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1 Das Handeln und die fünf Sinne im 12. Jahrhundert 1 MARÍA JOSÉ ORTÚZAR ESCUDERO [email protected] Abstract Unlike modern philosophers and cognitive scientists medieval writers (at least until the 12 th century) were not interested in perception as such. They certainly thought about how we know about the world and how such knowledge, which they called “scientia exteriorum”, is attained through the five senses. Their disquisitions were aimed, though, at shedding some light on both the proper use of the five senses and their relationship to the knowledge of God. The operation of the five senses was only seldom understood as a passive recording of external impressions, most descriptions ended in considerations of the different activity of each sense or of each sense’s organ. This paper focuses precisely on sensory operation especially as it is viewed in texts by 12 th century monks and canons (i. a. Rupert of Deutz, Honorius Augustodunensis, Bernard of Clairvaux, William of St. Thierry, Hugh of St. Victor). It also reviews how contemporary emphases such as the man as a microcosm and the renewed importance granted to the vita activa (and consequently, to work) led to a definition of the senses and of “homo” – that was even more perfused by human operation. Seit der Antike wurden Theorien darüber entwickelt, wie die sinnliche Wahrnehmung zustande kommt und welchen Wert das Wahrgenommene für die Erkenntnis hat 2 . Unter den Kirchenvätern ist bei Augustinus (354-430) die vollständigste Lehre der Sinneswahrnehmung zu finden, in der einige Überlegungen Platos und Aristoteles’ anklingen 3 . In seinem Genesis- Kommentar erweist sich Augustinus als ein Vertreter der platonischen Sendetheorie, denn auch er erklärt den Sehvorgang durch einen Strahlenwurf aus den Augen 4 . Wie Aristoteles sieht er jedoch die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung in der Wirkung eines Objektes auf ein Sinnesorgan: Formen (species), deren Ursprung sich in den physischen Objekten befindet, dringen durch die verschiedenen Sinnesorgane ein und erreichen hierauf die 1 Dieser Essay stellt einige Ergebnisse meiner Dissertation „Der Gebrauch der Sinne in den visionären Schriften Hildegards von Bingen (1098-1179): Ein Beitrag zur Geschichte der Sinneswahrnehmung“ vor. Eine kurzere Version dieses Aufsatzes wurde bei der internationalen Konferenz The Senses in Medieval Culture“ (April 2014, Warschau) vorgetragen. Ich bedanke mich bei Dr. Christoph Cluse und Prof. Dr. Michael Embach für deren Anmerkungen sowie beim Dr. Benjamin Laqua für das Korrekturlesen. 2 Dazu vgl. H. BUSCHE: Art. „Wahrnehmung, I. Antike“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004, Sp. 190-197. 3 Zu den verschiedenen Einflüssen Augustinus’ vgl. Louise VINGE: The Five Senses. Studies in a Literary Tradition (Acta Regiae Societatis Humaniorum Litterarum Lundensis 72), Lund 1975, S. 29. 4 Augustinus: De Genesi ad litteram Libri XII, Hg. J. ZYCHA (CSEL 28/1), Wien 1894, I.16: Iactus enim radiorum ex oculis nostris, cuiusdam quidem lucis est iactus et contrahi potest, cum aerem, qui est oculis nostris proximus, intuemur, et emitti, cum ad eandem rectitudinem quae sunt longe posita adtendimus. Nec sane, cum contrahitur, omnino cernere, quae longe sunt, desinit, sed certe obscurius, quam cum in ea obtutus emittitur. Vgl. dazu David LINDBERG: Auge und Licht um Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt a. M. 1987, S. 166; Gudrun SCHLEUSENER-EICHHOLZ: Das Auge im Mittelalter, Bd. 1, München 1985, S. 59-63.
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Das Handeln und die fünf Sinne im 12. Jahrhundert

Apr 21, 2023

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Page 1: Das Handeln und die fünf Sinne im 12. Jahrhundert

1

Das Handeln und die fünf Sinne im 12. Jahrhundert1

MARÍA JOSÉ ORTÚZAR ESCUDERO [email protected]

Abstract

Unlike modern philosophers and cognitive scientists medieval writers (at least until the 12th

century)

were not interested in perception as such. They certainly thought about how we know about the world

and how such knowledge, which they called “scientia exteriorum”, is attained through the five senses. Their disquisitions were aimed, though, at shedding some light on both the proper use of the five

senses and their relationship to the knowledge of God. The operation of the five senses was only

seldom understood as a passive recording of external impressions, most descriptions ended in

considerations of the different activity of each sense or of each sense’s organ. This paper focuses precisely on sensory operation especially as it is viewed in texts by 12

th century monks and canons (i.

a. Rupert of Deutz, Honorius Augustodunensis, Bernard of Clairvaux, William of St. Thierry, Hugh of

St. Victor). It also reviews how contemporary emphases such as the man as a microcosm and the renewed importance granted to the vita activa (and consequently, to work) led to a definition of the

senses – and of “homo” – that was even more perfused by human operation.

Seit der Antike wurden Theorien darüber entwickelt, wie die sinnliche Wahrnehmung

zustande kommt und welchen Wert das Wahrgenommene für die Erkenntnis hat2. Unter den

Kirchenvätern ist bei Augustinus (354-430) die vollständigste Lehre der Sinneswahrnehmung

zu finden, in der einige Überlegungen Platos und Aristoteles’ anklingen3. In seinem Genesis-

Kommentar erweist sich Augustinus als ein Vertreter der platonischen Sendetheorie, denn

auch er erklärt den Sehvorgang durch einen Strahlenwurf aus den Augen4. Wie Aristoteles

sieht er jedoch die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung in der Wirkung eines Objektes

auf ein Sinnesorgan: Formen (species), deren Ursprung sich in den physischen Objekten

befindet, dringen durch die verschiedenen Sinnesorgane ein und erreichen hierauf die

1 Dieser Essay stellt einige Ergebnisse meiner Dissertation „Der Gebrauch der Sinne in den visionären Schriften

Hildegards von Bingen (1098-1179): Ein Beitrag zur Geschichte der Sinneswahrnehmung“ vor. Eine kurzere

Version dieses Aufsatzes wurde bei der internationalen Konferenz „The Senses in Medieval Culture“ (April

2014, Warschau) vorgetragen. Ich bedanke mich bei Dr. Christoph Cluse und Prof. Dr. Michael Embach für

deren Anmerkungen sowie beim Dr. Benjamin Laqua für das Korrekturlesen. 2 Dazu vgl. H. BUSCHE: Art. „Wahrnehmung, I. Antike“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12,

Darmstadt 2004, Sp. 190-197. 3 Zu den verschiedenen Einflüssen Augustinus’ vgl. Louise VINGE: The Five Senses. Studies in a Literary

Tradition (Acta Regiae Societatis Humaniorum Litterarum Lundensis 72), Lund 1975, S. 29. 4 Augustinus: De Genesi ad litteram Libri XII, Hg. J. ZYCHA (CSEL 28/1), Wien 1894, I.16: Iactus enim

radiorum ex oculis nostris, cuiusdam quidem lucis est iactus et contrahi potest, cum aerem, qui est oculis nostris

proximus, intuemur, et emitti, cum ad eandem rectitudinem quae sunt longe posita adtendimus. Nec sane, cum

contrahitur, omnino cernere, quae longe sunt, desinit, sed certe obscurius, quam cum in ea obtutus emittitur.

Vgl. dazu David LINDBERG: Auge und Licht um Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler,

Frankfurt a. M. 1987, S. 166; Gudrun SCHLEUSENER-EICHHOLZ: Das Auge im Mittelalter, Bd. 1, München 1985,

S. 59-63.

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wahrnehmenden und kognitiven Fähigkeiten5. Trotzdem begreift der Bischof von Hippo die

sensitive Wahrnehmung als eine spirituelle Tätigkeit, „die nicht durch das Agieren äußerer

Körper erklärt werden kann“6. Erst die aktive Tätigkeit der Seele bzw. ihre Aufmerksamkeit

auf körperliche Veränderungen ermögliche diese Wahrnehmung7. Daher sei die

Sinneswahrnehmung „letztlich ein rein geistiger Vorgang“8.

Im Hochmittelalter schreiben einige Autoren die Ideen Augustinus’ hinsichtlich der

sinnlichen Wahrnehmung mit Variationen fort. Der zunächst dem Benediktinerorden

angehörende, später dann zu den Zisterziensern übergetretene Wilhelm von St. Thierry

(1085/90-1148/49) z. B. lehrt, dass während der Wahrnehmung das Sinnesorgan passiv in das,

was es wahrnimmt, verändert wird9. Trotz dieser Veränderung sei die Seele diejenige, die

fühlt, sieht, riecht oder schmeckt und Formen und Farben, Geräusche und Geschmäcke

erkennt10

.

Wie genau die Erkenntnis äußerer Dinge mit der Erkenntnis intelligibler Gegenstände

zusammenhängt, versucht der Regularkanoniker Hugo von Sankt Viktor (†1141) zu klären11

.

Der Mensch – so Hugo – könne auf sukzessive Weise von der materiellen in die spirituelle

Realität aufsteigen12

. Er sowie die anderen Lebewesen, die über Sinneswahrnehmung

verfügen, nehmen zuerst „die Formen der Dinge wahr, die in direkter Gegenwart des

5 Vgl. Leen SPRUIT: Species intelligibilis. From Sense Perception to Knowledge, 2 Bde., Leiden 1994-95, Bd. 1:

Classical Roots and Medieval Discussions, S. 179. 6 A. PATTIN: Art. „Sinne“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München / Zürich 1995, Sp. 1930f., Sp. 1930. 7 Augustinus: De Genesi ad litteram (wie Anm. 4), XII.24: Neque enim corpus sentit, sed anima per corpus, quo

uelut nuntio utitur ad formandum in se ipsa, quod extrinsecus nuntiatur. non potest itaque fieri uisio corporalis,

nisi etiam spiritalis simul fiat; sed non discernitur, nisi cum fuerit sensus ablatus a corpore, ut id, quod per

corpus uidebatur, inueniatur in spiritu. Vgl. EBDA., III.5: (…) quoniam sentire non est corporis, sed animae per

corpus (…) anima tamen, cui sentiendi uis inest, cum corporea non sit, per subtilius corpus agitat uigorem sentiendi. Dazu vgl. Th. DEWENDER: Art. „Wahrnehmung, II. Mittelalter“, in: Historisches Wörterbuch der

Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004, Sp. 197-203 , Sp. 197. 8 SPRUIT: a. a. O., S. 182. 9 Wilhelm von St. Thierry: De natura corporis et animae, Hg. P. VERDEYEN (CCCM 88), Turnhout 2003, S.

101-146, Z. 497-98: Omnis enim sensus sentientem transmutat quodammodo in id quod sentitur; alioquin non

est sensus. 10 Dazu vgl. Giacinta SPINOSA: Vista, Spiritus e Immaginazione, Intermediari tra l’Anima e il Corpo nel

Platonismo medievali dei Secoli XII e XIII, in: C. CASAGRANDE / S. VECCHIO (Hg.): Anima e corpo nella

cultura medievale. Atti del V Convegno di studi della Società Italiana per lo Studio del Pensiero medievale

(Venezia, 25-28 settembre 1995), Firenze 1999, S. 216. 11 Vgl. dazu Ralf STAMMBERGER: Die Theorie der Sinneswahrnehmung bei Bernhard von Clairvaux und Hugo von St. Viktor, in: Revista Portuguesa de Filosofia 60 (2004), S. 687-706, S. 695. 12 Hugo von St. Viktor: De unione corporis et spiritus, Hg. A. M. PIAZZONI, in: Studi Medievali. Serie Terza 21

(1980), S. 861-888 (Edition S. 883-888), Z. 2-7: Si nichil inter spiritum et corpus medium esset, neque spiritus

cum corpore neque corpus cum spiritu conuenire potuisset. Multum enim distat inter corpus et spiritum. Longe

sunt a se duo haec. Est ergo quiddam quo ascendit corpus ut appropinquet spiritui et rursum quiddam quo

descendit spiritus ut appropinquet corpori. Vgl. dazu SPINOSA: a. a. O., S. 217-224; STAMMBERGER: a. a. O., S.

698.

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sinnesbegabten Körpers auf sie einwirken“ 13

. Von dem, was die Sinne wahrnehmen, bleiben

lediglich Abbilder in Form von Erinnerungen. Diese Abbilder werden dann zur Vorstellung in

dem Organ der Vorstellungskraft (imaginatio), die höchste körperliche Kraft14

. Diese Kraft

komme mit der niedrigsten seelischen Kraft, mit der ratio, in Berührung15

. Beide Kräfte

treffen sich in der cella phantastica. Nur den Wesen, die über ein aktives Urteilvermögen

verfügten, sei es möglich, mit den in der cella phantastica angekommenen Vorstellungen

umzugehen16

und diese weiterhin aus Körperlichen zu befreien17

. Diese gereinigten Elemente

gelangten dann „zu den höheren Seelenteilen“18

. Die Bewegung der Seele sei abgeschlossen,

wenn der höchste Seelenteil, die intelligentia, Gott begegne19

. Dies lasse schließlich aus der

intelligentia sapientia werden. Auf diese Weise erhebe sich der menschliche spiritus vom

Körper zum Geist mithilfe der fünf Sinne und der Sinnlichkeit, und vom Geist zu Gott

mithilfe der contemplatio und der Offenbarung20

. Die innere Kommunikation mit Gott werde

13 Hugo von St. Viktor: Didascalicon de studio legendi – Studienbuch (lat.-dt. Ausgabe), übers. und eingel. von

Th. OFFERGELD (Fontes Christiani 27), Freiburg/Br. u. a. 1997, I.3: Quibus uero sensus adest, non tantum eas

rerum capiunt formas quibus sensibili corpore feriuntur praesente, sed abscedente quoque sensu sensibilibusque

sepositis, cognitarum sensu formarum imagines tenent, memoriamque conficiunt, et prout quodque animal ualet, longius breuiusque custodit (…); übers. Offergeld. 14 Hugo von St. Viktor: De unione corporis et spiritus (wie Anm. 12), Z. 105-107: Est itaque imaginatio

similitudo sensus in summo corporalis spiritu et in immo rationalis corporalem informans et rationalem

contingens. 15 EBDA., Z. 115-122: Ergo imaginatio nichil aliud est quam similitudo corporis, per sensus quidem corporeos ex

corporum contactu concepta extrinsecus, atque per eosdem sensus introrsum ad partem puriorem corporei

spiritus reducta eique impressa. Haec autem in rationalibus purior fit ubi usque ad rationalem et incorpoream

animae substantiam contingendam defecatur tamen illic quoque extra substantiam illius manens quia similitudo

corporis est et fundatur in corpore. Dazu vgl. STAMMBERGER: a. a. O., S. 698f. 16 EBDA., Z. 107-115: Sensus namque, siue per uisum, siue per auditum, siue per olfactum, siue per gustum, siue

per tactum, extrinsecus corpus contingens formatur, ipsamque formam ex corporis contactu conceptam

intrinsecus reducens permeatus singulis sensibus emittendis et reuocandis introrsum dispositos ad cellam phantasticam colligit, eamque illic parti puriori corporei spiritus imprimens imaginationem facit. Quae quidem

imaginatio in brutis animalibus phantasticam cellam non transcendit; in rationalibus autem usque ad rationalem

progreditur, ubi ipsam incorpoream animae substantiam contingit, et excitat discretionem. 17 EBDA., Z. 144-149: Ipsa quippe anima in quantum delectatione corporis afficitur quasi quandam corpulentiam

trahens in eadem phantasiis imaginationum corporalium deformatur eisdemque alte impressis etiam soluta a

corpore non exuitur. Quae uero in hac uita se ab eiusmodi feculentia mundare studuerint, hinc exeuntes quia

nichil corporeum secum trahunt a corporali passione immunes persistunt. 18 EBDA., Z. 150-155: Sic itaque ab infimis et extremis corporibus sursum usque ad spiritum incorporeum

quaedam progressio est per sensum et imaginationem, quae duo in spiritu corporeo sunt. Postea in spiritu

incorporeo proxima post corpus est affectio imaginaria, qua anima ex corporis coniunctione afficitur, supra

quam est ratio in imaginationem agens; deinde ratio pura supra imaginationem in qua ratione supremum est animae a corpore sursum. Vgl. STAMMBERGER: a. a. O., S. 700. 19 EBDA., Z. 156-159: Quando autem ab anima sursum itur ad deum, prima est intelligentia, quae est ratio ab

interiori formata, quia rationi concurrens coniugitur praesentia diuina, quae sursum informans rationem facit

sapientiam siue intelligentiam. Sicut imaginatio, deorsum informans rationem, scientiam facit. Vgl.

STAMMBERGER: EBDA. 20 EBDA., Z. 25-27: Ascendunt animi contemplatione ab infimis ad summa, a corpore ad spiritum mediante sensu

et sensualitate, a spiritu ad deum mediante contemplatione et reuelatione. Dazu vgl. SPINOSA: a. a. O., S. 219f.

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folglich als Erstes durch die Sinne und deren Objekte bedient. Dies fordere lebenspraktische

Konsequenzen: das Lesen der Heiligen Schrift, das Hören Gottes Wortes, aber auch eine

äußerliche geordnete Lebensform bestärkten den Menschen auf dem Weg vom Körper zum

Geist und vom Geist zu Gott21

.

Wie dieses letzte Beispiel veranschaulicht, zeigen mittelalterliche Autoren wenig

Interesse für die sensorische Wahrnehmung an sich. Wie Hugo betrachten auch andere die

sinnliche Wahrnehmung und die daraus folgende Kenntnis eher im Hinblick auf die

Kenntnisse spiritueller Gegenstände. „Zisterziensische“ Abhandlungen wie Isaacs von Stella

(um 1100-†1178) Epistola de anima oder wie dem Mönch Alcher von Clairvaux (†1180)

zugeschriebener Liber de spiritu et anima etwa erläutern die Erkenntnis als einen Prozess, der

über verschiedene Stufe läuft, dessen Beginn die Sinneswahrnehmung und dessen Ende die

Begegnung Gottes bildet22

. Häufiger jedoch befassen sich Mönche und Kanoniker mit der

Rangordnung der Sinne und deren jeweiligen Funktion. Dies illustriert ein anderer Text

Hugos von St. Viktor:

Im menschlichen Antlitz sind die Werkzeuge der Sinne (instrumenta sensuum) gemäß der

vernünftigen Unterscheidung geformt: Unter den Sinnen nimmt das Sehen in den Augen den

Vorrang ein. Dem Gesicht folgen das Gehör in den Ohren, der Geruch in der Nase, der

Geschmack im Mund. Wir wissen aber, dass alle anderen Sinne von außen nach innen wirken,

einzig das Gesicht ist von innen nach außen gerichtet. Zudem nimmt das Gesicht vor den

anderen Sinnen mit wunderbarer Schnelligkeit wahr (percipere), was in der Ferne liegt (...)

Der Geschmack, der nichts wahrnimmt (sentire), wenn er es nicht berührt (tangere), befindet

sich mit Recht am untersten (er ist langsamer als die übrigen Sinne). Der Tastsinn hat keinen

eigenen Sitz, denn er ist allgemein und wirkt mit allen den anderen Sinnen zusammen23

.

21 STAMMBERGER: a. a. O., S. 700. 22 Vgl. dazu Joachim BUMKE: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im „Parzival“

Wolframs von Eschenbach (Hermaea NF 94), Tübingen 2001, S. 35f. 23 Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae Libri VII (PL 176), Paris 1854, Sp. 818: Ecce in humana facie

quam rationabili distinctione instrumenta sensuum collocata sunt. Supremum locum obtinet uisus in oculis.

Deinde auditus in auribus; post hunc in naribus olfactus, atque post hunc in ore gustus. Scimus autem quod

reliqui omnes sensus foris intro ueniunt, solus uisus intus foras exit, et eminus posita mira prae caeteris agilitate

percipit (...) Gustus autem qui nil sentire potest nisi id quod tangit, merito (tardior caeteris sensibus) in imo

resedit. Tactus specialem sedem non habet, qui ideo uniuersalis est, quia cunctis cooperatur sensibus; meine

Übersetzung.

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Die Verteilung der Sinne im Antlitz lässt die platonische Rangordnung der Sinne

erkennen: uisus, auditus, odoratus, gustus. Hugo betrachtet das Gesicht als den ersten der

Sinne, weil dieses der einzige aktive und der schnellste Sinn sei. Der Tastsinn – wie bei

Platon – hat kein eigenes Organ und lässt sich nicht deutlich einordnen. Dennoch findet hier

eine Aufwertung des Tastsinns statt, indem Hugo hervorhebt, dass ohne das Tasten keiner der

anderen Sinne existieren kann24

. Eine entsprechende Bewertung der verschiedenen Sinne

kann ebenfalls bei dem Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (1090-1153) in einem Gleichnis

zu Sinnen und Liebesarten abgelesen werden: Das Gesicht hat hier ebenfalls den Primat vor

den anderen Sinnen, weil „es unter den übrigen hervorragt und von einziger Natur ist. Ebenso

erweist es sich als durchdringender als die übrigen und erkennt auch das weit Entfernte“25

.

Bernhard betrachtet in dieser Passage den Gesichtssinn als seiner Natur gemäß einzigartig,

was auf die Vorstellung des Sehens als einen aktiven Vorgang hindeutet. Dieser Sinn sei

zudem wirksamer als die anderen Sinne: Er nehme Gegenstände gründlicher wahr, sogar

wenn sie weit entfernt liegen.

Die fünf Sinne werden nicht nur ihrer Verteilung nach, sondern auch ihrer Reinheit

gemäß erwogen. So versteht Hugo von St. Viktor den Geruch als den reinsten Sinn: Dieser

Sinn scheint reiner und sauberer (purior ac mundior) als die übrigen Sinne zu sein, weil durch

ihn die Seele am wenigsten beschädigt wird26

. Bernhard von Clairvaux erklärt seinerseits,

dass der Geruchssinn „mehr seelisch als körperlich zu sein [scheint], da der Körper zu seiner

inneren Hervorbringung nichts beitrage als eine leichte Erregung seines Organs, der Nase;

zwar werde der Geruch durch den Leib aufgenommen, jedoch erfülle er die Seele, nicht den

Leib“27

. Als die unreinsten Sinne schätzt Hugo den Geschmacks- und den Tastsinn ein, weil

sie sich niederträchtigen Dingen näherten und dem Kontakt mit diesen unterworfen seien;

24 EBDA.: Unde et in digitis pollex, qui tactum significat, coadunatis in unum digitis solus omnibus respondet,

quia sine tactu nullus sensuum esse potest. 25 Bernhard von Clairvaux: Sermones de Diuersis, in: Opera, Hg. J. LECLERQ / Ch. H. TALBOT / H. M. ROCHAIS,

Bd. 6/1: Sermones III, Rom 1970, S. 57-411, Sermo 10: Porro uisus quidem in eo sibi uindicat amoris diuini

similitudinem, quod ceteris omnibus excellentior et singularis cuiusdam naturae, perspicacior quoque ceteris

inuenitur, et discernit multo remotiora; zur Übersetzung vgl. die lat./dt. Ausgabe: Sämtliche Werke., Hg. G. B.

WINKLER, 10 Bde., Bd. 9, Innsbruck 1998, S. 167-838. 26

Hugo von St. Viktor: Sermones Centum (PL 177), Paris 1854, Sp. 899-1210, Sp. 985: Iste sensus purior ac

mundior aliis sensibus esse uidetur, unde et per illum anima minus corrumpi probatur. 27 Bernhard von Clairvaux: Sententiarum Series Tertia, in: Opera (wie Anm. 25), Bd. 6/2: Sermones de Diversiis

III, Rom 1972, S. 59-255, Sententia 73: Sensus autem iste magis animalis esse uidetur quam corporalis, id est

odoratus, quia ad creandum eum interius corpus nil agit praeter leuem instrumenti sui, id est narium, attractum;

et licet haustus per corpus, animam tamen afficit, non corpus; zur Übersetzung vgl. WINKLER: Sämtliche Werke

(wie Anm. 25), Bd. 4, Innsbruck 1993, S. 249-271.

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daher bedürften sie der Reinigung. Die anderen drei Sinne dienten weniger dem Bedarf,

sondern der Freude. Der Kontakt spielt sowohl in der Argumentation Hugos als auch in der

Bernhards eine entscheidende Rolle: Im Unterschied zu den übrigen Sinnen müssten der

Geschmacks- und der Tastsinn einen Gegenstand berühren, um diesen wahrnehmen zu

können. Dieser unmittelbare Kontakt verursache die Verunreinigung beider Sinne, daher

werden sie als „körperlicher“ verstanden.

Die Diskussion bezüglich der Sinne in diesen Texten konzentriert sich auf die

Aktivität je eines Sinnes. So überragt der Sehsinn die anderen Sinne, weil er von innen nach

außen wirkt und weit Entferntes erkennen kann. Der Geruchssinn seinerseits ist der reinste,

denn er benötigt am wenigsten den Kontakt mit seinem spezifischen Objekt. Meistens aber

greifen hochmittelalterliche Autoren auf die „fünf Sinne“ zurück, um die verschiedenen

menschlichen Handlungen darzulegen. So befassen sie sich mit guten oder schlechten Taten,

welche mittels eines spezifischen Sinnes vollführt werden. Vor dem schlechten Gebrauch der

fünf Sinne etwa warnt Hugo von St. Viktor anhand biblischer Zitate:

Jeremia zufolge muss das Auge bewacht werden, sodass es nicht unsere Seelen in all den

Töchtern unserer Stadt plündere (Klgl 3,51) oder, wie im Buch Hiob gelesen wird, unserem

Herzen nicht folge (Hi 31,7), sondern sich nunmehr von eitlen Dingen (uanitas) abwende (Ps

118,37). Ebenfalls ist der Gehörsinn auf verschiedene Weise verdorben (...) Verdorben wird er

einmal durch leere Gespräche (sermones uani), einmal durch Schmeichelei (adulationes),

einmal durch abstoßende Lieder (obscena carmina), einmal wiederum durch Verleumdung

(detractiones). Deswegen steht geschrieben: Faule Unterhaltung (colloquia mala) verdirbt

gute Sitten (1 Kor 15,33). Der Geruchssinn wird befleckt, sooft er sich wahllos an

verschiedenen Gerüchen (uarii odores) erfreut (...) Diesem folgt der Geschmackssinn, durch

den die elende Völlerei (infelix gula) ihre verbotenen Begierden (illiciti appetitus) vollführt.

Nachdem er verdorben wurde, vergnügt er sich unersättlich an der Vielfalt der Speisen und an

der Pracht der Getränke (uarii ciborum ac potuum apparatus) (...) Der letzte ist der Tastsinn,

der des Öfteren durch die Weichheit der mannigfachen Kleider (mollities diuersarum uestium)

und durch die Besudelung verschiedener Unzüchtigkeiten (immunditia uariarum

obscenitatum) verdorben wird28

.

28 Hugo von St. Viktor: Sermones centum (wie Anm. 26), Sp. 985: Custodiatur, inquam ne, secundum Jeremiam,

oculus noster depraedetur animas nostras in cunctis filiabus [sic] urbis nostrae, uel ut in Job legitur, oculus

noster sequatur cor nostrum, sed potius auertatur ne uideat uanitatem. Auditus etiam diuersis modis corrumpitur

(...) Aliquando corrumpitur uanis sermonibus, aliquando adulationibus, aliquando obscenis carminibus,

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In dieser Auflistung werden die Sünde der Wollust, der Völlerei und der Unreinheit jeweils

mit dem Geruchs-, mit dem Geschmacks- und mit dem Tastsinn assoziiert. Die Augen, die

dem Herzen folgen, weisen sowohl auf die Wollust als auch auf die Eitelkeit hin. Der

Viktoriner analysiert gründlich die falsche Verwendung des Gehörsinns: Eitles Reden und

eitles Hören besudelten die Seele des Menschen. Hier werden die aktive Hervorbringung von

Tönen sowie deren passive Aufnahme – die Aktivität des Mundes und der Ohren also – als

Bestandteil des Hörens verstanden. Eine noch detailliertere Sündenliste ist bei Hugos Schüler,

Richard von St. Viktor (†1173), zu lesen, die mit dem „Handeln“ der Sinne im Allgemeinen

beginnt: „Verdorben wird das Gesicht, wenn es Nichtiges sieht und auch das Gehör, wenn es

Nichtiges hört. Der Geschmack sündigt, wenn er Süßes gierig schmeckt; der Geruchssinn,

wenn er riecht; der Tastsinn, wenn er handelt“29

.

So wie der Mensch mit seinen fünf Sinnen sündig, so soll er auch seine Schuld mit

diesen sühnen. Der Benediktiner Rupert von Deutz (1075/80-1129/30) etwa lehrt, die

sündigen Sinne seien durch körperliche Buße zu bestrafen30

. Bernhard von Clairvaux warnt

seinerseits, dass während der Fastenzeit alle sündigen Glieder zusammen mit dem Gaumen

Sühne leisten sollen. So „faste“ das Auge von den neugierigen Anblicken und das Ohr von

Geschwätz und Gerede; die Zunge enthalte sich der Verleumdung und des Murrens, der

unnützen, törischen und possenhaften Reden und gar der Worte, die notwendig erscheinen;

die Hand halte sich von „überflüssigen Zeichen“ und sonstigen Beschäftigungen fern. Die

Seele selbst „fastet“ schlechthin „von Lastern und vom Beharren auf den eigenen Willen“31

.

aliquando detractionibus. Vnde scriptum est: Corrumpunt bonos mores colloquia mala. Olfactus uero

corrumpitur, quoties uariis odoribus inordinate delectatur (…) Hunc gustus sequitur, per quem infelix gula suos

illicitos appetitus experitur. Iste postquam corrumpitur, uariis ciborum ac potuum apparatibus insatiabiliter

oblectatur (…) Ultimus est tactus, qui diuersarum uestium mollitie, et uariarum obscenitatum immunditia

multoties contaminatur; meine Übersetzung. 29 Richard von St. Viktor: Liber exceptionum, Hg. J. CHATILLON (Textes Philosophiques du Moyen Âge 5),

Paris 1958, II.12.2: Corrumpitur uisus uana uidendo, auditus uana audiendo, gustus sibi suauia auide gustando,

olfactus olfaciendo, tactus operando; meine Übersetzung. 30 Rupert von Deutz: De sancta Trinitate et Operibus eius, Hg. H. HAACKE (CCCM 21-24), Bd. 21, Turnhout

1971, In Leuiticum I.24: Quintam uero partem in restitutione damni superadicere, id est, non solum corde

paenitere, uerum etiam quinque corporis sensus, quorum uagatione erratum est, per exteriorem paenitentiam punire. 31 Bernhard von Clairvaux: In Quadragesima, in: Opera (wie Anm. 25), Bd. 4, Rom 1966, S. 353-380, III.4:

[Quod si gula sola peccauit, sola quoque ieiunet, et sufficit. Si uero peccauerunt et membra cetera, cur non

ieiunent et ipsa?] Ieiunet igitur oculos, qui depraedatus est animam; ieiunet auris, ieiunet lingua, ieiunet manus,

ieiunet etiam anima ipsa. Ieiunet oculos a curiosis aspectibus et omni petulantia, ut bene humiliatus coerceatur

in paenitentia, qui male liber uagabatur in culpa. Ieiunet auris nequiter pruriens a fabulis et rumoribus, et

quaecumque otiosa sunt, et ad salutem minime pertinentia. Ieiunet lingua a detractione et murmuratione, ab

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Diese stark monastisch geprägte Auflistung fordert die Abstinenz aller Sinne. Der Mensch

schließe die Organe des Seh- und Hörsinnes, sodass die Augen nicht neugierig sehen und die

Ohren leeren Worten keine Aufmerksamkeit schenken. Außerdem lasse er seine Zunge und

seine Hände keine überflüssige Worte bzw. Zeichen hervorbringen. Der Verzicht auf die

Eindrücke der Sinne sowie auf deren Tätigkeit schützten derart die Seele vor den Lastern. Auf

ähnliche Weise behandelt Bernhard andernorts die Keuschheit (castitas) als Mittel gegen die

durch die Sinne eindringenden Sünden32

.

Die hochmittelalterlichen Autoren thematisieren nicht nur die Sünde, die mit den fünf

Sinnen vollbracht werden, sondern auch ihre angemessene Verwendung. Der

Benediktinermönch und spätere Inkluse Honorius Augustodunensis (erste Hälfte des 12. Jhs.)

z. B. analysiert in einer Auslegung des Gleichnisses von den fünf Talenten, wie die Sinne gute

Werke vollbringen:

Wenn der Mensch sich nicht am Betrachten der Eitelkeit (uanitas), sondern der Gerechtigkeit

(equitas) erfreut, gewinnt er durch das Gesicht ein Talent. Wenn der Mensch sich bemüht,

nicht den Verleumdungen (detractiones) noch dem Gerede (fabulae), sondern den göttlichen

Worten (uerba diuina) Gehör zu schenken, erwirbt er durch das Gehör ein Talent. Durch den

Geruch erwerben ein Talent diejenigen, die sich nicht daran erfreuen, die lüsternen Düfte des

Fleisches (uoluptuosa carnis odoramenta) einzusaugen, sondern die der Tugenden

(odoramenta uirtutum). Der Dienst des Mundes bringt ein Talent [und] verdirbt am wenigsten

die guten Sitten mit schädlichen Gesprächen (mala colloquia), wenn er das Lob Gottes (laus

Domini) verkündet und andere im Wort Gottes (in uerbo Dei) erbaut [und] wenn er nicht

wegen des verführerischen Geschmacks (illecebrosus gustus) den Bauch leidenschaftlich

inutilibus, uanis atque scurrilibus uerbis, interdum quoque, ob grauitatem silentii, et ab ipsis quae uideri

poterant necessaria. Ieiunet manus ab otiosis signis, et ab operibus omnibus, quaecumque non sunt imperata;

sed et multo magis anima ipsa ieiunet a uitiis et propria uoluntate sua (…); die Übersetzung folgt teilweise

WINKLER: Sämtliche Werke (wie Anm. 25), Bd. 7, Innsbruck 1996, S. 442-497. Zu dieser Stelle vgl. Jörg

SONNTAG: Speisen des Himmels. Essgewohnheiten und ihre biblischen Konzeptionalisierungen im christlichen Kloster des Hochmittelalters zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Saeculum 60/2 (2010), S. 259-276, S.

264; DERS.: Klosterleben im Spiegel des Zeichenhaften. Symbolisches Denken und Handeln

hochmittelalterlicher Mönche zwischen Dauer und Wandel, Regel und Gewohnheit (Vita regularis.

Abhandlungen 35), Berlin 2008, S. 290. 32 Vgl. dazu z. B. Bernhard von Clairvaux: Sententiarum Series Prima, in: Opera (wie Anm. 25), Bd. 6/2:

Sermones de Diversiis III, Rom 1972, S. 7-22, Sententia 38: Castitas autem quinquepartita est; uidelicet in

auribus, in oculis, in odoratu, in gustu, et in tactu.

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vollstopft, sondern den Körper zum Dienst Gottes nur mit einfacher Nahrung (simplex uictus)

füttert. Der Tastsinn verschafft ein Talent, wenn er Gutes zu tun versucht und Böses ablehnt33

.

Durch die menschlichen Sinne werden also gute Taten hervorgebracht, wenn der Mensch

seine Sinne in angemessener Weise verwendet: Die Objekte der Sinneswahrnehmungen sind

dementsprechend die Gerechtigkeit, die göttlichen Worte, das Lob und der Dienst Gottes.

Angesichts dieser Passage ist erneut zu bemerken, dass der Mund dem Bereich des Gehör-

sowie dem des Geschmackssinns angehört. So behandelt Honorius zuerst die Aufnahme von

Verleumdungen und Gerede im Zusammenhang mit den Ohren und dem Gehörsinn. Dieses

schädliche Gespräch aber werde vom Mund erzeugt, so wie auch das Lob und die

Verkündigung des Wortes Gottes, erläutert er daraufhin. Außerdem könne der Mund den

Bauch stopfen oder den Menschen gemäßigt ernähren. Der Tastsinn wird in Anbetracht seines

Handelns diskutiert, nicht bezüglich eines spezifischen Gegenstandes oder seiner

Empfindungen. Im Hinblick auf die rechte Verwendung der Sinne unterstreicht Richard von

St. Viktor seinerseits, dass die fünf Sinne beherrscht werden müssten und dass der Mensch

sich den mit den Sinnen vollbrachten guten Werken mit Eifer widmen solle34

. Der gute

Gebrauch der Sinne führe zum ewigen Leben, erklärt ferner Rupert von Deutz35

. Dieses zum

Himmel führende Wirken der Sinne darf als eine Folge der Menschwerdung Christi betrachtet

33 Honorius Augustodunensis: Speculum Ecclesiae (PL 172), Paris 1854, Sp. 807-1107: [Per V talenta V sensus intelliguntur quibus aeterna lucrari praecipiuntur:] Per uisum homo talentum lucratur, si non uanitatem sed

equitatem uidere delectatur; per auditum talentum acquiritur, si non detractationibus uel fabulis, sed uerbis

diuinis aures praebere nititur; per olfactum talento plaudent, qui non uoluptuosa carnis odoramenta, sed

uirtutum haurire gaudent; oris officium talentum refundit, sed minime per mala colloquia bonos mores

corrumpit, si laudem Domini annunciat et alios in uerbo Dei aedificat; si non per illecebrosum gustum uentrem

ad libidinem farcit, sed corpus tantum simplici uictu ad seruicium Dei pascit; tactus talentum operatur si a malo

declinans bonum facere conatur. 34 Richard von St. Viktor: Liber exceptionum (wie Anm. 29), II.7.32: Postea doceantur quinque sensibus

corporeis, qui per quinarium designantur, imperare, bonisque operibus, que per sensarium exprimuntur,

studium impendere, necnon scientiam spiritualem instanter meditari, quam septiformis Spiritus ad salutem

humani generis gemino Testamento edidit. 35 Rupert von Deutz: De sancta Trinitate et Operibus eius (wie Anm. 30), In Libros Regum III.20: Quinque

cubitorum altitudinis capitella pertinent ad corpora, quorum profecto quinque sensus aeternorum siue malorum

omnes complebit sempiterna satietas. Nam et qui, ut supra dictum est, a dextris erunt, ex abundantia

misericordiae, uisu, auditu, gustu, odoratu et tactu in carne iam immortali atque impassibili, aeternalibus

satiabuntur bonis, quae oculus non uidit, nec auris audiuit, nec in cor hominis ascenderunt, et qui a sinistris

nihilominus ex abundantia iustitiae et ueritatis totis eisdem sensibus in carne sua sempiternis implebuntur malis,

ita ut uermis eorum non moriatur, et ignis eorum non exstinguatur.

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werden, denn Christus habe durch seine Wunden die fünf Sinne erlöst, die vom Teufel

gefangen waren – wie Honorius erläutert36

.

Wie bisher gezeigt wurde, betrachten die Abhandlungen über die fünf Sinne eher das

Handeln des Menschen als seine verschiedenen Sinnesempfindungen. Die Sinne konstituieren

sich deswegen zu einem Mittel der moralischen Belehrung: Sie werden üblicherweise als

Fenster, durch welche die Sünden eindringen, oder als Werkzeuge zur Vollendung der guten

Werke dargestellt. Oft wird geprüft, wie jeder Sinn entweder den Menschen besudelt oder ihn

zu einer guten Tat führt.

Neue Interessen, die der „Renaissance“ und den Reformgedanken des 12. Jahrhunderts

eigen sind, prägen zudem die Erwägungen über die menschlichen Sinne37

. Dies geschieht

etwa mit dem Thema des Menschen als Mikrokosmos. Der Mensch, nach der biblischen

Schöpfungslehre als Abbild Gottes geschaffen, ist gleichzeitig Abbild des mundus sensibilis

und intelligibilis38

. Aus diesem Grund preist Rupert von Deutz den Menschen als Vollendung

der Schöpfung, durch dessen Beschaffenheit alles gerühmt werde; der Mensch enthalte das

Wesen aller Dinge, übertreffe diese jedoch durch die Vernunft39

. Was die materielle Natur des

36 Honorius Augustodunensis: Elucidarium siue Dialogus de Summa Totius Christianae Theologiae, Hg. Y.

LEFÈVRE. in: DERS.: L’Elucidarium et les Lucidaries. Contribution, par l’Histoire d’un Texte, à l’Histoire des

Croyances religieuses en France au Moyen Âge (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 180),

Paris 1954, S. 359-477, I.149a: D[iscipulus]. Quamobrem permisit sibi quinque uulnera infligi? – M[agister]. Ut

redimeset humani generis quinque sensus a diabolo captiuos. 37 Der Begriff „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ wurde geprägt durch Charles HASKINS: Studies in the History

of Medieval Science, Cambridge/MA 21927. Diese frühe Renaissance sah Haskins in der „Wieder-Entdeckung“

der lateinischen Autoren und der Wissenschaft sowie im Aufblühen der Universitäten und intellektuellen Zentren

im 12. Jahrhundert. Die Formel ist weiter benutzt worden, um die Jahre zwischen 1050-1200 bzw. 1250 zu

charakterisieren, vgl. dazu u. a. Richard W. SOUTHERN: The Making of the Middle Ages (Hutchison University

Library 99), London 1967; Robert L. BENSON / Giles CONSTABLE (Hg.): Renaissance and Renewal in the 12th Century. From a Conference held under Auspices of UCLA Center for Medieval and Renaissance Studies.

Harvard University Committee on Medieval Studies 26.-29. Nov. 1977, Cambridge/MA 1982; Georg WIELAND

(Hg.): Aufbruch – Wandel – Erneuerung. Beiträge zur „Renaissance“ des 12. Jahrhunderts. Neuntes Blaubeurer

Symposion, Stuttgart u. a. 1995. Zur Reform vgl. Giles CONSTABLE: The Reformation of the Twelfth Century,

Cambridge 2002. 38 Zum Thema Makro-Mikrokosmos im Mittelalter vgl. U. MÖRSCHEL: Art. „Makrokosmos / Mikrokosmos“, in:

Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München / Zürich 1993, Sp. 157-159, Sp. 157; M. GATZEMEIER: Art.

„Makrokosmos / Mikrokosmos“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 640-

642, Sp. 641; Marie-Thérèse D’ALVERNY: L’Homme comme Symbole. Le Microcosme, in: Simboli e

simbologia nell’alto Medioevo, Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull’Alto Medioevo 28, Spoleto

1976, S. 123-83; zum Thema im 12. Jahrhundert vgl. Marie-Dominique CHENU: Nature, Man and Society in the Twelfth Century. Essays on New Theological Perspectives in the Latin West, Canada 31997; Jean-Claude

SCHMITT: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 181; Aaron GURJEWITSCH: Das

Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1997, S. 57-59. 39 Rupert von Deutz: De sancta Trinitate et Operibus eius (wie Anm. 30), In Genesim II.11: Et recte in ultima

hominis creatione cuncta collaudata sunt. Nam et propter hominem cuncta haec sub firmamento caeli facta sunt,

et omnium essentias homo in se continent et adhuc uno quod optimum est rationalitatis priuilegio cuncta

superat.

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Menschen betrifft, bestehe diese wie der Kosmos aus vier Elementen. Daher sei in der

menschlichen Konstitution der Kosmos wiederzuerkennen. So erklärt Honorius in seinem

Elucidarium, der Mensch als kleine Welt habe den Sehsinn aus dem himmlischen Feuer, das

Gehör aus der höheren Luft, der Geruch aus der niedrigen Luft, der Geschmack aus dem

Wasser und das Tasten aus der Erde40

. Dieselbe Korrespondenz wird später von Wilhelm von

St. Thierry in seinem Jungendwerk De natura corporis et animae41

und vom Gelehrten

Bernhard Silvestris (†wahrscheinl. nach 1159) in dessen Cosmographia wiedergegeben42

;

ähnliche Erwägungen sind auch im Anticlaudianus des scholastischen Philosophen Alain von

Lille (um 1125/30-1203) zu lesen43

. Auf vergleichbare Weise untersucht die Visionärin

Hildegard von Bingen (1098-1179) die Beziehung zwischen Menschenkörper, Weltkräften

und Jahreszeiten in ihrem Liber diuinorum operum44

.

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen theoretischem und praktischem Leben hat

die Reflektion über den handelnden Menschen ebenfalls beeinflusst45

. Die Auffassung

Augustinus’, Aktion und Kontemplation seien dem Menschen im irdischen Leben notwendige

Aspekte seiner Existenz, prägt das mittelalterliche Denken46

. Es findet nun aber eine

40 Honorius Augustodunensis: Elucidarium (wie Anm. 36), I.59: D[iscipulus]. Unde corporalis? / M[agister].

De quatuor elementis; unde et microcosmus, id est minor mundus, dicitur. Habet enim (I) ex terra carnem, ex

aqua sanguinem, ex aere flatum, ex igne calorem (...) Ex caelesti igne uisum, ex superiore aere auditum, ex

inferiore olfactum, ex aqua gustum, ex terra habet tactum. Dazu vgl. VINGE: The Five Senses (wie Anm. 3), S.

51; D’ALVERNY: a. a. O., S. 178f. 41 Wilhelm von St. Thierry: De natura corporis et animae (wie Anm. 9), c. 46: Sciendum etiam de sensibus

respondere eos quatuor humoribus, de quibus supra multa dicta sunt. Visus enim igneae est naturae, auditus

aeriae, odoratus fumeae, gustus aquosae, tactus terrenae. 42 Zitiert unten in Anm. 53. 43 Peter DRONKE: Les cinq sens chez Bernard Silvestre et Alain de Lille”, in: Micrologus. Natura, scienze e

società medievali 10/1 (2002), S. 1-14, S. 5f. 44 Die Verbindungen zwischen diesen Elementen und dem Begriff „opus“ analysieren u. a. SCHIPPERGES:

Kosmologische Aspekte der Lebensordnung und Lebensführung bei Hildegard von Bingen, in: A. FÜHRKÖTTER:

Kosmos und Mensch aus der Sicht Hildegards von Bingen (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen

Kirchengeschichte 60), Mainz 1987, S. 1-25; Christel MEIER: Operationale Kosmologie. Bemerkungen zur

Konzeption der Arbeit bei Hildegard von Bingen, in: M. SCHMIDT (Hg.): Tiefe des Gotteswissens – Schönheit

der Sprachgestalt bei Hildegard von Bingen. Internationales Symposium in der Katholischen Akademie Rabanus

Maurus Wiesbaden-Naurod vom 9. bis 12. September 1994 (Mystik in Geschichte und Gegenwart 10), Stuttgart-

Bad Cannstatt 1995, S. 49-83; Margot SCHMIDT: Bedeutung der geistlichen Sinne, in: EBDA., S. 127-134. 45 Zum Topos Maria / Martha vgl. Giles CONSTABLE: Three Studies in medieval Religious and social Thought.

The Interpretation of Mary and Martha, the Ideal of the Imitation of Christ, the Orders of Society, Cambridge

1998, S. 61-72; Klaus SCHREINER: „Brot der Mühsal“. Körperliche Arbeit im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters. Theologisch motivierte Einstellungen, regelgebundene Normen, geschichtliche Praxis, in: V.

POSTEL (Hg.): Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten, Berlin 2006, S. 133-170, S. 142-147.

Zur Wahrnehmung der Arbeit im Mittelalter und zum Unterschied zwischen Mühsal (labor) und Werk (opus)

vgl. Hans-Werner GOETZ: „Wahrnehmung“ der Arbeit als Erkenntnisobjekt der Geschichtswissenschaft, in:

EBDA., S. 567-580. 46 N. LARGIER: Art. „Vita actiua / uita contemplatiua“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München / Zürich

1997, Sp. 1752-1754, Sp. 1753.

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Entwicklung zugunsten des aktiven Lebens statt, welche teilweise durch die zentrale Stellung

der Handarbeit in den reformatorischen Texten und ihre Umsetzung bei den Zisterziensern

und den Reformkanonikern bestimmt wird47

. Dies hat zur Folge, dass „das aktive Leben

zunehmend [in] das kontemplative Leben einbezogen [wird]“: So begreifen Bernhard von

Clairvaux, Wilhelm von St. Thierry und Hugo von St. Viktor die uita actiua ausdrücklich als

Teil der uita contemplatiua48

. Die Beziehung zwischen beiden Lebensweisen erforscht auch

Rupert von Deutz und stellt fest, dass (erst) durch die Ausübung des aktiven Lebens der

Aufstieg in das kontemplative Leben möglich werde. Das aktive Leben sei durch das Wirken,

das mit dem aus den fünf Sinnen Herausgeschöpften arbeitet, gekennzeichnet49

. Diese

Entwicklung wirkt sich auf die Bewertung des menschlichen Handelns und der Werktätigkeit

aus. Rupert von Deutz und Hugo von Sankt Viktor schreiben demgemäß die ersten

wirkungsvollen positiven Aussagen zu den artes mechanicae50

. Im theologischen Denken

gewinnt ebenso die „Vorstellung vom wirkenden, tätigen Gott“ sowie auch die Bestimmung

des Menschen selbst als operator an Aktualität51

. Das Wirken als Wesenszug des

menschlichen Daseins wird deutlich in der Cosmographia Bernhards Silvestris herausgestellt.

Das Thema dieser Dichtung ist die „Formung des Urstoffs, die Gestaltwerdung der prima

materia im Kosmos“52

. Die letzten zwei Kapitel widmen sich dem Menschen, dem

Mikrokosmos, mit seinen Gliedern und Sinnen. Dabei umgeht Bernhard komplett die

Auffassung der Wahrnehmung als die Wirkung eines äußerlichen Gegenstandes auf ein

Sinnesorgan. Die Tätigkeit der Sinne vollzieht sich vielmehr von innen nach außen: Der

Sehsinn gehe aus den Augen, das Gehör aus den Ohren heraus und mit den anderen Sinnen

geschehe dies gleichermaßen. Obwohl eine gemeinsame Quelle der Ursprung aller Sinne sei,

47 Zur Auffassung der Handarbeit vgl. CONSTABLE: Reformation of the Twelfth Century (wie Anm. 37), insb.

210-214. Zur Arbeit bei den Zisterziensern vgl. EBDA., S. 219; SCHREINER: a. a. O., S. 147-154. Zur Arbeit bei

den Kanonikern vgl. SCHREINER: a. a. O., S. 154-157. 48 EBDA. 49 Rupert von Deutz: De Glorificatione Trinitatis et Processione Sancti Spiritus (PL 169), Paris 1854, Sp. 13-

202, Sp. 114: Non enim post professionem contemplatiuae descendimus ad actiuam, sed post exercitationem

actiuae, ascendimus ad contemplatiuam. Huic operationi si quid excedit, dum sollicita est, et turbatur erga

plurima, quinque enim sensibus corporis extracta laborat, debetur misericordia, propter hoc ipsum quod bene

satagens circa frequens ministerium, esurientem pauit, sitienti potum dedit, hospitem collegit, nudum operuit,

infirmum uisitauit, ad eum qui in carcere erat, uenit. 50 Christel MEIER: Labor improbus oder opus nobile? Zur Neubewertung der Arbeit in philosophisch-

theologischen Texten des 12. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), S. 315-342, S. 317f. 51 MEIER: Operationale Kosmologie (wie Anm. 44), S. 60-62; DIES.: Virtus und Operatio als Kernbegriffe einer

Konzeption der Mystik bei Hildegard von Bingen, in: M. SCHMIDT / D. BAUER (Hg.): Grundfragen christlicher

Mystik. Wissenschaftliche Studientagung Theologica mystica in Weingarten vom 7.-10. November 1985

(Mystik in Geschichte und Gegenwart – Texte und Untersuchungen 5), Stuttgart u. a. 1987, S. 73-101. 52 MEIER: a. a. O. (1996), S. 320.

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entfalteten sie sich nach der Verschiedenheit der Glieder, durch welche sie wirkten. Deshalb

seien auch ihre Handlungen verschieden53

. Insbesondere mit den Händen wird das Wirken des

Menschen hervorgehoben, denn mit ihnen könne er „nach dem Vorbild göttlichen Wirkens

alles vollbringen“54

. Die Entstehung des Kosmos münde auf diese Weise in die

Handlungswelt des Menschen. Die schon seit dem Frühmittelalter vertraute Vorstellung der

Sinne und vorzugsweise der Hände als Handlungsinstrumente erreicht in der Dichtung

Bernhards eine neue Tiefe: Mit den Sinnen und deren Gliedern kann der Mensch sich nach

außen entfalten; in seiner Wirkung erkennt er sich selbst als Bildnis Gottes.

Die seit der Patristik mit den Sinnen verbundene operatio erfährt also im 12.

Jahrhundert eine positive Bewertung. Dies führt zu einer Aufwertung des menschlichen

Wirkens und dementsprechend auch der Sinne, mit denen der Mensch seine Werke vollendet.

Die Analogien zwischen den menschlichen Gliedern und dem Makrokosmos würdigen zudem

die äußerliche Welt und ihre Phänomene55

. Diese äußerliche Welt wird nun eng mit dem

menschlichen Verhalten assoziiert, denn das Wahrgenommene ist (auch) als erster Schritt zur

Kenntnis Gottes zu erfassen – wie bei Hugo von Sankt Viktor. Daraus erfolgen Konsequenzen

nicht nur für die endgültigen Handlungen, sondern schon für die ideellen Voraussetzungen

einer (bestenfalls) zu Gott führenden Wahrnehmung.

Die Beziehung zwischen der Außenwelt und dem inneren des Menschen, der Seele,

weist weiterhin auf die Konzeption der Sinne bei den hier zitierten Autoren. Diese

Konzeption stellt vor allem die Durchlässigkeit der Sinne heraus: Äußerliche Versuchungen

erreichen den Menschen bzw. seine Seele mittels der Sinne; der Mensch bzw. seine Seele

führen wiederum ihre verschiedenen Handlungen durch die Sinne aus. Die Wechselwirkung

53 Bernhard Silvestris: Cosmographia, Hg. P. Dronke (Textus minores 53), Leiden 1978, II.13.15: (…) Per

oculos enim uisus, per aures egrediens est auditus. Ad eundem modum deformatur in ceteris, secundum

diuersitatem membrorum quibus utitur instrumentis. Sensus igitur uno de fonte prodeunt, sed diuersas expediunt

actiones. Ille colores, ille sonos, alter gustus, alter odoramina persentiscit. Membris communis omnibus, tactus

diffusior inuenitur. Sensus unde suboriuntur, ad ea cognatam intelligenciam tenent. Sine igne nec uisus, sine

aere nec odoratio conficitur, nec formatur auditio. Gustus aque, tactus terre cognatior, in consubstantialibus

operantur. Cuius enim elementi qualitate consistunt, eodem similique iudicio comprehendunt. Vgl. MEIER: a. a.

O. (1996), S. 321f. 54 Vgl. MEIER: a. a. O. (1996), S. 323. 55 Zur Würdigung der Natur und der Begründung einer scientia naturalis bei Adelard von Barth und die Schule

von Chartres vgl. Andreas SPEER: Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer

„scientia naturalis“ im 12. Jahrhundert, Leiden 1995; DERS.: ‚Agendo phisice ratione‘. Von der Entdeckung der

Natur zur Wissenschaft von der Natur im 12. Jahrhundert – insbesondere bei Wilhelm von Conches und Thierry

von Chartres, in: R. BERNDT / M. LUTZ-BACHMANN / R. STAMMBERGER (Hg.): Scientia und Disciplina.

Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im 12. und 13. Jahrhundert (Erudiri Sapientia 3), Berlin 2001, S. 157-

174.

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zwischen Außen und Innen findet daher durch die Sinne statt. Diese Interaktion ist –

zumindest zum Teil – als materiell zu erfassen. So zielt z. B. das moralische Prinzip der

Abstinenz darauf ab, den physischen Kontakt zwischen Sinnen und Versuchungsobjekten zu

unterbrechen. Dieser physische, direkte Kontakt spielt ebenfalls eine Rolle in einigen der

Sinnesrangordnungen, welche den Geschmacks- und den Tastsinn als die Letzten der Sinne

einstufen. Im direkten Kontakt der Hände oder des Mundes zu den verschiedenen

Gegenständen lauert deutlicher als im Fall der anderen Sinne eine gewisse

Ansteckungsgefahr, wodurch der Mensch sich (innerlich) kontaminieren kann. Zudem ist dem

Menschen möglich, durch die Hervorbringungen seiner Sinnesorgane andere zu

verunreinigen. Dies weist auf eine „offene“ Auffassung des Körpers hin, denn durch diesen

gelangen verschiedene Kräfte nach Innen oder nach Außen56

.

Diese offene Auffassung des Körpers lässt sich ebenfalls bei der wiederholten

Verbindung des Mundes und der Zunge mit zwei verschiedenen Sinnen – mit dem Gehör- und

dem Geschmackssinn – konstatieren57

. Diese verweist nicht auf eine Verwirrung zwischen

Sinnen und Sinnesorganen58

. Die hier zitierten Autoren scheinen vielmehr zwischen den

verschiedenen Empfindungen, die auf ein Sinnesorgan wirken, und den Handlungen, die mit

demselben Organ ausgeführt werden, nicht strikt zu differenzieren. Empfindungen und

Handlungen sind an der Schwelle zwischen Außen und Innen zu verorten: Sie sind das

Ergebnis der Interaktion zwischen äußerer Welt und innerem Mensch oder umgekehrt.

Wichtiger als eine Feststellung von Ursachen und Folgen ist diesen Autoren der

Schwellenzustand von Empfindungen und Handlungen. Dieser Zustand ermöglicht

schlechthin die Wirkungen auf ein Sinnesorgan sowie dessen Hervorbringungen gemeinsam

einzuordnen. Die Undifferenziertheit zwischen Empfindungen und Handlungen sowie auch

die Idee eines „offenen“ Körpers verweisen auf die Alterität des hochmittelalterlichen

Denkens. Diese beiden Aspekte begründen die Bedeutung des Wirkens und bieten sich an als

Deutungshorizont für die mittelalterliche Reflexion nicht nur über die Sinne, sondern über das

Handeln im Allgemeinen.

56 Dazu vgl. auch WOOLGAR: The Senses in Late Medieval England, New Haven 2006, S. 2; 267. 57 Zu Geschmack und Gespräch als “zwei Sinne des Mundes” vgl. EBDA., S. 10. 58 EBDA.