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© Siemens Historical Institute 2018 1/4 siemens.com/history Anfang der 1920er-Jahre ist Irland, abgesehen von einigen größeren Städten wie Dublin und Cork, „elektrisch gesprochen, gänzlich unbe- rührt“. Die Gesamtleistung aller öffentlichen Elektrizitätswerke beläuft sich auf rund 27.000 Kilowatt (kW). Da der Freistaat (heute: Republik Irland) kaum eigene Kohlevorkommen besitzt, ist man bestrebt, die einheimische Wasserkraft für die Elektrifizierung und wirtschaftliche Ent- wicklung des Landes zu nutzen. Das mit Strom zu versorgende Gebiet wird damals von rund drei Millionen Menschen bewohnt und ent- spricht mit seinen 70.000 Quadratkilometern etwa der Größe Bayerns. Die Idee, die Strömungsenergie am gefällreichen Unterlauf des Shannon zur Stromerzeugung in einer einzigen Wasserkraftan- lage zu nutzen, stammt von Thomas McLaughlin. Der irische Physiker und Elektroingenieur arbeitet ab Ende 1922 bei den Sie- mens-Schuckertwerken (SSW) in Berlin. Mit Unterstützung der Siemens-Wasserkraftexperten gelingt es ihm, die irische Regie- rung von der Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit des Projekts zu überzeugen. Anfang 1924 kommt es zu ersten Gesprächen zwi- schen Siemens und Regierungsvertretern des Irischen Freistaats. Das Wasserkraftwerk Ardnacrusha wird offiziell eröffnet July 22, 1929 Gesamtansicht des Wasserkraft- werks Ardnacrusha am Shannon, 1929 Thomas Anthony McLaughlin, undatiert
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Das Wasserkraftwerk Ardnacrusha wird offiziell eröffnet · für die Elektrifizierung und wirtschaftliche Ent-wicklung des Landes zu nutzen. Das mit Strom zu versorgende Gebiet wird

Sep 21, 2019

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Anfang der 1920er-Jahre ist Irland, abgesehenvon einigen größeren Städten wie Dublin undCork, „elektrisch gesprochen, gänzlich unbe-rührt“. Die Gesamtleistung aller öffentlichenElektrizitätswerke beläuft sich auf rund 27.000Kilowatt (kW). Da der Freistaat (heute: RepublikIrland) kaum eigene Kohlevorkommen besitzt,ist man bestrebt, die einheimische Wasserkraftfür die Elektrifizierung und wirtschaftliche Ent-wicklung des Landes zu nutzen. Das mit Stromzu versorgende Gebiet wird damals von runddrei Millionen Menschen bewohnt und ent-spricht mit seinen 70.000 Quadratkilometernetwa der Größe Bayerns.

Die Idee, die Strömungsenergie am gefällreichen Unterlauf des Shannon zur Stromerzeugung in einer einzigen Wasserkraftan-lage zu nutzen, stammt von Thomas McLaughlin. Der irische Physiker und Elektroingenieur arbeitet ab Ende 1922 bei den Sie-mens-Schuckertwerken (SSW) in Berlin. Mit Unterstützung der Siemens-Wasserkraftexperten gelingt es ihm, die irische Regie-rung von der Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit des Projekts zu überzeugen. Anfang 1924 kommt es zu ersten Gesprächen zwi-schen Siemens und Regierungsvertretern des Irischen Freistaats.

Frankfurt. . This project was the company’s first great success story, attract-ing widespread attention because of its link to a major political

Das WasserkraftwerkArdnacrusha wirdoffiziell eröffnet

July 22, 1929

Gesamtansicht des Wasserkraft-werks Ardnacrusha am Shannon, 1929

Thomas Anthony McLaughlin, undatiert

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Infolgedessen wird das deutsche Elektrounternehmen aufgefor-dert, die Vorschläge zur Energieerzeugung und -verteilung auszu-arbeiten.

Am 1. Oktober 1924 legt Siemens einen ausführlichen Projektplan vor. Das Dokument hat 358 Seiten und enthält außer technischen Beschreibungen ein bindendes Angebot samt detaillierter Kosten-kalkulationen auf Basis sorgfältig erarbeiteter Wasserwirt-schaftspläne. Nach eingehender Prüfung durch internationale Sachverständige wird der Entwurf leicht überarbeitet und dem Parlament in Dublin zur Zustimmung vorgelegt. Im Juli 1925 ver-abschiedet die Regierung mit dem sogenannten Shannon Electricity Act die legislativen Grundlagen für die Durchführung des ehrgeizigen Projekts. Einen Monat später, am 13. August 1925, wird der erste „Shannon-Vertrag“ geschlossen; Generalun-ternehmer und Lieferant der elektrischen Ausrüstung sind die Sie-mens-Schuckwertwerke.

Für die Wasserkraftanlage wird in der Nähe des Ortes Killaloe ein Wehr errichtet, das den Wasserspiegel des Shannon um 10 Meter aufstaut. Oberhalb des Wehres sind rechts und links des Flusses Dämme zur Begrenzung des hier vorgesehenen Staubeckens ge-plant. Vom Wehr zweigt ein 12,5 Kilometer langer, schiffbarer Ka-nal (Obergraben) ab, in dem das Wasser zu der bei Ardnacrusha gelegenen Krafthausanlage geführt wird. An das Krafthaus schließt sich ein 2 Kilometer langer Untergraben an, durch den das Wasser dem Shannon oberhalb vom Limerick wieder zuge-führt wird. Das Höchstgefälle zwischen Ober- und Untergraben beträgt 34 Meter.

Das Flusswasser wird durch eiserne Rohrleitungen von je 6 Meter Durchmesser den Turbinen im Krafthaus zugeleitet, die die Strö-mungsenergie in Rotationsenergie umwandeln und die angekop-pelten Generatoren antreiben. Die von diesen erzeugte Elektrizität wird über Schaltanlagen und Transformatorenstationen mit Fern-leitung im Land verteilt wird.

Titelblatt der Projektbeschreibung, 1924

Lageplan der Wasserkraftanlage

Querschnitt der Krafthausanlage (von links nach rechts): Einlaufbau-werk, Rohrleitung und Krafthaus

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Die Realisierung des Shannon-Projekts erweist sich für alle Be-teiligten als gewaltige organisatorische und technische Heraus-forderung. Dies gilt insbesondere für die Tiefbauarbeiten, mit deren Durchführung die Tochtergesellschaft Siemens-Bauunion (SBU) beauftragt wird – und die unmittelbar nach Auftragser-teilung beginnen: Insgesamt müssen etwa 8 Millionen Kubik-meter Erde ausgehoben und in die Dämme eingebracht, etwas weniger als 1,2 Millionen Kubikmeter Fels gesprengt und ver-fahren werden.

Da in Irland keine nennenswerte Bauindustrie existiert, müssen so gut wie alle Maschinen und Materialien mit eigens gechar-terten Dampfern von Deutschland nach Irland transportiert werden – an Baumaschinen und Geräten allein etwa 30.000 Tonnen. Der Strom, der zum Betrieb dieses Maschinenparks nö-tig ist, wird wiederum von einem eigenen Baukraftwerk mit ei-ner Gesamtleistung von 4200 PS erzeugt.

Das feuchte Klima Irlands, problematische Bodenverhältnisse sowie geologische Formationen, deren Tücken bei den Vorab-Bodenuntersuchungen und Probebohrungen nicht erkannt worden waren, beeinträchtigen immer wieder den Fortschritt der Tiefbauarbeiten. Erschwerend kommt hinzu, dass viele der ca. 3500, auf Wunsch der Regierung überwiegend einheimi-schen Arbeitskräfte wenig Erfahrung im Tiefbau haben.

Das Großprojekt am Shannon wird stufenweise realisiert; in der ersten Ausbaustufe installiert Siemens je drei Turbinen, Dreh-stromgeneratoren und Transformatoren. 1928 beginnt die Montage der drei 38.600-PS-Francis-Spiralturbinen mit stehen-der Welle, die direkt mit je einem Drehstromgenerator von 30 MVA Leistung gekoppelt werden.

Die Krafthaus-Baustelle im Sommer, 1926

Entladen einer der 130, bei den Bauarbeiten verwendeten Dampfloks, 1926

Untergraben, Felsaushub, 1927

Krafthaus, Montage der Spirale der Turbine II, 1928

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Das Krafthaus – das Herzstück der gesamten Anlage – besteht aus der Generatorenhalle, dem 38-kV-Schalthaus und dem 10-kV-Schalthaus. Hier wird der Strom auf 110 oder 37,5 kV umge-spannt. An die Generatorenhalle schließen sich Räumlichkeiten für die Aufstellung der Transformatoren, für Werkstätten zur Ausbes-serung der Generatoren, Turbinen und anderen Maschinen sowie Lagerräume an. Die Anlage wird in ihren wesentlichen Teilen am 17. Oktober 1929 in Betrieb genommen.

Vom Shannon aus wird der gesamte Irische Freistaat über ein Leitungsnetz für 110 kV, 37,5 kV und 10 kV mit einer Gesamtlänge von 3400 Kilometern und zahlreichen Schaltstellen und Transformatorenstationen mit Strom versorgt.

Die Fernleitungen zu den beiden größten irischen Städten, der Hauptstadt Dublin und der Hafenstadt Cork, die naturgemäß den meisten Strom abnehmen und außerdem noch als Speisepunkte für das ausgedehnte Mittelspannungsverteilnetz dienen, sind rund 185 und 96 Kilometer lang. Zur Versorgung von Dublin wird eine 110 kV-Doppelleitung errichtet, während Cork durch eine 110 kV-Einfachleitung mit dem Kraftwerk verbunden ist.

Blick in die Generatorenhalle, 1929

Hochspannungsnetz des Irischen Freistaates, 1930

Transformerstation in Freiluftausfüh-rung, Inchicore bei Dublin 1930