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Studia Phaenomenologica. Romanian Journal for Phenomenology II (2002) 1-2, pp. 97-125 DAS SEIN DER KOPULA ODER WAS HAT HEIDEGGER BEI BRENTANO VERSÄUMT? * Ion TĂNĂSESCU (Philosophisches Institut der Rumänischen Akademie Bukarest) Es ist bekannt, daß die Dissertation Brentanos eine erhebliche Rolle in der intellektuellen Bildung des jungen Heideggers gespielt hat 1 . Heidegger selbst hat mehrmals und in überzeugender Weise darauf hingewiesen 2 . In Folgendem schlage ich mir vor, das Bild über die Dissertation Brentanos, die von den Hinweisen Heideggers vermittelt wird, in Frage zu stellen. Der Ausgangspunkt dafür ist die folgende Bemerkung von Heidegger aus Aristoteles, Metaphysik Θ 1-3: Man hat aus dem obigen Satz von Met. Θ 1 Anf. schon im Mittelalter geschlossen, die erste leitende Grundbedeutung des Seins überhaupt – auch für die vier Weisen zusammen, nicht nur für die eine und deren Mannigfaltigkeit – sei die oÙs…a, was man mit „Substanz“ zu übersetzen pflegt. Als müßte auch das Möglichsein und Wirklichsein und Wahrsein auf das Sein im Sinne von Substanz zurückgeleitet werden. Im 19. Jahrhundert hat man (vor allem Brentano) dazu um so mehr geneigt, als inzwischen Sein, Möglichsein, Wirklichsein als Kategorien erkannt worden waren. Es ist daher eine landläufige Meinung, die Aristotelische Lehre vom Sein sei eine „Substanzlehre“. 3 * Zum Schreiben dieser Abhandlung bin ich New Europe College aus Bukarest besonders dankbar, das im Laufe der Zeit meine Forschungstätigkeit über Brentano erheblich unterstützt hat. Prof. Dr. Wilhelm Baumgartner von „Franz Brentano Gesellschaft“ aus Würzburg danke ich für die Erlaubnis, das Manuskript der Metaphysikvorlesung nachzuschlagen. Für sprachliche Hinweise bin ich auch Frau Christa Stolz und für redaktionelle Hilfe Herrn Paul Balogh verpflichtet. 1 Vgl. dazu die wertvollen Arbeiten von F. VOLPI: Heidegger e Brentano. L`aristotelismo e il problema dell’univocita dell’essere nella formazione filosofica del giovane Martin Heidegger, Padua: Cedam 1976, und ders., „Heideggers Verhältnis zu Brentanos Aristoteles Interpretation“, in Zeitschrift für philosophische Forschung 32 (1978), S. 254-265. 2 Vgl. z. B. HEIDEGGER, Preface, in W. Richardson, Heidegger, Through Phenomenology to Thought, The Hague: Martinus Nijhoff 1963, S. XI, und Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 1969, S. 81. 3 Martin HEIDEGGER, Aristoteles, Metaphysik Θ 1-3, Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, Gesamtausgabe (=GA) Bd. 33, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1990, S. 45.
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Das Sein der Kopula oder was hat Heidegger bei Brentano versäumt?

Mar 28, 2023

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Page 1: Das Sein der Kopula oder was hat Heidegger bei Brentano versäumt?

Studia Phaenomenologica. Romanian Journal for Phenomenology II (2002) 1-2, pp. 97-125

DAS SEIN DER KOPULA ODER WAS HAT HEIDEGGER BEI

BRENTANO VERSÄUMT?*

Ion TĂNĂSESCU (Philosophisches Institut der Rumänischen Akademie Bukarest)

Es ist bekannt, daß die Dissertation Brentanos eine erhebliche Rolle in der intellektuellen Bildung des jungen Heideggers gespielt hat1. Heidegger selbst hat mehrmals und in überzeugender Weise darauf hingewiesen2. In Folgendem schlage ich mir vor, das Bild über die Dissertation Brentanos, die von den Hinweisen Heideggers vermittelt wird, in Frage zu stellen. Der Ausgangspunkt dafür ist die folgende Bemerkung von Heidegger aus Aristoteles, Metaphysik Θ 1-3:

Man hat aus dem obigen Satz von Met. Θ 1 Anf. schon im Mittelalter geschlossen, die erste leitende Grundbedeutung des Seins überhaupt – auch für die vier Weisen zusammen, nicht nur für die eine und deren Mannigfaltigkeit – sei die oÙs…a, was man mit „Substanz“ zu übersetzen pflegt. Als müßte auch das Möglichsein und Wirklichsein und Wahrsein auf das Sein im Sinne von Substanz zurückgeleitet werden. Im 19. Jahrhundert hat man (vor allem Brentano) dazu um so mehr geneigt, als inzwischen Sein, Möglichsein, Wirklichsein als Kategorien erkannt worden waren. Es ist daher eine landläufige Meinung, die Aristotelische Lehre vom Sein sei eine „Substanzlehre“.3

* Zum Schreiben dieser Abhandlung bin ich New Europe College aus Bukarest besonders dankbar, das im Laufe der Zeit meine Forschungstätigkeit über Brentano erheblich unterstützt hat. Prof. Dr. Wilhelm Baumgartner von „Franz Brentano Gesellschaft“ aus Würzburg danke ich für die Erlaubnis, das Manuskript der Metaphysikvorlesung nachzuschlagen. Für sprachliche Hinweise bin ich auch Frau Christa Stolz und für redaktionelle Hilfe Herrn Paul Balogh verpflichtet. 1 Vgl. dazu die wertvollen Arbeiten von F. VOLPI: Heidegger e Brentano. L`aristotelismo e il problema dell’univocita dell’essere nella formazione filosofica del giovane Martin Heidegger, Padua: Cedam 1976, und ders., „Heideggers Verhältnis zu Brentanos Aristoteles Interpretation“, in Zeitschrift für philosophische Forschung 32 (1978), S. 254-265. 2 Vgl. z. B. HEIDEGGER, Preface, in W. Richardson, Heidegger, Through Phenomenology to Thought, The Hague: Martinus Nijhoff 1963, S. XI, und Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 1969, S. 81. 3 Martin HEIDEGGER, Aristoteles, Metaphysik Θ 1-3, Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, Gesamtausgabe (=GA) Bd. 33, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1990, S. 45.

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Wenn wir davon absehen, daß es schwer beweisbar ist, daß die erwähnte Anschauung über die Kategorien im 19. Jahrhundert die Auffassung Brentanos begünstigt hat, dann bleibt es die Frage, ob für den jungen Brentano die Lehre vom Sein nur „eine Substanzlehre“ sei. Dieser These gegenüber erweist sich die vorliegende Abhandlung als ein von Brentanoschem Gesichtspunkt aus verwirklichtes Kommentar, das die folgenden Thesen zu erhärten versuche: Die Analyse der Aristotelischen Metaphysik, die Brentano in seiner Dissertation durchführte (1) rechtfertigt die Behauptung Heideggers größtenteils, aber (2) sie ist auf keinen Fall auf sie reduzierbar. Klarer gesagt: Der Dissertation Brentanos liegt die Unterscheidung zwischen „reellen“ und „objectiven“ Begriffen zu Grunde, die von den kategorialen Bedeutungen des Seienden keineswegs ableitbar ist, obwohl sie sich damit in Verbindung bringen läßt. Von dem Standpunkt des gesamten Philosophierens Brentanos und auch dem seiner Schüler (Meinong, Husserl u. a.) her spielt diese uneigentliche Bedeutung des Seienden eine wichtige Rolle, deren Bedeutsamkeit sich nicht so viel in ontologischem, sondern in psychologischem Zusammenhang hervorheben läßt. Eine andere wichtige Idee der Abhandlung, die damit verbunden ist, besteht darin, daß das Sein der Kopula bei Brentano nicht die Kopula der kategorischen Sätze meint. Weiter werden die Gründe dargestellt, die das Bild Heideggers über die Dissertation Brentanos rechtfertigen.

I Die Dissertation Brentanos ist der Analyse der mannigfachen Bedeutung gewidmet, in der das Seiende ausgesagt wird. Einer Aufzählung des Buchs E der Metaphysik folgend, behauptete Brentano, diese mannigfache Bedeutung könne auf vier Grundbedeutungen zurückgeführt werden: das zufällige Seiende, das Seiende als Wahres im Gegensatz zu dem Nichtseienden als Falsches, das Seiende in den Zuständen der Möglichkeit und der Wirklichkeit und das Seiende nach den Figuren der Kategorien4. Diesen gegenüber solle die Metaphysik als Wissenschaft des Seienden als solches die eigentlichen Bedeutungen von den uneigentlichen sondern und die letzteren aus seinem Bereich ausschließen. Das Kriterium, aufgrund dessen festgesetzt wird, ob etwas dem metaphysischen Bereich gehöre oder nicht, sei das folgende: das Gebiet der Metaphysik umfasse alles, was unabhängig vom Geist existiere und ihm als solches zukomme. Demgemäß

4 Vgl. ARISTOTELES, Met. E 2, 1026 a 34 sqq., und Franz BRENTANO, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, (weiter VMB)1862, Nachdruck Hildesheim: 1984, S. 7 f.

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stellen das Seiende in Zuständen der Möglichkeit und der Wirklichkeit und die Kategorien die eigentlichen Bedeutungen des Seienden dar. Hingegen bleiben das zufällige Seiende und das Seiende als Wahres außer dem metaphysischen Bereich, weil sie nicht in den höchsten Realprinzipien wurzeln, nach denen Erkenntnis die Metaphysik strebt5. Sie gehören nicht der Metaphysik an, weil das Zufällige nicht als solches, sondern durch das Sein anderem Seienden existiere6, während das Seiende als Wahres nicht kategorial, sondern nur im Verstand sei7. Aber trotz der besonderen Stellung dieser uneigentlichen Bedeutungen des Seienden ist ihre Zurückführbarkeit auf die eigentlichen Bedeutungen des Seienden gewissermaßen auch für sie durchführbar. Weiter werde ich die wesentlichen Schritte darlegen, welche die Behauptung Heideggers darüber rechtfertigen. Ich werde mit der Weise beginnen, in der sowohl die anderen Kategorien als auch das Wirchlichsein und das Möglichsein auf oÙs…a zurückführbar sind. Danach werden das akzidentelle Seiende und die zwei verschiedenen Bedeutungen des Seienden als Wahres behandelt, damit die Konsequenzen am Ende gezogen werden, die in dem Sein der Kopula als uneigentliche Bedeutung des Seienden einbegriffen sind. Das Kapitel über die kategorialen Bedeutungen des Seienden wurde noch damals als der wirklich erneuernde Teil der Dissertation Brentanos rezipiert8. Sein Einsatz: die These, die aristotelische kategoriale Tafel sei streng ableitbar, ist durchaus polemisch. Einerseits nimmt Brentano damit Stellung zum Vorwurf des Rhapsodismus, der von Kant gegen die Aristotelischen Kategorien erhoben wurde. Andererseits setzt er sich mit Brandis auseinander, der die Anwesenheit jedes Grundes der Kategorienableitung in Abrede stellte, mit der Behauptung Trendelenburgs über den grammatikalischen Ursprung der Kategorien und auch mit Bonitz, nach dem die Aristotelischen Kategorien aufgrund der induktiven Erfahrung gewonnen werden, um der Klassifikation der empirischen Vorstellungen zu dienen9. Der Ausgangspunkt des Beweises Brentanos ist von drei Anschauungen über die Natur der Kategorien dargestellt, die in der Zurückweisung der These des deutschen Idealismus mit übereinstimmen, daß die Kategorien Bestimmungen der transzendentalen Subjektivität wären10.

5 Vgl. VMB, S. 3 ff., 38 f. 6 Vgl. ebd., S. 9 7 Vgl. a. a. O., Kap. 2, § 1. 8 Vgl. M. ANTONELLI, „Auf der Suche der Substanz”, in Brentano Studien 3, Intentionalität, (1991), S. 29. 9 Vgl. VMB, S. 12, 158. 10 Vgl. Ebd., S. 75.

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Der Auffassung Zellers und Brandis zufolge seien die Kategorien die allgemeinsten Aspekte oder Gesichtspunkte, die zur Betrachtung jedes Denkobjektes berücksichtigt werden solle. An und für sich machen sie das allgemeine Fachwerk aus, in dem jeder Begriff sich eintragen lasse, wenn das Denken seine Objekte sondere und klassifiziere11.

Der Einwand Brentanos gegen diese Ansicht bezieht sich darauf, daß die Bestimmung der Kategorien als Fachwerk für Begriffe ihre ontologische Tragweite außer acht lasse; von diesem letzten Standpunkt aus seien sie die verschiedenen Bedeutungen des Seienden, die auch die höchsten Gattungen ausmachen, denen sich jedes Seiende unterordnen lasse; als oberste Gattungen stellen sie auch den Ort für die ihnen untergeordneten Sachen dar12.

Die zweite Auffassung wurde von Trendelenburg vertreten, und betrachtet die Kategorien als Prädikate oder Begriffe, aber nicht an und für sich, sondern nur als Teil des Satzes13. In seiner Schrift weist Brentano weder diese These noch die Ähnlichkeit der Aristotelischen Kategorien mit den der griechischen Grammatik zurück, sondern nur die angeblich einseitige Hervorhebung dieser Seite von Trendelenburg zurück14.

Bonitz zufolge seien die Kategorien auch Begriffe, die aber nicht als Satzteile, sondern als einfache Vorstellungen, die an und für sich seien, betrachtet werden sollen. Seiner Meinung nach stellen die Kategorien die realen Bedeutungen dar, in denen das Seiende aussagbar sei15.

Unter diesen Auffassungen erklärt sich Brentano zugunsten der dritten, die aber nach ihm mit Thesen der anderen Interpretationen im Einklang gebracht werden kann: Zum einem machen die Kategorien als Einteilungen des Seienden auch die obersten Gattungen aus, die jedes Seiende umfassen (die Ansicht von Brandis), und die sowohl die akzidentellen als auch die wesentlichen Prädikationsweisen für die untergeordneten Begriffe festsetzen. Zum anderen seien sie als reale Bedeutungen des Seienden die allgemeinsten Prädikate der ersten Substanz. Brentano erhärt diese These, wie folgt: was sei, sei entweder Substanz oder Akzidens; wenn es Akzidens sei, dann existiere es, nur wenn er ein Verhältnis zur ersten Substanz habe; dieses ontologische Verhältnis offenbare sich auf sprachlicher Ebene in den verschieden Weisen der 11 Vgl. S. 76. 12 Vgl. S. 84 f. 13 Vgl. S. 77. 14 Der Vorwurf Brentanos besteht darin, daß die Begründung der Kategorientafel auf die logisch-grammatischen Verhältnisse von ontologischem Standpunkt aus oberflächlich und grundlos sei (vgl. VMB, S. 184 f., 200 f.). Antonelli stellt diese These in Abrede und weist dazu sowohl auf die logische als auch auf die ontologische Seite des Verfahrens Trendelenburgs hin (vgl. ANTONELLI, a. a. O., S. 40). 15 Vgl. VMB, S. 78 f.

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akzidentellen Prädikation über die erste Substanz (die Anschauung Trendelenburg)16.

Der bis jetzt durchgeführte Beweisgang setzt eine genauere Bestimmung der Beziehungen der Kategorien auf das Seiende voraus. Die Aristotelische Lehre über Synonyme und Homonyme stellt den angemessenen Kontext dafür dar. Brentano gemäß sei tÕ ×n nicht ein Synonym, denn, wenn man sagt, die Kategorien seien die verschiedenen Bedeutungen, in denen das Seiende ausgesagt werde, dann werde es nicht für eine Gattung gehalten, die in seine untergeordneten Arten einteilbar sei. Es solle hier einen anderen Weg eingeschlagen werden, aufgrund dessen das Seiende allen seinen kategorialen Bedeutungen gegenüber dieselbe Funktion wie eine Gattung übernehme, ohne dennoch eine Gattung zu sein. Die Möglichkeit der Begründung der Aristotelischen Metaphysik als Wissenschaft hänge von der Ausarbeitung dieses theoretischen Statuts des ×n ab17.

Da stellt sich das Seiende für Brentano ein Ðmènumon kat\ ¢nalog…an dar18, das sich zwischen Synonymen und reine Homonymen befinde. Der Untersuchungen Trendelenburgs zufolge habe die Analogie bei Aristoteles entweder eine quantitative Bedeutung, die mathematische Proportion, oder eine qualitative, die Gleichheit der Verhältnisse19. Brentanos Meinung nach sei aber damit das Problem der Analogie bei Aristoteles noch nicht erledigt, weil eben die Analogie, die fähig sei, die verschiedenen Verhältnisse des ×n zu den kategorialen Bedeutungen zu erklären, noch nicht berücksichtigt werde20. Es gehe hier um ein Verhältnis, das den bestimmten Termini wie das Seiende, das Gute, das Wahre eigen sei, und das darin bestehe, daß ihre verschiedenen Bedeutungen in Bezug auf die eine und einzige Natur ausgesagt werden. Als Beispiel für solche Wörter der gewöhnlichen Sprache führt Aristoteles „gesund oder ärztlich“ an, weil alle ihre Bedeutungen sich um eine erste Bedeutung ordnen: über das eine sagen wir “gesund” aus, weil es die Gesundheit bewirke, über das andere, weil es

16 Vgl. ebd., 102 f. 17 Vgl. S. 4 f., 96 f., 135. 18 Vgl., S. 98. 19 S. 91 ff. 20 Obwohl Brentano klar anerkannt, daß es hier um eine prÒj ›n.-Struktur geht, nennt er sie dennoch, „die Analogie durch die Hinsicht auf ein und denselben Terminus“ (VMB, S. 97). Vgl. dazu die Analyse ANTONELLI in ders., Seiendes, Bewußtsein, Intentionalität im Frühwerk von Franz Brentano, Freiburg/München: Karl Alber 2001, S. 85-94. Zur verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der Analogie bei Aristoteles vgl. P. AUBENQUE, Le probléme de l’être chez Aristote, Paris: PUF 51983, S. 201- 206; ders., “Les origines de la doctrine de l`analogie de l’être”, in Les Etudes philosophiques 1978 (1), S. 3–12, und dagegen H. SEIDEL „Einleitung“, in ARISTOTELES, Metaphysik, zweiter Halbband, Hg. Horst Seidel, Hamburg: Felix Meiner 1984, S. XIX-XXV.

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sie zeige, über das andere, weil es sie bewahre, aber überdies heißen alle diese gesund, weil sie ein bestimmtes Verhältnis zur Form des gesunden Körpers, zur Gesundheit, haben. Dasselbe gelte für die Kategorien: sowohl über die Qualität als auch über die Quantität, über das Tun und Leiden u.s.w. werde das Seiende gesagt, aber nur weil sie auf die eine und einzige Natur, auf die Substanz, Bezug haben. Der nächste Aristotelische Text ist für Brentano aufschlußreich:

„Einiges wird Seiendes genannt, weil es Substanz, anderes, weil es Eigenschaft der Substanz, wieder anderes, weil es ein Weg, der zur Substanz führt, ... oder weil es die Substanz, oder etwas von dem, was in Beziehung auf die Substanz ausgesagt wird, hervorbringt oder erzeugt, oder weil es eine Negation von etwas Derartigem oder von der Substanz selbst ist. Daher sagen wir auch, es sei das Nichtseiende ein Nichtseiendes“21.

Brentanos Meinung nach sei dieser Begriffsreihe eigen, daß einer von ihren Termini die eigentliche Bedeutung trage, um welche sich die anderen Bedeutungen bewegen. In diesem Fall sei die Substanz der erste Terminus, der im ersten und eigentlichen Sinn den Namen Seiende trage, und die Substanz in erstem und eigentlichem Sinn sei die prèth oÙs…a. Alle anderen Kategorien seien nur wenn sie in einem bestimmten Verhältnis zur Substanz stehen oder auf einer oder anderer Weise in ihr seien22. Es handle sich hier um ein Verhältnis der Abhängigkeit von Sein23, das die Betrachtung der akzidentellen Prädikation als eine paronymische ermöglicht, denn wie das Paronymon von dem Wort abgeleitet wird, dem er eine Endung hinzufügt, könnte man auch sagen, daß die anderen Kategorien Ihre Existenz von dem Verhältnis zur ersten Substanz, dem Substrat jedes akzidentellen Seins, ableitet. Dieses Verhältnis sei ein Inhärenzverhältnis im weiteren Sinn24, setze voraus, daß jede Kategorie eine bestimmte Seinsweise in der oÙs…a habe und sei von der Beziehung der zweiten auf die erste Substanz oder von derjenigen der höchsten Gattungen auf ihre untergeordneten Begriffen verschieden. Die verschiedenen Seinsweisen der Kategorien in der ersten Substanz werden von Brentano als verschiedene und unzurückführbare Weisen des ×n, der Inexistenz oder der Akzidentalität von der Substanz beschrieben25. Sie stellen den Wahrheitsbeweis der Äußerung Heideggers über die Zurückführbarkeit der sumbebhkÒta dar und können das Kriterium einer strengen Deduktion der Aristotelischen Kategorientafel ausmachen:

21 ARISTOTELES, Met. Γ 2, 1003 a 33 sqq. (übersetzt von Brentano a. a. O., S. 6). 22 Vgl. BRENTANO, a. a. O., S. 102 f. 23 Vgl. ebd., S. 197. 24 In weiterem Sinn bedeutet Inhärenz soviel wie „Beziehung auf die Substanz“. 25 Vgl. VMB, S. 151, 164 ff.

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Wir haben gesehen, daß die Einteilung in die Kategorien die Einteilung keiner synonymen, sondern einer analogen Einheit ist, und daß sie folglich nicht durch spezifische Differenzen, sondern durch verschiedene Existenzweisen, durch das verschiedene Verhältnis zur ersten Substanz, von der die Kategorien prädiziert werden, in ihren einzelnen Gliedern bestimmt werden26.

Obwohl das Seiende nicht eine Gattung ist, bemerkt man, daß es als „analoge Einheit“ dennoch die Rolle der Gattung im Rahmen der Einteilung spielen kann, genauso wie die Rolle der spezifischen Differenz von den verschiedenen Inexistenzweisen in der ersten Substanz gespielt wird. In diesem Sinn umschreibt Brentano Aristoteles: „es gibt so viele Kategorien, als es Weisen gibt, in denen die Dinge in ihrem Subjekte existieren“27.

Neben diesem Einteilungsgrund, der darauf beruht, daß die Kategorien nicht nur verschiedene, sondern auch verwandte Bedeutungen des Seienden seien28, bietet Brentano noch eine Einteilungsweise, die nicht von der Betrachtung der Kategorien als reelle Bedeutungen, sondern als höchste Gattungen des Seienden ausgeht. Sein Beweisgang ist der folgende: jede höchste Gattung setze eine Materie, eine bestimmte Weise des Vermögens aus; als höchste Gattung setze die Substanz die sogenannte prèth Ûlh voraus, während die anderen Gattungen die Substanz als Substrat29 verlangen, das als Einheit der Materie und Form bestimmt werde; aber diese Einheit sei nicht eine wirkliche, sondern nur eine mögliche, so daß, obwohl die Substanz an sich, als Einheit von Materie und Form, dieselbe sei, erscheine sie dennoch in Bezug auf jede andere Kategorie verschieden; demnach habe die Verschiedenheit der akzidentellen Kategorien zur Folge, daß die Substanz in einer verschiedenen Weise Subjekt oder Materie der Akzidenzien sei. Ihrerseits affizieren die Formen der Akzidenzien in verschiedenen Weisen ihre Materie und seien in ihr verschieden aufgenommen. Man komme so auch zum Schluß, daß der Unterschied der Kategorien auf ihrer unterschiedlichen Inhärenzweise beruhe30.

Der Titel der Dissertation und auch sein Motto „TÕ ×n lšgetai pollacîj“ weisen auf dieses eigenartige Verhältnis zur ersten Substanz hin, wegen dessen sich die kategoriale Bedeutung sowohl als einzig als auch als verschieden erweist: es gebe nur eine einzige Grundbedeutung des Seienden, die Substanz, um welche sich die anderen Nebenbedeutungen ordnen, und die sich mittels ihrer Akzidenzien als eine mannigfache offenbare.

26 Ebd., S. 135. 27 S. 113. 28 Vgl. S. 110. 29 Vgl. zur doppelsinnigen Stellung der Substanz als höchstes Prädikat und als Substrat die wertvolle Arbeit von Antonelli (a. a. O., S. 101-106). 30 Vgl. VMB, S. 111 f.

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Das ontologische Kriterium der verschiedenen Seinsweisen in der ersten Substanz finde seinen linguistischen Ausdruck in den verschiedenen Weisen, in denen die akzidentellen Kategorien über die erste Substanz prädiziert werden und auch in den verschiedenen Fragen, die an die erste Substanz gestellt werden können31. Im Hinblick auf die Verbindung dieser Ebenen behauptet Brentano:

Nichtsdestoweniger halten wir aber das als die Ansicht des Aristoteles fest, daß die Zahl und Verschiedenheit der höchsten Gattungen der Zahl und Verschiedenheit der Arten der Prädizierung entsprechend sei, ... weil gerade in dieser Eigentümlichkeit der Prädikationsweise das eigentümliche Verhältnis der Kategorie zur ersten Substanz und somit das eigentümliche Sein der Kategorie den deutlichsten Ausdruck findet32.

Darüber hinaus stelle die Analyse der verschiedenen Predikationsweisen zusammen mit der des kategorialen Inhalts eines der wichtigsten Mittel dar, das zur Verfügung der Metaphysiker stehe, um die Fragen zu lösen, die von der Behandlung der Verhältnisse des ×n zu den Kategorien aufgeworfen werden: der Anspruch bestimmten Begriffe (œcein und ke‹sqai), Kategorien zu sein, oder die Unterordnung eines und desselben Seienden unter zwei verschiedenen Kategorien33.

Die obengenannten Weisen der Inexistenz in der oÙs…a oder das verschiedene Verhältnis der Akzidenzien zu ihr macht das strenge Einteilungskriterium34 der Aristotelischen kategorialen Tafel aus. Es bestätigt die Äußerung Heideggers über die zentrale Stellung des Substanz und offenbart sich als eine Beziehung, welche die Substanz von außen oder von innen aus affiziert: posÒn und poiÒn seien inhärente Kategorien, poie‹n und p£scein seien teilweise immanent, teilweise transzendent, die poà und potš seien äußerlich und prÒj ti sei ganz äußerlich und die schwächste von allen Kategorien35.

Was die andere eigentliche Bedeutung des Seienden: das Seiende in Zuständen der Möglichkeit und der Wirklichkeit, betrifft, behauptet Brentano, ihre Unterscheidung zur kategorialen Seienden sei nicht eine reale

31 Vgl. ebd., S. 191 f. 32 S. 117. 33 ”Ecein und ce‹sqai können aufgrund der Analyse des kategorialen Inhalts und der Prädikationsweise auf die Klasse der kin»seij und auf prÒj ti reduziert werden (vgl. VMB, S. 164 ff., 171 f.). 34 Volpi macht auf die Einwände aufmerksam, die Aubenque gegen den Einteilungsversuch Brentanos gehoben hat (vgl. F. VOLPI, “La dissertation de Franz Brentano et son influence sur la formation philosophique du jeune Martin Heidegger”, in Proceedings Of The World Congress on Aristotle, Thessaloniki, August 7-14, 1978, III, AΘΗΝΑΙ 1982, S. 50 und P. AUBENQUE, Le probléme de l’être chez Aristote, Paris: PUF, 51983, S. 197. 35 Vgl. VMB, Kap. 5, § 13.

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(real seien sie identisch), sondern nur eine rationelle: während tÕ ×n ™nerge…v jedes Seiende vom Standpunkt der Form aus betrachte, die es vollende, verlange das ×n der Kategorien hingegen

„...ein wesenhaftes, definierbares, einer Gattung subsumierbares Sein. Damit dieses der Fall sei, muß natürlich dieses Sein ein Geformtes sein, und so sind beide identisch. Von dem ×n dun£mei haben wir auch schon oben gesehen, wie es als ×n ¥telej auf die jedesmalige Kategorie des ×n tšleion zurückzuführen ist“36.

Weil tÕ ×n ™nerge…v alle höchsten Gattungen umspanne37, und weil sich alle diese Gattungen auf die Substanz zurückleiten lassen, bewahrt diese ihre zentrale Stellung auch in Bezug auf das Wirklichsein und Möglichsein. Wie man gleich zeigen wird, bleibt diese Stellung auch hinsichtlich zwei Sinne des ×n kat¦ sumbebhkÒj und hinsichtlich einer Bedeutung des ×n æj ¢lhqšj maßgebend.

II

Wie das Seiende seien auch das Wahre und das Falsche Homonyme, die eine Ordnung ihrer Bedeutungen um eine Grundbedeutung zulassen. Im ersten und eigentlichen Sinn komme das Wahre und das Falsche bei Aristoteles nur den Urteilen zu. Im sekundären und analogen Sinn werden sie auch den Sinnen, dem „begriffbildenden Vermögen“ und den Dingen zugeordnet, weil alle diese in enger Verbindung mit dem Urteil stehen38. Das Problem, das Brentano im zweiten Paragraph des Kapitels über das ×n æj ¢lhqšj anschneidet, ist das folgende: Wenn das Wahre und das Falsche mehrere Bedeutungen haben, dann welche von ihnen sei in dem Seienden als Wahres und in dem Nichtseienden als Falsches einbegriffen? Auf den ersten Blick scheint die Frage rhetorisch, weil der Denker schon früher festgesetzt hat, daß “ist wahr” in eigentlichem Sinn nur über das Urteil aussagbar und nur in ihm vorfindbar sei. Aber im Hinblick auf die Richtung, in die sich seine ganze Analyse entwickelt, und auf die darin eingeschlossene Niveauänderung läßt sich sagen, daß die Antwort nicht mehr in der Frage enthalten ist.

Brentanos Meinung nach komme dem „ist“ im Sinn von „es ist wahr“ bei Aristoteles zwei verschiedenen Bedeutungen zu: Auf einer ersten Ebene sei es dazu gebraucht, um über ein ganzes Urteil zu sagen, daß es wahr oder falsch sei. In diesem Fall könne „es ist wahr“ als „es ist“ verkürzt

36 Ebd., S. 218. 37 Vgl. S. 142. 38 Vgl. S. 25, 30.

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werden39. Auf einer zweiten Ebene stelle „ist“ als Kopula einen Bestandteil des Urteils dar. Die erste Auffassung sei die (auch von Heidegger kritisierte) Korrespondenztheorie der Wahrheit. Ihr zufolge:

Das Seiende als Wahres und das Nichtseiende als Falsches findet sich bei Verbindung und Trennung ... das Wahre nämlich hat auf seiner Seite die Bejahung bei dem Verbundenen, die Verneinung bei dem Getrennten, das Falsche aber hat auf seiner Seite bei beiden das kontradiktorische Gegenteil40.

Demzufolge ist eine bestimmte Verbindung der Urteilsbegriffe aufgrund der Seinsweise der von ihnen genannten Dinge für wahr oder falsch gehalten. Aristoteles bezieht sich auf diese Bestimmung der Wahrheit eines Urteils mittels eines Kriteriums, das dem Urteil äußerlichen ist, als er behauptet, daß sowohl das zufällige Seiende als auch das Seiende als Wahres „die übrige Gattung des Seienden“41, die Kategorien, voraussetze: „Nicht deshalb bist du weiß, weil wir mit Wahrheit glauben, daß du weiß seiest. Vielmehr weil du weiß bist, sagen wir, die es sagen, die Wahrheit“42. Die Urteile, die sich aufgrund dieses Kriteriums bewerten lassen, sind die prädikativen Urteile in eigentlichem Sinn, d. h. diejenigen, welche die Verhältnisse der Substanz zu anderen Kategorien zum Vorschein bringen43. Brentano ist der Wichtigkeit der kategorialen Bedeutungen für die Bestimmung dieser Bedeutung der Wahrheit ganz bewußt, als er behauptet: „Der Grundbegriff der Wahrheit bleibt immer der der Übereinstimmung des erkennenden Geistes mit der erkannten Sache“44.

Damit aber endet die Analyse, welche die Äußerung von Heidegger über die Zurückführbarkeit der Bedeutungen des Seienden auf die Substanz rechtfertigt, und es muß von vornherein gesagt werden, daß diese Analyse ziemlich weit davon entfernt ist, sich mit der Problematik der Brentanos Dissertation zu decken, weil sie auf dem Versäumnis einer Unterscheidung beruht, die für die Auffassung Brentanos wichtig ist, und die in der Analyse der anderen Bedeutung der Wahrheit einbegriffen ist. Diese Bedeutung kann auch in Aristoteles Text zurückverfolgt werden:

39 „Nehmen wir an, es wolle Jemand einem Andern beweisen, daß das Dreieck als Winkelsumme 2 R habe, und er fordere als Ausgangspunkt des Beweises das Zugeständnis, daß der Außenwinkel gleich den beiden gegenüberliegenden inneren Winkeln sei. Es fragt sich also, ist dies, oder ist dies nicht? d. h. ist es wahr, oder ist es falsch? – Es ist! d. h. es ist wahr.“ (VMB, S. 34). 40 ARISTOTELES, Met. E 4, p 1027 b 18 sqq. (übersetzt von BRENTANO, a.a.O., S. 33). 41 Met. E 4, 1028 a 1-2, (übersetzt von BRENTANO, a.a.O., S. 38). 42 Met. Θ 10, 1051 b 6-9, (übersetzt von BRENTANO a.a.O., S. 29). 43 Vgl. VMB, S. 102 ff. 44 Ebd., S. 33.

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Ferner bezeichnet das „Sein“ und das „ist“, daß es wahr ist, das Nichtsein aber, daß es nicht wahr, sondern falsch ist, bei positiven sowohl, als negativen Aussprüchen, wie z. B. Sokrates ist tonkundig, d.h. dies ist wahr, oder Sokrates ist nichtweiß, d. h. es ist wahr; dagegen die Diagonale ist nicht kommensurabel, d. h. es ist falsch45.

Zwischen den zwei Auffassungen über die Bedeutungen des „ist wahr“ gebe es die nächsten Unterscheidungen: (1) Im ersten Fall werde „ist“ wie eine Prädikatsbestimmung verwendet, die über das vom ganzen Urteil dargestellte Subjekt ausgesagt werde; hingegen mache „ist“ in zweitem Fall einen Bestandteil des Urteils aus, dessen Rolle in der Verbindung des Subjektes mit dem Prädikat bestehe; (2) in erstem Fall werden wahr und falsch sowohl über die affirmativen als auch über die negativen Urteile prädiziert, während in zweitem Fall „das ‚wahr‘ auf der Seite der Affirmation (wenn sie auch bald eine positive, bald eine negative Bestimmung beilegt) das ‚falsch‘ immer auf der der Negation“ ist46. Dem Index Aristotelicus gemäß werde die Wahrheit eines Satzes bei Aristoteles mit seinem affirmativen Charakter nur in einer einzigen Stelle seines Werks so eng geknüpft: „beweist man doch beides (beide affirmativen Sätze, Hinzufügung I. T.) erhärtend durch die erste Figur, da ‚wahr‘ dem ‚ist‘ gleichgesetzt wird“47. Der sachliche Zusammenhang ist von dem Unterschied zwischen der unbestimmt affirmativen Prädikation „ist nicht-A“ und der bestimmten Negation „ist nicht A“ vertreten. Die Richtigkeit des Schlußverfahrens gesetzt, bedeutet der eben angeführte Satz, daß die sich aus zwei positiven Prämissen erschlossene Schlußfolgerung, um wahr zu sein, auch positive Form haben soll. Hingegen sind die Sätze aus Δ 7 nicht als Ergebnisse eines Schlußverfahrens, sondern für sich, unabhängig von jedem solchen Verfahren betrachtet. Es soll hier hervorgehoben werden, daß der Sinn des „ist“, der in allen diesen Sätzen zum Ausdruck kommt, sich nicht auf das über den ganzen Satz ausgesagte „ist“ bezieht, sondern der Analyse Brentanos zufolge nur auf den der Kopula. Demnach sind alle diese Sätze so übersetzbar: „Sokrates ist tonkundig“ durch „Sokrates ist wahrerweise tonkundig“, „Sokrates ist nichtweiß“ durch „Sokrates ist wahrerweise nichtweiß“ und „Die Diagonale ist nicht kommensurabel“ durch „Die Diagonale ist falscherweise kommensurabel“48. Man bemerkt, 45 ARISTOTELES, Met. Δ 7, 1017 a 31-35, (übersetzt von BRENTANO a.a.O., 34 f.); 46 VMB, S. 35. 47 ARISTOTELES, An. prior. I 46, 52 a 32, (übersetzt von Eugen Rolfes in ARISTOTELES, Philosophische Schriften, Bd. 1, Hamburg: Felix Meiner 1995, S. 90). Vgl. Hermann BONITZ, Index Aristotelicus, 1870, 31 b, 45 sqq. 48 Von dieser Stelle ausgehend, schlägt M. Antonelli vor: „So bedeutet ‚Sokrates ist Musiker‘ dasselbe wie ‚Es ist wahr, daß Sokrates Musiker ist‘; ‚Sokrates ist groß‘ bedeutet dasselbe wie ‚Es ist falsch, daß Sokrates groß ist‘“ (M. ANTONELLI, a. a. O., S. 81.) Mir scheint aber, daß die Idee, die Brentano hier unterstreichen will, ist, daß die zweite Bedeutung des Seienden als

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daß das Subjekt der beiden ersten Sätze eine erste Substanz ist, und daß der erste Satz wie eine akzidentelle Prädikation in eigentlichem Sinn betrachtet werden kann, die auf das kategoriale Sein zurückführbar ist, obwohl der Beweis Brentanos sich nicht in diese Richtung entwickelt.

Was den zweite Satz betrifft: „Sokrates ist nichtweiß“, „nichtweiß“ ist nicht eine reale Eigenschaft, sondern eine unbestimmte Negation einer solchen, die durch eine Operation des Verstandes entsteht, und deren Analyse auf tÕ ×n kat¦ sumbebhkÒj hinweist. Brentano Erachtens sei dieses Seiende in der Aristotelischen Metaphysik in drei verschiedenen Sinnen aussagbar: (1) ein Suppositum oder ein Subjekt sei kat¦ sumbebhkÒj insofern ihm ein Akzidens zufällig zukomme; es gehe hier um die Fälle der akzidentellen Prädikation, die, wie gesehen, auf die oÙs…a zurückführbar sind; (2) es sei auch kat¦ sumbebhkÒj dasjenige, was über ein anderes, mit dem er dasselbe Suppositum zukomme, ausgesagt werde, z. B. „Der Weiße ist tonkundig“ oder „Der Tonkundige ist weiß“, wo sowohl „tonkundig“ als auch „weiß“ demselben Individuum zukommen; (3) es sei auch kat¦ sumbebhkÒj, was sich zufälligerweise in einem Suppositum befinde, d.h. dasjenige, dem etwas zufällig subsistiere, z. B., wenn ich sage „Der Tonkundige ist Sokrates“, sei Sokrates das Suppositum, das der Eigenschaft „tonkundig zu sein“ zufällig subsistiere49. Brentanos Meinung nach sei Aristoteles sehr zurückhaltend, solche Urteile Prädikationen zu nennen, weil hier das Subjekt, das letzte Substrat der Akzidenzien, wegen seiner Stellung im Satz selbst Akzidens zu sein scheine50. Man werfe jetzt die Frage auf, ob es neben diesen Bedeutungen des ×n kat¦ sumbebhkÒj auch andere gebe, die sich nicht auf sie reduzierbar seien, und auf deren Gründ einen anderen Sinn des ×n kat¦ sumbebhkÒj begründet werden könne. Als ein mögliches Beispiel dafür führt Brentano ein affirmativer Satz an, wo das Subjekt eine unbestimmte Negation und das Prädikat eine zweite Substanz ist: „Der Nichtweiß ist Mensch“. Das Merkwürdige dieser Aussage besteht darin, daß sein Subjekt sich nicht einer eigentlichen kategorialen Bedeutung des Seienden unmittelbar untergeordnet läßt, sondern eine Negation ist, die einem Bereich gehört, der des Seienden als Wahres in einem ganz besonderen Sinn, dessen Eigenart darin sein Wesen hat, daß die in seinem Umfang enthaltenen Entitäten durch die Operationen des Verstandes entstehen und keine außerhalb des Geistes existierende Natur ausdrücken:

So bewegt sich die Kopula „sein“ und das Seiende als Wahres ... doch nur so um die übrige Gattung des Seienden ..., daß dadurch keine besondere,

Wahres nicht auf die erste zurückführbar, sondern in einem bestimmten Maß von ihr unabhängig sei. 49 Vgl. VMB, S. 19 ff. 50 Vgl. Ebd., S. 104.

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außerhalb des Geistes existierende Natur des Seienden kundgetan wird ... Es hat seinen Grund in den Operationen des menschlichen Verstandes, der verbindet und trennt, affirmiert und negiert, nicht in den höchsten Realprinzipien, aus welchen die Metaphysik ihr ×n Î ×n zu erkennen strebt51.

Obwohl die Negation „nichtweiß“ durch eine Operation des Verstandes gebildet wird und als solche nur im Geist ist, erfüllt sie in beschränktem Maß diese Bedingungen, weil sie einen realen Umfang hat, der entweder als kontradiktorischer Begriff des Weißen, als nicht-weiße Farben, oder als konträre Begriff desselben, als Schwarzes, verstanden werden kann. Brentano versteht sie in dem letzten Sinn und beantwortet die Frage nach der Möglichkeit einer neuen Prädikationsweise verneinend: Auf die Negationen lasse sich nicht eine neue akzidentelle Prädikation begründen, weil die Sätze, welchen sie als Bestandteile gehören, auf den letzten Fall der akzidentellen Prädikation zurückführbar seien, in unserem Fall auf den Satz „Das Schwarze ist Mensch“. Diese Aussage sei wahr, weil es wahr sei, daß es einen Menschen gebe, der diese Farbe habe. Man bemerke, daß das Schwarze nicht als solches, als Negation des Weißen, existiere, sondern nur mittels des Seins dessen, dem er zufällig zukomme. Dieses akzidentelle Sein des Nichtweißen stelle keine reale Eigenschaft dar, weil es nicht als solches inhäriere, sondern nur als Schwarz52.

Im Kapitel, welches das Seiende nach den Figuren der Kategorien behandelt, behauptet Brentano zweimal, wenn man von der kategorialen Einteilung ausgehe, könne man in einen Bereich des Seienden gelangen, dessen Verhältnisse sich nur auf die Operationen des Verstandes gründen, und der höchstens als eine Verzweigung der kategorialen Struktur betrachtet werden können. So seien die erste und die zweite Substanz nicht Arten des Genus Substanz, denn „sie sind gar keine reellen Begriffe, sondern wie Genus, Spezies u.dgl. Unterschiede der zweiten Intention, die bloß Existenz

51 S. 38 f. 52 Ein anderes Beispiel Brentanos ist auch für die Weise aufschlußreich, in der das ×n kat¦ sumbebhkÒj das ×n æj ¢lhqšj überschneidet oder zu ihm führt. Es geht um die Unterscheidung der Sätze: „Der Klee ist nicht dreiblätterig“ und „Der Klee ist ein Nichtdreiblätterig“. Der erste ist eine eigentliche negative Prädikation und stellt eine bestimmte, der akzidentellen qualitativen Prädikation eigene Negation dar, während der zweite eine unbestimmte Affirmation ist, wo einem ×n kaq\ aØtÒ ein m¾ ×n kat¦ sumbebhkÒj, das auf die erste Weise der akzidentellen Prädikation zurückführbar ist, zugeschrieben wird. Hier geht es nicht um eine eigentliche reale Eigenschaft, sondern um ein ×n æj ¢lhqšj kat¦ sumbebhkÒj, d.h. um ein ×n æj ¢lhqšj, das eine durch eine Operation des Verstandes gebildete Negation der Eigenschaft „dreiblätterig zu sein“ ist, und welches einem Seienden an sich, dem Klee, mittels eines Schemas der akzidentellen qualitativen Prädikation zugeschrieben wird (vgl. VMB, 20).

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im Verstande, bloß ein e�nai æj ¢lhqšj haben können“53. Der Versuch, eine essentiellere als die essentielle Prädikation zu bestimmen, führe auch zur Festsetzung bestimmten Verhältnisse, die, obwohl ihr Ausgangspunkt von der kategorialen Einteilung dargestellt sei, keine kategoriale Bedeutung mehr haben, sondern nur im Geist existieren. Der Beweisgang Brentanos ist der nächste: die essentielle Prädikation setze nicht nur die Namens-, sondern auch die Wesensgleichheit des Subjektes mit dem Prädikat; zwischen „Sokrates ist Mensch“ und „Sokrates ist Sokrates“ gebe es eine Unterscheidung, denn, während das Subjekt sowohl real als auch rationell mit dem Prädikat im letzten Satz zusammenfalle, sei die reale Identität von einer rationellen Unterschied im ersten Satz begleitet: In „Sokrates ist Mensch“ werde das Subjekt von einer allgemeinem Standpunkt aus als im zweiten Satz betrachtet:

Allein ist es unmöglich, daß es eine essentiellere Prädikation, als die essentielle gibt, das reelle Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat ist in beiden Fällen das gleiche, und wollte man hier wegen des Unterschiedes des begrifflichen Verhaltens eine nochmalige Unterscheidung treffen, so hieße dies den Weg, den die Einteilung des ×n als ein Ðmènumon kat\ ¢nalog…an einzuschlagen hatte, um zu den Gattungsbestimmtheiten hinabzusteigen, gleichsam über das Ziel hinaus dahin verfolgen, wo kein Unterschied der Beziehungen mehr ist, der außerhalb des Geistes stattfindet. So wenig uns Aristoteles durch die Unterscheidung der ersten und zweiten Substanzen Arten gibt, in welche eine Gattung zerfällt, so wenig gibt er uns Gattungen, in die ein Analogon geschieden wird. Immerhin ist sie als Ausläufer der Kategorieneinteilung für die ganze Richtung, in der diese sich bewegt, ein willkommenes Zeichen54.

Durch die Bildung der Negation „Nichtweiß“ wird schon der Bereich des kategorialen Seienden zugunsten eines Bereichs von Seiendem verlaßt, das aus nicht-realen Bestimmungen, z. B. Vier-, Fünfblätterig55 u.s.w., zusammengesetzt ist. So wird es deutlich, daß wenigstens derjenige Teil des ×n kat¦ sumbebhkÒj, der sich auf die Negationen bezieht, dieselben Bedingungen als das Seiende als Wahres im besonderen Sinn erfüllt und als uneigentliche Bedeutung des Seienden von dem Bereich der Metaphysik ausgeschlossen werden soll.

Was das zur Diskussion stehende Beispiel betrifft: „Sokrates ist wahrerweise nichtweiß“, kann es auf verschiedene Weisen angedeutet werden: gemäß der am Anfang des Aristotelischen Text dargelegten und von

53 VMB, S. 202. 54 Ebd., S. 150. 55 Vgl. S. 20.

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Brentano aufgenommenen Konvention56 heißt „Sokrates ist nichtweiß“ dasselbe wie „Sokrates ist wahrerweise nichtweiß“, weil „ist“ hier „ist wahr“ bedeutet und jedes andere Kriterium der Wahrheit (das Korrespondenzkriterium z.B.) ausschließt. Der Ausdruck ist aber auch mittels dieses Kriteriums interpretierbar: „‚Sokrates ist nichtweiß‘ ist falsch“, weil seine Haut weiß ist, oder ist wahr, wenn man den Gesichtspunkt ändert: „Die Farbe der Augen von Sokrates ist nichtweiß“. Ich halte es durchaus für möglich, daß die Anwesenheit dieses Ônoma ¢Òriston57 und des sich auf die Diagonale beziehenden Satzes der eigentliche Grund war, der Brentano zur Auswahl dieser Aristotelischen Stelle veranlaßte, um die besondere Bedeutung des Seienden als Wahres oder des Seins der Kopula zu veranschaulichen. Da ist vielleicht von Belang, daß der Denker sich in seinen späteren Schriften über Aristoteles auf diese Stelle nicht mehr beruft.

Der dritte Satz: tÕ d\oÙc œstin ¹ di£metroj sÚmmetroj, Óti yeàdoj („dagegen die Diagonale ist nicht kommensurabel, d. h. es ist falsch“) war je nachdem, wie Óti yeàdoj gedeutet wurde, noch damals sehr umstritten. Bekker glaubte, das beziehe sich auf das ganze Urteil, berichtigte den Aristotelischen Text und las darum anstatt ¹ di£metroj sÚmmetroj, ¹ di£metroj ¢sÚmmetroj, während Schwegler (und ihm folgend Brentano) bekämpfte seinen Vorschlag aufgrund der erwähnten Konvention: hier gehe es nicht um das über den ganzen Satz ausgesagte “ist falsch”, sondern um die Erfassung jener Bedeutung der Wahrheit oder der Falschheit, die durch die positive oder negative Anwendung der Kopula zur Sprache komme. Auf unserem Fall macht Óti yeàdoj die Bedeutung des oÙc œstin Deshalb heißt „Die Diagonale ist nicht kommensurabel“ „Die Diagonale ist falscherweise kommensurabel“ oder „Die Vorstellung einer kommensurablen Diagonale ist falsch“58, oder der Sprache der späteren Urteilstheorie Brentanos zufolge solle ein solches Objekt verworfen werden.

Zusammenfassend sind im Aristotelischen Text aus Metaphysik Δ 7 zwei Seiten vorhanden: (1) die von Brentano betonte enge Verbindung des affirmativen Charakters des Satzes mit dem seiner Wahrheit und (2) die Korrespondenzseite der ersten zwei Sätze, besonders des ersten Satzes, dessen Subjekt und Prädikat reale Begriffe sind. Zum Verständnis der Brentanoschen Interpretation dieser Stelle und auch der Richtung, in die seine Interpretation sich bewegt, ist es wichtig, zu unterstreichen, daß

56 Brentano übernahm diese Interpretation aus dem Kommentar von Alexander von Aphrodisias (vgl. Alex. Aphrod. Schol. p. 701 a. 5, zitiert nach BRENTANO a. a. O., S. 35). 57 Vgl., VMB, S. 20. 58 Vgl. darüber die Anmerkung von H. Seidel in Aristoteles, Metaphysik, erster Halbband, Hg. Horst Seidel, Hamburg: Felix Meiner 1989, 385 f.

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Brentano die zweite Seite ganz außer acht läßt und dem Kommentar von Alexander von Aphrodisias folgend auf die erste Seite den Akzent ausschließlich setzt. Der folgende Text ist dafür aufschlußreich:

Auch ist es sicher, das das „sein“ der Kopula nicht eine Energie des Seins, ein reales Attribut bezeichnet, da wir ja auch von Negationen und Privationen, von rein fingierten Relationen und andern ganz willkürlichen Gedankengebilden nichtsdestoweniger etwas affirmativ aussagen, wie Aristoteles in der oben zitierten Stelle Metaph. Γ 2 „daher sagen wir auch, es sei das Nichtseiende ein Nichtseiendes“ oder wenn wir sagen: „jede Größe ist sich selbst gleich“, wo gewiß in der Natur der Dinge von einem prÒj ti, wie die Gleichheit doch ist, nichts gefunden wird, oder wenn wir sagen: Die Zentauren sind fabelhafte Ungetüme, Jupiter ist ein Abgott“ u. dgl. Denn daß wir mit allen diesen Affirmationen keinerlei Realität zuerkennen, leuchtet wohl ein. Das „ist“ bezeichnet also hier nur „es ist wahr“59.

Die diesem Text zugrundeliegenden Ideen sind die folgenden: Die mannigfaltigen Anwendungen der Kopula sind in keinem Fall auf die realen Bedeutungen des Seienden reduzierbar oder von diesen bedingt. Die Sätze, die mittels der Kopula gebildeten werden, können „keine besondere außerhalb des Geistes existierenden Natur des Seienden“, kein reales Attribut oder keine Energie der eigentlichen Bedeutungen des Seienden ausdrücken, weil sie sich gerade auf jene Gedankengebilde (logische Verhältnisse oder imaginäre Gebilde) beziehen, die nur aus der Operationen des menschlichen Verstandes entspringen60. Gemeint sind die Negationen, die logischen Verhältnisse und die Gedankendinge überhaupt, die nur im Geist existieren. Da stellt der zweite angeführte Satz den Ausdruck eines vom Verstand selbst festgesetzten Grundsatzes: das Identitätsprinzip, aus. Der dritte und der vierte Satz berufen sich auf falsche Vorstellungen im Verhältnis zur Kategorien: Jupiter und die Zentauren sind nicht reale Dinge, sondern imaginäre Gebilde. Dennoch die Sätze, die sich auf sie beziehen, sind durch Attribution61, d. h. durch das, was wir über sie sagen, wahr: der Satz über Jupiter steht mit dem christlichen Glauben und derjenige über Zentauren mit der griechischen Mythologie in Einklang.

Die Analyse des ersten Satzes ist sowohl für die Unzurückführbarkeit des Seins der Kopula auf das kategoriale Seiende als auch für seine Verbindung damit aufschlußreich, und sein Sinn kann besser mittels einer anderen Fassung dargestellt werden: „sogar das Nichtseiende ist, weil es ein Nichtseiendes ist, in dieser Weise ‚ein Nichtseiendes

59 VMB, S. 36 f. 60 Vgl. ebd., S. 38 f. 61 Vgl. S. 31.

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seiend‘“62. Der Gesichtspunkt der schon angeführten Stelle aus Metaphysik Γ 2 ist da bedeutsam:

Einiges wird Seiendes genannt, weil es Substanz, anderes, weil es Eigenschaft der Substanz, [...] oder weil es eine Negation von etwas Derartigem oder von der Substanz selbst ist. Daher sagen wir auch, es sei das Nichtseiende ein Nichtseiendes63.

Ihr Hauptidee besteht darin, daß das Verhältnis zur Substanz die nötige und ausreichende Bedingung darstelle, damit etwas Seiendes genannt wird. Dem Text gemäß ist dieses Verhältnis entweder ein reales oder ein sprach-logisches, nur auf dem Aussageniveau erscheinendes Verhältnis: Seiend wird nicht nur das genant, was wirklich in Beziehung auf die Substanz steht, sondern auch das, was in Bezug auf sie aussagbar ist, ohne ein reales, sondern nur ein logisches Verhältnis zu ihr zu haben, wie z. B. in der Satz „Der Nichtweiß ist eine Negation“. Damit erweitert sich die prÒj ›n legÒmena jenseits des kategorialen Bereichs und umfassen auch diejenigen Entitäten, die nur in Geist existieren. Der erwähnte Satz kann erklärt werden, wie folgt: Das Nichtseiende, weil es ein Nicht-seiende, d.h. eine logische Negation des eigentlichen Seienden (der Substanz oder ihrer Akzidenzien) ist, ist auch ein Nichtseiende, von dem sich sagen läßt, daß es sei oder existiere, aber nicht als solches, im eigentlichen Sinn, als ontologischer realer Gegensatz der Substanz, sondern nur als ihre logische Negation. Im Unterschied zu den kategorischen Sätzen, wo das logische Subjekt auch als ein reales erscheint, entspricht dem Subjekt dieses Satzes kein reales Seiende, sondern besteht sein Status nur darin, Subjekt in einem solchen affirmativen Satz zu sein. Das Adverb „seiend“ in „ein Nichtseiendes seiend“ heißt „ist Aussagesubjekt“, „ist nur im besonderen Sinn des Seienden als Wahres“, d. h. im Sinn einer Aussage über das Nichtseiende, die mit seiner Stellung als logische Negation in Einklang steht. Das hier zur Diskussion stehende Sein ist das in folgenden Ausdrücken eingeschlossene: „ist ein Nichtseiendes“, „ist logische Negation des Seienden, (der Substanz z. B.)“, und “seiend” bedeutet somit „das Seiende als Wahres“ „das Seiende als das sich nur in Geist befindende“ oder „das Seiende als Subjekt einer affirmativen nicht-realen Aussage“64.

62 S. 37. 63 ARISTOTELES, Met Γ 2, 1003 a 33 sqq, (übersetzt von BRENTANO, a. a. O., S. 6). 64 Es ist interessant, daß in der Metaphysikvorlesung, die über 5 Jahre in Würzburg gehalten sind, “seiend”, das hier als Zeichen dafür steht, daß die eigentliche Grundlage einer Entität eine Operation des Verstandes ist, ein Scheinprädikat ist, d.h. ein Merkmal, das einem Objekt zugeschrieben wird, wenn sich das psychische Subjekt auf es bezieht. In dieser Hinsicht kann das Objekt „seiend“, d.h. glaubwürdig, oder nötig oder möglich sein: „die Scheinprädikate der Zustimmung seiend, notwendig; und der Verwerfung der notwendiger Falschheit: möglich.“ So kann man das Seiende als Wahres aus Dissertation mit der Einstellung des psychischen

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Daraus ergibt sich, daß der Wahrheitsbegriff, die mittels solchen positiven Verwendungen der Kopula zur Sprache kommt, vom Wahrheitsbegriff der Korrespondenztheorie grundlegend verschieden ist. Zum Unterschied von diesem heißt „ist“ der Kopula nicht „ist reell“ oder „ist mit der kategorialen Struktur in Einklang“. Ist aber dieses „ist“ widersinnig oder, wie Krell behauptet, ziehe es sollipsistische Konsequenzen nach sich?65 Die Antwort ist verneinend, denn das sich nur im Geist befindende Seiende bewegt sich auf einer Ebene, die von logischem Standpunkt aus widerspruchslos ist und die aus objektiven Begriffen besteht:

Es ist dies ein Mögliches (der Modernen Hinzufügung I.T.) das von aller Realität dessen, was möglich genannt wird, abstrahierend, nur behauptet, daß etwas existieren könne, insofern durch seine Existenz kein Widerspruch gesetzt werde. Es existiert nicht in den Dingen, sondern in objectiven Begriffen und Begriffsverbindungen des denkenden Geistes, es ist etwas bloß Rationelles66.

Demnach stellt die Beachtung des Satzes des ausgeschlossenen Widerspruchs die Minimalbedingung dar, die von jedem Satz, der sich auf die Gedankendinge bezieht, erfüllt werden soll.

Obwohl der Denker von der Betrachtung der kategorischen Urteile als eigentliche Träger der Wahrheit ausgeht, wird es aufgrund der genannten Beispiele deutlich, daß er am Ende zu den nichtrealen, am kategorialen Grund mangelnden Urteilen kommt, die, wie man gleich zeigen wird, auf der Ebene der objektiven Begriffen entstehen und als das Seiende als Wahres oder als das Sein der Kopula im allgemeinen bezeichnet werden. Dieses Ergebnis beruht letzten Ende auf einer Niveauänderung, die streng gesprochen auch als eine Verletzung des Identitätsprinzips betrachtet werden könnte, weil die Kopula nicht nur in den Sätzen, die dem Seienden als Wahres in besonderem Sinn gehören, sondern auch in den kategorischen Sätzen das Subjekt mit dem Prädikat bindet. Aber in Dissertation läßt Brentano diese Seite, die in der erster Bedeutung des „ist wahr“ klar einbegriffen ist, ganz außer acht und führt die Idee des Seins der Kopula erst im Kommentar zu Δ 7 ein67. In seinem Meisterwerk wurde Pierre Aubenque

Subjektes aus der Metaphysikvorlesung in Verbindung gebracht werden. Vgl. Metaphysik, M. 96, das Kapitel von dem Seienden als Wahres, Lektion XXXIX. Über dasselbe Problem s. auch die aufschlußreiche Analyse von Antonelli, wo auch viele bedeutsame Stellen aus diesem Werk wiedergegeben sind (vgl. Antonelli a.a.O., 253-270). 65 Vgl. D.F. KRELL, “On the Manifold Meaning of ‘Aletheia’: Brentano, Aristotle, Heidegger”, in Research in Phenomenology, 5 (1975), S. 86. 66 VMB, S. 41. 67 Daß das Sein der Kopula für Brentano ausschließlich als Name jenes Bereichs der Objekte, die nur im Geist existieren, steht, ergibt sich auch aus anderen Stellen seiner Schrift: „denn jene modalen Bestimmungen sind wie dieses Sein (der Kopula Hinzufügung I. T.) selbst

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von diesem Versäumnis Brentanos irregeführt, als er über das Sein der Kopula behauptete:

Il est donc permis de souscrire à l’interprétation de Brentano, selon laquelle l’être comme vrai désigne chez Aristote l’être comme copule dans la proposition [...] Car en tant qu’être de la copule, il n’est pas une signification parmi d`autre, mais le fondement de toute signification: le verbe être, considéré dans sa fonction copulative, este le lieu privilégié où l’intention signifiante se dépasse vers les choses et où les choses naissent au sens...68

Laut Brentano beziehe sich das Seiende als Wahre wirklich auf das Sein der Kopula in Sätzen, aber, weil die eigentlichen Prädikationsweisen hier ausgeschlossen sind, handele es sich hier nicht um die Sätze, wo das Denken sich den Dingen erschließt, sondern um den Platz, wo ein Seiendes konstituiert werde, dessen Grund nicht von den kategorialen Verhältnissen, sondern nur vom Verstand dargestellt werde69.

Ein anderer wichtiger Aspekt des Textes von Brentano bezieht sich darauf, daß der Denker den Gedankengebilden des Seienden als Wahres eine „objective“ Existenz in dem Geist zuschreibt:

[...] und überhaupt wird jegliches Gedankending, d. h. Alles, insofern es objectiv in unserem Geiste existierend Subjekt einer wahren, affirmativen Behauptung werden kann, dazu gehören. Nichts was wir in unserem Geiste bilden, ist so von aller Realität entblößt, daß es ganz von dem Gebiete des ×n æj ¢lhqšj ausgeschlossen wäre [...]70 (Hervorhebung I. T.)

Klaus Hedwig, dem die gründlichsten Studien über die Frage nach dem mittelalterlichen Einfluß auf die Philosophie Brentanos gehören, hat überzeugend bewiesen, daß dieser Begriff im Spätkonzeptualismus entstand und die Idee einer gewissen „ontologischen Konsistenz“71 voraussetzt. Aber, wenn das so ist, und die Äußerung Brentanos über die Realität, die den Gebilden unseres Geistes zukomme, bezeugt es, dann käme dem Nichtseienden das Sein der Kopula nicht nur darum zu, weil es logische Negation des Seienden wäre, sondern auch darum, weil es irgendwie „reell“ im Geist sich befände. Diese These ist aber ganz problematisch, weil sie droht, die Negationen, Privationen und „andere willkürlichen Gedankengebilde“ zu ontologisieren: Das Seiende würde nicht nur in

bloße Verstandesdinge, die nicht außerhalb des Geistes existieren“ (VMB, S. 217; vgl. auch S. 14). 68 P. AUBENQUE, a.a.O., S.170. 69 Vgl. S. 39. 70 S. 37. 71 K. HEDWIG, Sein, objektives, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Se-Sp, Basel / Stuttgart 1995, S. 249.

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mannigfachen Weise ausgesagt werden, sondern es würde auch in mannigfachen Weisen existieren. Aber die Richtung, die Brentano in seiner Argumentation einschlägt, läßt zu, diese Idee wie ein Versäumnis oder wie ein ontisches Gleiten zu betrachten, die sich in seiner Schrift nicht wiederholt, und die in den darauffolgenden Zeilen richtiggestellt wird, weil der Denker zur grundlegenden Idee der Homonymie des Seienden zurückkommt und behauptet, die Privation lasse sich auch wie ein Haben – ein Haben der Beraubung – beschreiben, aber nicht weil ihr eine „ontologische Konsistenz“ im Geist zukommt, sondern wegen der Seinshomonymie, die das Aussagen vom „ist“ über die nichtrealen Gedankendinge ermöglicht72. Diese Idee macht den leitenden Gesichtspunkt der Arbeit aus, und ihre linguistische Äußerung: das homonyme Aussagen des ×n, stellt sowohl die Übertragung der kategorialen Verhältnisse auf die logisch-linguistische Ebene als auch der Ausdruck der logischen und imaginären Verhältnisse, die nur im Geist ihren Grund haben, dar. Dieser Gesichtspunkt erklärt auch die Bestimmung der aristotelischen Logik, die im Werk von Brentano singulär ist73, als formale Wissenschaft, der die Behandlung des Seienden als Wahres im erwähnten Sinn im metaphysischen Rahmen der Seinshomonymie zugeschrieben wird. Obwohl die Logik in traditionellem Sinn als Wissenschaft der zweiten Intentionen bestimmt wird74, ist es bemerkenswert und für Dissertation auch eigenartig, daß dem von ihr geforschten Bereich auch diejenigen Gedankengebilde (Jupiter, Zentauren) zukommen, die Genus, Spezies oder andere zweiten Intentionen nicht mehr sind. Das erklärt sich daraus, daß die Brentanosche Analyse des Seienden als Wahres aus Dissertation seine erste und darum noch nicht abgeschlossene Behandlung des nur im Geist existierenden Seienden ist75.

72Vgl. VMB, S. 37 f. 73 In Vorlesungen über die griechische Philosophie wird die Aristotelische Logik als „die Kunst, Erkenntnisse hervorzubringen“ bestimmt. (BRENTANO, Geschichte der griechischen Philosophie, Hamburg: Felix Meiner 1988, S. 229). In der Abhandlung „Zur Logik“ wird auch darüber behauptet: „1) Keine theoretische Wissenschaft, sondern eine Technik. Eine theoretische Behandlung des evidenten Urteils und Schließens wäre nur Sache der Psychologie. 2) Nicht rein formal sondern mit Berücksichtigung der realen Verhältnisse...“ (BRENTANO, Über Aristoteles. Nachgelassene Aufsätze. Hamburg: Felix Meiner 1986, S. 41). Die Definition aus dem Logikkolleg bewegt sich in dieselbe Richtung: „Kunst des richtigen Urteils, also der Erkenntnis.“ (BRENTANO, Die Lehre vom richtigen Urteil, Bern: Franke 1956, S. 5). 74 Vgl. VMB, S. 39, 123 f. Diese zweiten Intentionen stehen im Hintergrund des berühmten Intentionalitätspassus, wo Brentano den Intentionalitätsbegriff in die zeitgenössische Philosophie eingeführt hat (vgl. BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, [weiter PsI] 1874, Nachdruck Bd. 1, Hamburg l973, S. 124-125). 75 In Metaphysikvorlesung sind die Sachen schon klarer geworden, weil jetzt nicht nur die Logiker, sondern auch die Psychologen sich mit diesem Seienden beschäftigen sollen: „<Der

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Obwohl vom sprachlichen Standpunkt aus diese Behandlung noch in traditionellem Rahmen bleibt, ist sie dennoch für seine künftigen Werke von Bedeutung, weil sie seinen späteren Wahrheitsbegriffen: die Übereinstimmung76 und die Evidenz77, zum Durchbruch verhilft.

Logiker und zum Teil der Psychologe sprechen ex professo von ihm (vom Seienden als Wahres, Hinzufügung I. T.)>“ (M. 96, Bl. 31948) 76 Vgl. den Vortrag „Über den Begriff der Wahrheit“, in Wahrheit und Evidenz (weiter WE), Hamburg Felix Meiner 1958, S. 16-29. 77 Vgl. WE, S. 121-150. Nur nebenbei sei hier bemerkt, daß Brentano die Korrespondenzlehre der Wahrheit nur in seinen ersten, den Aristoteles gewidmeten Schriften vertritt, wo er aber seine eigene Auffassung beiseite legt, um von Aristotelischem Standpunkt aus die Probleme zu behandeln. Die Weise, in der er die Frage der sensibelen Erkenntnis in Die Psychologie des Aristoteles und in Metaphysikvorlesung, die fast in gleicher Zeit gehalten wird, anschneidet, ist dafür aufschlußreich: während er sich in der ersten Schrift die Aristotelische These zu eigen macht, daß die sinnliche Erkenntnis sich nicht über das ihr eigentümliche Objekt täusche, wird der Inhalt der Empfindung in der Metaphysikvorlesung als „constantes“ oder „phänomenales Zeichen“ einer Wirklichkeit betrachtet, deren Wirkung auf unsere Sinne die Empfindungen hervorbringt (vgl. Die Psychologie des Aristoteles insbesondere seine Lehre vom Nous Poietikos, (weiter PsA) 1867, Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967, S. 84 f. und Metaphysik, Erster Teil. Apologetik des Vernunftwissens gegen Skeptiker und Kritiker, Bl. 31764). Die Psychologie vom empirischen Standpunkt setzt die Auffassung von Metaphysikvorlesung fort (vgl. PsI, S. 28, 129, 138 f. et passim; zu den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten des Empfindungsinhalts als traditionelle Form, die ein zuverlässiges Bild des Dinges bietet, oder als physisches Phänomen, das nur ein Zeichen seiner Ursache ist, vgl. meine Abhandlung „Die intentionale Inexistenz. Ein kritischer Versuch zur traditionellen Interpretation des Intentionalen bei Brentano“, in New Europe College Yearbook 1997/1998, S. 497-507). Die Sachen sind so weit gegangen, daß Brentano Aristoteles seine eigene Anschauung über die sensibele Erkenntnis in Aristoteles und seine Weltanschauung zuschreibt. Das folgende Passus, das aber sich nicht wie PsA auf De an. bezieht, ist dafür aufschlußreich: „Völlig deutig wird aber uns seine wahre Meinung, wenn wir ihn an verschiedenen Stellen und namentlich in der Schrift über die Empfindung und das Empfundene erklären hören, daß, wenn es kein Sehendes gäbe, keine Farbe einem Körper wirklich zukommen würde; bestehe doch sein Farbigsein in nichts anderem als darin, daß er die Empfindung von etwas Farbigem in uns errege oder sie zu erregen vermöge. Nur wenn er sie errege, sei er in Wirklichkeit, sonst in bloßer Möglichkeit farbig. ... Die Dinge draußen sind also unseren primären sinnlichen Phänomenen in bezug auf das eigentümliche Sinnesobjekt gar nicht ähnlich. Und wenn wir das, was wir sehen, wie es uns erscheint, als Eigenschaft einem Außendinge zuschreiben würden, so würden wir gerade in bezug auf das eigentümliche Wahrnehmbare am vollständigsten im Irrtum sein. Denn daß es in Wirklichkeit ausgedehnte, irgendwie gestaltlich begrenzte, ruhende und bewegte Körper gebe, wenn auch nicht gerade einen, der meiner Sinneswahrnehmung in allen Stücken genau entspricht, hat, wie wir sehen werden, Aristoteles nicht geleugnet. Und wir finden darum, wenn wir das, was er über den Unterschied des eigentümlichen und gemeinsamen Wahrnehmbaren lehrt, mit der Lehre von Descartes und Locke in bezug auf die sekundären und primären Qualitäten vergleichen, eine volle Übereinstimmung.“ (BRENTANO, Aristoteles und seine Weltanschauung, Hamburg Felix Meiner 1977, S. 32). So daß soll man nicht Brentano mehr als Aristoteles die Korrespondenzlehre zugeschrieben werden.

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III

Das Ziel der bisher durchgeführten Analyse, war zu zeigen, daß der Fächer der Aristotelischen Bedeutungen des Seienden in der Dissertation Brentanos breiter als derjenige ist, der sich auf die Substanz zurückführbar läßt. Streng gesprochen sind die uneigentlichen Bedeutungen des Seienden: die dritte Form der akzidentellen Prädikation und das Seiende als Wahres im besonderen Sinn tatsächlich nicht von dem Sein der Substanz ableitbar. Heißt aber das, das sie eine ganz beschiedene Rolle in der Dissertation von Brentano spielen? Es kommt darauf an, von welcher Seite her die Sachen betrachtet werden. Geht man von den Hinweisen Heideggers aus zum Werk Brentanos zurück, und liest es durch die Brille von Heidegger, dann läßt sich sagen, daß diese uneigentlichen Bedeutungen uninteressant seien, weil sie nicht vieles mit dem Brentanos Gedankengang: das Kapitel über das Seiende nach den Figuren der Kategorien, zu tun haben, der Heidegger beeinflußte. Betrachtet man sie hingegen vom Gesichtspunkt der ständigen Bestrebungen Brentanos her, das Problem des Seienden als Wahres oder der entia rationis zu erklären, dann sind diese Bedeutungen nicht zu vernachlässigen. Im Gegenteil läßt sich behaupten, daß sie eine erhebliche Rolle in seiner ersten Schrift spielen, denn die Unterscheidung zwischen realen und objektiven Begriffe macht genau die Grundlage der Dissertation aus78, und die Begriffe, die in den vier Grundbedeutungen aus Buch E eingeschlossen sind, können diesen zwei Begriffsarten untergeordnet werden. Deshalb läßt sich sagen, daß das, was mittels dieser Bedeutungen zur Sprache kommt, ist vielleicht bei Brentano mittels des Unterschiedes der realen, eigentlichen und der „objectiven“, uneigentlichen Bedeutungen des Seienden einfacher aussagbar79, Von der Perspektive seiner eigenen Philosophieren und auch der seiner Schüler aus hat das Problem, welches mittels des Begriffs obiective

78 VMB, S. 81. 79 Brentano spricht nicht von einer objektiven Bedeutung des Seienden, sondern nur von „reellen“ und „objektiven“ Begriffen (Vgl. VMB, S. 82). Nach dem hier Gesagten könnte man von zwei verschiedenen uneigentlichen Bedeutungen des Seienden als Wahres und auch von zwei verschiedenen Niveaus, auf denen ihren Ausschluß aus dem metaphysischen Bereich stattfindet. Es geht zum einen um die uneigentlichen Bedeutungen des Seienden, die in Verbindung mit der eigentlichen Bedeutungen stehen, und die auf sie reduzierbar sind: die akzidentelle eigentliche Prädikation und das Seiende als Wahres, das als logisch-sprachlicher Ausdruck der kategorialen Strukturen auch auf die Substanz zurückgeführt werden kann. Wegen der Verbindungen dieser Bedeutungen mit der „übrige Gattung des Seienden“ könnten sie als uneigentlich uneigentliche Bedeutungen des Seienden betrachtet werden. Neben ihnen stehen die eigentlich uneigentlichen Bedeutungen des Seienden: das Seiende als Wahres im Sinn der Kopula und das ×n kat¦ sumbebhkÒj in der dritten Bedeutung, die, obwohl sie sich mit der kategorialen Bedeutung in Verbindung bringen läßt, auf keinem Fall auf sie reduzierbar sind.

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behandelt wird, eine ganz wichtige Rolle: Brentano greift zu diesen Begriff genau um jene Aristotelische Stelle aus De an. II 12, 424 a zu deuten, die von den heutigen Interpreten als die geschichtliche wichtigste Quelle seines Intentionalitätsbegriffs betrachtet wird80. Dieser Begriff und die mit ihm verbundene Fragestellung steht von traditionellen Standpunkt aus im Vordergrund des locus classicus der Intentionalität81, und zeigt sich auch als ein bedeutender geschichtlicher Hintergrund des „Vorstellungsgegenstandes“ Twardowskis, der Gegenstandstheorie Meinongs und der Intentionalitätslehre Husserls. Die Bedeutung dieses traditionellen Begriffs, der zum ersten Mal im Brentanos Werk in einem metaphysischen Zusammenhang eingeführt wird, enthüllt sich aber erst in Rahmen seiner Psychologie, wo “objektiv” das immanente Objekt der Vorstellungen bezeichnet, das die Grundlage der supraponierten Akte der Urteile und der Gemütsbewegungen ausmacht. Daran knüpft sich zum einen eine unerwartete Konsequenz: trotz der Behauptung von Heidegger: „Mein Brentano ist der des Aristoteles“82, erweist sich „der Brentano“ der Dissertation nicht so rein von Psychologie, wie Heidegger glaubt, eben wegen der Wichtigkeit dieses Begriffs in der Psychologie vom empirischen Standpunkt. Umgekehrt wird es ersichtlich, daß es in der Psychologie Brentanos, die auf Husserl Einfluß ausgeübt hat, Begriffe gibt, die von traditionellen ontologischen Konsequenzen ursprünglich belastet sind. Zum anderen zeigt das auch, daß die Ursprünge der idiogenetischen Urteilslehre Brentanos, die von Heidegger in seiner Dissertation, wohl mit Recht, kritisiert wird, in einem Bereich liegen, der nicht psychologisch, sondern eher logisch ist, und es ist vielleicht von Bedeutung, daß eine zentrale These dieser Lehre: die Rolle des existentiellen „ist“, in einem solchen logisch-metaphysischen Zusammenhang zum erstenmal in einer vollständigen und endgültigen Form zur Sprache kommt: im dem Seienden als Wahres gewidmeten Kapitel aus der Metaphysikvorlesung behauptet Brentano ganz 80 Vgl. ARISTOTELES, De an. II 12, 424 a 17 sqq.; vgl. BRENTANO, PsA, S. 80 f. Klaus Hedwig ist der erste, der den Weg vom scholastischen “obiective” hin zur Erklärung des Brentanos Intentionalitätsbegriff schlägt (vgl. HEDWIG, „Der scholastische Kontext des Intentionalen bei Brentano“, in Die Philosophie Franz Brentanos. Amsterdam: Rodopi 1978, S. 70 ff., und ders., „Über die moderne Rezeption der Intentionalität Thomas-Ockham-Brentano“, in Finalité et intentionnalité: doctrine thomiste et perspectives modernes, Actes du Colloque de Louvain-la-Neuve et Louvain, 21-23 mai 1990, hg. v. J. FOLLON u. J. MCEVOY, Paris 1992, S. 218. 81 PsI, S. 124: „Sie (die Scholastiker, Hinzufügung. I.T.) gebrauchen auch den Ausdruck ‚gegenständlich (objektive) in etwas sein‘, der, wenn man sich jetzt seiner bedienen wollte, umgekehrt als Bezeichnung einer wirklichen Existenz außerhalb des Geistes genommen werden dürfte. Doch erinnert daran der Ausdruck ‚immanent gegenständlich sein‘, den man zuweilen in ähnlichem Sinne gebraucht, und bei welchem offenbar das ‚immanent‘ das zu fürchtende Mißverständnis ausschließen soll.“ 82 Heidegger, Seminare, GA Bd. 15, S. 385 f.

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klar, daß das Urteil nicht eine Composition, sondern eine Position sei83. Es ist hier nicht angebracht, auf die Einzelheiten dieser Frage einzugehen, aber dennoch kann die Frage gestellt werden, ob vielleicht diese Position nicht jene „Beziehung auf einen Inhalt“ oder jene „Richtung auf ein Objekt“84 bedeutet, die im Intentionalitätspassus angeführt werden?, und die auf dem Grund des ganzen zweiten Bandes der Psychologie vom empirischen Standpunkt stehen85. Denn laut Brentano seien alle kategorischen Urteile auf existenzielle Sätze zurückführbar, und in “ist” existentiell stecke jene uneigentliche Bedeutung des Seienden86, die vom Seienden als Wahres im besonderen Sinn gebildet ist: „A ist“ bei Brentano bedeutet nicht so viel, daß A unabhängig von dem psychischen Subjekt existiert, obwohl es in seiner Psychologie auch so interpretierbar ist, sondern daß in Rahmen einer psychischen Beziehung auf ein A es anerkennungswürdig oder so ist, daß von jemandem anerkannt werden muß. Diesem ihm eigenen Moment gebe ich Ausdruck, wenn ich auf es beziehe, zu ihm zustimme und sage „ist“87. Demnach ist “ist” hier nicht im realen, sondern in jenem Sinn gemeint, der zum ersten Mal im Paragraph über das Seiende als Wahres aus der Dissertation antastend zur Sprache kommt. Deshalb wird der Denker von dieser Adäquation im Vortrag „Über den Begriff der Wahrheit“ (1889) sagen, daß es nicht so viel um eine Übereinstimmung mit einem dem Bewußtsein transzendenten Gegenstand gehe, sondern um eine mit dem ihm immanenten Objekt, dem ich mit meinem (seinem Anerkanntsein entsprechenden) „ist wahr“ anpasse oder zustimme88. Der wiederholte Hinweis Brentanos auf das Aristotelische qigg£nein als eine geschichtliche Vorwegnahme seiner idiogenetischen Urteils- und Wahrheitslehre89 macht möglich, einen anderen Rahmen zu einem Vergleich zwischen Brentano und Heidegger als derjenige einer Gegenüberstellung zu begründen90. Denn ganz

83 Vgl. Brentano, Metaphysik, M 96, Bl. 31949. 84 PsI, S. 124. 85 Der Band enthält die Kapitel aus dem Werk von 1874, die sich auf die Klassifikation der psychischen Phänomene beziehen, und die genau unter diesem Titel veröffentlicht wurden (vgl. BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 2, Die Klassifikation der psychischen Phänomene, (weiter PsII) Leipzig 1925). 86 Vgl. Metaphysik, Bl. 31948. 87 Vgl. Ps II, S. 88 ff. und WE, S. 23 ff. Diese Interpretation ist nicht für das Spätwerk gültig, wo die Wahrheit nicht als Übereinstimmung, sondern als Evidenz betrachtet wird. Zum Verständnis der Umbildungen, die zu diesem Begriff führen, ist der Vortag über die Wahrheit dennoch von Belang (vgl. dazu Jan SRZEDNICKI, Franz Brentano`s Analysis of Truth, The Hague: Martinus Nijhoff 1965). 88 Vgl. WE, 24 f. 89 Ebd., S. 20 f., 164, 219. 90 Vgl. P. AUBENQUE, a. a. O., S. 164-170.

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wie Heidegger und vor ihm91 hat Brentano ziemlich früh eine scharfe Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit in dem Kapitel über das Seiende als Wahres seiner Metaphysikvorlesung geübt, wo die in dieser Theorie einbegriffenen Schwierigkeiten klar dargelegt werden. Diese Kritik wird ihn letzten Ende zu einen Wahrheitsbegriff führen, der sich nicht mehr auf die Übereinstimmung mit den Dingen, sondern auf Evidenz stützt. Aber trotz dieser Kritik und im Unterschied zu Heidegger bleibt das Urteil für Brentano immer der eigentliche Ort der Wahrheit, so daß ein Vergleich der zwei Denker sowohl diese Tatsache, als auch die besondere Bedeutung des Seienden als Kopula in Dissertation und die zentrale Stellung der Evidenz in seiner späten Philosophie berücksichtigen soll.

Abschließend sei noch bemerkt, daß Heidegger auch in seiner Dissertation zum Begriff „Objektiv“ greift, genau um jene von der psychologistischen Urteilslehre (Brentano einbegriffen) vernachlässigte Seite der Gültigkeit hervorzuheben, die von dem Sinn dargestellt sei:

Was eben als Sinn92 herausgestellt wurde, ist der Gegenstandstheorie unter dem Namen „Objektiv“ bekannt. Und die Logik wird auf diesen gegenstandstheoretischen Begriff aufgebaut. Das Objektiv, z. B. „daß 7 eine Primzahl ist“ wird „geurteilt”, gesetzt; die Gegenstandstheoretiker verstehen unter Urteil immer einen psychischen Vorgang; das Setzen, die urteilende Tätigkeit93.

Aber die verschiedene Schreibweise des Terminus bei den Gegenstandstheoretikern weist schon auf eine verschiedene Bedeutung hin: für Meinong und für seinen Schüler Mally bewegt sich „Objektiv“ auf dem Urteilsniveau, wo er den Sachverhalt „daß 7 eine Primzahl ist“94 nennt, während er bei Brentano nur als Adverb und nur auf dem Niveau der Vorstellung erscheint, um die Anwesenheit ihres Inhalts in der Seele und auch, obwohl das nicht so wichtig hier ist, seine ontologische Konsistenz zu bezeichnen. Im Unterschied zu Heidegger spielt dieses Seiende als Wahres bei Brentano von seiner Dissertation an bis zu seinem Spätwerk hin eine 91 Krell weist darauf hin, daß Heidegger den Vortag über die Wahrheit gekannt hat. Vgl. HEIDEGGER SuZ, § 44, a, und D.F. KRELL, a. a. O., S. 86. 92 Der Sinn wird von Heidegger charakterisiert, wie folgt: „Die Wirklichkeitsform des Sinnes ist das Gelten; die Wirklichkeitsform des Urteilsvorgangs, an dem – in dem- oder wie man sich ausdrücken will – der Sinn vorfindbar ist, ist das zeitlich bestimmbar Existieren. Das Gelten erkannten wir als die Wirklichkeitsform des Logischen; der Sinn ist es, der gilt. Also ‚verkörpert‘ er das Logische; und als das dem Urteilsvorgang Immanente kann er, der Inhalt, die logische Seite des Urteilens genannt werden. Das Urteil der Logik ist Sinn.“ HEIDEGGER, Frühe Schriften, GA Bd. 1, S. 114. 93 Ebd., S.114-115. 94 Vgl. ebd., und HEDWIG, „Über die moderne Rezeption der Intentionalität Thomas-Ockham-Brentano“, in Finalité et intentionalité: doctrine thomiste et perspectives modernes, Paris 1992, S. 233 An. 111.

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ganz wichtige Rolle. Die Tatsache, daß das Denken Brentanos heute von der analytischen Philosophie und in beschränktem Maß von den Historikern der Phänomenologie, aber nicht von den Phänomenologen selbst verwertet wird, steht vielleicht damit in Verbindung.