-I- Das Diffusionsverhalten von Wasserstoff in einem niedriglegierten Stahl unter Berücksichtigung des Verformungsgrades und der Deckschichtbildung in alkalischen Medien Vom Promotionsausschuss der Technischen Universität Hamburg-Harburg zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Naturwissenschaften genehmigte Dissertation von Guido Gerhard Juilfs aus Flensburg 2000
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Transcript
-I-
Das Diffusionsverhalten von Wasserstoff
in einem niedriglegierten Stahl
unter Berücksichtigung des Verformungsgrades und der
Deckschichtbildung in alkalischen Medien
Vom Promotionsausschuss der
Technischen Universität Hamburg-Harburg
zur Erlangung des akademischen Grades
Doktor der Naturwissenschaften
genehmigte Dissertation
von
Guido Gerhard Juilfs
aus Flensburg
2000
-II-
1. Gutachter: Prof. Dr. K.-H. Schwalbe
2. Gutachter: Prof. Dr. H.-D. Knauth
Tag der mündlichen Prüfung: 01.11.2000
-III-
Zusammenfassung
Es wurde mittels der elektrochemischen Permeationstechnik der Einfluss der plastischen Verformung
auf das Diffusionsverhalten von Wasserstoff in einem niedriglegierten Baustahl (FeE 690T)
untersucht, wobei der Werkstoff einerseits durch vorangegangenes Kaltwalzen, andererseits
zugverformt wurde. Speziell angefertigte C(T)-Proben ermöglichten die direkte Bestimmung des
Diffusionskoeffizienten im stark verformten Bereich vor einem Kerb. Es zeigte sich eine starke
Abhängigkeit des effektiven Diffusionskoeffizienten vom Dehnungsgrad und von der
Wasserstoffkonzentration während der maximale Wasserstofffluss weitestgehend unbeeinflusst blieb.
Diese Beobachtungen werden mit der Existenz von Stufenversetzungen erklärt, die als Fallen für den
diffundierenden Wasserstoff dienen und so den Wasserstofftransport in der plastischen Zone
entscheidend beeinflussen. Die Ergebnisse wurden mit einem Modell verglichen, das u.a. den Einfluss
der Fallendichte auf den Wasserstofftransport berücksichtigt. Es zeigte sich, dass sämtliche
experimentellen Daten mit Hilfe der numerischen Rechnungen über den gesamten untersuchten
Dehnungsbereich sehr gut reproduziert werden können. Aus der Anpassung der Fallenparameter ergibt
sich für den unverformten Zustand eine Fallendichte von 6.1·1019/m3. Zusammen mit den Ergebnissen
einer früheren Studie bezüglich der Risszähigkeit von FeE 690T unter Wasserstoffeinfluss kann der
beobachtete Dehnrateneffekt auf den Versagensmechanismus eindeutig auf die verminderte
Beweglichkeit der Wasserstoffatome innerhalb der plastischen Zone zurückgeführt werden. Dass
insgesamt der Wasserstofftransport bei monotoner Beanspruchung diffusionskontrolliert ist, bestätigen
auch Untersuchungen zur Deckschichtbildung in nicht korrosiven Medien. Mittels einer
potentiodynamischen Methode (Cyclovoltammetrie) gelang die Charakterisierung der häufig bei der
Permeation an unbeschichteten Werktoffen als problematisch angesehenen Oberflächenreaktionen. Es
stellte sich dabei heraus, dass die entstehenden Passivschichten je nach angelegtem Potential in erster
Linie die Wasserstoffabsorption beeinflussen, wobei der Wasserstoffeintritt bevorzugt an sogenannten
aktiven Stellen der Metalloberfläche stattfindet.
-IV-
Abstract
The influence of plastic strain on the diffusion behaviour of hydrogen in a low alloyed structural steel
(FeE 690T) was investiated using the electrochemical permeation technique. The plastic deformation
was introduced either by cold rolling or by tensile straining. Specially prepared C(T)-specimen
enabled the direct determination of the diffusion coefficient in the higly deformed region ahead of a
blunting crack. It was shown, that the apparent diffusion coefficient depends on the plastic strain and
on the overall hydrogen concentration, whereas the maximum hydrogen flux remained almost
unchanged. These observations are interpreted in terms of variations in the dislocation density, which
act as 'sinks' for the diffusable hydrogen atoms. The results are compared with model calculations, that
describe the hydrogen transport as a function of the trap density. The comparison of the numerical
simulation and the experimental data shows a good agreement over the whole range of plastic strain
levels, leading to a trap density of 6.1·1019/m3. Together with the results of a previous study on the
fracture toughness of FeE 690T in the presence of hydrogen the permeation data obtained in this work
suggest that the observed influence of deformation rates on the fracture mechanism can be attributed to
the reduced mobility of hydrogen atoms in the plastic zone. The assumption that the hydrogen
transport during monotonic straining is controlled by diffusion was confirmed by investigations
concerning the formation of surface films. Using a potentiodynamic method (cyclovoltammetry) a
characterisation of the surface reactions involved in permeation experiments was performed. It was
shown that the nature of the passive layers forming on the surface depens on the applied potential,
affecting mainly the hydrogen absorption reaction. The hydrogen entry is assumed to preferably take
place at so called 'active sites' on the metal surface.
-V-
Liste der verwendeten Symbole
a Risslänge
A Elektrodenoberfläche
A5 Bruchdehnung
B Probendicke der C(T)-Proben
c dimensionslose Konstante in Gl. (5.2)
C Konzentration
CL Wasserstoffkonzentration im Wirtsgitter
CT Wasserstoffkonzentration in Fallen
D Diffusionskoeffizient
Deff effektiver Diffusionskoeffizient
DL Diffusionskoeffizient der Gitterdiffusion
E Elektrochemisches Potential
Ec Beladepotential
Ecorr freies Korrosionspotential
Ed Detektionspotential
Eλa anodisches Wechselpotential
Eλc kathodisches Wechselpotential
F Faradaykonstante, 96484.6 C/mol
ic Beladestrom
iP Permeationsstrom
iP∞ Permeationsgrenzstrom
J Diffusionsfluss
J0 Permeationsstrom durch fallenfreien Werkstoff
JT Permeationsstrom durch fallenbehafteten Werkstoff
K Spannungsintensitätsfaktor
KISCC Schwellwert für die Spannungsintensität bei Vorliegen von Spannungsrisskorrosion
KT Gleichgewichtskonstante
L Diffusionsstrecke
nH Menge Wasserstoff in der Prozesszone
NL Dichte der Zwischengitterplätze
NT Dichte der Fallenplätze
Q Ladung
r Ausdehnung der Prozesszone; in Abbildung 2.4 definiert
rK Kerbradius
R universelle Gaskonstante, 8.3144 J(Kmol)-1
Rm Zugfestigkeit
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Rp0.2 0.2% Streckgrenze
T absolute Temperatur
t Zeit
tb Durchbruchszeit
u normierte Wasserstoffkonzentration
vLL Verschiebung in Lastlinie
VM Molvolumen eines idealen Gases bei Standardumgebung, 24.789 dm³/mol
W Probenbreite bei C(T)-Proben
x Koordinate; in Abbildung 4.1 definiert
Y dimensionslose Korrekturfunktion
z Ladungszahl
∆ET Bindungsenergie der Wasserstofffallen
εpl plastische Verformung
η Überspannung
θ Bedeckungsgrad der Metalloberfläche mit Wasserstoff
θL Besetzungsgrad der Zwischengitterplätze
θL0 Besetzungsgrad der Zwischengitterplätze an der Stelle x = 0
θT Besetzungsgrad der Wasserstofffallen
θT0 Besetzungsgrad der Wasserstofffallen an der Stelle x = 0
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Liste der verwendeten Abkürzungen
C(T) Kompaktzugprobe
CE engl. = counter electrode, Gegenelektrode
CTOD Rissspitzenverschiebung
EDTA Ethylendiamintetraacetat
FEM Methode der finiten Elemente
HAR engl. = Hydrogen absorption reaction, Wasserstoffabsorptionsreaktion
HER engl. = Hydrogen evolution reaction, Wasserstoffentstehungssreaktion
HIC engl. = Hydrogen induced cracking, Wasserstoff induzierte Rissbildung
NHE engl. = normal Hydrogen electrode, Normal-Wasserstoffelektrode
PTFE Polytetrafluorethylen
PVC Polyvinylchlorid
RE engl. = reference electrode, Referenzelektrode
REM Raster-Elektronen-Mikroskop
SATP engl. = standard ambient temperature and pressure
2 Grundlagen der Wasserstoffverspr ödung von Eisen und niedr iglegier ten Stählen ................................3
2.1 Begriff .........................................................................................................................................................3
2.2 Voraussetzungen für Wasserstoffversprödung............................................................................................3
2.3 Wasserstoffaufnahme bei kathodischer Polarisation..................................................................................5
4.2.1 Bestimmung des effektiven Diffusionskoeffizienten .......................................................................40
4.2.1 Simulation der Wasserstoffdiffusion in Gegenwart von Fallen .......................................................42
5 Ver suchsergebnisse.....................................................................................................................................45
5.1 Untersuchungen zur Wasserstoffdiffusion in FeE 690T............................................................................45
5.1.1 Bestimmung des Diffusionskoeffizienten bei εpl = 0........................................................................45
5.1.2 Diffusion bei plastischer Verformung (εpl bis 60 %)........................................................................46
5.2.1 Deckschichtbildung in 0.1 M NaOH................................................................................................59
5.2.2 Einfluss von Deckschichten auf den Wasserstofftransport ..............................................................62
5.2.3 Deckschichtbildung in 0.1 M NaOH nach kathodischer Polarisation ..............................................64
6 Diskussion der Ergebnisse..........................................................................................................................68
6.1 Wasserstofftransport in FeE 690T............................................................................................................68
6.1.1 Diffusion im unverformten Zustand.................................................................................................68
6.1.2 Wasserstoffdiffusion im plastisch verformten Werkstoff ................................................................69
6.1.3 Verhältnis von Gitter- zu Fallenwasserstoff im verformten Werkstoff ...........................................71
6.1.4 Zusammenhang zwischen Wasserstofftransport und Risszähigkeit .................................................73
6.2 Wasserstoffeintritt während kathodischer Polarisation in alkalischen Medien........................................76
6.2.1 Deckschichtbildung ohne Polarisation.............................................................................................76
6.2.2 Deckschichtbildung bei Unterbrechung der Polarisation.................................................................76
6.2.3 Deckschichtbildung bei langanhaltender Wasserstoffabscheidung..................................................77
6.2.4 Bedeutung der Deckschichtbildung für die Anwendung der Permeationsmethode zur Untersuchung
von Transportphänomenen...............................................................................................................80
Voraussetzung für die Durchführung von Wasserstoff-Permeationsmessungen sind konstante
Konzentrationsverhältnisse an der Metalloberfläche über einen Zeitraum von mehreren Stunden oder
Tagen. Eigene Untersuchungen zeigen, dass saure Elektrolyten für die Permeationsmessung an dem in
dieser Arbeit verwendeten Stahl nicht geeignet sind. Auch Maßnahmen wie das Polieren bzw. Ätzen
der Oberfläche vor einer Messung verhindern nicht die Bildung einer Passivschicht bei der
nachträglichen Messung in alkalischen Elektrolyten [34].
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2.4 Wasserstofftransport in Eisen und Stahl
2.4.1 Löslichkeit
Der interstitiell gelöste Wasserstoff ist außerordentlich beweglich und lagert sich bis zum Erreichen
der Sättigung auf Zwischengitterplätzen im Metallgitter ein [35]. In Übergangsmetallen gibt er dabei
sein Elektron an das Gittergas ab und liegt als sog. abgeschirmtes Proton vor [36]. Die Konzentration
der auf Zwischengitterplätzen eingelagerten Wasserstoffatome CL ergibt sich nach Oriani zu
LLL NC θ= (2.11)
mit Lθ als dem Besetzungsgrad und als NL der Konzentration der Zwischengitterplätze [37]. Kubisch-
raumzentriertes α-Eisen besitzt zwölf Tetrader- und sechs Oktaederlücken, von denen jeweils eine
Sorte mit Wasserstoffatomen besetzt werden kann. Wenn davon ausgegangen wird, dass die
Wasserstoffatome bei Raumtemperatur nur die Tetraederlücken einnehmen, beträgt NL in reinem α-
Eisen 5.1 · 1029/m-3 [38].
In der Regel besitzen metallische Werkstoffe, z.B. auf Grund des Herstellungsprozesses, Fehler im
Atomgitter. Dies können Leerstellen, Korngrenzen, oder Versetzungen sein, die durch lokale
Verzerrungen des Atomgitters die vermehrte Einlagerung von Wasserstoff im Metall fördern, weshalb
sie auch als Wasserstofffallen bezeichnet werden [39, 40, 41]. Nach Oriani ergibt sich die
Wasserstoffkonzentration in den Fallen zu
TTT NC θ= , (2.12)
wobei Tθ den Besetzungsgrad der Fallen und NT die Fallendichte darstellen. Aus theoretischen
Überlegungen weiß man, dass die Wasserstoffatome im Gitter und in den Fallen in einem chemischen
Gleichgewicht stehen, wobei das Gleichgewicht wegen der z.T. sehr hohen Bindungsenergie zwischen
Wasserstoffatomen und Gitterfehlstellen stark auf Seiten der Fallen liegt.
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2.4.2 Diffusivität
Der in der Literatur angegebene Wert für den Diffusionskoeffizienten der Gitterdiffusion in reinem α-
Eisen variiert je nach Untersuchungsmethode und Reinheitsgrad [42, 43]. Legierungselemente wie Ni,
Mn, Co und Cr vermindern den Diffusionskoeffizienten von Wasserstoff in α -Eisen [44]. Auch
Nichtmetalle wie Schwefel und Silizium zeigen eine ähnliche diffusionshemmende Wirkung [45].
Kesten führt die Abhnahme der Wasserstoffdiffusion in α -Eisen auf die Wechselwirkungen von
Legierungselementen mit den Wasserstoffatomen zurück [46]. So ist z.B. die Bindungsenergie an
Spannungsfeldern von Fremdatomen 3- bis 4-mal höher als die interstitielle Lösung im Gitter. Neueste
Untersuchungen bestimmen die Diffusionskonstante der reinen Gitterdiffusion DL in α-Eisen bei
Raumtemperatur zu 7.5 · 10-5 cm²/s [47].
In Stählen wird die Diffusion in erster Linie durch die mikrostrukturellen Eigenschaften bestimmt
[48]. Stähle mit martensitischem Gefüge besitzen eine stark inhomogene Mikrostruktur mit einer
Vielzahl von möglichen Haftstellen für internen Wasserstoff und weisen deshalb im Vergleich zu
ferritischen oder bainitischen Gefügen eine geringe Wasserstoffdurchlässigkeit auf. Messungen der
Diffusionskonstante in Abhängigkeit von der Mikrostruktur zeigen eine Abnahme der effektiven
Diffusion mit steigendem Kohlenstoffgehalt [49]. Bei einem relativ niedrigen Kohlenstoffgehalt von
0.23 wt.% wird der Diffusionskoeffizient bei 298 K mit lediglich 4.24 · 10-7 cm²/s angegeben.
Auch eine plastische Verformung kann durch die Bildung von zusätzlichen Versetzungen zu einer
Abnahme der effektiven Diffusionsgeschwindigkeit führen [50, 51]. Das damit verbundene Problem
des Wasserstofftransports vor der Rissspitze wurde von Sofronis und McMeeking numerisch
untersucht [52]. Sie kombinierten Orianis Gleichgewichtstheorie über die Wasserstoffverteilung mit
FEM-Rechnungen des elastisch-plastischen Verformungsprozesses vor der Rissspitze. Sie konnten
zeigen, dass sich im Zuge der Verformung große Mengen von Wasserstoff in der plastischen Zone vor
der Rissspitze sammeln. Ausschlaggebend für diese Erhöhung ist die Zunahme der Wasserstofffallen
um mehr als das 200fache. Gleichzeitig sinkt der effektive Diffusionskoeffizient auf 60 % des
Ausgangswertes, d.h. bei reiner Gitterdiffusion. Die Erhöhung der Wasserstoffkonzentration auf
Grund der hydrostatischen Spannungen ist vergleichsweise gering, was bedeutet, dass nicht die
hydrostatische Spannung, sondern in erster Linie die plastische Dehnung über die
Konzentrationsverteilung im Wasserstoff entscheidet. Kennt man den Zusammenhang zwischen
plastischer Verformung und Fallendichte, lassen sich Konzentrationsprofile vor der Rissspitze
erstellen. Aus den Ergebnissen folgt, dass die höchste Wasserstoffkonzentration unmittelbar vor der
Rissspitze erzeugt wird. Der Konzentrationsgradient ist um so steiler, je größer der durch die Dehnung
verursachte Anstieg in der Fallendichte ist.
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Passivschichten sind für atomaren Wasserstoff zwar durchlässig, stellen in der Regel aber ein
Hindernis für die Permeation dar [53, 54]. Schomberg und Grabke untersuchten die
Wasserstoffpermeation durch genau definierte Oxidschichten der Art Fe1-xO (0.06 < x < 0.11), wobei
sich die Oxidschichten jeweils auf der Austrittsseite einer 1 mm Eisenmembran befanden [55]. Sie
fanden heraus, dass der Diffusionskoeffizient für Wasserstoff in diesen Schichten 4 · 10-10 cm²/s
beträgt. Dies bedeutet zum einen eine erheblichen Reduzierung der Wasserstoffaufnahme auf Grund
einer Verschiebung des Gleichgewichts in Gleichung 2.7 zu Gunsten der Rekombination, zum anderen
eine Verminderung des effektiven Diffusionskoeffizienten beim Durchtritt von Wasserstoff durch
metallische Werkstoffe. Die Abhängigkeit der effektiven Diffusion vom Detektionspotential lässt
dabei vermuten, dass der Wasserstoff in der Oxidschicht wie auch im Metall als Proton vorliegt [56].
2.5 Mechanismen der Wasserstoffversprödung
Die Vielzahl der durch Wasserstoff hervorgerufenen Effekte hat zur Entwicklung sehr
unterschiedlicher Modellvorstellungen geführt, in denen die bereits diskutierten Wasserstofffallen eine
mehr oder weniger zentrale Rolle spielen. Die folgenden Ausführungen geben einen Überblick über
die für Eisen und Stahl wichtigsten Modelle:
1) Drucktheorie
Dieses auf Zappfe und Sims zurückgehende Modell nimmt an, dass Wasserstoff in inneren Poren und
Mikrorissen rekombiniert und dadurch örtlich sehr hohe interne Spannungen hervorruft [57].
Zusammen mit den von der äußeren Belastung und den Gitterfehlern herrührenden Spannungen
können diese Spannungen die Bindungskräfte benachbarter Atome erreichen und so die Rissbildung
begünstigen. Das Modell erklärt z.B. die Bildung von Beizblasen (blistering) an Weicheisen in
Umgebungsmedien mit extrem hoher Wasserstoffaktivität.
2) Adsorptionstheorie
Nach dem Griffith-Modell ist für ideal spröde Werkstoffe die Bruchspannung proportional zur Wurzel
aus der Oberflächenenergie. Demnach kann aus rein thermodynamischen Überlegungen Wasserstoff
durch Reduzierung der Oberflächenenergie rissbeschleunigend wirken. [58]. Gegen die
Adsorptionstheorie lassen sich zahlreiche Argumente vorbringen. Wichtig erscheint vor allem, dass
Gase mit größeren Adsorptionswärmen (z.B. Sauerstoff) weniger stark rissbeschleunigend wirken als
Wasserstoff und teilweise den Wasserstoffeffekt komplett unterdrücken [59].
3) Dekohäsionstheorie
In diesem Modell schwächt gelöster Wasserstoff die Me-Me Bindung und erhöht so die Neigung zu
Spalt- und Korngrenzenbrüchen. Dieses erstmals von Troiano vorgeschlagene Konzept ist vor allem
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für hochfeste Stähle anwendbar, da hier hohe lokale Spanungen an der Rissspitze vorliegen [60].
Die hohen Spannungen ermöglichen zudem eine merkliche Wasserstoffanreicherung im elastisch
verzerrten Gitter (Gorsky Effekt). Dieses Modell erlaubt die Korrelation der kritischen
Spannungsintensität bei Umgebungseinfluss KISCC (vgl. Kap. 2.6) mit der Wasserstoffkonzentration im
Werkstoff [61]. Numerische Simulationen ergaben in Übereinstimmung mit den Grundvorstellungen
der Dekohäsionstheorie eine Reduzierung der Bruchspannung [62]. Allerdings fehlen bislang
experimentelle Beweise für eine tatsächliche Schwächung der Me-Me durch interstitiell gelösten
Wasserstoff [63].
4) Wasserstoffinduzierte Entfestigung
Nach Vorstellungen, die auf Beachem zurückgehen, erleichtert Wasserstoff die
Versetzungsbeweglichkeit und trägt über eine Reduzierung der Streckgrenze direkt zum Rissfortschritt
bei [64]. Durch Wasserstoff hervorgerufene Entfestigungsvorgänge wurden experimentell sowohl für
Ein- als auch für Vielkristalle bestätigt [65]. Der Einfluss des Wasserstoffs auf die
Versetzungsbeweglichkeit wurde vor allem durch TEM-Untersuchungen an unterschiedlichen
Metallen belegt [66, 67].
Festzuhalten bleibt, dass keines der oben genannten Modelle die Vielzahl der in der Literatur
vorliegenden Ergebnisse erklären kann. Vielmehr liegt je nach untersuchtem System eine
Kombination mehrerer Mechanismen vor, bei dem ein oder mehrer Mechanismen überwiegen.
2.6 Bruchmechanische Grundlagen und Bezeichnungen
Die durch Wasserstoff ausgelösten Änderungen der mechanischen Eigenschaften können bei
makroskopischer Betrachtungsweise als Sonderfall der Spannungsrisskorrosion angesehen werden.
Unter Spannungsrisskorrosion wird allgemein das Zusammenwirken eines für einen gegebenen
Werkstoff spezifisch wirkenden Korrosionsmediums und einer (statischen oder zeitlich zunehmenden)
Zugspannung verstanden (DIN 50 922). Bei dieser Definition ist es unerheblich, ob die Rissbildung
und -ausbreitung unter dem Einfluss einer von der Werkstückoberfläche ausgehenden, zu anodischer
Metallauflösung führenden elektrochemischen Reaktion des Werkstoffs mit einzelnen Komponenten
der Umgebung erfolgt, oder ob die Schädigung als Folge der Aufnahme von Bestandteilen aus der
korrosiven Umgebung, insbesondere von Wasserstoff, eintritt.
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Das Versagen eines Bauteils infolge Spannungsrisskorrosion lässt sich in drei nacheinander
ablaufende Phasen unterteilen:
� die Inkubationsphase, in der es zur Bildung von Risskeimen kommt, � die Rissausbreitungsphase, in der, ausgehend von einem Risskeim, sich der Riss durch
unterkritisches Wachstum verlängert, und � der abschließende Gewaltbruch, der letztendlich zum Bauteilversagen führt.
Der Einfluss der korrosiven Umgebung erstreckt sich auf die beiden ersten Phasen, d. h. die
Risskeimbildung und die Rissausbreitung, während die Mechanismen des abschließenden
Gewaltbruches, unabhängig von der jeweiligen Umgebung, allein durch die mechanische Belastung
bestimmt werden. Bei der bruchmechanischen Betrachtungsweise der Spannungsrisskorrosion, die der
vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, wird die Phase der Risskeimbildung durch die Annahme, dass in
realen Bauteilen bereits wachstumsfähige Anrisse existieren, außer Betracht gelassen. In der Praxis
kann diese Inkubationphase jedoch den größten Teil der Lebensdauer eines Bauteils ausmachen,
sofern dieses zunächst tatsächlich absolut rissfrei ist.
Mit Hilfe der Bruchmechanik kann das Wachstum derartiger Anrisse unter Last beschrieben werden.
Das elastische Spannungs- und Dehnungsfeld in der Umgebung der Rissspitze lässt sich gemäß Irwin
durch eine Schar von Gleichungen charakterisieren, in denen die Spannungs- und
Dehnungskomponenten dieses Feldes in eindeutiger Weise von einem einzigen
Beanspruchungsparameter, dem Spannungsintensitätsfaktor K, abhängen [68, 69, 70, 71]. Diese
einparametrige Beschreibung des Spannungsfeldes durch den linear elastischen
Spannungsintensitätsfaktor K gilt, obwohl in der Umgebung der Rissspitze ein Bereich plastischer
Verformung existiert. Sie hat jedoch nur so lange Gültigkeit, wie die plastische Zone klein gegenüber
den übrigen Abmessungen der Probe bzw. des Bauteils bleibt; nur dann ist ihr Verhalten und damit
das des Risses durch das Verhalten der elastischen Umgebung bestimmt.
Die Beschreibungsmöglichkeit durch K ist unabhängig von der Proben-, Riss- und
Belastungskonfiguration, während der Wert des Spannungsintensitätsfaktors von der äußeren
Belastung und von der Geometrie der Probe oder des Bauteils abhängt [72]:
YaK ⋅⋅= πσ (a/W) (2.13)
mit σ als Spannung, a als Risslänge und Y(a/W) als dimensionsloser Korrekturfunktion, die den
Einfluss der Geometrie und der Risskonfiguration beschreibt.
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Für die meisten der in der Bruchmechanik untersuchten Probenformen sind die
Spannungsintensitätsfaktoren bzw. die Korrekturfunktionen Y in der Literatur angegeben [73]. Für die
in dieser Arbeit verwendeten Kompakt- oder C(T)-Proben gilt:
Y (a/W)= 0.866 · 4.64(a/W)-13.32 (a/W)2+14.72(a/W)3-5.6(a/W)4 (2.14)
Der Spannungsintensitätsfaktor K ermöglicht es, den Beginn des Risswachstums durch einen
kritischen Wert, die Risszähigkeit KIc, zu kennzeichnen. Bei der Rissausbreitung in Luft ist dieser
Wert unter bestimmten Voraussetzungen, die das Vorliegen linear elastischen Bruchverhaltens
sicherstellen sollen, ein Werkstoffkennwert, d.h. er ist unabhängig von der Probengeometrie und den
Abmessungen.
In korrosiver Umgebung wird das Verhalten eines Risses zeitabhängig. Die Anwendung
bruchmechanischer Methoden bei der Untersuchung der Spannungsrisskorrosion ermöglicht es, die
Kinetik des umgebungsbedingten Risswachstums mit dem Spannungsintensitätsfaktor zu verknüpfen
[74]. In Bild 2.2 ist der Zusammenhang zwischen der Rissgeschwindigkeit da/dt und dem
Spannungsintensitätsfaktor K in der gebräuchlichen Form, als log(da/dt)-K-Diagramm, schematisch
wiedergegeben [75].
Bild 2.2:
Zusammenhang zwischen Rissgeschwindigkeit da/dt und dem Spannungsintensitätsfaktor K bei
Vorliegen von Spannungsrisskorrosion (schematisch)
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In diesem Diagramm ist ein unterer Grenzwert KISCC angedeutet, der dadurch definiert ist, dass
unterhalb dieses Wertes kein umgebungsgestütztes Risswachstum auftritt. Ist ein solcher Grenzwert
nicht eindeutig feststellbar, so behilft man sich, indem derjenige K-Wert als KISCC angenommen wird,
bei dem das Risswachstum nicht mehr als 10-9 m/s beträgt.
Wie in Bild 2.2 angedeutet, lassen sich beim umgebungsbedingten Risswachstum drei Bereiche
unterscheiden, die nach dem Überschreiten von KISCC sukzessive durchlaufen werden:
I Im Bereich I, bei niedrigen K-Werten, besteht ein weitgehend linearer Zusammenhang
zwischen dem Risswachstum und der Spannungsintensität, geringfügige Änderungen der
Spannungsintensität sind mit großen Änderungen der Rissgeschwindigkeit verbunden.
II Zu höheren K-Werten hin schließt sich häufig ein Plateau, der Bereich II, an, innerhalb dessen
die Rissgeschwindigkeit unabhängig von der Spannungsintensität ist; die Höhe des Plateaus
wird in erster Linie durch Transportvorgänge bestimmt, die in Zusammenhang mit den
Mechanismen der umgebungsbedingten Rissausbreitung stehen.
III Mit weiter zunehmender Spannungsintensität steigt die Rissgeschwindigkeit erneut rasch an;
bei KIc ist schließlich die kritische Spannungsintensität oder Risszähigkeit des Werkstoffs
erreicht, bei der auch in inerter Umgebung Rissausbreitung allein aufgrund der mechanischen
Beanspruchung einsetzen würde.
Die Bereiche I bis III kennzeichnen das Gebiet der so genannten unterkritischen Rissausbreitung, in
dem eine Rissverlängerung unterhalb der kritischen Spannungsintensität KIc erfolgt. Die
Rissausbreitung ist stabil, d.h. sie kann jederzeit durch eine Unterbrechung der mechanischen
Belastung zum Stillstand gebracht werden. Da das Risswachstum unterhalb von KIc stattfindet, kann es
aber auch allein dadurch unterbrochen werden, dass das korrosive Medium durch ein inertes ersetzt
wird.
Um für ein aus Werkstoff und korrosiver Umgebung bestehendes Korrosionssystem das in Bild 2.2
dargestellte Diagramm zu ermitteln, werden Proben benutzt, die nach dem Einbringen einer
Starterkerbe oder eines scharfen Anrisses im interessierenden Medium mechanisch belastet werden.
Zumeist erfolgt dies dadurch, dass die Proben durch einen Keil oder über Schraubenbolzen auf einen
konstanten Betrag aufgeweitet werden, der einem Spannungsintensitätswert Ki oberhalb des
erwarteten KISCC-Wertes entspricht. Der Riss läuft dann in ein Feld abnehmender Spannungsintensität
hinein, und der gesuchte KISCC-Wert ergibt sich aus der Risslänge, bei der der Riss zum Stehen kommt,
bzw. bei der seine Ausbreitungs-geschwindigkeit die willkürlich festgelegte Grenze von 10-9 m/s
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unterschreitet. Alternativ dazu wird in jüngerer Zeit immer häufiger ein beschleunigtes Verfahren zur
Ermittlung von KISCC eingesetzt, das auf den zuerst von McIntyre und Priest vorgeschlagenen
sogenannten Rising Load KISCC-Test zurückgeht [76]. Bei dieser Prüfmethode wird anstelle einer
zeitlich konstanten Last ähnlich wie beim Bruchmechanik-Versuch an Luft, mit dem die Risszähigkeit
KIc ermittelt wird, die Belastung kontinuierlich erhöht. Allerdings sind die bei der
Spannungsrisskorrosionsprüfung benutzten Abzugsraten wesentlich niedriger als beim
Bruchmechanik-Versuch. Für die meisten Korrosionssysteme liegen sie in der Größenordnung von
wenigen µm/h, gemessen in der Lastlinie der Proben, oder noch darunter.
Diese Versuchstechnik eignet sich insbesondere dazu, die zeitabhängigen Vorgänge an der Rissspitze
zu analysieren, die zur Spannungsrisskorrosion führen. Dabei werden in der Regel Parameter und
Formalismen der elastisch-plastischen oder Fließbruchmechanik benutzt. Als besonders geeignet hat
sich dabei die Rissspitzenverschiebung δ erwiesen, die auch als CTOD (crack tip opening
displacement) bezeichnet wird und sich auf den Bereich in der unmittelbaren Umgebung der
Rissspitze bezieht. Die in diesem Bereich auftretenden plastischen Dehnungen kontrollieren gemäß
Wells, auf den das CTOD-Konzept zurückgeht, das Rissgeschehen [77]. Die kritische
Rissspitzenverschiebung δc, bei der das stabile Risswachstum einsetzt, kann dabei ebenso als
Materialkenngröße angesehen werden wie KIc.
Das CTOD kann entweder mit einem speziellen Wegaufnehmer direkt gemessen werden ("δ5-
Methode"), oder es wird aus einer weit von der Rissspitze entfernt gemessenen Verschiebung,
beispielsweise in der Lastlinie der Probe, extrapoliert [78]. Es hat sich dabei gezeigt, dass zwischen
den so gemessenen δ5-Werten und den berechneten Werten eine gute Übereinstimmung besteht. Auch
in korrosiver Umgebung können sog. Risswiderstandskurven ("R-Kurven") aufgenommen werden, die
den Zusammenhang zwischen dem Rissfeldparameter CTOD und der Rissverlängerung zeigen und die
dabei den Einfluss des korrosiven Mediums auf das Rissausbreitungsgeschehen wiedergeben.
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2.7 Dehnratenabhängigkeit von CTOD-R-Kurven unter Wasserstoffbeladung
Allen Modellen zur Beschreibung des Einflusses von Wasserstoff auf das Risswiderstandsverhalten,
mit Ausnahme des Adsorptionsmodells, ist die Vorstellung gemeinsam, dass dem letztlich zur
Rissbildung bzw. -ausbreitung führenden Schritt eine Phase des Wasserstofftransports im Werkstoff
vorausgehen muss. Nimmt man an, dass innerhalb der plastischen Zone, wie schon im unverformten
Material Diffusionsvorgänge dominieren, so ergibt sich aus der Zeitabhängigkeit der Diffusion eine
Abhängigkeit der Rissgeschwindigkeit (und der kritischen Spannungsintensität KISCC) von der
applizierten Dehnrate. Diese Annahme wird durch zahlreiche Untersuchungen bestätigt.
Dietzel und Pfuff berichten von einem deutlichen Dehnrateneffekt bei Risswiderstandsmessungen an
zügig belasteten C(T)-Proben des niedrig-legierten Feinkornbaustahls FeE 690T, der während der
mechanischen Beanspruchung kathodisch mit Wasserstoff beladen wurde [79]. Je niedriger bei diesen
Versuchen die Abzugsrate, d.h. die der Probe aufgeprägte Verformungsgeschwindigkeit gewählt
wurde, desto geringer war auch der ermittelte Wert des Spannungsintensitätsfaktors bei dem eine
Rissinitiierung gemessen wurde. Als weitere Folge der Wasserstoffbeladung nahmen zugleich, wie aus
Bild 2.3 ersichtlich, die mit dem CTOD gemessenen Risswiderstandskurven einen zunehmend
flacheren Verlauf. Bei jeweils konstant gehaltener Verformungsgeschwindigkeit stellte sich in jedem
der Versuche nach einer kurzen, sich an die Rissinitiierung anschließenden Übergangsphase eine allein
von der Abzugsrate abhängige konstante Rissgeschwindigkeit ein.
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Bild 2.3:
Einfluss der Abzugsrate auf die CTOD-R-Kurve an Luft
und in synthetischem Meerwasser unter Wasserstoffbeladung [77]
Diese Beobachtungen dienten den Autoren als Grundlage für ein Modell, das den Einfluss des
Wasserstoffs auf die Rissgeschwindigkeit als Überlagerung zweier Versagensmechanismen beschreibt.
Je nach Wasserstoffkonzentration innerhalb eines als Prozesszone bezeichneten Teils der plastischen
Zone (vgl. Abb 2.4) dominiert nach diesem Modell entweder duktiles Versagen aufgrund der
mechanischen Beanspruchung oder wasserstoffinduzierter Rissfortschritt. Die Wasserstoff-
konzentration ist dabei eine Funktion der Rissgeschwindigkeit, wenn gemäß der Modellvorstellung der
Wasserstoff je nach Abzugsrate und damit nach der lokalen Dehnrate dem fortschreitenden Riss
entweder vorauseilt oder hinter der wandernden Rissfront zurückbleibt.
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Bild 2.4:
Definition der Prozesszone vor einem Riss [77]
Durch Anpassung des Verhältnisses zwischen dem Durchmesser der Prozeßzone r und des effektiven
Diffusionskoeffizienten Deff an die experimentell gefundenen Werte wurden drei Szenarien für das
wasserstoffinduzierte Risswachstum im Stahl FeE 690T entworfen: Bei hohen Abzugsraten geht die
Wasserstoffkonzentration in der Prozesszone gegen Null, dementsprechend wird hauptsächlich
duktiles Werkstoffversagen beobachtet. Für sehr kleine Abzugsraten erreicht das Wasserstoffangebot
vor dem Riss einen allein durch die Wasserstofflöslichkeit und den Diffusionskoeffizienten
bestimmten Wert und sprödes Versagen dominiert. Im Falle der mittleren Dehnraten ergibt sich für die
Wasserstoffkonzentration in erster Näherung die Beziehung
a
DCn eff
H �0= , (2.15)
wobei C0 die maximale Löslichkeit im Werkstoff, Deff den effektiven Diffusionskoeffizienten und a�
die Rissgeschwindigkeit darstellt. Hieraus folgt, dass die Wasserstoffkonzentration vor der Rissspitze
mit abnehmender Riss- bzw. Verformungsgeschwindigkeit zunehmen muss. In diesem Fall
konkurrieren die beiden Versagensmechanismen, wie die fraktografische Auswertung der
Bruchflächen zeigte [73].
-21-
3 Aufgabenstellung
Ein Problem bei der Beurteilung von bruchmechanischen Tests unter Wasserstoffbeladung ist die
Dehnratenabhängigkeit der ermittelten Kennwerte, wobei der schädigende Einfluss des Wasserstoffs
mit sinkender Dehnrate zunimmt. Wie die Arbeit von Dietzel und Pfuff zeigt, kann dieses Verhalten
mit der Diffusionsgeschwindigkeit des Wasserstoffs in der plastischen Zone vor einem Riss erklärt
werden. Offen blieb bei diesen letztgenannten Untersuchungen die Frage nach der Größe der
sogenannten Prozesszone und dem Wert des Diffusionskoeffizienten in diesem Bereich. Würde man
für die Diffusionskonstanten Werte annehmen, wie sie in der Literatur für niedriglegierte Stähle
angegebenen werden, i.e. 5 ·10-7 < Deff < 5 ·10-6 cm²/s, so ergäben sich für die Größe der Prozesszone
relativ hohe Werte, die im Bereich von mehreren Millimetern liegen. Ein solcher Wert erscheint viel
zu hoch. Daraus lässt sich für vorliegende Arbeit folgende Fragestellung ableiten:
� Wie groß ist der effektive Diffusionskoeffizient Deff im Stahl FeE 690T bei Raumtemperatur, und
gibt es einen mathematischen Zusammenhang zwischen der Diffusionsgeschwindigkeit und der
plastischen Verformung εpl ?
� Kann, bei bekanntem Zusammenhang zwischen Deff und εpl, eine kritische Dehnrate und damit
eine kritische Abzugsrate abgeleitet werden, mit der die beschriebenen Versuche mit konstant
zunehmender Belastung durchgeführt werden müssen, um den tatsächlichen, aus der
Wasserstoffversprödung resultierenden KISCC-Wert des Werkstoffs zu ermitteln ?
In Bezug auf die Anwendbarkeit dieser Prüfprozedur zur Ermittlung der Anfälligkeit eines
Werkstoffes gegenüber Spannungsrisskorrosion interessierte weiterhin die Frage, ob anstelle einer in-
situ Beladung eine vorgezogene Beladung der Probe mit Wasserstoff zulässig ist, um auf diese Weise
den experimentellen Aufwand erheblich zu reduzieren. In diesem Falle könnten mehrere Proben
gleichzeitig mit Wasserstoff beladen und im Anschluß daran in einem beschleunigten Prüfverfahren
getestet werden. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob es bei längerer Beladungszeit,
wie sie zum Beispiel bei mit extrem niedrigen Abzugsraten durchgeführten Versuchen gegeben ist, zu
einer verminderten Wasserstoffabsorption an der Metalloberfläche kommt. Diese Vermutung liegt
deshalb nahe, weil Eisen in den häufig für eine elektrochemische Beladung mit Wasserstoff
verwendeten alkalischen Elektrolyten zur Deckschichtbildung neigt.
-22-
4 Eingesetzte Methoden
4.1 Experimentelle Techniken
Eine Möglichkeit zur experimentellen Bestimmung von Diffusionskoeffizienten in Metallen basiert
auf der elektrochemischen Diffusionsmessung. Der Einsatz der Elektrochemie bei der Untersuchung
des Wasserstofftransports in Metallen bietet den Vorteil, dass die Randbedingungen schneller,
flexibler und genauer eingestellt werden können als bei gasvolumetrischen Messungen. Eine genauere
Betrachtung der beteiligten Reaktionen (vgl. Kap. 2.3.4) offenbart indessen, dass die Prozesse im
Detail sehr kompliziert sind und sich hieraus Probleme für die Messmethodik ergeben können.
4.1.1 Elektrochemische Diffusionsmessungen
Bei der ursprünglich von Devanathan und Stachursky entwickelten Methode wird an der Eintrittseite
einer beidseitig polarisierten Metallmembran Wasserstoff erzeugt, der je nach Werkstoff zu einem Teil
molekular als Gas entweicht [25]. Der andere Teil wird an der Grenzfläche absorbiert und diffundiert
in Folge des Konzentrationsunterschieds in das Metallinnere. In einem zweiten Stromkreis wird die
Membran auf der gegenüberliegenden Seite dergestalt polarisiert, dass der durch das Metall
diffundierte Wasserstoff unmittelbar beim Austritt oxidiert wird (Had → H+ + e-). Diese Reaktion
erzeugt einen elektrischen Strom, der als Funktion der Zeit die Berechnung des
Diffusionskoeffizienten von Wasserstoff in dem zu untersuchenden Metall ermöglicht.
Bild 4.1 zeigt das sich nach einer endlichen Zeit ausbildende Konzentrationsprofil für Wasserstoff in
einer einseitig beladenen Metallmembran. Mit Beginn der elektrochemischen Beladung wird an der
Eintrittseite (an der Stelle x = 0) mit Hilfe eines Potentiostaten eine konstante
Wasserstoffkonzentration C0 eingestellt. Demgegenüber ist die Wasserstoffkonzentration an der
Austrittseite (an der Stelle x = L) während der gesamten Versuchsdauer gleich Null. Mit Beginn der
kathodischen Beladung diffundieren die Wasserstoffatome von der Oberfläche der Eintrittseite in das
Innere der Membran, und es bildet sich nach einiger Zeit ein über die Strecke L konstanter
Konzentrationsgradient.
-23-
Bild 4.1:
Konzentrationsprofil innerhalb einer Metallmembran
während einer Permeationsmessung bei t = ∞
-24-
4.1.2 Werkstoff
Bei dem untersuchten Werkstoff handelt es sich um einen höherfesten, niedriglegierten Baustahl mit
der Bezeichnung FeE 690T (Werkstoffnummer 1.8964), der auch unter der Hersteller-kennzeichnung
N-A-XTRA 70 bekannt ist. Er besitzt eine gute Schweißbarkeit und wird bevorzugt für Druckbehälter,
im Brücken- und Tragwerkbau und als Konstruktionswerkstoff für Erdölplattformen eingesetzt [80].
Speziell in salzhaltigen Medien zeigt dieser Werkstoff eine Anfälligkeit gegenüber
Spannungsrisskorrosion, die, wie verschiedene Untersuchungen zeigen, durch externe
Wasserstoffversprödung ausgelöst wird und somit den Einsatz dieses Werkstoffs im Offshore-Bereich
stark einschränkt [65, 81]. Die chemische Zusammensetzung und die mechanisch-technologischen
Kennwerte des FeE 690T sind in den Tabellen 4.1 und 4.2 aufgeführt.
Tabelle 4.1:
Chemische Zusammensetzung des FeE 690T (N-A-XTRA 70) [82]
Element C Si Mn P S Cr Mo
Gewichts-% 0.18 0.67 1.02 0.009 0.003 0.85 0.48
Tabelle 4.2:
Mechanische Kennwerte des FeE 690T (N-A-XTRA 70) [83]
Rp0.2 [MPa] Rm [MPa] A5 [%]
735 840 21
Bild 4.3 und 4.4 zeigen die Mikrostruktur nach Ätzung der polierten Probenoberfläche mit einer
2%igen NITAL-Lösung (HNO3 in Ethanol) in 80facher Vergrößerung. Die mikroskopischen
Untersuchungen lassen ein ausgeprägtes Martensitgefüge mit unregelmäßigen, ca. 2 µm großen
Einschlüssen erkennen. Die Korngröße beträgt etwa 45 bis 50 µm in allen drei Raumrichtungen.
-25-
Bild 4.3:
Lichtmikroskopaufnahme FeE 690T
(500fache Vergrößerung, 2% Nital)
Bild 4.4:
REM-Aufnahme von FeE 690T
(2000fache Vergrößerung, 2% Nital)
-26-
4.1.3 Probenfertigung
Zur Messung der Wasserstoffdiffusion in Abhängigkeit des Verformungsgrades wurde der Werkstoff
vorverformt. Dabei wurden je nach Ausmaß der gewünschten plastischen Verformung verschiedene
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