Nationale und Kapodistrische Universität Athen Fachbereich für deutsche Sprache und Literatur DLD81: Διαπολιτισμικά Ζητήματα Leitung: Dr. Aglaia Blioumi Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder in Yoko Tawadas literarischem Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“
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Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder in Yoko Tawadas literarischem Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“
Hausarbeit im Rahmen des Seminars Interkulturelle Elemente in Literatur, Philosophie und Kunst
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Nationale und Kapodistrische Universität AthenFachbereich für deutsche Sprache und LiteraturDLD81: Διαπολιτισμικά ΖητήματαLeitung: Dr. Aglaia Blioumi
Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder
in Yoko Tawadas literarischem Essay„Eigentlich darf man es niemandem sagen,
1. Deutsche Migrationsgeschichte nach 1950........................................................S. 4
2. Von der ‚Gastarbeiterliteratur‘ zur interkulturellen Literatur.............................S. 5
3. Der dynamische Kulturbegriff als Voraussetzung für interkulturelle Literatur...S. 6
4. Interkulturalität und ihr Bezug zum monokulturellen Selbstverständnis...........S. 6
5. Selbstkritik als Mittel zur Korrektur nationaler Stereotype...............................S. 7
6. Die doppelte Optik in der Literatur...................................................................S. 8
7. Hybridität in der Literatur.................................................................................S. 8
8. Über Yoko Tawada..........................................................................................S. 9
Teil II – Praktischer Teil
9. Zusammenfassung des literarischen Essays „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“.................................................S.10
10.Tawadas Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder..................................................................................S.11
10.1 Die Dekonstruktion von unreflektierten Eigen- und Fremdbildern..............S.11
10.2 Auflösen und Korrektur von Stereotypen.....................................................S.13
2
10.3 Der Gebrauch der doppelten Optik..............................................................S.13
10.4 Elemente der Hybridität in Yoko Tawadas Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“................................S.15
In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts vollzog sich in
Deutschland, anfangs mit den ‚Gastarbeitern‘, die am deutschen
‚Wirtschaftswunder‘ mitarbeiten sollten, später mit ihren Kindern
und Enkelkindern, seit Ende des Millenniums vermehrt durch
Migranten aus der ganzen Welt, ein kultureller Wandel hin zur
Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit der Kulturen. Diese Entwicklung
spiegelt sich natürlich auch in der Literatur wider, die von den
Menschen verfasst wurde, die als Migranten nach Deutschland
zogen oder als Kinder oder Enkelkinder von Migranten dort leben.
An der in diesem Kulturwandel entstandenen Literatur lässt sich der
Übergang von einem statischen zu einem dynamischen Kulturbegriff
erkennen, bei dem Kulturen nicht nebeneinander bestehen, sondern
ineinander verflochten sind, miteinander interagieren und sich in
einem Diskurs befinden.
Ziel der vorliegenden Hausarbeit ist es, anhand des literarischen
Essays der japanischen Autorin Yoko Tawada „Eigentlich darf man
es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“ zu untersuchen,
auf welche Weise Konzepte des kulturell Eigenen und des Fremden
entblößt und durchbrochen werden. Dabei sollen die ‚doppelte
Optik‘ und der ‚Perspektivenwechsel‘ veranschaulicht werden,
durch die ein Abstand zum kulturellen Selbstverständnis und zum
3
Konzept des ‚Fremden‘ ermöglicht wird und einer Selbstkritik auf
kultureller Ebene ermöglicht, „die Prägung des Individuums und
einer bestimmten Gruppe in einem gegebenen soziohistorischen
Umfeld zu hinterfragen.“1
Der erste, theoretische Teil der Arbeit, widmet sich der Autorin des
Essays und den Begriffsbestimmungen. Im zweiten Teil wird das
Essay Yoko Tawadas im Hinblick auf die Interkulturalität untersucht.
Meine These dabei ist, dass die Auflösung der kulturellen Fremd-
und Eigenbilder im Essay über die Interkulturalität hinaus zur
Hybridisierung führt, welche die Idee der bloßen Vernetzung von
undurchlässigen Kulturkonzepten aufhebt.
Teil 1
1. Deutsche Migrationsgeschichte nach 1950
Nicht erst seit dem deutschen ‚Wirtschaftswunder‘ in den 50er-
Jahren des vorigen Jahrhunderts ziehen Menschen nach
Deutschland, um dort zu arbeiten und zu leben (in dieser
Reihenfolge!). Schon am Anfang der Industrialisierung Deutschlands
gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden ausländische
Wanderarbeiter beschäftigt. Hinzu traten vor allem in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts millionenfache Zwangswanderungen
während und im Gefolge der beiden Weltkriege.2 In den 50er-Jahren
des 20. Jahrhunderts kam es aufgrund des rasanten wirtschaftlichen
Aufschwungs in der Bundesrepublik zu einem massiven Mangel an
Arbeitskräften, dem mit der Anwerbung von ‚Gastarbeitern‘
begegnet wurde. So wurden seit 1955 bis gegen Ende der 60er-
Jahre, vornehmlich aus Ländern im Süden Europas und aus dem
1 Blioumi, Aglaia: Interkulturalität und Literatur. Interkulturelle Elemente in Sten Nadolnys Roman „Selim oder Die Gabe der Rede“. In: Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten (hrsg. von Aglaia Blioumi). München: Iudicium 2002. S. 32.2 Vgl. Oltmer, Jochen: Deutsche Migrationsgeschichte seit 1871. URL: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56355/migration-1871-1950 (4.9.2012)
Norden Afrikas, Arbeitskräfte angeworben. Bis 1973 lebten knapp 4
Millionen Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. Anfangs
kamen die Arbeiter ohne ihre Familien, da ihre Arbeitsverträge
befristet waren. Mit der Verlängerung der Verträge und der längeren
Aufenthaltsdauer - was dadurch zu erklären ist, dass die Arbeitgeber
diese Lösung als rentabler ansahen, da erfahrene Arbeiter nicht
immer neu eingelernt werden mussten – holten die Arbeiter ihre
Familien nach Deutschland nach. Nach dem Anwerbestopp 1973
zogen etliche ausländische Arbeitnehmer in ihre Heimat zurück,
andere entschlossen sich dazu, mit ihren Familien in der
Bundesrepublik zu bleiben.3 Mit dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘,
wodurch die Grenzen zu den ehemaligen Ostblockstaaten
aufgehoben wurden, mit Kriegen auf globaler Ebene und
Vertreibungen ethnischer Minderheiten aus ihrer Heimat verstärkte
sich die Zahl der Zuwanderer, Aussiedler und Asylbewerber in
Deutschland. Im Jahr 2008 hatte fast ein Fünftel der Bevölkerung in
Deutschland einen Migrationshintergrund.
2. Von der ‚Gastarbeiterliteratur‘ zur interkulturellen
Literatur
Mitte der 60er- Jahre erschienen erste literarische Publikationen, oft
mit autobiographischen Zügen, in denen die Migranten über die
Arbeitswelt und das Leben in Deutschland schrieben.4 Nachdem der
befristete Aufenthalt für die ‚Gastarbeiter‘ aufgehoben war, planten
die Migranten längerfristige, wenn nicht lebenslange Aufenthalte in
Deutschland. Das charakteristische Merkmal der
Gastarbeiterliteratur zu jener Zeit war der Optimismus vonseiten der
3 Vgl. Seifert, Wolfgang: Geschichte der Zuwanderung nach Deutschland nach 1950. URL: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138012/geschichte-der-zuwanderung-nach-deutschland-nach-1950 (4.9.2012)4 Vgl. Chiellino, Gino: Italian Literature in Germany from 1964 to Today. In: Social Pluralism and Literary History. The Literature of the Italian Emigration. Hrsg. von Francesco Loriggio. Toronto, Canada: Guernica Editions Inc. 1996.S.306.
sie ebenfalls. Ihre erste Buchveröffentlichung in deutscher Sprache
war 1987 „Nur da wo du bist da ist nichts“, in Japan waren es 1992
die Erzählungen „Sanninkankai“. Sie schreibt in deutscher und
japanischer Sprache. Yoko Tawada ist während ihrer Schaffenszeit
mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen sowohl in Japan als
auch in Deutschland ausgezeichnet worden. Außerdem hat sie
Gastprofessuren angenommen und hunderte von Vorlesungen
weltweit gehalten. Der Essayband „Talisman“, welcher den Essay
zur vorliegenden Hausarbeit beinhaltet, erschien 1996. Der Band
beinhaltet 18 literarische Essays, in denen fiktionale Elemente sich
mit autobiographischen Inhalten mischen.
Teil II- Praktischer Teil
9. Zusammenfassung des literarischen Essays „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“
Im vorliegenden Essay ruft die Erzählerin anfangs ein fiktives
Gespräch mit einer ihrer Erzählfiguren, Xander, ins Gedächtnis
zurück. In besagtem Gespräch betrachtet Xander die „weiße“
Hautfarbe als etwas Organisches und nicht metaphorisch. Ihre
zögernde Frage, ob er tatsächlich glaube, dass Haut eine Farbe
habe, bejaht er ohne jeden Zweifel.
Sie erklärt ihm daraufhin auf eine wissenschaftliche Art und Weise,
Haut habe keine Farbe, genauso wenig wie Fleisch. Ihre Antwort,
aber auch die Art und der Ton, in dem sie ihm antwortet,
verunsichern ihn. Seine Anschauung von „eurer“ und „unserer“
Haut überrascht die Erzählerin, da sie von Xander erwarten würde,
auf einem anderen Niveau zu argumentieren, wenn er das Eigenbild
11
des „Weißen“ verteidigen wollte. Dies jedoch reicht nur bis zur
Hautoberfläche.
Die Tatsache, dass man in Europa dem visuellen Sinn eine
besondere Bedeutung zuschreibt, ist nach Ansicht der Autorin ein
triftiger Grund, dass dem Aussehen so viel Bedeutung beigemessen
werde. Die Finsternis biete die Gelegenheit, die Augen von täglichen
Bildern, Eindrücken, zu befreien. Da die optische Wahrnehmung am
leichtesten falle, mache man sich nicht die Mühe, die übrigen Sinne
anzustrengen. Auch sei es als notwendig angesehen, den Körper des
anderen anzusehen. Jemandem keinen Blick zu gönnen, sei eine
Strafe.
Sie selbst möchte nicht teilhaben an dieser Praxis, weil sie sich
gezwungen sehe, ihren Körper zu präsentieren, aus ihm einen
europäischen Körper zu machen. Der (philosophische) Gedanke, der
hinter solchen Prozessen stehe, sei der, dass etwas, das nicht
gesehen werde, vielleicht nicht existiere.
Über „Europa“ gelangt die Erzählerin zur Vorstellung von Europa als
weiblicher und männlicher Theaterfigur. Die männliche sei diejenige,
die von anderen betrachtet werden möchte, während die weibliche
Figur die mythologisierte sei, welche mit der Zeit verloren gegangen
sei. Für die Autorin ist Europa von Beginn an eine idealisierte Figur,
die sie materialisieren möchte.
Zur europäischen Musik äußert sich die Erzählerin dahingehend,
dass die Meinung, nur europäische Musik sei die einzig wahre Musik,
in Japan weiter verbreitet sei als in Deutschland. Viele Japaner
hielten Europa für die Wiege der Kultur, dennoch gehöre sie der
ganzen Welt, weil sie leicht nachzuahmen sei, und die beste der
Kulturen sei die japanische, weil sie die europäische Kultur am
besten nachahmen könne. Für sie selbst gebe es allerdings keine
japanische Sichtweise, somit müsse sie ständig neu konstruiert
werden, sei also nicht authentisch japanisch. Diese „japanische
Brille“, die für eine Sichtweise aus der japanischen Kultur heraus
12
sorgen soll, sei ein Prozess, der schmerze und mehr schade als
nütze. Die Erzählerin fühlt sich gezwungen, ständig durch die Augen
sehend zu erfahren.
Ihr Essay schließt sie mit der Erkenntnis, dass ihre Metasprache, mit
der sie über Europa spricht, nicht ihre eigene sei, sondern dass sie
sich diese auch über ihre Figur Xander angeeignet habe, indem sie
alles, was er sagte, wiederholte. Sie gesteht die Unmöglichkeit ein,
in einer ihr nicht eigenen Sprache über Europa zu diskutieren. Sie
müsse andere Methoden finden, um mit Europa umzugehen.
10. Tawadas Darstellung und Durchbrechung von Konzepten kultureller Fremd- und Eigenbilder
Bevor aufgezeigt wird, mit welchen schriftstellerischen Mitteln es
Tawada gelingt, die Konzepte kultureller Fremd- und Eigenbilder zu
durchbrechen, soll zunächst gefragt werden, wie solche Fremd- und
Eigenbilder dargestellt werden. Welche Marker des Eigenen bzw.
Fremden werden eingesetzt? Welche Überzeugungen, Stereotype
werden im Prozess aufgedeckt? Wie gehen die literarischen Figuren
mit ihrem kulturellen Selbstverständnis um?
10.1 Die Dekonstruktion von unreflektierten Eigen- und
Fremdbildern
Tawadas Essay beginnt mit Erinnerungen der fiktiven Erzählerin an
ein Gespräch mit Xander, einer ihrer literarischen Figuren aus einer
früheren Erzählung:
„Damals betrachtete Xander die ‚weiße‘ Hautfarbe als einen Bestandteil seines Körpers und nicht als Metapher.“ 13
Das Eigenbild Xanders, so merkt der Leser, basiert auf einer naiven,
unreflektierten Sichtweise, was darauf schließen lässt, dass das 13 Tawada, Yoko: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“. In: Talisman: Literarische Essays. Tübingen: Konkursbuchverlag 1996. S.45.
13
Individuum Xander sich zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht
kritisch mit seinem kulturellen Selbstverständnis
auseinandergesetzt hat. Die Erzählerin zögert, bevor sie ihr
Gegenüber fragt: „Glauben Sie wirklich, dass Haut eine Farbe
hat?“14, worauf Xander mit einem kurzen Lachen antwortet: „Was
für eine Frage. Oder glauben Sie vielleicht, dass die Farbe von Ihrem
Fleisch kommt?“15 Ihr Zögern steht für eine wohlüberlegte
Vorgehensweise, ihre Frage steht für eine Einladung zum Diskurs,
während sein kurzes Lachen und seine rhetorische Frage ein
Zeichen dafür sind, dass er in festgefahrenen Schemata denkt. Ihr
Standpunkt ist ein wissenschaftlicher, seine Reaktionen sind
emotional-affektiv: „Er streichelte den rechten Arm mit der linken
Hand, als wollte er sich vergewissern, dass er eine weiße Hautfarbe
besaß.“16 Solche Vorstellungen wie auch der Gebrauch von Markern
des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ werden benutzt, um den Kontrast
zu verstärken zwischen der unreflektierten Sichtweise Xanders und
der intellektuellen, im Grunde transkulturellen Sichtweise der
Erzählerin: „Aber das Licht spielt auf eurer Haut anders als auf
unserer.“ Wie wenig bewusst die Pronomen ‚eurer‘ und ‚unserer‘
von Xander gebraucht werden, fällt deshalb auf, weil die Erzählerin
zuvor erklärend sagt: „In uns gibt es keine Farbe.“ Sie gebraucht
das Pronomen ökumenisch, während er das ‚Andere‘ von sich
abzugrenzen versucht. Für die Erzählerin ist Hautfarbe kein Thema,
war es nie, daher spricht sie nicht wie eine ‚aufgeklärte‘ Person, also
jemand, der irgendwann einmal anders gedacht hat und im Laufe
der Zeit dazugelernt hat.
14 Ebd.15 Ebd.16 Ebd.
14
10.2 Auflösen und Korrektur von Stereotypen
Xander drückt mit seinen Ansichten Stereotype aus, sein Denken ist
‚rassistisch‘, er unterscheidet Menschen nach ihren Rassen. Die
Erzählerin ist erstaunt über die Wortwahl ihres Gesprächspartners,
da sie seine Ansichtsweise nicht nachvollziehen kann:
Dass er die zwei Wörter „eurer“ und „unserer“ so sehr betonte, überraschte mich. Ich konnte seine Absicht nicht verstehen: Falls für ihn die Identität als „Weißer“ wichtig sein sollte, müsste er eher behaupten, dass keiner von den "„Weißen“ eine papierfarbene Haut besitze und dass die Gemeinsamkeit der sogenannten Weißen auf einer ganz anderen Ebene zu finden sei.17
Die Ebene, auf der sie argumentiert, ist eine gänzlich andere als die
Xanders. Sein Selbstverständnis drückt sich auf emotionaler Ebene
aus, er betont die Wörter stark, nicht nur die Wortwahl, auch der
Tonfall überraschen sie. Ihre Reaktion ist, dass sie seinen
Gedankenlauf nicht versteht, denn ihre Überlegungen basieren auf
logisch nachvollziehbaren Grundlagen. Seine Argumentation
weiterführend, kommt sie zu einem völlig anderen Ergebnis, was
eine Diskrepanz aufzeigt, die von ihr aber nicht gewertet wird,
sondern objektiv festgestellt. Somit werden Stereotype nicht nur als
affektiv enttarnt, sondern es wird ihnen auch die
(pseudo)wissenschaftliche Grundlage entzogen, auf der sie einst, im
Zuge der Rassentheorie, aufbauten.
10.3 Der Gebrauch der doppelten Optik
Wie schon anfangs beschrieben, bewirkt die doppelte Optik, dass
sich das ‚Andere‘ nicht nur zum ‚Eigenen‘ gesellt, also integriert
wird, sondern dass sich eine dialogische Beziehung entwickelt
dadurch, dass bewusst gemacht wird, dass man kulturelle
Verhaltens- und Denkmechanismen nachahmt, wenn man in einem
17 Ebd. S. 46.
15
gewissen Kulturkreis aufwächst. Blioumi beschreibt, wie
Funktionalisierungsmechanismen zur Veranschaulichung des
‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ wie beispielsweise Dichotomien
eingesetzt werden, um die erschaffenen kulturellen Unterschiede zu
problematisieren.18 Tawada benutzt in ihrem Essay die europäische
Kultur im Gegensatz zur Erzählerin als nicht- europäischem
Individuum. Sie generalisiert nicht und betont darüber hinaus das
persönliche Gefühl des fiktiven Charakters. So vermeidet sie einen
Kulturaustausch und mit ihm die Erschaffung von Klischees: Was
beschrieben wird, sind Beobachtungen und Eigenreflexion:
Da ich nicht gewohnt war, auf die Farbe der Haare und der Augen zu achten, fiel es mir in Europa nicht besonders auf, dass sich bei den Europäern im Tageslicht andere Farben reflektieren als bei mir. Was mir aber stark auffiel, war, dass ein europäischer Körper immer nach einem Blick sucht. [...] Oft musste ich in der S- Bahn oder im Bus meine Augen schließen, weil diese Aufgabe für mich zu viel wurde.19
Die Erzählerin spricht von den Anforderungen der europäischen
Kultur, sich mit ihr auf eine Art auseinanderzusetzen, die ihr
ungewohnt ist, und beschreibt die Anstrengungen, denen sie sich
unterzieht, um diesen Anforderungen zu genügen. Die ‚doppelte
Optik‘ ist hier ein schwieriger, sogar schmerzhafter Prozess, da sie,
indem sie die europäische Kultur betrachtet, zwangsläufig ihre
eigene Kultur aus dieser ungewohnten, weil nicht kulturspezifischen,
Perspektive betrachten muss:
Meine japanische Brille ist aber kein Instrument, das man einfach in einem Laden kaufen kann. Ich kann sie auch nicht nach Laune aufsetzen oder abnehmen. Diese Brille ist durch meine Augenschmerzen entstanden und wuchs in mein Fleisch hinein, so wie mein Fleisch in die Brille hineinwuchs.20
18 Vgl. Blioumi, Aglaia: Interkulturalität als Dynamik. Ein Beitrag zur deutsch-griechischen Migrationsliteratur seit den siebziger Jahren. Hrsg. von Elisabeth Bronfen, Michael Kessler, Paul Michael Lützeler, Wolfgang Graf Vitzthum, Jürgen Wertheimer. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2001. Band 20.19 Tawada 1996. S. 47.20 Ebd. S. 50.
16
Das Ergebnis ist irreversibel. Hat man einmal diesen Prozess
durchlaufen, ist der alte Zustand nicht mehr herzustellen, die
‚doppelte Optik‘ verhilft nicht einfach zu einer weiteren Sichtweise,
sie dekonstruiert das Prinzip des kulturellen Ist – Zustandes, das
naive kulturelle Selbstverständnis.
10.4 Elemente der Hybridität in Yoko Tawadas Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“
Hybridität als Ausdruck der Prozesshaftigkeit und des permanenten
Wandels von Kulturen erscheint in Yoko Tawadas Essay durch die
Ausdrucksweise der Erzählerin. Sie räumt ein, dass sie sich, um
Europa ‚sehen‘ zu können, eine japanische Brille aufsetzen muss.
Dies bedeutet, dass sie sich zwingen muss, in Stereotypen zu
denken, um solche Denkweisen überhaupt nachvollziehen zu
können. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass der
Hybridisierungsprozess schon stattgefunden hat. Die
Hybridisierung, die vernetzt ist mit dem dynamischen Kulturbegriff,
drückt sich so aus, dass es nicht mehr um die Integration eines
abgeschlossenen Systems in ein anderes System geht21, sondern
dass die Vorstellungen, wie ein solches System auszusehen und zu
funktionieren hat, aufgelöst, dekonstruiert werden müssen, um Platz
zu schaffen für neue Formen des Umgangs mit der Hybridität.
Europa, die als männliche Figur verlangt, angeschaut und kritisiert
zu werden, löst in der Erzählerin Unbehagen aus, da sie es nicht
gewohnt ist, ständig Blickkontakt zu halten und Kritik zu üben. Um
nicht von der europäischen Kultur assimiliert zu werden, sich
aufzulösen und ihre Identität zu verlieren, sucht sie nach einem
21 Vgl. Mader, Elke/ Hirzer, Petra: Peruanisches Masala. Hybridisierungsprozesse in der lateinamerikanischen Bollywood Fan- Kultur. In: Hybridität – Transkulturalität – Kreolisierung. Innovation und Wandel in Kultur, Sprache und Literatur Lateinamerikas. Hrsg. von Eva Gugenberger, Kathrin Sartingen. Wien; Berlin; Münster: Lit Verlag 2011. S. 76.
17
Ausweg, das Bedürfnis Europas zu befriedigen, ohne daran selbst
zugrunde zu gehen:
Als ich nach Europa kam, hatte ich nichts über Europa zu erzählen, weil ich keine Sprache kannte, die von meinen neuen Mitmenschen verstanden werden konnte. Ich habe nach und nach Xanders Sprache gelernt, indem ich alles, was er sagte, wiederholte. [...] Kaum fange ich an, über Europa zu sprechen, wiederhole ich sie. Deshalb höre ich auf, zu sprechen. Ich muss mir eine andere Methode überlegen, um mit ihr umgehen zu können.22
Das Subjekt, welches hier zum Ausdruck kommt, ist eins, das den
Hybridisierungsprozess schon hinter sich hat und auf der Suche ist
nach einer neuen Sprache, um mit den ‚Mitmenschen‘, nicht den
‚Deutschen‘ oder den ‚Japanern‘ zu kommunizieren, um „die Grenze
zwischen Betrachter und Objekt (zu) überschreiten“23.
22 Tawada 1996. S. 51.23 Ebd. S. 50.
18
Schlussbemerkungen
Ziel der vorliegenden Hausarbeit war, darzustellen, auf welche
Weise Konzepte kultureller Fremd- und Eigenbilder in Yoko Tawadas
literarischem Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber
Europa gibt es nicht“ aufgezeigt und durchbrochen werden. Zu
diesem Zweck wurde im ersten Teil ein kurzer Abriss der
Migrationsgeschichte in Deutschland nach 1950 gegeben sowie
einiger Begriffe aufgeführt, die Bestandteil des Diskurses der
interkulturellen Literatur sind.
Im zweiten Teil der Arbeit wurde auf den Essay Tawadas
eingegangen und der Versuch gemacht, die Begriffe der ‚doppelten
Optik‘, der Hybridität und mit ihr des dynamischen Kulturbegriffs
sowie der Selbstkritik als Mittel zur Korrektur nationaler Stereotype
innerhalb des Textes ausfindig zu machen.
Von der Hybridität und dem dynamischen Kulturbegriff wird, wie
sich gezeigt hat, im Text ausgegangen. Die Frage geht darüber
hinaus, nämlich, welche Mittel geschaffen werden können, um der
Hybridität Ausdruck zu verschaffen, damit dieser Prozess nicht nur
subjektiv erfahren, sondern damit man sich über die Erfahrungen
19
auf eine Art austauscht, die grenzüberschreitend wirkt und sich
nicht nur auf die Sprache als Ausdrucksorgan beschränkt.
Das Verfahren der ‚doppelten Optik‘, so hat sich im Text gezeigt, ist
kein einfacher Vorgang: Empathie zu zeigen bedeutet auch, zu
seiner eigenen kulturellen Identität Abstand zu nehmen und sie neu
zu betrachten. Der Gewinn, der aus einem solchen Prozess für das
Individuum entsteht, ist dass die kulturelle Identität nicht verloren
geht, sondern, dass man sie letzten Endes bereichert durch eine
erweiterte Perspektive auf kulturelle Diversität.
Bibliographie
Primärliteratur
Tawada, Yoko: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“. In: Talisman: Literarische Essays. Tübingen: Konkursbuchverlag 1996.
Sekundärliteratur
Blioumi, Aglaia: Interkulturalität und Literatur. Interkulturelle Elemente in Sten Nadolnys Roman „Selim oder Die Gabe der Rede“. In: Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten (hrsg. von Aglaia Blioumi). München: Iudicium 2002.
Blioumi, Aglaia: Interkulturalität als Dynamik. Ein Beitrag zur deutsch-griechischen Migrationsliteratur seit den siebziger Jahren. Hrsg. von Elisabeth Bronfen, Michael Kessler, Paul Michael Lützeler, Wolfgang Graf Vitzthum, Jürgen Wertheimer. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2001. Band 20.
Mader, Elke/ Hirzer, Petra: Peruanisches Masala. Hybridisierungsprozesse in der lateinamerikanischen Bollywood Fan- Kultur. In: Hybridität – Transkulturalität – Kreolisierung. Innovation und Wandel in Kultur, Sprache und Literatur
20
Lateinamerikas. Hrsg. von Eva Gugenberger, Kathrin Sartingen. Wien; Berlin; Münster: Lit Verlag 2011.
Schmitz, Helmut: Einleitung: Von der nationalen zur internationalen Literatur. In: Helmut Schmitz (Hrsg.):Von der nationalen zur internationalen Literatur: Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam, New York: Editions Rodopi 2009. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 69).