Der Kontext Lebensmittel als Rahmen zur Vermittlung einer naturwissenschaftlichen Grundbildung und chemischer Konzepte Prof. Dr. Verena Pietzner Universität Oldenburg 22.02.2017
Der Kontext Lebensmittel als Rahmen zur Vermittlung einer
naturwissenschaftlichen Grundbildung und chemischer Konzepte
Prof. Dr. Verena PietznerUniversität Oldenburg
22.02.2017
Gliederung
• Scientific Literacy
• Curriculare Innovation am Beispiel Lebensmittel– Pilze– Riboflavin– Sensorik
• Fazit
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Scientific Literacy –naturwissenschaftliche Grundbildung
• naturwissenschaftliches Wissen anwenden,• naturwissenschaftliche Fragen erkennen, • und aus Belegen Schlussfolgerungen ziehen, • um Entscheidungen zu verstehen und zu treffen, • welche die natürliche Welt und die durch menschliches
Handeln an ihr vorgenommenen Veränderungen betreffen.
PISA 2000
3
Sachen zum Lachen!?
4
nur Butter- alles andere ist C H E M I E !!
Selbst in den Bioprodukten mit wenigen künstlichen Aromen und Zusatzstoffen ist
zumindest Fett und Zucker dabei.
Woran erkenne ich, ob Calciumcarbonat mit Gentechnik hergestellt wurde?
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Inhaltsstoffe:Majorkomponenten,Minorkomponenten,Zusatzstoffe…
Qualität/Sicherheit:Herkunftsnachweise,(Rückstands-)AnalytikBio = besser?
Hygiene
Gesellschaft:Gesund/ungesund,Vorstellungen,Einstellungen
Produktion:Produktionszusätze,(Bio-)technologie,Nachhaltigkeit
WarenkundeSensorik
Lebensmittelchemie im Chemieunterricht
• Verknüpfung von Basiskonzepten u. Kompetenzbereichen- Alltagsnah- Verbindung mehrerer chemischer Teildisziplinen- Interdisziplinär (Mathe, Biologie, Physik, Technik, Ethik,…)- Lebensmittelbiotechnologie als bedeutende Technologie sichtbar
machen
• Beispiele:- Pilze- Riboflavin- Sensorik
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Grundlegendes zu Pilzen
• Pilze sind weder Pflanzen nochTiere– Keine Chloroplasten
• Kulturchampignon (Agaricus bisporus) und Austernseitling (Pleurotus ostreatus)– Basidiomyceten (Ständerpilze): Sporenständer auf den
Lamellen
Experimentübersicht
• Eingesetzte Rohstoffe (alle Experimente)– Frische Frucht, getrocknete Frucht,
Pilzasche, Pilzextrakt, Mycelextrakt
• Sek. I: Nachweise (pos./neg.):– Stärke, Glucose, Cellulose– Reduzierende Stoffe, z.B. Vitamin C– Proteine, unges. Fette– Natrium, Kalium, Chlorid, Phosphat
• Sek. II: Enzymversuche
Reduzierende Zucker: Tollensprobe
Mineralien-Nachweis (Pilzasche, getrockn. Pilz)
Beobachtungen zum Chlorid-Nachweis in der Pilzasche-Lösung
Phosphatnachweis als Ammoniummolybdophosphat
• Pilzasche-Lsg mit verd. Salpetersäure ansäuern• Ammoniummolybdat-Lösung zutropfen, ca. 2 min. erhitzen
Wassernachweis mit frischen Pilzen
Nachweis für reduzierende Substanzen
• Halbierten Pilz auf Eisen(III)-chlorid-Papier drücken (li)• Filterpapier mit Kaliumhexacyanoferrat(III)-Lösung
besprühen (re)
Protein-Nachweise
• Biuret-Reaktion, Xanthoprotein-Reaktion, Ninhydrin-Reaktion
Frischer Pilz Biuret-Reaktion Xanthoprotein-Reaktion Ninhydrin-Reaktion
Fettextraktion
Nachweis ungesättigtes Fett mit Bromwasser
Erfahrungen im Unterricht • Wahlpflichtkurs „Naturwissenschaften“ (Hauptfach) des
10. Jahrgangs einer Gesamtschule (26 SuS)
• Experimente waren motivierend – Reagenzien bereitstellen: schnell durchführbar– Wiss. Arbeitsweisen: selber ansetzen lassen– Probennahme an Hut, Lamelle und Fuß: Abschätzung
unterschiedlicher Zuckergehalte mit Fehling-Nachweis
• Neue, für Schüler wichtige Aspekte: – negativer Nachweis als richtiges Ergebnis– Soxhlet: Handhabung größerer Aufbauten
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Experimentübersicht Sekundarstufe II
• Herstellung von Pilzaroma (3-Octenol)
• Enzymversuche: Laccasen und Cellulasen– Nachweis und Aktivitätsmessungen– Anwendungen in der Industrie
Herstellung von Pilzaroma
• (R)-1-Octen-3-ol: erdig-pilziger Geruch – (S)-Enantiomer riecht eher gemüseartig
• 1 Kapillartropfen Linolsäure wird mit etwa 10 mL Pilz-Extrakt vermischt– Intensivierung des Pilzgeruchs; Vergleich mit Blindprobe– Enzym. Oxidation v. Linolsäure zu einem 10-Hydroperoxid,
Spaltung durch Hydroperoxid-Lyase stereospezifisch in (R)-1-Octen-3-ol
• Einsatz in der Lebensmittelindustrie als Pilzaroma
CH2 CH3
OH
Laccasen: Allgemeines
• Laccasen: Monophenoloxidasen– Ar-OH + O2à Ar-O· + H2O
• China: Produktion von Lack– Saft des Lackbaumes (Rhus verniciflua):
Laccase polymerisiert Urushiole zum Lack– 1883: Isolierung von Laccase aus dem
Saft des Lackbaums
Laccase aus Trametesversicolor
OH
OH
RGrundstruktur der Urushiole:
Dihydroxyphenole
Laccasen: Anwendung in der Industrie
• breites Substratspektrum = Vielzahl industrieller Anwendungen– Entfärbung von Textilien, insb. Indigo-gefärbter Jeans– Kombination von Laccasen aus Pilzen und 4-Methylsyringat
(Redoxmediator) ersetzt Chlorbleiche, z.B. Papierherstellung– Korkenherstellung: verhindert Korkgeschmack im Wein durch
Polymerisation von 2,4,6-Trichlorphenol– Abwasserreinigung– Sanierung verunreinigter Böden
Nachweis v. Laccasen im Pilzextrakt mit DMP
• Versetzen von Pilzextrakt mit DMP-Lösung(2,6-Dimethoxyphenol, links); 10 min. Wartezeit– Vergleichslösung: Laccase aus Trametes versicolor (rechts)
Nachweis von Laccasen im Pilzextrakt mit ABTS
• ABTS: Diammoniumsalz der 2,2'-Azino-di-(3-ethylbenzothiazolin-6-sulfonsäure)
• Auf 30 °C temperierte Lösungen (ABTS, Pilzextrakt) zusammen geben und rühren
Visuell-colorimetrische Bestimmung der Laccase-Volumenaktivität
• Laccase-Lösungen unterschiedlicher Konzentrationen ansetzen, Probe: Pilzextrakt– Zugabe von ABTS-Lsg., möglichst gleichzeitig
Riboflavin
• Modellsubstanz für biotechnologische Produktion:– 80 % Futtermittel, 20 % Lebensmittel, Arzneimittel– Ersparnis gegenüber chemischer Synthese:
75 % fossile Brennstoffe und 66 % Wasser
• Einfacher Umgang, leicht zugänglich• Hefen (C. famata), Bakterien (B. subtilis) und
Pilze (A. gossypii) kommen zum Einsatz
25Riboflavin-Kristalle (Bretzel, 1999)
Chemische Synthese von Riboflavin
26
H2
21 3
4
5
6
Riboflavin
Rib:
(1) D-(-)-Ribose; (2) 3,4-Dimethylanilin; (3) N-(3,4-Dimethyl-phenyl)-D-1´-ribamin; (4) Phenyl-diazoniumsalz; (5) N-(2-Phenylazo-4,5-dimethylphenyl)-D-1´-ribamin; (6) Barbitursäure
Biosynthese von Riboflavin
27Bacher et al, 2000
O
OHOH
OH2C N
N NH
N NH2
O
PPP
O
OHOH
OH2C NH
NH
N
O
NH2
NH2P
P
NH
NH
N
O
NH2
NH2
CH2
CH2O
OHOH
OHHHH
P
NH
NH
NH
O
NH2
O
CH2
CH2O
OHOH
OHHHH
NH
NH
NH
O
NH2
O
CH2
CH2OH
OHOH
OHHHH
NH
N
O
O
CH2
CH2OH
OHOH
OHHHH
N
N
CH3
CH3
NH
N
O
O
CH2
CH2OH
OHOH
OHHHH
N
N
CH3
CH3PCH2O
OHOH
O
CH2OH
HHP
CH3
CH2O
OHOH
GTP
3,4-Dihydroxybutanon- 4-phosphat Ribulose-5-phosphat
Mögliche Einsatzgebiete in der Schule
• Allgemeine Chemie: – Wissen über Redoxreaktionen auf ein organisches System
anwenden– Modellexperiment: Fluoreszenz von Riboflavin
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Fluoreszenz von Riboflavin unter UV-Licht (λ = 366 nm) und Löschung der Fluoreszenz durch Zugabe von Dithionit-Lösung
+ 2 H+ + 2 e-
- 2 H+ - 2 e-
Mögliche Einsatzgebiete in der Schule
• Organische Chemie:– Vitamine: Naturstoffe, Nahrungsergänzung– Farbstoffe/Pflanzenfarbstoffe– Oxidationszahlen
• Syntheseweg einer organischen Verbindung(incl. gesellschaftlicher Relevanz)– Chemische und biotechnologische Herstellung vergleichen– Verbindung mit Nachhaltigkeitsaspekten
• Ökobilanz für Riboflavin verfügbar: http://d-nb.info/990039498/34
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Sensorik – Analytik mit Mund und Nase
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Wissenschaftlich fundierte und reproduzierbare Erfassung von
Produkteigenschaften aufgrund von Sinneseindrücken, bei der aus einzelnen
Urteilen eine objektive Aussage erarbeitet wird.
olfaktorisch
visuell
haptisch
akustisch
à 5 Sinne als „Messinstrument“
gustatorisch
Qualitätskontrolle:• Produktkontrolle (Wareneingang, -ausgang)• Haltbarkeits- und Lagerversuche• Marktforschung und Produktentwicklung• Einstufung in Handelsklassen
Einsatzgebiete der Sensorik
Wissenschaft und Forschung:• Aufklärung von Geschmacks- und Geruchsmechanismen• Lebensmitteltechnologie
® z. B. Einfluss der Verarbeitung eines Lebensmittels• Verfälschungen von Lebensmitteln (Authentizität)
Menschlicher „Schnüffeldetektor“
à Hohe Konzentration ≠ hoher Geruchsanteil
Olfaktorische Detektion
Riechen und Chiralität
• Alltagsbezug stärken– Bezug zur Chemie im eigenen Körper: Riechen und
Schmecken als chemische Sinne– Chemie in Lebensmitteln– Qualitätskontrolle von Lebensmitteln
• Gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen: Riechen und Schmecken als Beruf– Sensoriker, Parfumeure, Flavoristen
Sensorik im Chemieunterricht
Bezüge zum Kerncurriculum Chemie
• Klasse 5/6:– Stoffe durch Riechen und Schmecken unterscheiden
• Klasse 7/8:– Fachübergriff Biologie: Sinnesphysiologie
• Klasse 9/10– Geruchs-, Geschmacksgrenzen (Konzentrationsbegriff)
• Oberstufe:– Geruchstransportproteine– G-protein-gekoppelte Rezeptoren– GC-O (Olfaktometrie)– Chiralität
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Reprise: Chemiebezogene Bildung
• chemisches Wissen anwenden,
• chemische Fragen erkennen,
• und aus Belegen Schlussfolgerungen ziehen,
• um Entscheidungen zu verstehen und zu treffen,
• welche die natürliche Welt und die durch menschliches Handeln an ihr vorgenommenen Veränderungen betreffen.
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Wie stellt ein Destillateur Spirituosen und Liköre her?
Wie kann man falsche Lebensmittel-Lagerung nachweisen?
Auch Vitamine haben E-Nummern.
Warum darf keine Vorzugsmilch verkauft werden?
Welche Rolle spielen chemische Berufe beim Umweltschutz?
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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Protein-Nachweise: Xanthoprotein-Reaktion
Protein-Nachweise: Ninhydrin-Reaktion
• Frische Pilzscheibe bzw. Pilzlösung mit einem Tropfen Ninhydrin-Lsg beträufeln und auf Uhrglas erhitzen. – Bildung von Ruhemanns Purpur
…nach 30 Minuten
Cellulasen: Anwendungen
• Biotechnologische Anwendung seit Anfang der 1980er– Herstellung von Fruchtsäften, Gewinnung von Olivenöl und
Backwarenherstellung. – Textil-, Wäsche-, Zellstoff- und Papier-Industrie – Bierbrauerei und Weinherstellung
Cellulasen: Allgemeines
• Klasse der Glycosidasen– katalysieren die Hydrolyse von β-1,4-glykosidischen
Bindungen in Cellulose– kristalline Cellulose kann im wesentlichen nur von Pilzen
aufgeschlossen werden (Braunfäulepilze, Weißfäulepilze)
• Biotechnologische Anwendung seit Anfang der 1980er– Herstellung von Fruchtsäften und Backwaren– Textil- und Papier-Industrie – Waschmittel
Nachweis von Cellulasen im Mycelextrakt
• Messgerät: Blutzuckermessgerät
Nachweis von Cellulasen im Mycelextrakt
Wirkung von Cellulasen: Faserglättung
• Aufgerauter Jeansstoff in Cellulase-Lsg. eintauchen und unter ständigem Rühren auf 30 °C erwärmen. Nach ca. 45 bis 60 Minuten den Stoff aus der Cellulase-Lösung entnehmen.
Links: Aufgeraute Jeansoberfläche, rechts: glatte Textiloberfläche nach einstündiger Behandlung in der Cellulase-Lösung