch zubeurteilen, muß man das nicht

War aber nicht zumindest dienukleare Abschreckungsstrategie des KaltenKrieges moralisch an und fürsich ver-werflich? Immerhin nahm sienicht weniger als dievollstän-dige Auslöschung menschlichenLebens auf derErde inKauf. Nach Hiroschima,behauptet deramerikanischePoli-tologe Gar Alperovitz, sei „dieexplizite BedrohungzivilerMassenbevölkerungen imNamen konkreterstaatlicher Zieleso gang und gäbe“geworden, „daß wir uns heute kaunoch vorstellen können,dieserGedanke seieinmal als jedezivilisierten Menschen unwürdig angesehen worden“.

Alperovitz irrt grundsätzlich. Gerade dieErfahrung vonHiroschima förderte dieEinsicht, daßsich ein solchesEreig-nis, das in seinen Risiken unkalkulierbarwar, niemals wie-derholen dürfe. Ausdieser Einsichtherausentwickelte derWesten seine Strategie dernuklearen Abschreckung, ddarauf zielte, nicht nur konventionelle,sondern vorallemauch nukleareKriege zu verhindern. Keineswegsstand imZentrum dieser Strategie derGedanke,nukleareKriegsdro-hungenseien von nun an ein normalesstaatlichesMittel.

Die nukleare Hochrüstung, die zur Aufrechterhaltung datomarenPatts notwendigwar, diente nicht der Entfesselung, sondern derNeutralisierung dernuklearen Waffen-technologie und der Zivilisierungjener, die über sieverfüg-ten. Freilich bewegtsich diese Strategie ineinem aberwitzi-gen Dilemma. Um vom Einsatz atomarer Waffen zurDurchsetzung staatlicher Ziele abzuschrecken,mußte dempotentiellen Angreifer mit der totalen Vernichtung gedrwerden. Überdies mußte glaubhaft gemachtwerden, daßman bereitsei, dieseDrohung notfalls auch um den Preider Selbstvernichtung wahr zumachen.

An diesem Aberwitz war jedoch nicht eine Logik dWahnsinns schuld, die der Verfügungsgewalt überAtom-technologie angeblichimmanentist. Das Dilemma gründetesich auf die historische Erfahrung des 20. JahrhunderSchließlich warbekannt,welchesPotential an Vernichtungsenergien vonpolitischen Ideologien ausgeht – ein Vernictungspotential, das mit Hilfe vonAtomwaffen in Schach gehalten werdensollte.

Mit der atomaren Drohunggegen das kommunistische Lger war keine „totale Feinderklärung“ an dierussischeoder

polnische Bevölkerungverbunden. Bekundetwurde vielmehrdie Entschlossenheit, den kommunistischenMachthabernvon denendiese Bevölkerungen alsGefangene und Geisegehalten wurden, mitallen Mitteln die Stirn zubieten.

Die politischeRationalität der Abschreckung läßtsich be-zweifeln; auch dieStichhaltigkeitihrer moralischenIntention.Aber niemand kann ihr absprechen, daß sie überhauptethischbegründetwird. Und schon gar nicht zulässig ist es, diePhilo-sophie der Abschreckung mit radikalen Vernichtungsidegien aufeine moralische Stufe zu stellen.

Warumwird das „PrinzipHiroschima“ dennoch immerwie-der mit Auschwitz (oder demArchipel Gulag) in einemAtem-zug genannt?Weil so allesUnheil der Epocheeinem abstrakten Allerweltstäter angelastetwerdenkann, der –ganznachGeschmack – mal alsModerne, mal alsKapitalismus, mal alstechnologische Zivilisation definiertwird.

Dabei fällt auf, daß die Greueltaten desjapanischen Imperialismus, die demAbwurf der Atombombenvorausgingen, inder moralphilosophischen Diskussion um Hiroschimakaumeine Rolle spielen. Der Atompilzwird hier zum Rauchschleer, der die historischenFakten verdunkelt. Immerhin hat Jpan aber im Namenseiner angeblich überlegenen kulturelleTradition einen Vernichtungskrieg gegenChina geführt, es hatKorea versklavt und auf den PhilippinenMassaker verübtGanz nebenbei planten dieprotofaschistischenMachthaber inTokio noch die Annexion von Australien.Zudem kam ansLicht, daß die japanischeArmee inihren Kriegsgefangenenlagern medizinische Pseudo-Experimente durchführte. Weitmehr Gefangene kamenindessen umsLeben,weil man ihnenMedikamenteverweigerteoder sieverhungern ließ. Der GenozidforscherRudolph Joseph Rummel schätzt, daßallein

in den japanischen Lagern über eine halbMillion Menschen umgebracht wurden.

Daß nuklearpazifistische Zivilisationskriti-ker sich fürsolcheTat-sachen wenig interes-sieren, liegt nicht zu-letzt an ihrer Doppel-moral, die die Men-schenrechte nur in bestimmten Erdregioneeinklagt. Japangilt ih-nen als Opfer einesaggressiven westlicheKulturimperialismus,

dessen SpeerspitzAmerika sei. Die Japaner erscheinen indie-sem Bild alseine unter-drückte exotische Kul-tur, die ausgelöschwerden sollte, weil sieeinem nivellierendenwestlichenWeltmoloch

im Wege stand. VordiesemHintergrundwirken die japani-schen Kriegsverbrecheneher wiehilflose Selbstbehauptungsversuche einerbedrohtenkulturellen Spezies. (Schärfer wirdJapan von den Ökopazifisten da schon wegen seiner Walfapraxis kritisiert.)

Hiroschimawird auch weiterhin dem Apokalypse-Bedürfnisintellektueller Endzeitpropheten entsprechen. Dabeigeht esihnen imGrunde um dieFrage, ob nunAuschwitzoderHiro-schima den allesentscheidendenpoint of no return markiert,an dem die Produktivkräfte derModerne endgültig in De-struktivkräfte umgeschlagen seien. Da sie Hiroschima fürfol-genreicherhalten, steht zu erwarten, daß dieapokalyptischenZivilisationskritiker es favorisierenwerden. Y

149DER SPIEGEL 31/1995

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Schriftsteller Schimmang: „Es war ruhig unter dem Blätterdach“

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Dummdreist erwachsenSPIEGEL-Redakteur Volker Hage über den Erzähler Jochen Schimmang

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as konnteeiner schon machen,der im Frühjahr1969 alsjungerWStudent nach Berlinkam, zwar

viel Literatur im Kopfhatte, aber vor allem beeindruckt war von den Kämpfeund Erfolgen jener, diedann als„68er“verklärt oder verdammt wurden? Wsollte soeiner damals eineKarriere alsSchriftstellerstarten? Geschichtenerfin-den –das war nicht gut angesehen injenenTagen.

JochenSchimmangbeganngleich mitseinenMemoiren.Zehn Jahre nachdemer sein kleinesZimmer in der Nähe deBreitenbachplatzes bezogen undsich insGetümmel derK-Gruppengestürzthat-te, veröffentlichte er –unter demimmer-hin hoffnungsfrohen Titel „Der schönVogel Phönix“ – die „ErinnerungeneinesDreißigjährigen“: einen autobiographschenRoman von 300Seiten, derfreilichals eine Art Sachprosa präsentiertwurde.

Das war damals,1979,gerade Mode„Verständigungstexte“ hieß das Prgramm, „Frauen, die pfeifen“ oder„Männersachen“ waren angesagt (soTitel einer Anthologie, an dersich Schim-mang beteiligte). Bloßkeine Dichtung!Wer etwas über die eigene Befindlichkbeizusteuernhatte,sollte dasdirekt undohne Aufhebenstun. Königswege zur Li-teraturwaren das nicht.

150 DER SPIEGEL 31/1995

„Königswege“ nenntSchimmang, 47selbstbewußt seinneues Buch**. Er hasich vonKunstverbot und Erzähltabu defrühen Jahrenicht beirrenlassen und iszu einem versierten Erzähler gewordeEs war ein langerWeg, und immer nochist der inzwischen in KölnlebendeSchim-mang ein nahezuUnbekannter.

Dabei hat es anguter Pressenicht ge-fehlt: Des öfteren wurdenseine „bemer-

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kenswert schnörkello-se Schreibweise“ undie „alexandrinischenFingerfertigkeiten“ gelobt, überhaupt deMann als „ausgewiesener Experte für dieLeiden des überkultivierten Geistesmenschen“ gepriesen.

Schimmang beschreibt am liebsteHelden, die dem Leben zuschauen und ewenig überrascht sindwenn es sie ergreif

** Jochen Schimmang: „Kö-nigswege“. Verlag Schöff-ling & Co., Frankfurt amMain; 264 Seiten; 38 Mark.

* „Das Mädchen mit derPerle“ (um 1665).

und mitmischen läßt: WieErtapptetau-chen siedann ausihren Erinnerungenauf.

Seine belesenen Männerfiguren schen in den drei Erzählungen der „Knigswege“nach Fixpunkten in ihrem Leben – das kann dieNacht mit einerfrem-den Frausein, eine aufblitzendeErkennt-nis über ein Jugenderlebnis,vielleichtauch nur die Suche nach GlückodernachGelassenheit, wasbisweilen auf dasselbhinausläuft.

Vandenberg zum Beispiel. Er istKunsthistoriker, etwa so alt wie der Autor, im Frühjahr1988gerade 40. Da stehund sitzt er imMauritshuis in DenHaagvor einem Gemälde: Vermeers „Mächen mit dem Perlenohrgehänge“. DFachmann hatsich in dasBild vernarrt –oder in dasGeheimnis des Mädchens, düber die Schulter denBetrachter anblickt. Wie mag es einst demMaler Ver-meerergangen sein, der1672 so alt warwie Vandenbergjetzt?

Einfache Fragen setzen die Erzählungin Gang und treiben siesanftvoran – mitAbschweifungen und ÜberraschungeKönigswege sindUmwege.

Vandenbergjedenfalls führt der Wegvom Museum in ein Cafe´ , an den Tisch einer jungen Schwarzen ausJamaika. Einbißchen englische Konversation, undplötzlich wird aus der vergangenheitssegen Erzählung – mitEinblendungen auVermeers Biographie und VandenberPubertätsjahren – eineLiebesgeschichtvoller Geistes- und Körpergegenwart.

„I don’t do this normally“, sagt Graceals sie den Helden mit inihre kleine Woh-nung nimmt: Sie arbeitet als Zimmemädchen in einemHotel, aber ersollnichtdenken, daß sie oftjemanden in ihrReich einläßt. FürVandenbergwird eszur Offenbarung: Erstmals vermag dKopfmensch imBett dasBewußtseinaus-zuschalten: „Er hat schonlautergeschrie-en, ja, aber er hatniemals diesenTaumelgespürt, diesen Übertritt in eineandere

Welt und diesesVer-trauen.“

Es heißt oft, von deLiebe lasse sichohneRührseligkeit nur daScheitern erzählen,das Verfehlen.Schim-mang zeigt mit einemfragilen Happy-End,daß der Augenblickdes Glücks nicht kitschig sein muß: Denndieser Augenblickmacht all das Unglücdes übrigen Lebennur deutlicher.

Zwei Jahre späterin der dritten Ge-schichte der „Königs-wege“, sitzt derKunst-historiker Vandenbergauf der Terrasse eine

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Landgasthauses undgibt sich derErin-nerung hin,nicht nur an Grace, die eerneut besuchthat, sondern voralleman jeneZeit, als er von „einerglanzvol-len Zukunft“ träumte, „alsSchriftstel-ler, alsDenker, alsLiebhaber“, kurz: andie Zeit der Pubertät.

Man könne doch nicht einfach „sdummdreist erwachsen werden“,denkter nun unter Rhododendronbüschen,„so ohnealle Scham“. DerDuft erinnertihn an den Garten der Eltern und dTräume der Jugend – für den ProuKenner Vandenberg (undSchimmang)ein bewußtesSpiel mit der Weißdorn-hecke in Combray aus der „Suche nachder verlorenenZeit“.

Solche Anspielungen aufWerke derLiteratur und bildenden Kunstzeigen,wie kalkuliert das scheinbare Laufenlasen der Erzählung ist – und siewehrender Gefahr derSentimentalität, dersichder Autor schon in früheren Erzählun-gen und zuletzt in seinenRomanen„Die Geistesgegenwart“ (1990) und„Carmen“ (1992) mutig ausgesetzthat.

Schimmang-Vorbild Proust (um 1895)Verloren geglaubte Glücksmomente

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Allein mit Ironie mag dieserAutor dengelegentlich rührseligenGedankensei-ner Heldennicht begegnen.

Dem Kunsthistoriker läßt er sogar eiErinnerung an das Elternhaus währeder Adenauer-Zeitdurch den Kopf gehen, dienichtsAbschreckendeshat,son-derneineIdylle zeigt, einHaus „mitsei-nem Walnußbaum, mit VandenberZimmer, derTerrasse, den Rhododedren, mit Erdbeeren imJuli“. Weiterheißt es:

Das alles war Schutz, wie sein VaterSchutz bedeutete, wenn er seinen Mit-

tagsschlaf hielt, und seine Mutter,wenn sie ihn vor der Schule weckte, mitder sanften Nennung der Uhrzeit. Wiebestimmte Gartengeräte und Werkzeu-ge Schutz bedeuteten, die in einem derKeller aufbewahrt wurden, und dieTischtennisplatte, die in einem ande-ren stand . . . Dies alles war nicht be-droht. Es war nicht Reichtum, aber einsicherer Boden. Überall war sicherer

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BELLETRISTIK

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2 (2)Allende: PaulaSuhrkamp; 49,80 Mark

3 (3)Gaarder: DasKartengeheimnisHanser; 39,80 Mark

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5 (5)Tamaro: Geh, wohin deinHerz dich trägtDiogenes; 32 Mark

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7 (7)Eco: Die Insel desvorigen TagesHanser; 49,80 Mark

8 (8)Fosnes Hansen: Choralam Ende der ReiseKiepenheuer & Witsch;45 Mark

9 (10)Proulx: SchiffsmeldungenList; 39,80 Mark

10 (9)Høeg: Fräulein SmillasGespür für SchneeHanser; 45 Mark

11 (12)Walters: Die BildhauerinGoldmann; 39,80 Mark

12 (11)Noll: Die ApothekerinDiogenes; 36 Mark

13 (13)Haslinger: OpernballS. Fischer; 44 Mark

14 (14)Morgan: TraumfängerGoldmann; 36 Mark

15 (15)Pilcher: Das blaueZimmerWunderlich; 42 Mark

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Boden um diese Zeit, Frieden. DerKrieg war vorbei, die Katastrophe warschon gewesen, es war ruhig unter demBlätterdach.

Eine trügerische Ruhe? Vielleicht,abervorerstwird sie nur gestört von deirritierenden Kräften derSexualität –und der Entdeckung, daß auf denPartysmit Kerzenlicht die Mädchenweniger

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schüchternsind alserwartet.Hanna et-wa, die Bauerntochter, dieschon beimTanzen zulangt,oder Karin Lammers,Lehrling (wie es damals noch hieß)der Gärtnerei nebenan: Mädchen,plötzlich sehr nah unddannwieder ver-schwunden sind aus demeigenenLeben– bis ein Bild vonVermeer sie erneut inBewußtsein bringtoder der Duft derRhododendren.

Damals, in den behütetenTagenvol-ler Allmachtsträume, hat VandenbergDichter werdenwollen und kleine Ro-manegeschrieben – nach derSchule no-tierte er dann nurnoch „Genreszenen“kurzeMomente desAlltags in derGroß-stadt Berlin, bis erdannganz zu denBil-dern überwechselte, als Kunsthistorikund Buchautor.

Ein Selbstporträt: Schimmang bevozugt statischeMomente alsAusgangssituationseines Erzählens – dieBeobach-tung eines Bildes, einesGartens. Er läßseine Geschichtenzwischen dem Prä

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„Leichten Sinnes seinund den Dingen ihre

köstliche Schwere lassen“

sens desNotats undepischem Präteritum changieren: kreisendes Einhollängst verloren geglaubter Glücks- undSchreckensmomente.

Daß er auch vomAbenteuer etwasversteht,zeigt sich in dermittleren Er-zählung mit dembeherztenTitel „ Schie-res Glück“. Darinberichtet der Archi-var AndreasSchlesinger, 45, promovieter Historiker, wie ereinmal einenKof-fer voll Geld fand, dann miteinem Mo-torrad aufbrach und eine wunderbaFrau namensMadeleine heimholte: eizügig erzähltes Märchen – auch hier mieinem Happy-End, was janichts ande-res bedeutet, als miteiner Geschichtim richtigenMomentaufzuhören.

Schimmang, dersich selbst als „68er“versteht, obgleich er damals in Berlispät zur Revolte stieß, ist einer derren literarischen Chronisten dieser Gneration. Die Kunst- und Literatur-feindlichkeit, die er alsStudent erlebteund gegen die er anschrieb,entmutigteviele TalenteseinesJahrgangs.

Und manchmalklingt es immer nochso, als müßte er sichermuntern, vomLeben zu erzählen, ohneeine ideologi-scheAbsicht damit zu verbinden.Etwadann,wenn Vandenberg die Gegenwagenießen möchte. „Veränderungenregi-strieren: in den Bäumen, in derWer-bung, in den Geräuschen auf derStraße,in der Kleidung derFrauen.Aufmerk-sam sein, leichtenSinnes und denDin-gen ihre Schwere lassen, ihre köstlicheSchwere.“ Königswegodernicht: Als li-terarischesProgramm klingt das nichtübel. Y

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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vomFachmagazin Buchreport

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Leonardo-Entwurf „Tavola Doria“: „Nur ein kleiner Anfang eines großen Werks“MÄANDER VERLAG

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Todeskampf am AbgrundDie „Anghiari-Schlacht“, die Leonardo da Vinci an eine Wand des Florentiner Palazzo Vecchio malen sollte, wurdenie vollendet. Überliefert sind Skizzen und Nachempfindungen. Ein bisher als Kopie verkanntes Tafelbild, das ein„Knäuel von Pferden“ zeigt, ist jetzt als Original identifiziert. Es gibt neuen Aufschluß über das legendäre Projekt.

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inen vaterländischenSiegestagsoll-te das Wandbild feiern.Aber hätteEes am Endenicht allzuviel von dem

gezeigt, was derMaler die „pazzia be-stialissima“ desKrieges, dessenviehi-schenWahnsinn, nannte?

Zwischen denRegenten der RepubliFlorenz und ihrem berühmten Mitbür-ger Leonardo daVinci (1452 bis 1519war im Herbst1503 einHistoriengemälde für den GroßenRatssaal des Stadtplastes, des heutigen Palazzo Vecchvereinbart worden. Gegenstand: d1440 ausgetragene ReiterschlachtAnghiari, in der florentinische undpäpstliche Truppen ein mailändischesHeer glorreich geschlagenhatten.

Doch das Prestige-Vorhaben blieunverwirklicht. Es scheiterte an dSprunghaftigkeit des vielseitigen,vielge-

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fragten Künstler-Forschers, an techschenPannen undvielleicht auch an in-neren Widersprüchen des KonzeptNur den „kleinen AnfangeinesgroßenWerks“, so klagte1506 ein florentini-scher Amtsträger, habe Leonardo zstande gebracht.

Leonardo-Skizzen zumThema,diver-se Detail-Kopien und großenteils nebhafte Schriftdokumente vermitteln inzwischen nurnoch eine bruchstückhafVorstellung von dem, wasdamals geplant war –reichlich Stoff für dieSpeku-lationen der Kunsthistoriker.

Wenig gewürdigtwurde in dieser Debattebislangeine bemalteHolztafel mitdem allem Anschein nach zentralen Mtiv des Wandbildentwurfs: einem drmatischen Knäuel vonPferden („groppode’ cavalli“), dasKenner schon im 16.

Jahrhundert rühmten. Das 86 mal 1Zentimeter große Bild, 1651 in derSammlung der genuesischen FürstenDoria nachweisbar, 1940 versteigert,dann nach Deutschland verkauft unseit 1992 in japanischem Privatbesitgilt den meisten Forschern als Imitnach einem Stück Wandmalerei.Sovielhätte Leonardo,laut gängigerVermu-tung, dochausgeführt; nur wäre seineArbeit späterzugrunde gegangen.

Gegen diese Lehrmeinung wendesich nunaber derSalzburgerOrdinariusFriedrich Piel, 64. Ererhebt diesoge-nannteTavola Doria mit starkenArgu-menten in denStandeines eigenhändgen Meisterwerks. Und er interpretiesie einleuchtend als „Angelpunkt“ iLeonardos „umfassendem Arbeitsprgramm“ für die Anghiari-Schlacht.Sei-

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Piccinino-Kopf als Zeichnung, „Karton“: Vor dem Riesenformat kapituliert

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„Tavola Doria“-Detail: Mit Fingerspitzen gemalt

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ne zuerst1989 in einer wissenschaftli-chen Zeitschrift verkündeten Ansichtuntermauert er ineinem soebenerschie-nenen Folioband ausführlich mit stil-und quellenkritischenUntersuchungesowie mit großformatigen Detailabbildungen*. Schritt für Schritt verdichtesich dieThese zum Beweis.

Piels Darlegung hat nicht nurmehrÜberzeugungskraft fürsich alsmancheandere Zuschreibung –beispielsweiseder Versuch, bei einer derzeit in Speygezeigten „Leonardo“-Ausstellung mitNachfolgewerken und Faksimiles, eabgeschabtesFrauenporträt inSchwei-zer Privatbesitz dem Mona-Lisa-Malanzuhängen. Vielmehr hat dieDiskussi-on um die TavolaDoria auchdarum un-gleich größeres Gewicht,weil sie auf einverschollenesSchlüsselwerk desRenais-sance-Genies zielt, auf einWerk, dasüberdies für einenbedeutenden Zusammenhang gedacht war: Der 23Jahrejün-gere Michelangelosollte im gleichenSaal ein Gegenstück, dieSchlacht beCascina, malen (kamaber nicht dazu,weil ihn derPapst nach Rom abberief

Die TavolaDoria zeigt sich inproble-matischemZustand –unfertig und of-fenbar auch nachträglich noch verstümmelt: Das Gewühl ausvier Berittenenim Kampf um dieFahnesowiedrei Fuß-soldaten sticht silhouettenhaft von einem einfarbig goldgelbenGrund ab, destellenweise sogar in dieFiguren ein-schneidet. Dieausgeführten underhal-tenen Partien aber demonstrierenmit-reißende Malerei inunterschiedlichenStadien der Vollendung.

Flatternde Pferdemähnen u-schweife sinddurch skizzenhaft-transparente Pinselzüge angedeutet; Kopund Hals eines Schimmels hat deKünstler auch mit den Fingerspitzeherausgearbeitet; das kompakte Hintteil desselben Tieres schimmert inper-fekter Feinmalerei. AnmehrerenStel-

* Friedrich Piel: „Tavola Doria“. Mäander Verlag,München; 164 Seiten; 680 Mark.

len überlagernsich Farbschichten, unwie das Röntgenbild offenbart, ist dHaltung des –nicht ausgeführten –rech-ten ReiterszwischenVorzeichnung undendgültiger Komposition noch abgeändert worden. EinKopist hätte keinenGrundgehabt, so zu verfahren.

Andererseits hätte er sehr genauWerkegehen müssen, umderartbizarreEinzelheiten zu übernehmen, wieeinenKraken alsSchulterschutz und -schmudes linkenReiters, einenvexierbildhaftin Gewandfalten (über dem linkenPfer-

dehintern) versteckteTotenkopf oder dieselt-same Kampfmethode enes Fußsoldaten: Stamit einem Säbel oderDolch sticht er mit demnacktenFinger auf seinenGegner ein.

Parallelen zu all dieseMerkwürdigkeitensind inauthentischen LeonardZeichnungen zu findenHingegen pflegenRepro-duktionen des Anghiari-Schlacht-Motivs Be-fremdliches wegzulasseoder zuvertuschen – etwder Kupferstich eines Lorenzo Zacchia (1558), derlaut lateinischerInschrifteine vonLeonardoeigen-händig gemalte Tafe(„tabella“) wiedergibt.

Zacchias „tabella“ –genau das könnte die Ta-vola Doria sein. In Piels

Augen ist sie das direkte oderindirekteVorbild für alle bekannten Kopien mider wildbewegtenReitergruppe. Undnach seinerneuesten Recherchesiehtder Spurensicherer seinen Forschungegenstand sogar noch in einem frühren Dokument erwähnt: in demVer-trag, den dieSignoria vonFlorenz am 4Mai 1504 mitLeonardoschloß.

Da nach ersten Abmachungen uZahlungen die Arbeit des berüchtigt un-

steten Künstlers wohl wieder einmanicht wunschgemäßvorangekommenwar, wurdenunmehr einnotariell ausgetüfteltes Paragraphenwerkunterzeich-net. Unter der Androhung,sonst seiensämtlicheHonorarvorschüsse zurückzu-zahlen,legte es beispielsweisefest, Leo-nardo habe bis zumfolgendenFebruarden „Karton“, die unentbehrliche Ar-beitsvorlage imMaßstab des geplanteWandgemäldes,fertigzustellen – undmit gleichemTermin auch den separerwähnten Entwurf dazu, „ildisegnio didetto cartone“.

Wenn mitdiesem „disegnio“, der alsbei Vertragsschluß noch nicht vorlatatsächlich dieTavolaDoria gemeint ist,dannwird derHergang von Planung unScheitern der Leonardoschen „Anghri-Schlacht“ ein Stückklarer. Und dereigentümlicheZwischenzustand, in demdas Werkverblieben ist,bekommt eineneinleuchtenden Sinn.

Einen doppelten: An demkleinfor-matigen Probestückkonnte derMalersich selber in seineschwierigeAufgabeeinüben, er konnteKomposition,Figu-renmodellierung und Kolorit ausprobiren – und er konnte den Auftraggebedaranzeigen, was sieerwartete. Wedefür den einen noch für denanderenZweck war ein perfektdurchgeführtesBild erforderlich.

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Der Arbeitsschritt, den diesermaleri-scheEntwurf bedeutete, läßtsich an derZentralfigur des „groppo“, demmailän-dischenCondottiereNiccolo Piccinino,nachvollziehen.

Leonardo hat denpathetischen Verlierer-Kopf zunächst ineiner zarten Kreidezeichnung fixiert. Die TavolaDoria gibtdanneinenvorläufigenEindruck vom ge-planten Wandbild, der abernochmals inZeichnung umgesetzt werdenmußte:

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Das, wie esscheint, einzige erhalteneFragment des Originalkartonszeigtden-selben Kopf von Gehilfenhandweit überMenschenmaß hinausvergrößert – undvergröbert. Wie derMeisterdiesesFor-mat an der Wand bewältigt hätte, stehtdahin.

Soviel istsicher: ErhatteseineSchwie-rigkeiten mit demProjekt. Papier-Abrechnungen der FlorentinerSignoria be-legen, daßLeonardojedenfallsnoch nachdem vertraglich festgesetztenDatum mitdem Kartonbeschäftigt war. Das hattenihm die Auftraggeber auch als Alternave freigestellt,falls er dafürschon einmamit der Wandmalerei anfinge.Vielleichtim Hinblick auf diesen Passusbegann deMaler laut eigenerNotiz am 6. Juni1505,Farbeaufzutragen („colorire“).

Was er da malte und was erinsgesamim Sinn hatte, ist unklar.Keinesfalls

Leonardo-Selbstporträt: Berüchtigt unstet

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konnte, wie von manchenKunsthistorikern unterstellein wandfüllendes, episodereiches Riesenbild von 39Quadratmetern vorgesehensein, das die Arbeitskraft deMalers „für den Rest seineLebens beansprucht“ hät(Piel). Höchstenseine Flächevon rund 100 Quadratmetestand zur Diskussion.

Aber auch davon hätte de„groppo de’ cavalli“, auf denMaßstab des Kartonfragmenvergrößert, nuretwa ein Vier-tel beansprucht. Das zentraGetümmel brauchte ein Umfeld, das weder auf der TavoDoria noch auf einer der übelieferten Kopiendargestellt istPiel schließt zum Beispiel auBlicken und Bewegungen deAkteure, dasGefecht spiele,dadurch doppelt verhängnis-voll, über einem Abgrund.Links und rechts sindweitereKampfszenen anzunehmenSolcheRandmotive dürften egewesen sein, mitdenenLeo-

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nardosich auf dem Gerüst imPalast befaßte –nichtallzu ausgiebig,weil erunre-gelmäßig kam undweil er allerspätestenim Mai 1506,bevor er nämlich nachMai-land abreiste, dieArbeit aufgab.

Für den „groppo“ hätte die Arbeitszekaum ausgereicht. DiesesHauptmotivkann aber auch deswegenschwerlichan die Wandgelangt sein,weil dann dieentsprechenden Karton-Partien beDurchpausenzerstört worden wären.Tatsächlich hat sichnicht nur bisheutedas Fragment mit dem Kopf desNiccoloPiccinino erhalten. Vielmehr war derGroßteil von Leonardos Karton (wauch derjenigeMichelangelos)noch spä-ter im 16. Jahrhundert als„Schule derWelt“ bewundert worden.

Über die Wand mit dem kaumbegon-nenen Schlachtengemäldesoll Unheil

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hereingebrochen sein.Leonardoselberhat den verheerenden EinbrucheinesUnwetters in denSaalverzeichnet, undeine anonyme Quelle meldet, erhabesein Werk ruiniert, indem er es durcein großesFeuer trocknenwollte. DemKünstler mit der notorischen Neigunzu maltechnischenExperimenten, desein Mailänder „Abendmahl“ alsewigenPflegefallhinterlassenhat, wärederglei-chen zuzutrauen.

Wahrscheinlicher istnoch, daß er befortschreitenderArbeit die auf der Tavola Doria demonstrierteFeinmalereieinem Monumentalbildnicht mehr an-gemessenfand. Und daß ihm dasMotiventglitt, als er es auf die geforderten Dmensionen bringen wollte.

Die Tavola Doria komprimiert denKampf um dieFahne mit denineinanderverkeilten Männern und Pferden zu e

nem fast apokalyptischenRingen am tödlichen Abgrund. Überlebensgroß wäredie Schrecken des Krieges, gegen jeAbsicht der Auftraggeber,leicht „uner-träglich“ (Piel) ausgefallen. Und dieper-spektivischeNotwendigkeit, höhereTei-le des Motivs für denBetrachter unten amBoden größerdarzustellen, war noch ganicht berücksichtigt.

Leonardokapitulierte. Vor seiner Abreise nach Mailandwurde eine Konventionalstrafe für den Fallvereinbart, daßder Künstler nicht nach dreiMonatenwiederkäme. Er bliebviel länger undzahlte 150 von 160 empfangenenGuldenzurück.

Die Differenz mag seinHonorar für dieTavola Doria gewesen sein. Das fertigWandbild hätte ihmwohl um 3000Gul-den eingebracht. Y

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Ein Kerlwie ein KindKino und Literaten feiern Farinelli,den berühmtesten Kastraten derOpernszene, als Megastar des Ba-rock.

al schwebte er wie ein jungeGott auf einer Pappwolke vomM Schnürboden, dannwieder kam

er hoch zu lebendigemRoß. Dochselbst wenn er ganz herkömmlich dieBühne betrat und mit lässigerGeste diePfauenfedern über seinen Kopfschlugwie der Vogel seinRad, erschien er alein Geschenk des Himmels.

Noch bevor er denMund aufmachtewar die Oper aus dem Häuschen. Au-genblicklich blieben die Austern ste-hen, derChampagner wurde schal,alleKonversation erstarb. Immer lautertönten begeisterteRufe aus demPar-kett, und aus denLogen drangenSeuf-zer der Begierde: Was für einMann –Farinelli, der Orpheus in der Opernwelt.

So was hatte dieWelt noch nicht gehört: Läufe von atemraubender Rsanz; Triller wie gestochen, Tonleiternaus dem Effeff;Pirouetten durchalleGipfellagen des Notensystems und noeine Verzierung und noch einen Brvour-Kick. 150 Noten auf einer Silbeund in einem Atemzugschaffte dieseWundermann mit demStimmumfangvon fastdreieinhalbOktaven.

Und erst seine „Messa divoce“, je-ner wortwörtlich waghalsigeEffekt aufeinem einzelnenTon, der die Damen inOhnmacht stürzte und ihren Begleiterdie Knie zittern ließ. Ganz zart undsmart der Ansatz;dann, oft über mehals eine Minute, der ununterbrocheSchub ins Fortissimo;schließlich derKulminationspunkt, ein vokaler Orgamus, der, kaum verhallt, im Taumedes Auditoriums unterging.

„Ein Gott – ein Farinelli!“ rief ein-mal eine Londoner Lady in den Tu-mult. Und sogleichskandierte dasvolleHaus die neue Parole: DieOper hatteihren ersten Götzen.

Aber es war danoch was anderes anur die geläufigeGurgel mit all denvir-tuosen Applikationen auf demStimm-band. Es war dasgeheimnisvolle Zwielicht, in dem ein Kerl vonGardemaßstand, der wie ein Kind im Kirchenchosang: ganzhell, ganz rein und ohne ei-nen Hauchmaskuliner Sinnlichkeit.

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Farinelli-Darsteller Dionisi, Kastrat Farinelli: Augenschmaus bis in den Schoß

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Um den mystischenGlamour des legendären KastratenFarinelli (1705 bis1782)drehtsich einopulenterSpielfilm,der dieseWoche in Deutschland starteWie zu erwarten war: „Farinelli“ ist einbetörenderAugenschmaus mitviel fal-schem Beiwerk; diehistorischeWahr-heit kommt kurz, der Fundus aast, dKameraschwelgt.

Wieder malsind alleMenschen schöund die Landschaftentraumhaft. Unentwegt rattern die Droschken, dieRobenrauschen, die Kandelaber flackern, udie enggeschnürten Comtessen bekreuzigen sich zwischenihrenprachtvollfrei-gelegten Wölbungen, wenn mit dem Gheimnisträger Farinelliauch die alte Frage auftaucht –deep throat, aber tote Hose? Obenhui, unten ohne?

Zumindest bei Farinellis Bettge-schichten hat der belgischeRegisseuGerard Corbiau sein Publikum aufsKreuz gelegt. In genüßlichemRitardan-do verfolgt seineKamera den Mund deKastraten von den Lippen bis in deSchoß seinerbarocken Groupies, under lustvolleRhythmus, in demFarinel-lis blanker Hintern sich aufschaukeltweist, auf deranderenSeite, durchauauf männlichesStehvermögen hin.

Und doch macht Corbiau jedenCoituszum Interruptus,selbst einQuickie läufthalbe-halbe.Denn kaum ist Farinellirichtig in Fahrt, räumt er das Lakewortlos seinem Bruder, der, lästigerKleidung ledig, einspringt und aus deStand den Rest besorgt. Unzertrennlbei Tisch und imBett, betreiben diebei-den Stabwechsel in brüderlichem Sporgeist. „So ist derPakt.“ So istKino.

Alles nackter Schwindel.Kein einzi-ger Dreier istverbürgt,nicht mal Duo-Sex aktenkundig. „KeineLeidenschafscheint seinDasein tiefer berührt zu haben“, urteilt Farinellis jüngster Biograph, der französische MusikforscherPatrick Barbier, in der fundierten Erfolgsstory desKastraten*.

„Reinheit und Keuschheit“, so Babier, hättensein Leben bestimmt, „sei-ne Beziehungen zuFrauenblieben im-mer platonisch“. Zwar läßt Barbier„Zweifel an Farinellis Manneskraft“nicht gelten, doch Belege, daß derSän-ger untenrum jegroß in Form war,bleibt auch erschuldig.

Im Barock – Morgenröte desMusik-theaters – gehörten Kastraten zumhar-ten Kern jeder besseren Bühne. DieStars dieserSpeziesgalten als Goldeseihre widernatürliche Aufzucht war, ob-wohl verboten, unterItaliens kleinenLeuten oft praktizierter Brauch: Einkurzer Eingriff ins Knabengemächtversprach reichenLohn in derFamilien-kasse.

„Ein convexes und eingeradesMes-ser“ mußtenach zeitgenössischen OPBerichten bereitliegen, „eine Schere mstumpfer Spitze, eineHohlsonde,einekrumme Heftnadel, einspitzer Hak-ken“. Dannwurde der Patient,stets vordem Stimmbruch, „nachvorläufigerEntleerung des Darmkanals und dHarnblase“ auf eine Matratze gebetoder „mit von einander entfernte

* Patrick Barbier: „Farinelli. Der Kastrat der Köni-ge“. Econ-Verlag, Düsseldorf; 304 Seiten; 48Mark.

Schenkeln“ auf einen Tischrand gesetHatte dasOpium sie eingeduselt unddas heiße Badbesinnungslosgemacht,wurden denKids dieSamenleiter durchtrennt und dieBlutzufuhr gekappt. DieHoden verkümmerten, aus der Trauvom ganzenMann.

Für viele Jungen hatte derSchnittnoch fatalere Folgen. Dameist Kurpfu-scher undBarbiere indreckigenHinter-zimmern das Messer führten,verblutetemancher bei der Beutelschneiderei. Adere verblödeten, wurden blind, lahmoder depressiv – alsEunuchen,Kapau-ne und Weiber in Hosen verspottet.

Wer die Stümmelei heil überstandkam zum Stimmdrill in SingkasernenBlieb dort der Erfolg aus, endete deEntmannte alskreischende Kuriositäunter fahrendemVolk; schaffte er denSprung zumHochtöner, durfte er imChor die Spitzenlagen übernehmenkam er auch da noch groß raus, staihm, endlich, dieOper offen.

Keiner brachte es dabei soweit wie je-ner Carlo Maria Michelangelo NicolaBroschi aus dem KönigreichNeapel,dem wohl zwischenneun und elf Jahredie Spermaröhrelahmgelegt wordenwar und der unter dem NamenFarinellizum ersten Megastar derOpernbühneaufstieg.

Farinelli bestimmte die Spielpläne.Inszeniert wurde, wasFarinelli singenwollte. Die Impresarios überbotensichin Gagen, dieFarinellisten inkostbarenGaben:Diamantringe, goldene Tabatiren,ganze Kolliers. „Mit 23Jahren“, bi-lanziert BiographBarbier, „ist erbereitsder reichste Sänger seinerZeit.“ Gegen

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Kastration im 17. Jahrhundert: Oben hui, unten ohne?

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Farinelli ist Pavarottiein Fuzzi.

In jenem Prestige-kampf zwischen demKönigsdarling Händelund der Nobility-Operdes Prinzen vonWales, demLondonerOpernkrieg des frühe18. Jahrhunderts, wude der Italiener zuentscheidendenGroß-macht. Am Hof zuMadrid, wo er demverwirrten MonarchenPhilipp V. jahrelangjeden Abend ein paarerbauliche Arien vor-trällerte, spielte er zu-letzt den heimlichenRegierungschef.Selbstnach seinemTode be-

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schäftigte erDichter undDenker: Fastein DutzendOpernbesingen seineVita,Voltaire ehrt ihn in „Candide“, Euge`neScribe ineiner Novelle.

Spuk von gestern? Längst – mit Mo-zart, Wagner, Verdi – ist dieOper er-wachsen geworden, die Hodenlosesind ausgestorben, exhumiertallenfallsvon den Archäologen derMusikwissen-schaft.

Und nun, aufeinmal, das Rollbackvom Rock zurück zum Barock. „Fari-nelli“ verfälscht den Farinelli zwar mediengerecht und biegt die Historie efektvoll zurecht, vermitteltaber auch

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Längst haben Tonkünstlerkeine Scheu mehr vor

der erotischen Grauzone

ein sehenswertes Bild von der Faszinaon eines Phänomens und von der Epoche, die es anhimmelte.

So wie „Amadeus“,dieses prachtvollFalsifikat überMozart undSalieri,mehrSpannung und Stimmung von demhisto-rischen Komponistenduell übermittelthat als viele akademische Wälzer, sverschafftauch CorbiauszweistündigerReißer einen kurzweiligen Einblick inbarockesEntertainment und dasthea-tralischeLeben seines größten Verfüh-rers.

Fast synchron mit demFilm stimmenauch die Literaten ihren Hymnus an adie Magier mit den lahmgelegten Leden. Der Münchner Autor HelmutKrausser besingt in seinem grandios-tbulentenSittenbild „Melodien“ den Ka-straten Pasqualini. Die niederländischeSchriftstellerin Margriet de Moor ent-facht in ihrem Roman „Der Virtuose“einen wahrenLiebes- und Leserauscum den BelkantistenGasparo. DeTheaterwissenschaftlerHubert Ortkem-per reiht gleich alle „Engel widerWil-

len“ an einem spannenden,wissen-schaftlich erhärtetenLeitfaden auf.

Die gegenwärtigeEpochenstimmungscheint hermaphroditischen Lüsten zgeneigt. Ein Massenpublikum, dassichvon den sexistischenZweideutigkeitendes Pop-Blondies DavidBowie undvon Michael Jacksons Fistelorgan amachen läßt, schnuppert offenbar geim prickelnden Zwischenreich vo„andros“ (griechisch: Mann) und „gy-ne“ (Frau). Androgyn istnicht längerein anrüchigerCode fürgeschlechtlicheGrenzgängerei.

„Let it bi“, outen sich neuerdingsMänner und Frauen, die aufbeidesstehen. Selbst die Tonkünstler habenkeine Scheu mehr vor der erogeneGrauzone, in dersich Männliches mitWeiblichem,stimmlich wie sinnlich, zukreuzen scheint.Countertenöre unFalsettisten, physiologisch astreineMannsbilder, wagensich wieder ausvollem Halse hoch hinaus ins Zwittrge, und das Publikum genießt den dbiosen Kitzel, wenn sie die Kehlköpfliften.

Doch bei all ihren Mühen und Künsten – niemand weiß, ob siewenigstenseinenmattenAbglanz von dem vermitteln, was Farinelli einst strahlen ließKein Tondokument hatseine Stimmeüberliefern können. Aber imnostalgi-schen Kniefall vor demStar sind sichLichtspieler und Literaten einig: Sowie er kann heute keiner mehrsingen.

Wer also singt den Farinelli in „Fari-nelli“? Ein Bastard ausdigitaler Züch-tung: Der farbige CountertenorDerekLee Ragin übernahm die tiefen, diepolnische Sopranistin Ewa MallasGod-lewska diehohen Töne injeder Arie.Im elektronischenLabor des PariserIrcam-Instituts wurden beide Partsmehrmonatiger Feinarbeitgemixt.

Es gibt noch Fortschritte:Farinellimußte untersMesser, „Farinelli“ bloßans Mischpult. Klaus Umbach

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Fledermaus gegen InternetJoel Schumachers „Batman Forever“ und Hollywoods Angst vor den neuen Medien

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enn der Fledermausmann naHause kommt, imMorgengrau-W en, nach einer schwerenNacht,

dann stinkt der Bursche wie ein Tieund braucht ganz dringend eine Dusche. Er ist von den Dächern gesprugen und gegenharte Fäuste gepralltEr ist geflogen, gefallen,gerannt, undzwischendurch saß er ineinem engenAuto. Er hat geschwitzt, und auf demKörper trug ernichts alsGummi.

Es gibt Momente, da muß Batmaeinfach raus aus seinem Kostüm.gibt Tage, da muß der Fledermausazug lüften, und der Superheldgibt sichbürgerlich, geht Geld verdienen undspielt Bruce Wayne, denMilliardär.Doch in Wahrheitsehnt ersich immernach der Nacht undkann es kaum erwarten, bisseine Haut wieder Gummispürt und die Augendurch zwei engeSchlitze gucken. Sein nacktes Gesichist nichts alseineschlechteMaskerade.

„Batman Forever“ heißt der neueFilm, und von den erstenbeiden, von„Batman“ und „Batmans Rückkehr“

„Batman“-Schurken Carrey, Tommy Lee J

ist wenig mehr als dasKostüm geblieben. Damals spielte MichaeKeaton den BruceWayne als traurige Gestalt: Der Supermannwar ein Zerrissener; eversteckte sich hinterder Fledermausmaskvor seiner Depressionund wenn er schlugund sich schlagen ließ,trieb er seinen Schmermit neuen Schmerzenaus.

Der alteBatman war ein böser Trau– der neue ist einKleiderständer: ValKilmer, der die Rolle übernommen hatwirkt zu jung und zu glatt füreinetragi-scheFigur, und vermutlich war es aucnicht seinJob, dem Helden diemensch-liche Dimension zu leihen. Er streckden Unterkiefer aus der Maske, wmännlich und entschlossenaussieht, undmit seinen Muskeln füllt er den leereRaumzwischen denGummiteilen.

ones: „Wenn Wissen Macht ist, dann bin ich Gott“

Batmans Identität isnicht in seinem Kopf zuHause –einmalzeigt derFilm, wie ein paarSchurken seineGedan-ken lesen:Doch da istnur ein großes, graueRauschen, und durch dLeere flattert eine Fle-dermaus. Batmansgan-zes Wesen steckt insei-nem Kostüm. DerManndarin sorgt für denHalt;der Anzug würdeohneihn zusammenklappen.

Das mag auf den erstenBlick einMangel sein, und es bestätigt scheinbajene Kritiker, die Batman für dendümmstenaller Kinoheldenhalten: ge-boren aus demComic strip und schondeshalbflach und ohne Tiefe; auf dieLeinwandgeschickt,damit er die Produzenten soreich wie Bruce Wayne mache, ganz egal, ob das Publikum dabtotal verblödet; ein Bastard, dernochnicht mal zurMetapher taugt. Ist er ei

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Comic-Held Batman: Die Königin der Lederschwulen?

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Mann? Eine Fledermaus? DKönigin der Lederschwulen?Oderbloß ein wandelndes Warenzeichen?

Vermutlich kommt es denLeuten in Hollywood tatsächlich sehr gelegen, daßBatmanvor allem ein Stück schwarzeGummis ist, eine Maske mispitzenOhren,eine dunkleSil-houette – wenn Val Kilmernicht mehr zur Verfügungsteht, muß eben ein anderschwitzen.

Doch auch ein Warenzeichen ist ein Zeichen – unwenn das Wesen einerFigursoviel mächtiger ist alsderenkonkrete Gestalt, dann hsich der Film längst aufsTer-rain des Mythos gewagt, wdie Gesetze desAlltags nichtmehr gelten: Ein Mann mußaltern, wird müde oder dick;die Maske aus Gummiwider-steht derZeit und denErosio-nen der Wirklichkeit. Mythenermüden nicht.Batman lebtjenseits derGeschichte, und ekann schon deshalb nicht untergehen indiesem Film,des-sen Konflikte durchaus voheutesind.

Der Schauplatzheißt, wieimmer,GothamCity; die Häu-ser hiersind höher als die Türme von Manhattan, dieStra-ßenschluchten dunkler; dStil mischt Art deco mit Neu-gotik und Futurismus, diMauern scheinen dieSchwer-

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kraft zu leugnen, und die Perspektivsindmonumental. Diese Stadtzeigt allesvor, was Hollywoods Trickspezialistezu bieten haben – undwenngleich dieseLeute ihrPublikum nur blendenwollen,habenihre Mühen doch den umgekehten Effekt: Der Zuschauerguckt Holly-wood bei derArbeit zu. Beim Denkenund beim Fürchten.

Denn dieAngst geht um bei den Kinoleuten; die Angst,sich selbst zu ver

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Wogegen Batman nochkämpft, davor hat

der Film schon kapituliert

lieren zwischenneuen Medien undvir-tuellen Welten; dieAngst, daß demnächst andere dasPublikum noch geschickter täuschen könnten. Und vondieser Furcht erzählen sie hier mitallenMitteln ihres alten Mediums, mit ihrenbestenTricks und buntesten Farbenals ob sie die Gefahrnochbannen könnten,wenn die nur laut beschworen wir

Der Schurke nämlich, derEdwardNygma (JimCarrey) heißt und so irre is

160 DER SPIEGEL 31/1995

wie sonst nur die Jungs aus demSili-con Valley, hat ein Geräterfunden,welches seineBilder und Wahnvorstellungen direkt in die Köpfe desPubli-kums projiziert; esschickt denLeutendie perfektenIllusionen, dreidimensional und nicht mehr zu unterscheidenvon der Wirklichkeit. Und es gewähdem verrückten Wissenschaftler deZugriff auf die Träume undGedankenseiner Kunden: „Wenn Wissen Machtist, dann bin ichGott. “

Es ist kein Zufall, daß dieser Busche mit seinerstarkenBrille, den un-gekämmten Haaren und denhochgezo-genen Schultern eine flackernde Ählichkeit mit Bill Gates hat, demMicro-soft-Gründer undSoftware-Tycoon. Esind nicht nur dieGesetze desComicstrips, die diesen Stubenhocker in d„Riddler“ verwandeln, einen böseKobold, der in Rätseln spricht: wie alle Programmierer. Undsein Werk, dasNetz der absolutenIllusion: So stelltsich Hollywood in seinenAlpträumendas Internet vor – oder das neueNetz-werk von Microsoft, durch dasBillGates bald in alle Computer guckenkann.

„Batman Forever“ erzähldavon, wie der Superheld deRiddler besiegt, und dennocwirkt das Ende traurig: weildamit nichts gewonnen istWogegenBatmannoch einsamkämpft, davor hat dieInsze-nierunglängstkapituliert.

Regisseur Joel Schumachmißt mit der Kamera keinenRaum aus,seine Bilderreprä-sentieren nicht einmal einimaginäre Welt. Er schneidevon einer Großaufnahme deFreiheitsstatue aufBatman un-ter Wasser, vom Zentrumeiner Explosion auf deHubschrauber, der darübschwebt. Er leugnet die Dstanzen, er ignoriert die drittDimension – und was er dabschafft, ist nicht die Zweidimensionalität des Comistrips, sondern die Körperlosigkeit derComputernetze.

In diesem Universumspie-len keine Geschichtenmehr,hier werden nur noch Programme geladen – dieStoryvon „Batman Forever“ läßsich nicht nacherzählen, weildieser Film keine Story hat.Das ist nicht wirklich revolu-tionär: Das Kino, als Kunsder elektrischen Ära, weischon seithundert Jahren, daes für die Spannung keine Gschichtebraucht; nurzweiPoleund den Strom, derfließt: ei-nen Helden,einenGegner undden Fluß der Bilder. Aber

„Batman Forever“versuchtsich schonam Entwurf einer Kunst für die interaktive Ära: keine Körper, keine Räume,bloß ein paar starke Zeichen alsSpiel-vorlage.

Manchmal glaubtman, das Unbehagen der Macher mit ihrem Werk zu spren. Manchmal betrachtet dieKameraBatmans Kostüm ausschamloser Näheund dann entdeckt sieBrustwarzen audem Gummi und den kaum verhohlenStolz auf dieAusbuchtungzwischen denBeinen. Manchmal hüpftNicole Kid-man (die Kim Basinger und MichellPfeiffer alsBatmansGespielinfolgt) imknappen Hemdchendurch die Nachund hofft, mit angestrengtemSex-Ap-peal, ihren Helden zurückzuholen insReich der Körper undFetische.

Doch Batmanschwebt längst in diandere Richtung. Er hatsich dieGestaltdes blassen Val Kilmer geliehen, dwar ein erster Schritt, und als nächsteswird er sich völlig lösen von denschwit-zenden, stinkenden Körpern. „BatmanForever“: Dasklingt wie ein Abschiedvom Kino für immer. Das nächste Bat-mobil startet perFledermausklick auder Datenautobahn. Y

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Plaudereien fürFranginoMüßte noch bewiesenwerden, daßKinder großer Literaten keineSon-derlinge oder gar Selbstmörder zuwerden brauchen, sie wäre der Padefall: Christiane (1902 bis 1987)Tochter des DichtersHugo von Hof-mannsthal. Umgeben vom überrei-chen Kulturerbe Österreichswuchs sieauf, heiratete den Indologen HeinriZimmer und arbeitete später alsSozi-alwissenschaftlerin in denUSA. Vonden vielen Berühmtheiten, denen sials Tochter desherrschaftlich-heiklenVaters begegnet war, plaudertezeitlebens mit Vergnügen. Schon inden zwanzigerJahren, als sie inPari-ser Botschaftenoder Heidelberger Seminaren mühelos Einlaß fand, beschrieb sie ihre Erlebnissehernachrührend und keck. Soauch in diesenBriefen an SeelenfreundThankmarvon Münchhausen, genannt „Frangi-no“, die vor ein paar Jahren aNachlaß-Sperrmüll gerettetwurden.„Carls Frau istganzbesonderslieb! er

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Christianevon Hofmannsthal

„Ein netteskleines

Welttheater“S. Fischer26 Mark

noch zerstreuter asonst undeher ver-düstert“, heißt eda arglos-entlarvenüber den depressonsgeplagten Jungdplomaten Carl JacoBurckhardt. „Er istschon ein sonderbarer Mensch.“ OderRilke beim Tee,„immer etwas miß-trauisch“. Zur „Pa-pa-Premie`re in derJosefsstadt“ begegnete Christiane1926einem „neuentdeckten Mann aus Hamburg, Gründgens genannt“, aber auchder konnte ihrnichtsvormachen. SelbstThomas Manns neue

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ster Wälzernamens „Der Zauberbergschüchterte sie janicht ein: „800 Seitenlang nur Lungenkranke die spuckelieben u. sterben und über demallender immer etwasironischeMann . . .“Später kommenauch ernstereThemenzur Sprache: Gestapo-ÜberwachunKrieg und Exil drohen. Doch zuHauptsache konnte das böseWeltge-triebe nie werden:Wichtiger waren jaKunst, Literatur,Bilder undviele liebeMenschen. Einekleine private Kultur-geschichtealso, getaucht in den letzteSchimmerAlteuropas.

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„Es gibt keinen Haß“OsmanFaruk Sijaric, 53, Professor amKonservatorium in Sarajevo, über dasMusikleben imKrieg

SPIEGEL: Läuft an Ihrer Musikhochschule nocder Lehrbetrieb?Sijaric: Ja. Die Akademie öffnet um 9Uhr, undwir warten, wer kommt.Manchmalsind es viele

Studenten,manchmal nur dreiodervier, wenn die Stadtfahrt zu gefährlich wird.Bei den Granaten-Angriffen flüchten wir in den Keller. Das ist unserHochschul-alltag.SPIEGEL: Sind nicht alleStudenten an der Front?Sijaric: Die Mehrheit schon, und an manchen Tagenmusizieren tatsächlich fastnur Frauen. Die Männer kämpfen zehn Tage, danachhaben sie Pause.Dannkommen sie zu uns undtauschen dasGewehr mit derGeigeoder Klarinette.Nie-mand würdeglauben, daß sie Soldaten sind.SPIEGEL: Bei Ihnenstudieren auch Serben undKroaten. Vertragen siesich?Sijaric: Es gibt überhaupt keinen Haß –nicht einmal in den schlimmsten Kriegstgen. Wir teilen unserBrot, und dieNationalität interessiertkeinen.SPIEGEL: Wie reagieren die Komponisten auf den Krieg?Sijaric: Inspiriert.Einer hatschon eineOrgelsonate fürzwei Hände undGranat-splitter komponiert. DerSplitter liegt einfach auf denTasten und produziert enen Dauerton, dersich durch dasganze Stück zieht. Er stört dieHarmonie derMusik und zeigt, wie dieHarmonie aus unserem Lebenverschwunden ist.SPIEGEL: Helfen Ihnenwesteuropäische Künstler?Sijaric: Durchaus.Aber leiderkommenetlicheLeute aus demShowbusiness unsonstige Kulturschaffendenach Sarajevo, um fürsichPromotion zu machen. Disind oft auf demabsteigendenAst, machenetwas beiuns,schreiben Bücher übeihre Reise und machenGeld mit unsererTragödie.

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Zu zweit imKunst-BordellDie Besucher werdenstilvoll empfan-gen: Sie wandeln durch ein bizarrStoff-Labyrinth, Kerzenlicht flackertklassischeMusik berieseltleise die geheimnisvolleSzenerie. Und erst nacdiesem Vorspiel trifft derGast auf da

Objekt seiner Begierdeeinen Schauspieler. Audem Berliner PrenzlaueBerg, Kastanienallee 79im Hinterhof einerverfal-lenen Fabrik,wird Thea-ter wie ein Bordell geführt: „Hautnah“ nenntsich die Underground-Show (bis 12.August), beider sich dieZuschauer mieinem Künstler ihreWahl zum theatralischePas de deux in ein Se´pareezurückziehen können. 14internationale Künstlebietensich feil. Eine Vier-telstunde etwadauert derQuickie, 15 bis 40Mark

sind Haustarif. Der Kunst-Freier dasich dann wünschen, was derSchau-spieler ihm vorgaukeln soll. Aberauch die Callboys und -girls dürfenetwas verlangen, wie etwaeinenKuß.Der ChoreographFelix Ruckert hatden Miet-Service ausgeheckt unträumt davon, „daß man ins Theatgeht wie zum Friseur, daß man Gschichten, magischeMomente undechte Empfindungen kaufenkann wiejedeandereDienstleistung“.

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Dauer-Tranceim WeltallDer Mann ist der lebendeBeweis da-für, daß das Lebenimmer hektischewird: 43 Platten hatOliver Lieb, 25, insechsJahren veröffentlicht – so schnelkann nur Techno- und House-Musiproduziert werden. Lieb istnicht nureiner der erfolgreichsten deutscheTechno-Künstler, sondern auch einder wendigsten; ständig wechseltseine Namen: Force Legato,Psyloci-bin, Spicelab und Mindspacenennt ersich, und unter dem PseudonymL. S. G. hat er nun das TechnTrance-Album „Rendezvous inOuter-space“ (Superstition)herausgebrachMit dieser Musik ist er schon in Australien aufgetreten. Undzwar so er-folgreich, daß die CD alseine der we-nigen deutschenTechno-Produktioneauchdort auf den Markt kommt.

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Provokationen vom PlakatAuf einem kahlen Männerschädelthront der Aufbaueinerpreußischen Pickelhaube – Illustration zu einemKleist-Pro-jekt der Berliner StaatlichenSchauspielbühnen. EineBana-ne, in der Mitte von einemPaketbandabgeschnürt, wirbt füden „Hofmeister“ von Brecht und Lenz. Und in das Ball„Coppelia“ lockt ein nacktes Weib miteinemUhrwerk als In-nenleben:Seit1966entwirft derHamburger Grafiker HolgeMatthies, 55, provokative Plakate für deutscheTheater undFestivals. Das hat ihn weltweitbekanntgemacht. Beim Internationalen Sommertheater auf demHamburgerKampnagel-Gelände werden nun vom kommenden Donnerstag anseinekühl kalkulierten, irritierendenBildcollagen ausgestellt.Gin-ge es allerdingsnach den Wünschen derTheaterleute, wäre„die besten Plakate verhindert“ worden.Denn viele Regis-seure befürchten, so Matthies, einkraftvollesPoster könntedie Zuschauererwartungenunziemlich beeinflussen.

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„Erleuchtung inkl.Mehrwertsteuer“Malcolm ist Journalist. Um die Machenschaften einer Sekte aufzudken, nimmt er an einem Einführungs-kurs der Glaubensgemeinsch„Etre“ teil. Drei Tage lang be-schimpft er dieGurus, diesich Trai-ner nennen, dann haben sie ihn ugedreht. Ohne Schulmeisterton haRegisseurin Pez Hitzginger, 31, dStück über die Verführungsmacht vSekten und Psychogruppen inszeniWie gefährlichharmlos derartigeSee-lenfänger arbeiten, wie sieJugendli-che manipulieren, hat die gelernSozialpädagogin selbstbeobachtetDas Stück „Sofortige Erleuchtunginkl. Mehrwertsteuer“ desbritischenAutors Andrew Carrzeigt die Thea-tergruppe Punktumnoch bis EndeOktober in München und Umgebung

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Konzert beim Schleswig-Holstein Musik Festival

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„Oleanna“. Die naive, etwas dümmlicheStudentin Carol fühltsich von denVorle-sungen ihres ProfessorsJohn intellektuell überfordert und beklagtsich bei ihm.Doch als der arrogante Lehrherr das Fräulein kalt abfertigt, ist er geliefert. DijungeFraudenunziert ihn bei der Uni-Verwaltung als „sexistisch undelitär“ undbehauptet, er habe sieauch nochsexuell belästigt.Rachephantasie oder Realitä„Oleanna“ vonDavid Mamet war1992 dasSkandalstück auf demUS-Theater. Estrieb den Geschlechterkampf auf die Spitze. Kritiker-Warnung: „Mankommt alsPaar undgeht alsSingle.“ Mamet hatseinTrennungsdrama nun (mitDebra Ei-senstadt undWilliam H. Macy) verfilmt, doch im notorisch gewaltbereiten, brutlen Kino wirkt dasZweipersonenstück blaß und zäh. Mankommt allein undgehtzu zweit.

K o m p o n i s t e n

Ein Bilderbuch voll Mahlerei

Armer Gustav! Da steht er, geradefünf Jahrealt, schüchtern mit einem Notenblatt in dHand und hatAngst, derApparat desFotogra-fen könne ihn verschlingen und fürimmer aufein Stück lichtempfindlichenKarton bannen –das erstebekannteBild des Dirigenten undKomponisten Gustav Mahler (1860 bis 1911)Doch schon bald reift derbangeKnabe zumernsten, schönen Jüngling heran, und spätestens auf Bild 19 (von1892)blickt der Musikerbereits mit herrscherlicherAttitüde in die Ka-mera undhinab auf dierestliche Musikwelt.Und nun hört die Mahlerei nichtmehr auf –geknipst,radiert, modelliert, in Tusche, Kohle, Öl und Marmor. Ausinsgesamt 313 Abbildungen, darunterallen überlieferten Fotogra

fien, wird dem Spätromantiker jetzt, nachseinemComeback in Konzertsälen unPlattenstudios, auch eine Galeriegewidmet; schöner, üppiger undteurer (148Mark) ist das Lebeneines Tonsetzers nochkaum dokumentiert worden. Der NeYorker Ex-Verleger und Mahler-Freak Gilbert Kaplan hat Bibliotheken, Musund Privatkollektionen durchstöbert undseineFunde zueinemzwei Kilo schwe-ren Prachtstück gebündelt („Das MahlerAlbum“. Verlag ChristianBrandstätter,Wien). Die spaßigsten Seitenstehen amSchluß: Zwischen allerlei satirischeBlättern präsentiertsich Enrico Caruso als Mahler-Karikaturist.

A u s s t e l l u n g e n

Heilige KnochenVon seiner Pilgerfahrt ins HeiligLand brachteWelfenherzog Heinrichreichlich Gebeine heim, darunteretli-che Armknochen, die von Apostestammensollten; er ließ sie kunstvomit Gold, Silber undEdelsteinen umkleiden. Unlösbar verbanddieser Auf-trag Frömmigkeit, Schönheitssinn u

politische Repräsentati-on – Themen für dieAusstellung „Heinrichder Löwe und seinZeit“, die vom kommenden Sonntag an, de800. Todestag des Füsten, in Braunschweiggezeigt wird (Herzog-Anton-Ulrich-Museum,bis 12. November). Mirund 500 Schaustücken,darunter das1983 teuerersteigerte Evangeliaspiegelt die einstigHeinrich-Residenzstaddie höfischeKultur derweltläufigenDynastie imhohenMittelalter wider.Auch der „Welfen-

schatz“ an Reliquienbehältern, um1930 in verschiedene Hände verkauwird teilweise wiedervereinigt: AuCleveland (USA)kommt alskostbar-stes Stück ein „Apostelarm“.

M u s i k

Kieler KakophonieNeue Mißtöne beim Schleswig-Hol-stein Musik Festival (SHMF): Nachden Turbulenzen um Ex-Intendant J

stus Frantz soll eine Stiftungals Träger die bisherigGmbH ablösen. Dagegemacht nun der einflußreichSHMF-Verein Front. In ei-nem fünfseitigenProtestbriefan den Kieler Wirtschaftsminister Peer Steinbrück als

Aufsichtsratsvorsitzendender FestivalGmbH beanstandet der e. V., die vorgesehne Stiftung bringe „eine voll-ständige Abhängigkeit vopolitischen Unwägbarkeiten“und eine „Oligarchiezugun-sten des designierten Dire

tors“ (Franz Willnauer); die Meisterkurse würden verwässert, die Orchester-Akademie „schlechthin gestrichen“. Der aufmüpfige Verein hatDruckmittelgegen die Kieler Strukturreformer: Ihm gehören Name und Sgnet desSHMF.

K I N O I N K Ü R Z E

Page 165: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

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K U L T U R

S P I E G E L - G e s p r äc h

Ich wollte viel mehr sein“Der Schauspieler Anthony Quinn über Liebe, Alter und Hollywood

Quinn (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Man muß verrückt sein, um in dieser Welt zu leben“

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SPIEGEL: Mister Quinn, Sie haben mehals 300 Filmegedreht, Sie malen,schrei-ben Bücher,sind Bildhauer. Nun drehen Sie hier in der deutschen Provinirgendwo zwischen Muggendorf undPottenstein, einen Film.Haben Sienicht genug fürIhre Unsterblichkeit getan?Quinn: Ich habekeine Angst vor demTod. Ich binsicher, von hier gehen win eineandere Welt.SPIEGEL: Aber Sie wollen Spuren auder Erdehinterlassen.Quinn: Ich habe malgesagt: Würde ichauf einerInsel ausgesetzt, ich müßte dFelsen neubehauen undaufstellen.SPIEGEL: . . . um zu zeigen, daß Sdort waren.Quinn: Um die Form zu ändern. Ich bibesessen vonForm.Alles, was mitHap-tik zu tun hat, mit Berührung. Ichsitzein diesem wunderschönen bayerischGarten, und ich würdealles für eineGartenschere geben, um die Heckund Bäume zu beschneiden.Aber ichbin auf Besuch, ich mußmich anständigbenehmen.SPIEGEL: In dem Film, den Sie hier drehen,spielen Sieeinen Tintenfisch. Warum keinen Hai odereinen Hering?Quinn: Der Tintenfisch ist einsehr inter-essanter Kerl. Er hat achtArme. Sein

* Mit Redakteuren Claudius Seidl und BettinaMusall in Galgenberg (Oberfranken).

Sexualleben ist äußerstintensiv. StellenSie sichvor: Sie heben IhrenArm, ichhebe meinenArm, undschonhaben wirSex.SPIEGEL: Vielleicht gewöhnungsbedürftig.Quinn: Aber toll, vor allem mit acht Ar-men.SPIEGEL: In den dreißigerJahren habeSie Ihre Künstlerkarriere als Student bdem berühmten Architekten FranLloyd Wright begonnen.Stimmt es, daßer Sie zum Filmgebrachthat?Quinn: Er bemerkte, daß ichlispelte,und schickte mich zueiner Schauspielschule, damit ich ordentlich sprechlernte. EinesTagesfiel einer derSchau-spielschüleraus, ichsprangein, und eswurde ein Erfolg. Man bot mir eineVertrag, 300 Dollar die Woche. Das w1933/34. Bisdahinhatte ich 25Cents amTag verdient. Ich unterstützte meinMutter undmeine Schwester. Ich konnte das gar nichtablehnen.SPIEGEL: Klingt, als wären Sie nur zufälig Schauspielergeworden.Quinn: Ich wollte Architekt werden.Aber dann übernimmt das Leben dRegie. Man heiratet, man bekommKinder, Verantwortung.Heute bin ichsicher, daß meinKarma war,Schauspieler zu werden.SPIEGEL: Für Millionen Fans sind undbleiben SieAlexis Sorbas, der tanzendGrieche, aus demgleichnamigen Film

Haben SiediesesAlter egonicht manch-mal gehaßt?Quinn: Für mich ist Alexis Sorbas eineder hinreißendsten,erfindungsreichsteKinder der Welt. Seine Botschaft istdaß man verrücktseinmuß, um indieserWelt zu leben.SPIEGEL: Sie fühltensich nieeingesperrin dieser Rolle?Quinn: Für mich war daseine Figurunter300. Ich wargenauso der Papst in de„Schuhen desFischers“ und derZampa-no in Fellinis „La Strada“. Mein Pro-blem war, daßalle Charaktere, die ich jgespielthabe, in mirstecken. Meinwah-res Ich, der echte AnthonyQuinn,kommt gerade erst, mit 80, zumVor-schein.SPIEGEL: In den meistenIhrer Filme ha-ben Sie exotischeTypen dargestellt.Quinn: Ich bin ein Exot.SPIEGEL: Aber den guten amerikanischenJungen durften immer dieanderenspielen: War Hollywoodrassistisch?Quinn: O ja. Ich sah anders aus,also warich zuständig fürMexikaner, IndianerGriechen, Russen. FürSchurken alleArt. Das hatsichnach „La Strada“ geändert. In Europadurfte ichallesspielen.SPIEGEL: Die Hauptrolle kriegtentrotz-dem meist dieanderen. In „Seminole“war Rock Hudson der Held, Sie dNummer zwei; „Viva Zapata“ brachteIhnen denOscar für die beste Nebenrole ein, der Star war MarlonBrando.

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Maler Quinn (1956)„Frauen erschaffen wirklich etwas“

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Quinn: In den Fünfzigernwaren Typen

wie Clark Gable oder Gary Cooper gfragt. Rock Hudson war einreizenderJunge, groß, stark und schön. Ich hanicht das Ego zu sagen, ich seibesser. Esgibt so vieletolle Schauspieler.MarlonBrando ist geradezu unglaublich. AlKonkurrenz empfinde ich keinen von deanderen mehr.SPIEGEL: Worin liegt für Sie heute dieHerausforderung beimSchauspielen?Quinn: Bei jedemFilm muß ich michent-scheiden, was ich von mir verstecke uwas ich zeige. Zum Beispiel derArchie,den ich jetzthier, in „Seven Servants“spiele: Er weiß, erwird bald sterben. MiHumor undSelbstironie versucht er, deWert seinesLebens zuerkennen. Erlegtsich Äpfel auf denKopf, um ein Apfel zuwerden. Ichidentifiziere mich so heftigmit ihm, daß ichmich selbst ganz vergese. Aber das istvielleicht ganz gut so, ichabe ein paarschlechteEigenschaften.SPIEGEL: Erzählen Sie mal.Quinn: Ich werde soschnell wütend.SPIEGEL: Immer noch der junge Wilde?Quinn: Immer noch. Da ändertsich garnichts.

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SPIEGEL: Mr. Quinn, Siesind teils mexi-kanischer, teils indianischer, teils iri-scher Abstammung. Sie habeneinenamerikanischenPaß. Überall auf derWelt werden die Einwanderungsgeseverschärft . . .Quinn: . . . Ich bin totalgegen dasneuekalifornische Gesetz 168. Ich bintotaldagegen, daß diekalifornische Regierung die mexikanischeGrenze dicht-macht. Siewollen die Menschenweg-schicken,Kinder mexikanischerElternaus der Schulereißen und abschiebeDas ist unmenschlich. Ich werde diesschrecklichen republikanischenGouver-neur PeteWilson persönlich bekämp-fen. Der wird niemals Präsident,solan-ge ich noch da bin. Ich vertrete 65 Przent aller amerikanischen Minderheten.SPIEGEL: Ist die multikulturelle Gesellschaft nicht eine von diesenpolitischkorrekten Ideen, die in derWirklichkeitnie funktionieren?Quinn: Die Menschheit kann nur soüberleben. Ichhasse nationale Zäune.Am Ende des 21.Jahrhundertswird esnur noch eine Rasse geben: denHomo

sapiens. Dashabe ich von meinerzwei-jährigen Tochter gelernt. Die trägt da21. Jahrhundert insich.SPIEGEL: In den vierzigerJahren,wäh-rend Ihrer erstenEhe,stand IhrSchwie-gervater, der RegisseurCecil B. DeMille, auf der Seite des KommunisteVerfolgersMcCarthy.Quinn: Ich nicht. Ich bin arm geborenMeine Eltern und ich haben vonFeldar-beit gelebt. Ich war ein glücklichesKind, aber späterbegriff ich, wie Land-besitzer die Bauern knechteten. Icstand immer auf derSeite derArbeiter.Ich bin hundertprozentigDemokrat.Das war McCarthy nicht und meiSchwiegervater auch nicht.SPIEGEL: Sie haben imStreit gelebt?Quinn: Kein Streit. Ich war nur unendlich traurig,weil ich sosehr einenVatergebraucht hätte. Meiner war gestorbenals ich 13 Jahre alt war. Und dann haich 28 Jahrelang einen Schwiegervateder nie meinVater wurde. Anseinemletzten Lebenstag hat er dasbedauert.SPIEGEL: Sie unterstützen dieClinton-Regierung?Quinn: Heute haben wir das Problemdaß wir keinecharismatische Führungpersönlichkeit mehr haben.SPIEGEL: An wen denkenSie?Quinn: Roosevelt war der Größte, Tru-man war auch ein starker Präsident.SPIEGEL: Und der große PR-KünstlerKennedy?Quinn: Der war wirklich einModel-Prä-sident. Sehrnett. Wirwaren gute Freunde. Aber er warkein bemerkenswertePolitiker.SPIEGEL: Haben Sie mit ihm überMari-lyn Monroegesprochen?Quinn: Ich wußte von ihrer BeziehungAber das wardoch nur eine Bettgeschichte.SPIEGEL: Woherwissen Siedas?

„Seven Servants“heißt der Film, den Anthony Quinn, 81,zur Zeit in Oberfranken dreht – undnoch immer schreckt der Schauspielervor keinem Risiko zurück: Drehbuchau-torin Juliane Schulze und RegisseurDaryush Shokof sind Anfänger, zumin-dest was das Filmhandwerk angeht.Und die Story klingt nicht nach Main-stream oder einem Kassenhit: DerFilm erzählt von Archie (Quinn), einemalten Mann, der den Tod schon aufsich zukommen spürt und beschließt,sich vorher in einen Oktopus zu ver-wandeln. Er heuert vier junge Männeran, die mit ihren Händen seine Nase,seine Augen, seine Ohren verschlie-

ßen; er wandelt fortan mit acht Beinenund acht Armen durch die Welt undmacht ungeahnte Erfahrungen. DaßQuinn sich auf dieses Experiment ein-läßt, heißt nicht, daß Hollywood ihnvergessen hätte: Er war zuletzt in „LastAction Hero“ zu sehen, und am 14.September läuft Alfonso Araus „A Walkin the Clouds“ an, in dem Quinn nebenKeanu Reeves spielt. Seine Autobio-graphie „One Man Tango“ ist soeben inden USA erschienen und soll im Herbstauch in Deutschland herauskommen.Nebenbei findet Quinn noch die Zeit,zum 75. Geburtstag des „Alexis Sor-bas“-Komponisten Mikis Theodorakisauf dem Münchner Königsplatz denSirtaki zu tanzen.

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Quinn: Man konnte mit Marilyn, derArmen, keine Beziehunghaben. Siewar wie ein Magnet. ErstBaseballstaJoe DiMaggio, dann der Präsident,dann versuchte sie es mitArthur Mil-ler. Aber Beziehungensind das nie geworden. Allewollten nur ihren Körper.SPIEGEL: Und Sie?Quinn: Ich sage essehr ungern,aber siehat mich schockiert.Eine Frau, die sopromisk lebt, ist fürmich nicht interessant. Tut mir leid, ich bin halt katho-lisch erzogen.SPIEGEL: In Ihrer ersten Hochzeits-nacht 1937 stellten Sie fest, daßIhre26jährige Frau keine Jungfrau mehrwar.Quinn: Ich hab’ sie sofortrausgeschmissen. Dann fiel mir ein, daß ichgelobthatte, inguten wie inschlechtenZeitenmit ihr zusammenzubleiben. Wirblie-ben fast 30Jahre verheiratet.SPIEGEL: Sie warenzweimalverheiratetund haben 12 Kinder von 5Frauen.Was meinenSie, wenn Sie sagen, daSie an die Monogamie glauben?Quinn: Das ist mein neues Ich. Ich bselber total überrascht vonmir. Kathy,meiner 33jährigenFreundin, bin ichseit zehn Jahren treu. Zumerstenmaim Leben. Und es gefälltmir, es gefälltmir wirklich.

Freundin Kathy, Tochter Antonia„Komm runter vom Sockel!“

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Quinn als „Alexis Sorbas“Zuständig für Exoten

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SPIEGEL: Könnte esdamit zusammenhängen, daß Siejetzt über 80 sind?Quinn: Natürlich hat esdamit zu tun,wo im Leben man steht.SPIEGEL: Ist Monogamie vor allem einsexuelleAngelegenheit?Quinn: Nein, nein. Um esganzklar zusagen: Der Unterschiedzwischen zweVaginen ist nicht sogroß. Das Entscheidendezwischen Mann und Frausind die philosophischenDinge. Ich lie-be dich fürdas, wie du bist, für das, wofür du stehst, für die Empfindungedie du in mir auslöst.Bloß um irgendei-nen anderenPenisodereineneueVagi-na auszuprobieren, werden wir doch dReinheit, die zwischen uns besteht,nicht zerstören.SPIEGEL: Was gefällt Ihnen an FrauenQuinn: Wenn ichBauchschmerzenhabeoder Zahnschmerzen,bringt mir Kathyeine Medizin. Das ist Liebe undgiltauch andersherum. Es war wunderbawährend der Geburtunseres Kindes beihr zu sein.Frauenerschaffenwirklichetwas. Männer malen, schauspielernbildhauern. ImVergleich ist das nichtsSPIEGEL: Und was, falls überhaupt,zieht Siegeistig zueinerFrauhin?Quinn: Es ist die Stille.Mein Mädchenund ich könnenmiteinanderschweigenund uns miteinander geborgen fühlenSPIEGEL: In vielen Ihrer Filme verkör-perten Sie das herb-männliche Sexsym-bol. Wie gefiel IhnendiesesImage?Quinn: Es war mir peinlich. Das ist enicht, was ichsein wollte. Wissen Siewas ich befürchte?SPIEGEL: Keine Ahnung.Quinn: Eines Tages wird einComputeralle meine Filme sehen, meine Büchelesen, meine Bilder und Skulpturen shen. Und dannmachen irgendwelcheLeute eine CD aus mir unddenken,daß da meine ganze Persönlichkeitdraufpaßt. Und niemandwird mehrverstehen, daß ichviel mehr sein woll-te.SPIEGEL: Zum Beispiel?Quinn: Ich weiß es selber ja nicht gnau. Ichsuchenoch.

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SPIEGEL: Ihre jüngste Tochter, Anto-nia, istzwei Jahre alt.Haben Sie jedar-über nachgedacht, daß Sievielleichtnicht lange genugleben könnten, um sieins Erwachsensein zu begleiten?Quinn: Keine Minute. Ich habe Ihnendoch gesagt, daß ich an den Tod niglaube. Ichkommewieder, um aufmei-ne Kleine aufzupassen.SPIEGEL: Würden Sielieber als Mannoder als Frauwiedergeboren?

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Quinn: Lieber alsMann. Ich hab’ nochnicht alle meine Schwierigkeiten midem Mannsein bewältigt.SPIEGEL: Als da wären?Quinn: Männerwaren immer überzeugdaß sie gewisseVorrechte haben, die swahrscheinlich nichthaben.SPIEGEL: Wahrscheinlich nicht.Quinn: Sehen Sie, ichscheine esimmernoch nicht zuglauben. Ichhabe Frauenidealisiert, auf einenSockel gestellt.SPIEGEL: Was machten die da oben?Quinn: Sie warteten, bis ichrief: Kommda runter undmach mir was zu esseDas war Teil der Idealisierung. Nun lbe ich mit einerFrau, die ichwiederidealisiere. Vielleicht sollte ichdochlie-ber als Tier wiedergeboren werden.SPIEGEL: Was wären Sie denngern?Quinn: Ich denke, einVogel. Hoch obenfliegen und alles überblicken. Wahr-scheinlich einAdler.SPIEGEL: Endlich ein echter amerikanscherAdler?Quinn: Gibt es in Deutschland keine Adler?SPIEGEL: Ein paar.Quinn: Also warum kein deutscher Adler? Ja, ich werde als deutscherAdlerwiedergeboren.SPIEGEL: Herr Quinn, wirdanken Ihnenfür diesesGespräch. Y

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Tennisprofi Graf: Noch nie war es so eng wie diesmal

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In Papas MausefalleVier Jahre lang hat die Tennisfirma Graf keine Steuererklärung abgegeben, dann nur rund 7 Millionen Mark gezahltbei geschätzten 35 Millionen Mark Einkommen. Doch der Fall Graf ist längst nicht mehr nur eine Steueraffäre: SteffiGraf, die sich von allen verraten fühlt, denkt über einen vorzeitigen Rücktritt nach.

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och oben über dem Neckar, in enem Penthouse zu HeidelberH lebt Steffi Graf. Der Blick aus ih-

rer Wohnung auf Königstuhl und Schloßist, wie man so sagt,unbezahlbar; füdie meisten zumindest.Aber es ist einLeben auf dem Präsentierteller.

Alles, was die Tenniskönigin somacht,wird genau registriert. Paparazi, die noch einBild schießen wollenumstreichen dasHaus an derZiegelhäu-ser Landstraße. Keine Sekunde werddie Jalousien aus demBlick gelassenMittwoch nacht ging das Licht gegen0.50 Uhr aus, Donnerstag wurde eFenster kurz nach 10 Uhr geöffnet.ist, als führte ganz Heidelberg Buchüber das Leben derSteffi Graf. „Immerist einer hinter mir her“, hat sie mal gsagt.

Klaglos hat sie in denletzten Jahrenmancherlei ertragen, doch was zuvielist, ist zuviel. Die weltbeste Tennisspilerin scheint amEnde.

Sie wirke verwirrt, verstört, berichteübereinstimmend diewenigenVertrau-ten, die sie ansich heranläßt. „Siever-

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steht die Weltnicht mehr“, sagt einer.Steffi Graf, 26,sitze oft stundenlang inihrer Wohnung und wälzeschwere Gedanken.

Jahrelanghabe sie „loyal zu Deutsch-land“ gestanden,sagt SteffiGraf, dochjetzt sei ausgerechnet sie „das ZieleinerKampagne“. DieSchlagzeilen der letzten Tage, glaubt die Vorzeige-Deutsche, hätten keineswegs nurihren VaterPetertreffen sollen. All dieArtikel mitihrem Konterfei auf den Titelseiten unden häßlichenPrognosen (Bild: „Steffi,es wird eng“) hätten sie sehr verletzt„Warum machen diedas?“

EineLichtfigur siehtsich imSchattenein Medienstar fühltsich umzingelt vonFeinden: Wegen des Verdachts dSteuerhinterziehung ermitteln respelose Behörden gegen sie undihren Va-ter, und die Presse scheint ihr nichmehrwach, sondern lüstern. „Dabei habe ich“, klagtSteffi Graf, „nicht einmalgewußt,wieviel Geld ich überhauptver-diene.“

Eigentlich gibt es nureinen Auswegaus dem Dilemma: dieFlucht in die

Wohnung im New YorkerStadtteil So-ho oder nach BocaRaton in Florida.Dort besitzt die Familie ein stattlicheAnwesen mit reichlich Auslauf, dortwar auch das normale Aufbautraininfür die U.S. Opengeplant, dieEndeAugust in New Yorkstattfinden.

Aber da ist die Sache mit dem fünten Lendenwirbel. Steffi Graf wirdwieder einmal vonunerträglichen Rük-kenschmerzen geplagt. Im Heidelbeger Olympiastützpunkt mußte sie inden vergangenen Tagen ihre Krankegymnastik absolvieren.Erst in dieserWoche will sie wieder zum TrainingnachAmerika fliegen.

Gerade in derKrise tut Steffi Grafdas, was sie immer getanhat: ihrePflicht oder das, was sie und ihrClandafür halten – sie flüchtet auf deTrainingsplatz.Doch anders als früheist es diesmal nur noch quälendesRitu-al.

Denn trotz der imponierendenSiegevon Paris und Wimbledon ist ihr daZiel der Fron längst aus dem Blickfelgeraten.Steffi Graf fragt sich, warum

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Tennismanager Graf: „Suchen Sie in Stuttgart“

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sie sich noch weiter plagensoll. DieAntwort wird zumindest diedeutschenTennisfans bangmachen. DieweltbesteSpielerin überlegt, ob sieschon in dennächsten Wochen aus dem Profispaussteigensoll – oder vielleicht nach ei-nem Erfolg bei denU.S. Open.

Oft schon hatSteffi Graf in denver-gangenenJahren vom Aufhörengespro-chen – unddann die Gedankenwiederweit von sich geschoben.Aber jetztscheint es ihrbitterernst. „Sie denkwirklich intensiv über ihren Rücktrittnach“, sagt einFreund. „So eng wiediesmal war es nochnie.“ Sie habeein-fach „an allemkeineFreude mehr“.

Es wäre kein triumphaler Abschiewie geplant, auf dem HöhepunkteinerbeispiellosenKarriere, sondern die traurige Kapitulation vor einer bösen Umwelt.

Dabei mangelt es an Beistand nichDie Werbepartnerspringen ihr zurSei-te. ManfredGotthard,PR-Manager vonElida Gibbs,will „von einem möglichenImageverlust bei den Verbrauchernnoch nichts bemerkt“ haben. Opel, sKonzernsprecher KarlMauer, werdedie Schlagzeilenignorieren, seine Anzeigen weiter schalten und „erst reagieren, wenn wir Erkenntnissehaben“.

Natürlich sind da auch die vielenFans, die unerschütterlich zu ihrstehen.In der Hamburger Zentrale des Deuschen TennisBundes (DTB) spucktdas Faxgerät in den letzten TagenDut-zende von Solidaritätserklärungen fürSteffi aus. Immer wieder wurden dieFunktionäre aufgefordert,sich öffent-lich hinter die Symbolfigur desdeut-schen Sports zu stellen undsich nichtvon „Erbsenzählern“oder „Hintertrep-pen-Journalisten“ beeindrucken zulas-sen.

Doch es gabkeine Ehrenerklärungfür den Graf-Clan, rein garnichts. Unddas hartnäckige Schweigen derDTB-Manager istberedt.

Denn in dem Krimi um die ver-schwundenen Millionenspielt nicht nurdie reine Steffi mit. Auf der Bühneagiert ein Bösewicht, dem nur schwertrauen ist – Vater Peter Graf, 57.

Jahrelang hat derschnelleGeschäfte-macher aus Brühl imDTB-Gebäude ander Hallerstraße Bündel Bares inAtta-che-Koffer gepackt, die erdann eiligzum Taxi trug. Stereotypversicherteder vom Gebrauchtwagenhändler zuFinanzvirtuosen gereifteGraf seinenleicht indignierten Verhandlungspartnern: „Mir passiert nichts.“

Niemand hat aufgemuckt, keinwollte sich mit Peter Grafanlegen;weilsie seineTochter brauchten, ertrugedie Veranstalteraller Damenturniererund um den Globus auch, daßSteffisVater sich nur selten an Absprachenhielt. Täuschen undTarnen erscheintmanchem als Grafs Lebenselixier.

Was seit derHeimsuchungdurch Steuerfahnder unStaatsanwälte am 23. Mai under Veröffentlichung von unsauberen FinanzpraktikeSteffi Graf widerfährt (SPIE-GEL 29 und 30/1995), istkeineVerschwörung böser Mächte,sondern eine hausgemachAffäre von Peter Graf, demewig Mißverstandenen.

Die SteueraffäreGraf spieltin einem Milieu, in demTrick-ser die Herrensind. Jahrelangschauten staatliche Stelledem wilden Treiben anschei-nend unbeteiligt zu. Beim baden-württembergischen Fis-kus, der im Ruf steht,unnach-sichtig gegenüber jedermannzu sein, muß der schwarzrogoldene Patriotismus eine Aintellektuelle Narkose ausge-löst haben.

Sonst ist eskaum zuerklä-ren, daß dieFirma Graf – wieVertraute berichten – anderals die übrigenSteuerbürgejahrelang überhaupt keineSteuererklärung einreichemußte. Die Summe, die deFiskus für dieseZeit endlichbekam, lagetwas über 7Mil-lionen Mark. Aber derBetragist, mehr oder weniger, vomZahler selbst festgelegt worden – und angesichts des gschätzten Einkommens indie-ser Zeit vonetwa 35MillionenMark ein wenig zuknappaus-gefallen.

Die Affäre um den GrafClan, dessen Vermögen aurund hundertMillionen Markgeschätzt wird, erinnert anMauscheleien wie im Fall de

bayerischen SteuersündersEduardZwick mit denOberen desLandes.

Vergleichbar sindauch die Praktikender Parteien, die in densiebzigerJah-ren mit augenzwinkerndem Einveständnis mancher FinanzverwaltungeMillionen am Fiskus vorbei indubioseGeldwaschanlagen schleusten.Unklarist aber noch, ob und wer im Ländledie schützendeHand über dieTennis-firma Steffi Graf gehalten hat –oderob auch dieseBehauptung PeterGrafs(„Suchen Sie doch mal in Stuttgartnur ein Bluff ist.

Denn in Anspruch und Auftreten isder Autodidakt aus Brühl derAller-oberste schlechthin. Was ihm genuthat, ist gut. Was ihmgelungen ist, isMuster. Alle Gegnerseines Systems elebt Graf als ganz persönliche Feinde,derenVernichtung er zum persönlicheZiel macht: Nach der Trennung volangjährigen treuen Manager HorsSchmitt verlangte er von Journalist

die Ächtung desAbtrünnigen: „Sonstgibt’s kein Interview mitSteffi mehr.“

So sind seineMitstreiter, die seineWeltsicht und sein Mißtrauen teilenmüssen, meist nurLakaien. AbsoluteGleichklang mit dem Boß ist dasHaupt-kriterium der Zugehörigkeit zum inne-ren Kreis. Das hat natürlich Vorteile.Jeder, der inseinem Schattendienert,ist ein kleinerGraf; was Peter Grafwie-derum alseigene Größeinterpretiert:„Was wären Sie ohnemich?“

Das Gefühl für Größenordnungeund Machbarkeit, für die Unterschedung vonfalsch und richtig ist ihm bedem rasantenAufstieg seinerTochterabhanden gekommen. „Weißt du ei-gentlich, wiebekannt ichbin?“ fragt erGesprächspartner gern undgibt sofortdie Antwort: „80 Prozent der Deutschekennen Peter Graf.“

Um einer Gespielin zuimponieren,die von einemanderen „sehr redegewandten Mann“geschwärmthatte,griff

169DER SPIEGEL 31/1995

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Ein Vater, keine TochterPsychotherapeut Ulrich Sollmann über die besondere Beziehung zwischen Peter und Steffi Graf

Familie Graf: „Ich bin, wenn ich nicht bin“

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Sollmann hat eine Praxisin Bochumundbefaßtsichspeziell mit der Wechsel-wirkung von Körper undPsyche, arbeitet auchmit Leistungssportlern. Inseinem Buch „BegierigeVerbote“ porträtierte Soll-mann, 47, mißbrauchteMenschen.

m liebsten würde icheinmal gegen michAselbst spielen“,lautet

der absurdeWunsch derSteffi Graf. Absurd des-halb, weil er deutlichmacht, daß die beste Tenisspielerin der Weltglaubt, nur noch ein Erfolgüber ihr Spiegelbild könnihreSelbstzweifelbesiegen

Wer und wie ist die Tochter diesesbedrohlich wir-kenden Vaters?

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Sie ist die TochtereinesMannes,der das Geld, das sieverdiente,ver-waltet und nun dieseMacht wie be-sessen ausspielt.

Sie ist die TochtereinesMannes,der insgeheim selbst ansich zwei-felt, aber seine Größenphantasiedurch sie um jedenPreis verwirk-licht sehen möchte.Auch um denPreis ihrer kindlichen Unbeschwertheit, ihrer eigenen Erfüllung unddes Lebensglücks alsFrau, die voneinemanderenMann geliebt wird.

Ein Vater,keine Tochter.„Öffentliche Personen“ bemühe

sich zuRecht, ihre Privatsphäre voBlicken andererabzuschirmen. AlsOrt von Sicherheit, Schutz undVer-trauen bietet sieAusgleich zur Büh-ne des öffentlichenLebens.

Kinder sind existentiell angewiesen auf diesen Schonraum. Siewerben zentralesoziale Fähigkeiten, Verhaltensweisen.Hier werdensie sie selbstund erobernsich ihreWelt.

Das Problemdieser Phaseliegtdarin, daß von außen dieemotiona-len Grenzen der Kinderschnell ver-letzt werden können. Sie merken enicht, sie spüren die Übergriffe derErwachsenen nicht. So waren dgrapschenden Hände des VatersSteffi lange keinProblem.

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Psychologennennen das „über-griffige Manipulation“. Dieser Beziehungsmißbrauchbedeutet in deRegel für die betroffenen Kindeein schockähnlichesErlebnis. Siespalten ihre Gefühlswelt und kön-nen deshalb weiterhin gut funktionieren, ohne daß Außenstehendiese emotionalen Verletzungewahrnehmen.

Der Graf-Clan hat mit seineübermannshohen Mauer um dVilla in Brühl ein Gefängnis für dieMärchenprinzessin geschaffen. Mteriell, aber auch immateriell trägsie die ganze Last der Familie. Smuß nicht nur dasGeld ranschaf-fen, sondern auch für denErfolgder Grafs sorgen.

Steffi siegt, um dieLiebe der El-tern zu bekommen, aber auch, udie Liebe von Vater und Mutterzueinander zu halten.Wenn sie ih-ren Vater vor denAngriffen derÖffentlichkeit schützt und dieemo-tionale Bedeutung ihrerFamilie be-teuert, kann sieunbewußt nichtzwischen sich undihrem Vater un-terscheiden.

Steffi Graf ist unbewußtemotio-nal abhängig vonihrem Vater. Ihnihr zu nehmen, ihn abzuwertenheißt für sie, ihr das bisherWich-tigste im Leben zu rauben – un

damit sich selbst zu verlieren, nicht mehr zusein.

„Ich bin, wenn ichnichtbin“, könnte ihre unbe-wußte Kernüberzeugunglauten. Das heißt:SteffiGraf kann sich nur dannakzeptieren, wenn sie dErwartungen des Vateund der Öffentlichkeit erfüllt, „total absolut“, wiesie sagt.

Sie muß dem Bildent-sprechen, oder siewirdkörperlich krank, zumin-dest einsam, depressoder innerlich leer.

Es ist dannganz natürlich, selbst nach Trium-phen keine Freude undZufriedenheit zu empfin-den,keine persönliche Er-füllung. Siegesfeiern imHause Graf könntenauchTrauerfeiern sein.

Deshalb ist beim TV-Talk auceine Frau zu beobachten, dieverle-gen wie ein junges Mädchen in dieletzte Ecke desSofas rutscht, kurzauf ihre Unterlippe beißt. Für eineMoment lächelt sie, ihre Augensind wach, und doch huscht eSchleier von Bedrückung, vonTrauer über dasGesicht. Der Mundist sekundenlang verbittert, udannwieder das rätselhafte Lächefreizugeben. Steffi lächelt sogarwenn sie über ihre körperlichen Bschwerden spricht.

„Ich gehe bis an meineGrenzen“,glaubt sie. Sie geht über ihreGren-zen.

Der Tennisprofi steckt volleSkepsis undMißtrauen, sie wirktdeshalb oftselbst im Erfolg wie einverletztes, gehetztesTier, das in dieEngegetrieben wird.

Tatsächlich ist Steffi Graf in ei-nem narzißtischen Netz gefangeaus dem ein Ausbrechen nurschwermöglich ist. Siekann sich nicht ein-fach von ihrem Vater abwendenwie das Gleichaltrige schon länggetan hätten. Ihre Tragödie ist:Dem familiärenBeziehungsgeflechkann die Tochter nur entkommewenn sie das väterlicheBild dergrandiosen Tennisspielerin zerstör

Eine Tochter,kein Vater.

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Graf-Penthouse in Heidelberg: „Immer ist einer hinter mir her“

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er zum Telefon. NachPeterGrafs Einschätzung war’s einvoller Erfolg: „Ich redete mitihm, als ob wir unsschon lan-ge kennen würden, und er wganz offensichtlich gansprachlos.“ Der Graf persön-lich.

Ähnlich wie der unglückli-che Konzern-Erbe FriedrichKarl Flick ruft er selbst nachtum drei Uhr Vertraute undweniger Vertraute an, erteiltWeisungen,schimpft: „Warumist heute wieder nichtsPositi-ves über die Steffi in derBild-Zeitung erschienen?“ Und aEnde stehtmeist der Satz, deer auch in aller Öffentlichkeitwie einen Peitschenhiebein-setzt: „Wofür bezahl’ ich dicheigentlich?“

Peter Graf kannzumachenwie ein Krokus. Nurselten er-laubt er Einblick insein Inne-res, räumtSchwächen ein. Alswürde der frühere Gebrauch

Partner Graf, Bartels: Für den Freund den ersten Krach mit dem Vater riskiert

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wagenhändlerahnen, daß es für dasganzgroße Geschäftnicht reicht, erkundigt esich dann nach einem Privatlehrer füEnglisch,Orthographie und Interpunkton, „damit meine Briefe besser werden

Ein solcherEmporkömmling ist keinMann für langfristige Strategien, kein„global player“ wie derlistigeTennisma-nager Ion Tiriac, der ausgekochteSpezia-listen fürsicharbeiten läßt. Nur so ist zerklären, daß derGraf-Clan auch guzweiMonatenach Beginn der Steueraffre noch kein Konzept zur eigenenRet-tung entwickelthat. Zwar gab es ein paagewundene Stellungnahmen. Hinweauf schwebendeVerfahren, vage Dro-hungen mit Konsequenzen auch.Aber aneinleuchtendenErklärungen für das, wapassiert ist, fehlt es nochimmer.

Freunde haben Peter Graf bedrängtder Steuersache „Steffi zuliebe alleSchuld“ aufsich zunehmen und so diDiskussion um ihreMitwisserschaft zubeenden; oderwenigstens den FinanzbhördeneinehoheNachzahlung anzubieten. DieFlucht nach vorn müsse jetzt agetreten werden.Steffi halte dasnichtmehr aus.

Doch Grafbliebstur. Er hatsichnichtsvorzuwerfen – wieimmer. Sein Mangean Selbsterkenntnis ist geradezu pathogisch. ZumGolfen drängte es ihnvorigeWoche nachAmerika.

Manchen erinnert der Kaufmann aden früheren schleswig-holsteinischeMinisterpräsidenten Uwe Barschel kuvor dessen Ehrenwort-Pressekonferedurchhalten,irgendwie, bis zum SiegEingebunkert saß erwochenlang insei-ner Festung, dem Mausoleum zu Brüinmitten seinerNappa-Kultur, und gewährte nurnoch Hofschranzen Audienzen.

Wer immer mitVertrauten desTennis-Grafs überSteffi und dieHintergründeder Familienaffäre spricht,macht diegleicheErfahrung: Manchemauern, andere sprechen – über denallmächtigenBoß und seinManagement by Chaos unüber das arme Mädchen, das vomall-mächtigenVater erdrückt werde.

Auffällig ist, daß dieFurcht vor demlangen Arm desPeter Grafimmer nochtief sitzt.FastalleInformantenverlangenAnonymität. Sicher ist sicher.Aber ausden Berichten aus dem innersten GrZirkel ergibt sich erstmals einziemlichgenauer Überblick über denAblauf desSteuerfallsGraf.

Früher einmal, Mitte derachtzigerJahre,sind die Grafs gute braveSteu-erzahler im Ländle gewesen. Dieklei-ne Steffi schlug mitihren ewig scharfenVorhänden zu: Sie warFinalistin inBerlin und Fort Lauderdale,stand imHalbfinale derU.S. Open. Dieerstenlukrativen Werbeverträge waren aucunter Dach und Fach. Vorbei dieZei-ten, als Vater Graf beiTurnieren nachpreisgünstigenHotelzimmern Ausschahalten mußte. Daszuständige Finanzamt in Schwetzingen kassierte imJahreine gute halbeMillion von Steffi.

Klar, daß der Graf-Clan das Gspräch mit Steuerexperten suchte. D

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Graf-Berater Schmitt (l.), Picciotto (r.), Clan-Chef Graf und Berater Eckardt mit

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BonnerSteueranwaltHansFlick wurdekonsultiert. Der damaligeHauptabtei-lungsleiterSteuern beim Deutschen Idustrie- und Handelstag hat in seinBranche einenNamen.

Damals war der Umweg über Holand und die Antillen bei Steuerfüchsen in Mode. IonTiriac, der ewige Ri-vale von Peter Graf, hatte eselegantvorgemacht.

Sein Schützling Boris Becker warAngestellter bei einer FirmaTivi B.V.in Amsterdam. Ti wieTiriac, Vi wieGuillermo Vilas, auch einalter Haude-gen. Tivi hatte einen sogenannten Unterlizenzvertrag mit einer Firma auden niederländischenAntillen. Boriszahlte 7,5Prozent Steuern.

So raffiniert war dieses Steuersparsstem, daß dasBundesfinanzministerium in einem vertraulichenVermerkauf vier Seiten eine „Falldarstellung“machte.Fazit: Bei Boris seialles legalzugegangen.

SteuerexperteFlick kannte das System Becker,aber es gabeinen ent-scheidenden Unterschied:Boris wohn-te in Monaco,Steffi ist deutsche Residentin und muß in Deutschland deFiskus geben, was desFiskus ist.Folg-lich war dasSteuersparmodell nicht zübertragen.

Flick soll damals vor „fiskalischenAbenteuern“ gewarnt haben. Er giltunter Steuerexperten alsdurchaus besonnen, nenntdeutsche Auslandshodings gern „Mausefallen“ und referierhäufiger über die „Schattenseiten deSteueroasen“.

Stets warnt er seine Klientel vor„laienhaft geplantenSchachzügen“ unzitiert einen schönen Spruch. InSteu-erparadiesen drohten „ErdbebenKommunisten, Küchenschaben,Kolo-nialbeamte, Skorpione, TropenfiebeSoziologen und Schlangen“.

Die Warnungen halfen nicht. ImFrühsommer1987 wurde im niederländischen Badhoevedorp die SunpaSports B.V. gegründet. Geburtshelfewar Peter Graf. Ebenso wieTivi denKollegen Becker sollte Sunpark Steffizu Werbezweckenvermarkten.

Fortan gab es imGraf-Reich mehrere Kassen, offizielle in Deutschlandgetarnte im Ausland. Werbeeinnahmwurden gesplittet, ein Großteil derSponsorengelder inzweistelliger Millio-nenhöhe wurde an Sunpark abge-zweigt. Von dort floß dasGeld auf dieBahamas.Dann verliert sich dieSpur.

Angestellte der Firma waren GraVertraute. Horst Schmitt war in denAnfängen von Sunpark dabei und v1988 an auch der amerikanische Vetraute vonSteffi, Philip de Picciotto.

Daß das großeGeld seinen Wegsucht, ist keine Grafsche ErfindunMilliarden werden kunstvoll inSchlupflöchern versteckt.Selbstmanch

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biederer Beamteversteckt Bares in Luxemburg vor dem Fiskus.

Doch bei Peter Grafklafft eine tiefeLücke zwischenAnspruch und Wirk-lichkeit. In jedesMikrofon, das ergrei-fen konnte, hatte derTennisvaterver-kündet, daß dieGraf-Firma „natürlichihre Steuern in Deutschlandzahlt“.Mark für Mark.

Selbst Profishaben dasgeglaubt. Fußball-Nationalspieler Lothar Matthäusbeispielsweise war über dieSteueraffäreGraf „bestürzt“. AusgerechnetSteffihabe eserwischt, die doch immer sstolz war, „Deutsche zusein“.

Kleinliche Zweifel haben Peter Granie geplagt. Der Selfmademan aus dProvinz erörterte Steuerangelegenheten mit einer Firma in Wiesbaden, dMattiacum GmbH. Wer die Sunpark-Nummer im Detailaustüftelte, ist nochBetriebsgeheimnis in Brühl. Feststeht,daß das Modell reichlich fiskalische

Mängel hatte. „Tiriac für Arme“ nen-nen es Kenner derSzene.

An Chuzpe undSelbstüberschätzunhat es Peter Grafallerdings nie gemangelt. Auch beim Umgang mit Behörden ist er reichlichforsch. Einer wie erverkehrt nur mit den ganz Großen:Box-Idol Max Schmeling oder Alt-BundespräsidentRichard vonWeizsäk-ker.

Sein Umgang mit den Finanzbehöden war nichtelegant, sonderneinfachnur dreist. VierJahrelang hat die Fir-ma Graf keine Steuererklärungabge-geben. Normal ist das nicht. Bei gwöhnlichen Steuerzahlernmahnt dasFinanzamt, dannschlägt es hart zu:Der Fiskus stellt Plausibilitätsrechnun-gen an und schätzt. Daswird sehr teu-er.

Handzahme Finanzbeamtesind soselten wie vegetarischeKrokodile, aberim Fall Graf waren alle gnädig. „Mehr

oder weniger“, sagt ein Graf-Mann,„haben wir die Höhe der Steuernselbstfestgesetzt.“

Das Steuersparsystem überHolland,die Gerüchte überschwarzeGelder wä-ren dennoch nie Themagewesen, wenPeter Grafnicht Peter Graf wäre.Dennder Fiskushattesich mit soeinemnichtanlegen wollen.

Endevorigen Jahres gab es mal Auklärungsbedarf. Bei einem Prozeß wren rätselhafteGeldströme an eineMittelsmann in derSchweiznicht zu er-klären. Außerdemtauchten Unterlageüber Verbindungen mit der SüdmilchHolland B.V. auf, von denen dieBeam-ten noch nie gehörthatten.

Der Flick-Kollege ProfessorHaraldSchaumburg, einExperte für InternationalesSteuerrecht,versuchte zu glätten –vergebens.

Im März diesesJahres fand eineSit-zung zwischenGraf-Beratern undSteu-

Was zahlenSteuersünder

in Baden-Württemberg? DasStraf-maß, sagt Rainer Kullen, einer derprofiliertesten Steuerstrafverteidigdes Landes, hänge im wesentlichenvon der Bereitschaft zurZusammenarbeit mit demFiskus ab. Kullen rät„sofort auf die Beamten zuzugehenund ständig dasGespräch zu suchen“.

Unter den Anwälten kursiert dieWeisheit, die der Kieler ProfessErich Samson bei Seminaren gewiederholt: „Wer ständig blockt,geht fünf oder sechs Jahre ins Gefängnis, wo andere mit Bewährungdavonkommen.“

Habe Steffi Graf zwar von derSunpark-Existenz, nichtaber vonden Finanztricksgewußt, fehle ihrwohl der zur TäterschaftnotwendigeVorsatz, sagt Kullen. Dann müßten

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Kinkel und Weizsäcker: „Weißt du eigentlich, wie bekannt ich bin?“

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erbeamten statt. Immernoch hättesichder Fall geräuschloserledigen lassen„Die waren brav“, schildert ein Graf-Mann das Verhalten der Beamten. Dnen sei schon „bewußt gewesen, daßum hochrangigeLeuteging“.

Doch dieStellungnahme zu den plötlich aufgetauchten Papieren aus dGrafschaftfiel dürftig aus. Keine ordentliche Erklärung, kein Angebot einerNachzahlung.SovielRenitenzlassensichSteuerfahnder denndoch nicht bieten.Die Familie Graf bekam einAktenzei-chen.

Aber was weiß Steffi von alledem?„Inzwischenmache ichnichtsmehr ohnedie Steffi“, hat derVaterschon vor siebeJahren getönt. „Sieweiß genau, wo eslanggeht.“ BeiVerträgen mitSponsorenspreche sie „ein Wörtchen“ mit.Heißtdas, daß sie dieverschlungenen Wegkannte, auf denen dieSponsorengelderund um den Globusgesteuert wurden

Auf Geschäftspapieren von Sunpafindet sich derJungmädelstempel„Ste-fanie Graf, Luftschiffring 8, 6835Brühl“. Angeblich hat sie, so steht eda, die Geschäftspost der holländischeKlitsche „gesehen und genehmigt“. Dtauchenseit letzter WocheZweifel auf,BeraterJoachimEckardtwill die Unter-schrift selbst geleistethaben – aber ersnachdem er denBrief seiner Chefin vorgelesen und die denInhalt genehmighatte.

Das beweist allenfalls, daß sie vSunpark wußte –aber noch nicht, daßsie auch in dieschmutzigen Tricks deVaterseingeweihtwar.

Jeder DTB-Funktionär,jeder Freundder Familie hält die Tennisspielerin onehin für unschuldig. „Sie ist sein Geschöpf und seinOpfer“, sagt ein Begleiter der Grafs.Selbständig sei „das Mädchen“ bisheutenicht – Steffi Graf, dieewigeTochter, nett,brav und harmlos.

Sie himmelte zügellose Profis wieJohn McEnroe an und stauntebereitsbei Schülerturnieren über den Teeager Boris Becker, der „unheimlicheSprüche“ klopfte und es wagte, adem Platz schon maleinen Ball mitdem Kopf zu spielen. Sieselbst abertraute sich nie sorecht. „Ausflippen“hieß für sie auch späternur, sich eineCD oder zwei Paar Ohrringezugleichzu kaufen.

Werbestrategen kultivierten dasGrafsche Image und machten das Pdukt „Made in Germany“ (Opel-Slo-gan) gleichsam zurParadetochter deNation.

Nach den Grundregeln desShowge-schäfts können dieBeziehungenzwi-schen Idol und Publikum aufzweierleiWeise funktionieren. Ein Exzentrikewie Becker scheint auszubrechen untut, wovon seine Anhänger nur zträumenwagen – ein Vorbild wieGraf

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aberbleibt bei den Fans und vermeidEskapaden. Selbst Steuertricks, sosieht esMaria Lietke von der Werbeagentur Lintas, bestätigen Steffi Grafnur in der Rolle als Volksvertreterin„Das wird in der Bevölkerung als eineArt Kavaliersdeliktgesehen.“

Nie verlor sie, wieBecker, nach einem glorreichen Siegbeim nächstenTurnier schon in der ersten Runde.Nie leistete siesich schillernde Liebesabenteuer. Undselten nur wehrte sisich gegen denstarkenVater. Ein zwi-schen den Zähnen herausgepreßte„Papa, nicht doch“ war lange die äußerste Form des Widerstandes.Erst alsPeter Graf ihren Freund, den Rennfahrer Michael Bartels, als „Weichling“bezeichnete, riskierte sie Krach mdem übermächtigen Vater – und zogins Heidelberger Penthouse.

So liegt einHauch vonTragik darin,daß die Weltranglistenerste ausgerenet jetzt, da sie in Paris und Wimbldon ihren Beruf erstmals und für ihVerhältnisse hemmungslos zu genießeschien, aus derBahn geworfen wird.„Diese Siege“, sagte dieFrau, diebis-her 92 Profiturniere gewann, „waremeine schönsten.“

Doch nun wähnt siesich wieder indie Enge getrieben – Mythenbildunim Hause Graf.Alles sei so wie damals während derSexaffäre, alsPeterGraf von Leuten aus demMilieu, demehemaligen Callgirl Nicole Meissnerund einem in der FrankfurterUnter-welt eindeutigbeleumundetenBoxpro-moter, um 800 000 Mark erpreßtwor-den war. Boulevardblätter hatten dieschlüpfrige Geschichte häppchenweiunters Volk gebracht. DaßSteffi daranschwertrug, warverständlich.

„Mir war vollkommen klar“, hat Pe-ter Graf vorvier Jahren beieiner Zeu-genvernehmung erklärt, „daß die Veöffentlichung derGeschichte MeissneGraf einen geradezu immensenScha-den für meine Tochter und meine Fmilie bedeuten würde und es mögli-cherweisedazu kommen könnte, daSteffi mit dem Tennis aufhörenwür-de.“

„Das hat mich zwei Jahre meineKarriere gekostet“, hatSteffi gesagt.„Ich werde nie aufhören, diese Leutezu hassen, die nur wegen der Auflaihrer Zeitungen meineFamilie zerstö-ren wollen.“

Ahnt sie, daß jetzt einandererdabeiist, ihre Karriere zu zerstören? Weißsie, daß derVater diesmal der Tätesein könnte?

Mitte vergangener Woche tagteBrühl wieder einmal der FamilienraFestgestelltwurde, daß die Grafs daAusmaß der Affäreunterschätzt hatten. Mit Verdrängen allein, das dämmert auch Stefanie MariaGraf, ist die-ser Misere nichtbeizukommen. Y

nur ihr Vater und die Berater mStrafenrechnen.

Der Strafkatalog im Ländlegilt alsgroßzügig – vorausgesetzt, der Steusünderzeigt tätigeReue undzahlt diehinterzogenen Steuern involler Höheschnellnach.

Bei einem Hinterziehungsbetrag bzu einerMillion Mark ist ein Strafbe-fehl über bis zu 360 Tagessätzen(berechnet nach dem Nettoeinkomen) denkbar. Biszwei MillionenMark hinterzogener Steuer ist noceine Bewährungsstrafe möglich, beibesonderen Umständen –wozu in Ba-den-Württembergaber nicht Abspra-chen mit Politikern gerechnet werde– sind dieGerichtesogar bis zur doppelten Summe nochgroßzügig.

Doch beieiner Steuerhinterziehunjenseits von vier MillionenMark, unddiese Größenordnung kann imFallGraf durchaus erreicht werden,sindsich alle Verteidiger einig: Dann seidie Chance, ohne Gefängnisdavonzu-kommen,„fast null“.

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Miklos Rosza, 88. Die Kamera kankeine Gedankenlesen – undwenn, invielen Filmen der „Schwarzen Serie

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das Publikum trotzdem etwas ahntevon der Düsterniin den Köpfen undvon den Schatteder Erinnerungdann hatten eipaar Rhythmen unAkkorde dafür gesorgt. Der Film-komponist Miklos

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Roszakonntemalen und zeichnen mInstrumenten, und seine Melodienfüllten nicht bloß die Hintergründeaus. Seine Tonleitern stützten oft genug die Pappmache´-Kulissen inHisto-rienfilmen wie „Ben Hur“ oder „QuoVadis“; seinsparsamerStil, der Disso-nanzennicht scheute, gab den „Filmsnoirs“ von Billy Wilder und Jules Dassin, John Huston und RobertSiodmakden Rhythmus vor. Rosza kam aus Bdapest, studierte inLeipzig undfeierteseineersten Erfolge als KomponistParis. 1940 ging er nach Hollywood,das ihn für seinGenie undseinen Fleißmit drei Oscarsbelohnte.Miklos Ro-sza starb vergangenen DonnerstagLos Angeles.

Ryoichi Sasakawa, 96. Sichselbst be-zeichnete er als „den reichstenFaschi-sten der Welt“. Aus einerFamiliewohlhabender Sake-Brauer stam-mend, gründete der Japaner1931seine

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eigene „PatriotischVolksmassen-Ar-

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kriegsverbrecherins GefängnisKaum aus der Hafentlassen, statte

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ihn die Regierung mit dem Monopfür Motorbootrennen aus, imwett-süchtigenJapan wieeine Lizenz zumGelddrucken. Dieletzten Jahregefielsich Sasakawa als mächtiger Philathrop, der übereine Stiftung jährlichfasteineMilliarde Mark nachGutdün-ken in der ganzen Welt verteiltRyoichi Sasakawastarb am 18.Julinach einem Herzinfarkt in Tokio.

George Rodger, 87. Er war der erstFotograf, der nach der Befreiundurch die britische Armee am 15April 1945 das KonzentrationslageBergen-Belsen betrat. Das einzige,woran er im Angesicht der Leichenbergedenken konnte, war die Fragwie er die Toten in einer schönenKomposition ablichten könnte. Überseine abgestumpfteHaltung war er soerschrocken, daß er beschloß, niewie-

nder Kriegsaufnahmen zumachen. ImAuftrag der BildagenturMagnum, dieer 1947 mit gegründet hatte,widme-te sich der begeisterteGlobetrotterseinem Lieblingskontinent Afrika.Rodgers romantischeVision desKon-tinents kam besonders in seinen Aunahmen von denRingkämpfern deNuba zum Ausdruck. Die Erfahrunder äußersten Barbarei inEuropa undspäter die Begegnung mit denfriedli-chen, „edlen Wilden“ wurden vomGuardian als „geopolitischeIronie ei-nes Fotografenlebens“ gewerteGeorge Rodger starb vergangeneMontag in seinemHaus in derengli-schen GrafschaftKent.

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Peter Busse, 59, bisher Grundsatzreferent in der Sportabteilung dBundesinnenministeriums,wird neu-er Vize-Chef derStasi-Aktenbehörde.Der Leiter der Behörde, JoachimGauck, hatte zunächstKandidaten ausdem Hause des CDU-MannesMan-fred Kanther alsmutmaßliche Aufpasser abgelehnt, in einemGespräch miBusse aber wurdenseine Bedenkenzerstreut: Gaucks künftiger Stellver-treter arbeitete früher alswissenschaftlicher Mitarbeiter bei demprogressi-ven ehemaligen Bundesverfassunrichter Helmut Simon und später alBüroleiter des FDP-InnenministeGerhart Baum.

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Serienstatisten Diepgen, Thoma

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CDU-Plakat mit Junge-Union-Aushang

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ichael Vesper, 43, Grünen-BauMminister in derneuennordrhein-westfälischen Landesregierung,ver-blüffte zum Amtsantritt seine neuenMitarbeiter. Statt wie üblich Abtei-lungs- und Gruppenleiter umsich zuversammeln, tauchte Vesper unerwtet in den Büros seinerBeamten aufDer Besuch sorgte fürbeträchtlicheAufregung imHause. EinGruppenlei-ter: „Von acht Ministern, die ich erlebhabe, ist HerrVesper der erste, demein Büro kennt.“ Nach diesem Einstand wurde dem grünen Chef auchdem FußballfeldOmnipräsenz abverlangt. Vesperhatte um Aufnahme idie hauseigene Fußballmannschaft uVerwendung auf „halblinker Positiongebeten. Beim erstenTraining amMittwoch vergangener Woche im Düseldorfer Rheinstadion reichte esaberwegen urlaubsbedingterAusdünnungnur zu einemSpiel sechsgegen sechsVesper: „Da muß man ebenrechts undlinks, vorne und hinten ackern.“

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olker Rühe, 52,Vdeutscher Verteidigungsminister, beweist Flexibilität in Sa-chen politischer Mo-ral. Mit Aplomb hatteer noch Anfang deJahres seinenMos-kauerKollegen PaweGratschow von eineoffiziellen Reise nachDeutschlandausgela-den. GratschowhatteKritiker des Militär-einsatzes verhöhntund herumposaunseine Soldaten stüben mit einem Lä

cheln. Als die beiden nun amRande derLondoner Bosnien-Konferenzzusam-mentrafen, sprach Rühe Tschetschnien mit keinemWort an. Auch Gra-tschow überging dasThema.Jetztwillsich Rühe mit demRussennicht nur imNovember erneuttreffen, sondernsiehtin ihm gar einen potentiellen Friedenstifter auf demBalkan. Gratschow sevielleicht der einzige,verteidigte sichRühe letzteWoche, auf den derSerben-GeneralRatkoMladic noch höre.

lizabeth Hurley, 29, be-E trogene Immer-nochFreundin des Schauspielers Hugh Grant, stehtHollywoods berühmte-stem Freier innichtsnach,wenn es um oralen Segeht. Originalton Hurley„Sie machteseineHose aufund nahm ihn heraus, Zentimeter für Zentimeter“und weiter: „Er fühltesichan wie ein Knüppel, 25Zentimeter verpackt inweichem rosaSamt, diesich von seinenbehaartenSchenkeln erhoben. Siebeugte sich hinunter, umihn zu küssen . . .“ Die direkten Worte der schöneLiz sind aufeiner Kassettezu hören, die voneinerenglischen Zeitschrift verschenktwurde. DieSchau-spielerin liest darauf ausdem Roman „Ambition“der Popschriftstellerin Julie Burchill und offenbartdamit auch, daß sie imGrunde auf Hughs Fehl-tritt gefaßtwar. DasLese-abenteuerbeginnt mit denWorten: „Die Männer waren so leicht zu durchschauen, sie stehenalle aufOralsex . . .“

berhard Diepgen, 53, RegierendeEBürgermeister von Berlin, undHel-mut Thoma, 56, RTL-Chef,versuchtensich als Teenie-Idole. In der für Jugendliche konzipierten RTL-Vor-abendserie „Gute Zeiten, schlechteZeiten“ saßen die beiden Statistender Folge, die am vergangenen Miwochgesendet wurde, dekorativ in dKneipe herum, schlürften Bier undbrachen schließlich wie zwei kleineMädchen in Kichern aus. Diepgen gnoß sein Schauspiel,auch wenn ediesmal noch nicht zueinerSprechrol-le reichte: „Es hat mir sehrviel Spaßgemacht,zumal die Schauspielerei undie Politik sehr nah beieinandeliegen.“ Für dieZukunft hat ersich al-lerdings Gewaltiges vorgenommen„Nächstes Mal möchte ich eine größere Rolle.“ Und dannwird ihm viel-leicht sogar dasVergnügenvergönntsein, sich im Abspann lesen zu können.

erhard Birkenstock, 29, Vorsitzen-G der der Jungen Union in derhessi-schen KleinstadtErlensee, deckte zufällig auf, warum es der CDU anNach-wuchsfehlt: Die Alten wisseneinfachnicht, was die Jugendwirklich bewegt.Während Birkenstock auf der Suchnach Zuwachs für seinenpolitischenVerein auf dieLustlosigkeit der jungenGenerationsetzte („Hastauch du vomThema Sex dieNasevoll?“), klemmtedie Mutterpartei unbeeindruckt e

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rince Charles, 46, um-Pweltbewußter britischeThronfolger, hat zur Akti-on Sorgengemüse aufgerfen: Der leidenschaftlicheHobby-Gärtner, derseinePflanzen zuweilen auchmit menschlicherAnspra-che verwöhnt, appelliertean seineLandsleute, Patenschaften fürbedrohteGemüsearten zu übernemen. Rund 700 Artensei-en durchneuen BrüsselerReglementierungseifer iakute Gefahr geraten: M

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dem Überleben kämpften etwa d„Gelbe Boothby-Gurke“, die „WeißeWindsor-Bohne“ und die „Rote Wie-sen-Karotte“, warnte der blaublütigeUmweltschützer. DerGrund seien diehohen Gebühren,welche die Samenhändler bei der Anmeldung jeder neen Saatvariante denzuständigen EU

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Behörden entrichten müßten. OhneAnmeldung abergibt eskeineSubven-tionen aus Brüssel. Schon sindHun-dertemitfühlender Briten dem Aufruihres Prinzen nachgekommen. Szahlten dem britischen Forschungsvein „Henry Doubleday“ihren Tribut –27 Mark Mindestspende –, damit sauch morgen noch gutenGewissens indie Gurkebeißen können.

ichael Jackson, 36, men-M schenscheuer Popstar,sucht Anschluß übersInternet:Der Sänger, dersichbisher nuräußerst selten denneugierigenFragen der Öffentlichkeit aus-setzte,will sich am 17.Augustseinen Fans stellen – ineinerweltweit über denMusiksenderMTV ausgestrahlten Fragestunde. Aber auch diesmameidet der Sänger, der fürsei-ne Berührungsängstebekanntist, die direkte Begegnung; ewird die Verbindung zu seinemeist jugendlichenVerehrernonline über die dreiDiensteCompuserve, Prodigy, Amerca Online, aberauch über In-

ternet ChatRelay knüpfen. Jacksoüber die außergewöhnlicheKontakt-aufnahme: „So direkt mit Leuten runum den Globus kommunizieren zkönnen, dasfinde ich sehraufregend.“Ob er bereit ist, sich wirkliche Ge-heimnisseentlocken zulassen undsei-ne Antworten eigenhändig in denComputer zu tippen, darüberschwiegsich derMegastar aus.

adhu Sapre undMMilind Soman,Fotomodelle aus Indien und privat einLiebespaar, zeigtensich ungewöhnlichsportlich und sorgtendamit in ihrem Hei-matland für großenAufruhr. Wie Adamund Eva warben siebekleidet nur mit ei-ner Schlange um deHals und Turnschuhen an den Füßenfür einen Sportbekleidungshersteller.

Allerdings nicht lan-ge. Die indische Regierung verbot dieZeitschriften-Anzei-ge und ließ Polizeitrupps ausschwärmen, die Bombaynach Exemplaren deMagazins Cine Blitzabsuchten. Die öffentlichen Nackten –bisher eine seltenErscheinung in de

indischen Presse – verstießen gegtraditionelle Werte, erklärten die Be-hörden. DasposierendePaar bereuteseinen hohen körperlichen Einsatzaber nicht: „Selbstverständlich haSensationsmache ihreGrenzen, abeich glaube nicht, daß wir diese übeschrittenhaben“,sagteSoman.

Plakat hinter seinen Aushang, dasjunges Familienglück preist. Voll amTrend vorbei. Allerdingsscheint die AbstinenzStrategie der Parteijugenin dem 12 000-Seelen-Owirklich überdenkenswert: Ganze 7aktive Mit-glieder kann Birkenstockverzeichnen, seineWerbe-aktion brachte nur eineNeuzugang.

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Mina-Darstellerin Choudhury

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15 .03 – 16 .00 U h r A R D

Die Leihmutter

Die erstebrasilianischeTelenovela imdeutschen Fernsehen rührte 1986Mil-lionen zu Tränen – wegen des traurigSchicksals der „SklavinIsaura“ und detraurigen Schauspielerleistungen. Wnachmittags in derersten Reihesitzt,wird mit einer neuen Telenovela bestraft. „Leihmutter“ Clara soll für20 000 Dollar ein Kind austragen. DSchwangerschaft, in derClara starkeMuttergefühle entwickelt, ist die längste der TV-Geschichte: 80 Folgen.

20 .40 – 22 .35 U h rA r t e

Mississippi Masala

Die junge indische RegisseurinMiraNair schildert dasvertrackte Zusam

78 DER SPIEGEL 31/1995

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menleben zwischen Afro-Amerika-nern und Indern, die1972 nach IdiAmins Machtübernahme aus Ugandin die Vereinigten Staatengeflohenwaren.Dort verliebt sich Mina (Sarita

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Choudhury) 18 Jahre spätin den schwarzen TeppichrenigungsunternehmerDeme-trius (Denzel Washington)„Masala“ ist derNameeinerscharfen Gewürzmischunder Film (USA 1991) einebildpralle satirischeAbrech-nung mit schwelendem Rasismus.

0 . 5 0 – 2 . 3 0 U h r A R D

Harry mit den langenFingern

Die zweiEdelganoven Harryund Caseyhaben es mit Taschendiebstahl zu Wohlstan

gebracht und widmensich derBerufs-ausbildung. Ein junges Pärchen zeigtsich sehr gelehrig, dochHarry kannseine langen Finger nicht von deweiblichenAzubi lassen (USA1973).

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D I E N S T A G 1 . 8 . ,

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13 .45 – 15 .10 U h r Z D F

Marina

Bei Tag und Nacht denk’ ich an dicMarina, dukleine zauberhafteBalleri-na . . . und wie ich frage: Lieblingwillst du mein sein, gab sie mir eineKuß, und dashieß ja. Doch erst malmuß Marina in Rioaufgespürtwerden,wofür Vater Teddy Stauffer 10 00Mark versprochenhat. Junge Musikemachensich ansWerk und träumen„Wunderbares Mädchen, baldsind wirein Pärchen. Komm und laßmich niealleine, oh no, no, no, no, no.“

21 .15 – 21 .45 U h rW e s t I I I

Reporter

Der BonnerJournalist Heinz Suhr haim Regierungsviertelrund zwei Dut-zend Sommerfeste besucht.Dort wer-den außerhalb des Parlamentspoliti-sche Entscheidungen angeschobeAus seinen „Streifzügen durch dasBonner Lobbydrom“wurde derFilm„Steter Tropfenbewegt den Schein“.

22 .30 – 0 .40 U h r 3Sa t

Kleine Fluchten

Das ersteBild zeigt einen Misthaufender breit undsaftig in derSonne dün-

stet. Dort arbeitet der alte KnechPipe (Michel Robin), mit SchubkarreForke und krummem Rücken.Jahr-zehnteseinesLebens hat ernichts an-deres getan.Doch dann verändert eiMoped seinLebenganzentscheidendEine völlig neueWelt tut sich vor ihmauf, er fliegt und fährt und verliertwegen Trunkenheit seinen Führerschein, dochsein erfrischtesDasein istnicht mehr zu bremsen. DerFilm(Schweiz 1979,Regie: Yves Yersin)läßt den alten Knecht zumUmstürzlerwerden, der inseliger Einfalt so tut,als könnte man,wenn man bloßwill,mitten im falschen ein richtigesLebenbeginnen.

M I T T W O C H 2 . 8 .

sodie im August“

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20 .15 – 21 .44 U h r A R D

Spion in Schwarz

Pater Pietro (Iain Glen) wird vom Va-tikan 1974 in geheimerMission nachKiew geschickt undentkommt demfie-sen KGB-Major Dadyko (MarioAdorf) nur knapp. Acht Jahre spätmuß der päpstliche Spion wieder in dUkraine undsoll einen falschen Priesterenttarnen, der ein Attentat auf enen hohenkirchlichen Würdenträgeplant. Derzweite Teil desKatholiken-Thrillers (Deutschland/Italien 1994)läuft am Sonntag um20.45Uhr.

21 .05 – 21 .45 U h r Z D F

Gesundheitsmagazin Praxis

Nach Schätzungen von Gerichtsmezinern werden in Deutschlandjährlich250 Tötungsdelikte und4000 andere

unnatürliche Todesfälle nichentdeckt, weil Staatsanwältüberlastetsind undimmer we-niger Obduktionen anordnen„Praxis“ porträtiert Fachärztedie wenig zulachen und nichtzu heilenhaben.

23 .00 – 0 .30 U h r A R D

Rhapsodie im August

Akira Kurosawa sagt, dieseFilm sei ein Film übereine Fa-milie. Die Amerikanersagender Film sei nationalistiscund geschichtsgeklittert. Woin sich mal wieder zeigt, daß

Ost und West aneinander vorbeiredund daß Amerikanerungeeignet fürstille Filme sind. Die „Rhapsodie imAugust“ ranktsich um denAtombom-benabwurf auf Nagasaki und kam1991in die Kinos, als in den USA zum 50Mal Pearl Harbors gedacht wurde,

welches wiederum im Film gar nichtvorkommt. Entsetzen in der NeueWelt! Dabei erzähltKurosawa hierlei-se und unspektakulär Geschichte, elangeiner alten Augenzeugin und ihrEnkel. Mit Bildern, die vorallem vondem leben, was sienicht zeigen.

F E R N S E H E N

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D O N N E R S T A G 3 . 8 .

Riva, Okada

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Szenenfoto aus „Lola Montez“

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21 .00 – 21 .45 U h r A R D

Monitor

Die WDR-Reporter habensich mitfolgenden Themen beschäftigt: Bun-deswehr gegen Bosnien;Stromgigan-ten gegen Solarenergie;Parkkrallengegen Steuerschuldner.Außerdem imMagazin: Jahre danach –Jugendlichein Rostock und Geheimpläne der Budesliga.

22 .15 – 23 .15 U h r Z D F

Doppelpunkt

Du sollstVater und Mutter ehren, audaß es dir wohlergehe und dulange le-best aufErden. Dasvierte Gebotgehtnicht mehr auf: Immer mehr Rentneschaukeln in der sozialen Hängemattewährendimmer weniger jungeArbeit-nehmer für sieschuften und nicht einmal mehrgenugZeit undKraft haben,mit Nachwuchs die eigenenRenten zusichern.ModeratorinSusanne Herwiläßt Jung und Alt über den Generatnenvertrag streiten.

22 .30 – 24 .00 U h r 3Sa t

Hiroschima – mon amour

„Ich bitte dich, verbrennemich, ent-stelle mich bis zur Häßlichkeit!“ MidiesenWorten beginnt ein Liebesfilmder in Hiroschima spielt, wohin einFranzösin (Emmanuelle Riva) z

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Dreharbeiten füreinenAntikriegsfilmgekommenist. Sie gibtsich einem Ja-paner(Eiji Okada)hin, nur einen Tagund eine Nacht, doch jeneekstatischenStunden in der Stadt, in der 130 0Menschen durch dieAtombombestar-ben, rufen die Vergangenheit wiedewach: Die Frau erinnertsich an ihreverbotene Liebe zu einem deutschBesatzer. Lakonisch erzählt AlaResnais die Geschichte von Liebe u

Leid, von gestern undheute. Allesdreht sich, allesbewegt sich,alles ver-mischt sich: Einliterarischer Film übedie Nähe von Eros und Tod.

0 . 1 5 – 2 . 0 5 U h r Z D F

Lola Montez

Wie viele Frauen habenwohl folgendeVita: Erst Tänzerin,dann Geliebte eines Bayernkönigs, schließlichamerika-nisches Zirkusmonster; als I-Tüpfel-chen eine Affäre mit einem berühmten

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Komponisten wie FranzLiszt undeineEhe mit dem Liebhaber der eigenMutter. Wahrscheinlich nureine, näm-lich die Königin des Skandals, LolaMontez. Ob dasalles wahr ist odernicht, ist eigentlich egal. Schillerndwar LolasLeben in derMitte des 19.Jahrhunderts allemal, und in MaxOphüls’ Epos von1955 ganz besonders. Farbenprächtig und chaotisch inszenierte der Saarländer seinen Film,reich gespickt mit verschachtelteRückblenden, diesein Produzent of-fenbarnicht verstand und deshalbhin-ter Ophüls’ Rücken eine 25 Minutekürzere und chronologische Fassunanfertigen ließ.

F R E I T A G 4 . 8 .

„Polyester“-Darsteller Tab Hunter, Divine

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20 .10 – 22 .05 U h r V o x

Backbeat

Die Beatleserobern Hamburg.Stuartverliebtsich inAstrid. Johnsieht eifer-süchtig zu. EinDenkmal für den fünften Beatle StuartSutcliffe, der kurznach seinerTrennung von der Banmit 22 Jahren an Gehirnblutung star

21 .55 – 23 .15 U h r R T L 2

Eating Raoul

Viele Ehejahrespielten Sex undGeldkeine Rolle imLeben vonPaul (PauBartel) und Mary (Mary Woronov)Doch mit einer gußeisernen Bratpfane und einem reichen Lustmolch, din ihre Wohnung dringt, ändertsich al-les: Von nun anwerden perverse Kunden per Anzeige in die Wohnung glockt, doch stattsexueller Ausschwefungen gibt es nureinen tödlichenSchlag mit derPfanne. Ihr Geldwan-dert aufs Konto, die Leichen in denMüllschlucker. Als derdurchtriebene

Mexikaner Raoul dem florierendenFamilienbetrieb auf die Schlichekommt, bleibt der Müllschluckerleer,und „Mitesser“ Raoul verdient sichseine Brötchen als Lieferant von„DoggiesHundefutterfabrik“.

21 .50 – 23 .50 Prem ie re

True Romance

„Pulp Fiction“-RegisseurQuentin Ta-rantino hatsichauch schon vor seinemjüngsten Kinoerfolg mit den schöneDingen des Lebensbeschäftigt. AlsDrehbuchautor von „True Romance(USA 1993)beschert er seinenHeldenClarence (Christian Slater) und Alabma (Patricia Arquette) jede MengeSex und Kokain,wilde Ballereien undein hemmungslos überzogenesHappy-End.

0 . 3 5 – 1 . 5 5 U h r Z D F

Polyester

Als „Apostel des schlechten Geschmacks“bezeichnete derGuardianden US-RegisseurJohn Waters, als de

1982auch noch den schlechtenGeruchins Kino brachte. Zuseinem FamilienMelodram „Polyester“ erhielt jedeKinobesucher einePappkarte mitzehnRiechfeldern. Gemeinsam mit Divindem dicksten Transvestiten derWelt,konnte sich der Zuschauer durch diHandlungschnüffeln, diesich deshalbvorwiegend mitToiletten, Achselhöhlen und Pornokinos beschäftigt.„Wenn dasPublikum auf den Teppickotzt, ist das auch eineForm vonBei-fall“, so John Waters.

3 1 . J u l i b i s 6 . A u g u s t 1 9 9 5

179DER SPIEGEL 31/1995

Page 180: DER SPIEGEL Jahrgang 1995 Heft 31

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F E R N S E H E N

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S A M S T A G 5 . 8 .

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9 .30 – 11 .15 U h r Sa t 1

Unternehmen Petticoat

Eine Frau an Bordbringt immer Un-glück über dieBesatzung;fünf schiff-

Szenenfoto aus „Unternehmen Petticoat“

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Bomben-Opfer

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brüchigeKrankenschwestern anBordeinesU-Bootes machensogar aus demZweitenWeltkrieg im SüdchinesischeMeer eine Komödie – vorausgesetBlake Edwards („Der rosarote Pather“) führt Regie.

20 .15 – 22 .25 U h r R T L

Der weiße Hai

An den amerikanischen Küsten leertsich 1975 die Strände, in denKinossprangen dieLeute vor Entsetzen audie Stühle, diehysterischenAmerika-ner hatteneinenneuenVolksfeind undließen dafür in den ersten drei Woch

80 DER SPIEGEL 31/1995

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50 Millionen Dollar in den Kinokassenklingeln – und das alleswegen eineranderthalb Tonnenschweren Fisch-maul-Attrappe ausStahl und Plastikund einem damals gerade 27Jahre al-ten Regisseur, der feststellte, daßsichmit Monsternviel Geld verdienen läß

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und sich Steven Spielbergnannte.

0 . 5 0 – 3 . 3 0 U h r R T L 2

Die letzte VersuchungChristi

Ein eifernder US-Evangeliswollte den Film (USA1988)samt aller Kopien für zehnMillionen Dollar kaufen, umdas Teufelswerk zu vernichten. Doch Universal lehntemit Hinweis auf die Verfassung ab.Dabei räumt der angebliche Skandalfilm nur mider unterChristenweit ver-

breiteten Vorstellung auf, Erlösungkönne ausschließlich über den Todlangtwerden. In MartinScorseses Film(nach demRoman vonNikos Kazan-tzakis) geht die gemeine Geschichvon Golgatha viel lebensbejahendeweiter als in der Bibel: Jesus steigt voKreuz herab undliebt sich mit MariaMagdalena, spätersogar noch mit Maria und Martha, undfreut sich aneinerrasch wachsenden Kinderschar.Erstals alterMann durchschaut er dieletz-te Versuchung des Teufels und stirmit einem seligen Lächelndoch nocham Kreuz.Scorsese: „Mein ersterFilmmit Happy-End.“

S O N N T A G 6 . 8 .

shall, Lee

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20 .15 – 23 .20 U h r P rem ie re

Short Cuts

Dreimal wird es Nacht in Los Angeles, und wenn der letzte Tag dFilms anbricht, werden vier Men-schen tot sein,einige Ehen einenKnacks mehr und zwei Paare einenmächtigen Kater haben. Bevor es„Short Cuts“ gab, galten die traurigen Kurzgeschichten vonRaymondCarver in Hollywood alsunverfilm-bar. Robert Altman hateinfach eineHandvoll davon genommen und szu einer dreistündigen Geschichüber die beiläufigeGrausamkeit deAlltags verwoben.

23 .55 – 2 .05 U h r P r oS i e b e n

Twin Peaks – Der Film

Bis auf die schönste Wasserleiche dFilmgeschichte (Sheryl Lee) ist iSpielfilm zur Kultserie wenig übrigge-

blieben. Regisseur DavidLynch zeigtdie sieben letzten Tage derLaura Pal-mer – einen Schulmädchen-Reporüber Inzest,Mord und käufliche Lie-be.

DIENSTAG

23 .00 – 23 .30 U h r Sa t 1

SPIEGEL TV REPORTAGE

Vor 50 Jahren warfen US-FlugzeugeAtombomben über Hiroschima und Na-gasaki ab. Berichte über die Auswirkun-gen der Bomben unterlagen ab dem 12.September 1945 der Pressezensur. An-fang Januar 1946 reiste ein Team im Auf-trag der U. S. Strategic Bombing Surveyin den Süden Japans, um die Auswirkun-gen auf Zelluloid festzuhalten. SPIEGEL-TV-Autor Michael Kloft hat die einzigarti-gen Filmdokumente aus dem Nationalar-chiv in Washington ausgewertet.

MITTWOCH21 .55 – 22 .45 U h r V o x

SPIEGEL TV THEMAStierhatz in Pamplona. SPIEGEL TV THE-MA berichtet über sieben Tage Ausnah-mezustand in der spanischen Provinz.

FREITAG22 .05 – 22 .40 U h r V o x

SPIEGEL TV INTERVIEWBis vor vier Jahren war Rene Ehrsam Ma-nager in der Schweiz – mit allen Attribu-ten des Erfolgs: hübsches Haus, hüb-sche Frau, nette Kinder. Dann stieg eraus und bekannte sich zu seiner Homo-sexualität. Heute lebt Ehrsam, HIV-posi-tiv, in Amsterdam.

SAMSTAG21 .45 – 23 .35 U h r V o x

SPIEGEL TV SPECIALWelche Farbe hat der Krieg? Japan nachHiroschima. Langfassung der Reportagevom 1. August.

SONNTAG22 .00 – 22 .40 U h r R T L

SPIEGEL TV MAGAZINAn der Welt verzweifelt – der Selbstmordeines Europaabgeordneten / Duell amMissouri – Streit um die Gebeine des Jes-se James/Männchen machen für Millio-nen – Tiere in der Werbung.

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Werbeseite

Werbeseite

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H O H L S P I E G E L R Ü C K S P I E G E L

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Aus der Frankfurter Allgemeinen:„Keine geringe Leistung des1963 ge-borenen, damals 23Jahre alten Jun-gen, der jetzt, mit 30, zu der Handvopolitischer Größen seines Landeszählt.“

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Aus der Trierer Stadt-Zeitung: „Wasnicht weiter verwunderlich wäre,dennmit der Schließung derUS-Air-BaseBitburg halbierte sich die Zahl deramerikanischen Jagdbomberrund umTrier nahezu um die Hälfte.“

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Aus einer Einladung zum Schützenfeder Schützenbruderschaft Brühl

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Aus dem Donau Kurier: „Insgesamtsterben laut S. im BundesgebietHerzinfarkt undSchlaganfallmehrFrau-en als insgesamtMenschen an Krebs.“

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Aus demHandelsblatt: „Dieses Krank-heitsbild könnte jedoch wieder aufblühen,wenn einerseits natürlich die hygie-nischen Verhältnisse nachlassen unwenn andererseitsvorgeschädigte Personen wie z. B. Aidskranke undSchwan-gere von dem Parasiten befallenwer-den.“

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Hinweisschild aneiner Flohmarkthallein Neustadt/Holstein

182 DER SPIEGEL 31/1995

Der SPIEGEL berichtete . . .. . . in Nr. 26/1995 KIOSK – STEHLINGSSCHWARZE STUNDE über den überra-schenden Abgang des stellvertretendenNDR-Intendanten Thomas Bernd Steh-ling, der am 23. Juni der vorzeitigen Auf-lösung seines Vertrages zugestimmt hat-te. Ihm war intern ein Vertrag, den seineFrau zwischen 1985 und 1987 mit derWerbetochter des NDR hatte, zum Vor-wurf gemacht worden.

Stehlingwill gegen denVertrag über dieAufl ösung seines bisAnfang1997laufen-den Beschäftigungsverhältnissesklagen,weil sich der NDRnicht an das verabredeteStillschweigen über dieHintergrün-de seines Weggangsgehaltenhabe.SeinAnwalt stuft denVertrag als„sittenwidri-ges Geschäft“ ein;falls Stehling denRechtsstreit gewinne, stehe ihm für dentgangene Einkommen und dieverlore-nen Versorgungsansprüche eine Gesumme „im Millionenbereich“ zu. DeNDR erklärt,Stehling wolle „vom eigenen Fehlverhalten ablenken“.Vorsorg-lich sprach der Verwaltungsrat vergangne Woche einefristlose Kündigungaus.In einemBrief an dieRundfunkräte deNDR erklärt die Vorsitzende des Gremums, Sabine-AlmutAuerbach, der damaligeIntendantenreferentStehling ha-be 1985 ein „Hilfsangebot“ des früherenNDR-Werbemanagers RalfStolberg an-genommen. Eine vereinbarteScheinbe-ratung mit der Werbetochter desSendershabeStehlingsFrau ein Gesamthonoravon 140 220 Mark gebracht. AndiesemMontag tritt der Rundfunkrat wegenStehling zueiner Sondersitzung zusammen.

. . . in Nr. 49/1994, Nr. 5/1995 und Nr.22/1995 ÄRZTE – KANINCHEN AUS DEMHUT über den Versuch der HamburgerGesundheitsbehörde, den ihr mißliebi-gen Chefarzt Professor Manfred Dietrich,57, aus seinem Amt zu entfernen.

Im Zugeeiner „zielgerichteten Abschiebe-Kampagne“ (Hamburger Abend-blatt) hatte die Behörde denrenommier-ten Mediziner für den Tod von fünf Malaria-Patienten verantwortlich gemacund ihm während derletzten acht Monate dreimal fristlos gekündigt. LetztenMittwoch obsiegte der Klinikchef deTropeninstituts auch im dritten Kündi-gungsverfahren. Die Vorwürfe gegen ihseienunbegründet, entschied dasHam-burger Arbeitsgericht und verurteilte dBehörde „zur WeiterbeschäftigungDiet-richs inseiner bisherigenFunktion“. EinVergleichsangebot der Behörde – 1Millionen Mark Abfindung sowie dieEinrichtung einerPrivatpraxis im Tro-peninstitut –hatteDietrich abgelehnt.