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6i8 Hermann Cohen:
und sozialistischen Strebungen und da man nur durch einen Kampf
inbeiden Richtungen die Frage der Gegenwart und Zukunft der
jdischenarbeitenden Massen zur Lsung bringen knne, formulierte ein
Teil derjdischen Arbeiterschaft in Ruland das Programm des
proletarischenZionismus und gewann dadurch nicht nur groen Einflu
auf das jdischegesellschaftliche Leben in Ruland, sondern drngte
auch den Bund"in seiner Stellungnahme zu den jdischen Fragen auf
andere Bahnen.Somit erffnet die Entstehung des proletarischen
Zionismus in der Geschichtedes jdischen Sozialismus eine neue
Epoche.
HERMANN COHEN /DAS SOZIALE IDEAL BEI PLATON
UND DEN PROPHETENAus dem Nachla. 1)
Piaton und die Propheten sind die beiden wichtigsten Quellen der
modernenKultur berhaupt. Aber wie alle Quellen der Kultur,
enthalten auch sie
schon fremde Aufnahmen. Diese sind jedoch von ihrer
einzigartigen Ursprnglichkeit bewltigt und aufgesogen. Man darf
beide als einzig dastehende Beispiele geschichtlicher Originalitt
bezeichnen.
Im sozialen Ideal sind als die beiden Grundbedingungen
vereinigt: diewissenschaftliche Erkenntnis und die als Religion
stabilisierte Sittenlehre. Piaton ist und bleibt das Symbol der
ersten, diePropheten das der zweiten Bedingimg. Die Wissenschaft
greift ber dasNaturproblem hinaus in das Gebiet der Sittlichkeit
hinber. Daher mischensich bei Piaton schon Motive der Religion mit
denen der Wissenschaft.Und auch die Propheten knnen bei ihrem
Innenblick auf das Wesen derSittlichkeit des Umblicks auf die
Menschenwelt sich nicht entschlagen.Daher knnen sie der
menschlichen Erkenntnis nicht ganz entsagen, ob-schon sie deren
Sachgebiet auf die Menschenwelt einschrnken. Aberwhrend Piaton die
Ethik in den Bannkreis der Erkenntnis hineinzieht,bleibt den
Propheten das Gebiet der Wissenschaft fremd. Von der gesamtenNatur
interessiert sie nur die Natur des Menschen.
In diesem Umri bleiben die beiden Grundbedingungen der
sozialenKultur nur im schroffen Gegensatz stehen, ohne
Wechselwirkung, beinahe
x) Dieser Vortrag Hermann Cohens der letzte, den er gehalten hat
ist im Einvernehmen mit den Herausgebern der dreibndigen Sammlung
seiner jdischen Schriftenentnommen, die als Verffentlichung der
Akademie fr Wissenschaft des Judentums (Verlag von C. A.
Schwetschke u. Sohn) vorbereitet wird und auer einer nahezu
vollstndigen Vereinigung aller schon gedruckten jdischen Reden,
Vortrge und Aufstze Cohensauch eine Reihe bisher ungedruckter
Arbeiten aus dem Nachla enthalten wird.
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Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 619
ohne Zusammenhang. Dieser Umri ist aber nur eine Abstraktion;
diegeschichtliche Wirklichkeit erfllt diese Abstraktion mit der
Lebendigkeit der Gegenstze, deren gegenseitige Durchdringung die
Mannigfaltigkeit der Kultur hervorbringt. In dieser Mischung der
geschichtlichenGrundmotive tritt zugleich unvermeidlich Abklrung
und Abminderungder Gegenstze ein, und deren Eigentmliches wird
schwankend und verworren. Es ist daher ein zweckmiges Thema, diese
beiden Grundmotive in ihren Eigentmlichkeiten zu erforschen.
Den Schwerpunkt des Platonischen Geistes erkennen wir am
Problemder wissenschaftlichen Erkenntnis. Er war nicht der erste
Grieche, derdieses Problem erfate; er war auch nicht der erste, der
mit dem Problemder Wissenschaft das der Ethik verknpfte. In der
Verbindung beiderRichtungen ist er der Fortbildner des Pythagoras,
nur in der Verbindung, nicht aber in deren Vereinigung, whrend er
in der Erkenntnisrichtung hauptschlich auf Parmenides und D e m o k
r i t zurckgeht, und in der Ethik auf Sokrates. Aber trotzdem in
der Verbindungbeider Richtungen Pythagoras sein Vorgnger ist, wird
dadurch seineOriginalitt nicht abgeschwcht. Man darf vielleicht
sagen, wie die Griechenberhaupt zwar Mathematik und Astronomie vom
Orient erlernen, dennochaber ihrerseits erst die erworbenen
Kenntnisse in Wissenschaft umschmieden,hnlich stehe auch Piaton
seinen Vorlufern gegenber: deren gesamtePhilosophie wird ihm wie zu
einer Sammlung von Kenntnissen. Er abererst macht aus Kenntnissen
die Erkenntnis. Diesen Doppelsinn hat seineGrundfrage: Was ist
imoT^/iT] ? Die Frage bedeutet: Welches Verhltnisbesteht zwischen
Wissenschaft und Erkenntnis?
Zur Bestimmung dieses Verhltnisses wird er der Urheber der
Ideen-lehre. Denn die Idee entspringt zwar ebenso natrlich und
urwchsigaus der Quelle des Sittlichen, wie aus der der
Wissenschaft. Aber die begriffliche Ausgestaltung der Ahnung und
des Entwurfs der Idee vollzieht sichallein am Problem der
Wissenschaft. Im Ahnen und Schauen steht Piatonauf dem Urboden des
Pythagoreismus, den er mit der Begriffswelt derEleaten und des
Sokrates durchpflgt. Aber ihm wird der Zusammenhang zwischen
Ahnungsschau und Begriffsarbeit zum eigenen Problem.Der Geist soll
fr ihn nicht zwei abgetrennte Quellgebiete haben: die Ideesoll
ebensosehr die Jagd des Begriffs, wie die Schau der Ahnung sein.
DieSchau wird dadurch unentrinnbar der Ahnung entrckt und auf die
Seitedes Begriffs hinbergezogen.
Die Idee ist daher nicht nur der Begriff des Sokrates,
geschweige desDemokrit, sondern der Begriff wird selbst zu einem
Fragezeichen, zumProblem seiner selbst. Die Ahnung, die Schau
behalten den Charakterdes Mystischen: woher stammen sie und worauf
grnden sie sich? Ebensobleibt auch der Begriff geheimnisvoll und
rtselhaft: auf welcher Rechtsbefugnis, auf welchem Wahrheitsgrunde
beruht er? So fragtPiaton, und mit dieser Frage, aus welcher die
Schpfung der Idee entspringt,berwindet er alle bisherige
historische Naivitt, von Pythagoras bis Sokrates.
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620 Hermann Cohen:
Sie alle wissen nicht, was sie tun. Sie sind alle die Urheber
gewaltiger,ewiger geistiger Schpfungen, aber sie sind dem Ddalus
vergleichbaroder dem Bildner von Gtterbildern. Auch diese
Begriffsbilder knnen nichtsehen noch hren, und es fehlt in ihnen
selbst der lebendige Hauch, dersie von Machwerken
unterscheidet.
Die Idee erst verschafft dem Begriffe seinen schpferischen
Lebensgrund, der die Rechtfertigung seines Daseins und seines
Wirkens enthlt.Er darf fortan kein Rtsel und kein Mysterium mehr
bilden: das Gtterbild ist gleichsam ein Menschengebild geworden,
ein Erzeugnis des Geistesund sein Zeugnis. Unter allen Wendungen,
mit denen Piaton seine Ideein ihrer Gipfelung alles Geistigen zu
beschreiben sucht, sind es daher zweiBegriffe besonders, durch die
er das Tiefste und Klarste der Idee zur Bestimmung bringt: erstlich
durch das Wortspiel mit dem Begriffe, als L o g o s,welches in dem
Geben des Lo g os" die Bedeutung der Rechen-schaftlegung annimmt.
So wird der Begriff zu seinem eigenenBuchfhrer und
Rechenschaftableger. Dieses Gleichnis wrde Piatonnicht gewhlt
haben, wenn er nicht streng und geschlossen auf das Gebietder
Wissenschaft sich eingestellt htte.
Und so ist der andere Versuch zur Bestimmung der Idee
hinzugekommen,der auf das methodische Verfahren bei aller
wissenschaftlichen Forschung,vornehmlich daher bei der Mathematik
eingeht. Dort ist der Weg derRechenschaftlegung klar vorgezeichnet,
und Piaton selbst hat ihn geebnetund aufgehellt. Die Grundlegung, H
y p o t h e s i s ist es, welche den Wegdes Geistes zum Wege der
Wissenschaft macht. Mag immerhin sogar dieHypothesis dem dunklen
Gebiete der Schau und der Ahnung selbst auchangehren, dieser
Verdacht und diese Ungewiheit beirrt den Weg derWissenschaft nicht,
die von der klargelegten Grundlegung aus schrittweiseihren Weg geht
und ihre Herleitungen gewinnt. Rechenschaft und Hypothese ergnzen
einander: die Rechenschaft fut auf der Hypothese, unddie Hypothese
zielt auf die Rechenschatt hin.
. Mit der Idee hat demnach die Naivitt des Denkens selbst im
Schaffender Begriffe aufgehrt: an der Wissenschaft und ihrer
Grundmethodeist der Begriff, ist das Denken ber sich selbst zur
Klarheit gekommen.Aus der Doppelbedeutung der emorffiij ist die
Idee emporgewachsen,und in diesem Zusammenhang mit der Wissenschaft
ist sie zur Wurzelder Erkenntnis geworden. Was ist das Wesen der
Idee? Diese Frage lteine bestimmte Antwort zu: Die Idee ist der
Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Erkenntnis, welche
an die Wissenschaft angeschlossen,mit der Wissenschaft verwachsen
ist, dergestalt, da die Erkenntnis ausder Wissenschaft entstanden
ist, und die Wissenschaft wiederum ihre Sfteals Erkenntnis
organisiert.
Der Idealismus ist demgem Idealismus derWissenschaft. Ohne
ununterbrochenen Zusammenhalt mit derWissenschaft gibt es keine
Erkenntnis, keine Idee, keinen Idealismus.Ein Idealismus der Ahnung
und der Schau ist bei mildester Deutung ein-
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Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 621
seitiger Piatonismus. Aber der Piatonismus hat schlechthin
Einheitlichkeit, und die Einseitigkeit bildet einen Widerspruch zur
Einheit seinesLehrbegriffs.
Auf der Einheitlichkeit des Piatonismus beruht seine
geschichtlicheEwigkeit: mit ihr vereinigt er ferner auch
Wissenschaft und Sittlichkeit,Sittlichkeit und Wissenschaft. Die
Idee, als mathematische Idee entsprungen,ist zur Idee des Guten
ausgereift. Und alle Skepsis ist dieser Erweiterunggegenber zum
Verstummen gebracht. Das Gute ist zwar nicht das Sein;darum aber
darf es doch nicht dem Geltungswerte der Idee entzogen werden:so
ist es denn ,,jenseit des Seins".
Die Transzendenz ist nicht bei Gott entstanden, sondern beim
Guten,als Idee des Guten.- Die Idee des Guten besteht zwar jenseit
des Seins,aber keineswegs jenseit der Erkenntnis. Trotz allen
Unterschieden, welchedadurch bedingt sind, da hier, der Mutterboden
der Wissenschaft fehlt,mu dennoch die Erkenntnis zum Problem, zum
Desiderat gemacht werdenfr das Sittliche. Auch das Sittliche mu der
Kompetenz der Erkenntnisunterworfen und angehrig gemacht
werden.
Hier beginnt die Gefahr des Dualismus fr den Piatonismus, fr
allenIdealismus der Ethik. Die Idee ist nicht auf die Mathematik
und die Natureingeschrnkt; auch der ethische Idealismus wird dem
mathematischenangegliedert. Auch das Sittliche wird schlechthin der
Norm der Idee unterzogen. Ahnung und Schau werden demzufolge
zurckgewiesen und berholt, auch da selbst, wo der Schein ihnen
nachgibt. Es bleibt durchaus dieNorm der Erkenntnis in ihrer
exklusiven Souvernitt. Alle Angelegenheitenund Bedrfnisse der
menschlichen Kultur mssen ausnahmslos ihrer Leitung Untertan
werden. Und was das Prinzip der Erkenntnis fordert, mubis in alle
seine Konsequenzen am Problem des Sittlichen angewendet
undausgefhrt werden.
Da nun aber einmal die methodische Differenz fr die Ethik
besteht,da sie des Fundamentes der Wissenschaft entbehrt, so wird
es unvermeidlich, da das Prinzip der Erkenntnis hier zu bergriffen
und Irrungen inder Durchfhrung der Anwendungen kommen mu. Und aus
diesen methodischen Mngeln, denen der Idealismus sich in der Ethik
nicht entwindenkann, wird es einigermaen verstndlich, da fr das
Gebiet des Sittlichendie andere Quelle, die der Religion,
schpferisch geworden und geblieben ist.
Die reine Quelle der Religion liegt fr das soziale Bewutsein im
Prophetismus. Beachten wir zuerst jedoch seine Schranken. Der
Prophet wei nichts von der Wissenschaft. Selbst in Babylon hat
deren Zaubernicht auf ihn gewirkt, geschweige, da er von selbst in
Palstina den Schleierder Wissenschaft gelftet htte. Das Stemenheer
interessiert ihn nur frden Gott, der es heraufgefhrt hat und der es
mit Zahlen und Namen benennt. Und so ist die Natur nur fr ihn
vorhanden als die Schpfung Gottes.Schon das erste Wort der Genesis:
im Anfang" ist seiner eigentlichen Bedeutung nach unsicher, und das
ist charakteristisch. Woraus Gott Himmel
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622 Hermann Cohen:
und Erde geschaffen, das bleibt dem Horizonte dieser Geister
fern. Kaumgibt es ein Chaos, geschweige, da Urstoffe erdacht wrden.
Die poetischeNaturanschauung leitet von vornherein den Blick auf
das Universum, dasuns in abgeschlossenen Gebilden, in Wasser und
Licht, in Pflanzen undTieren entgegentritt. Diesem Naturbewutsein
fehlt gnzlich das Interessean der Kontrolle und berhaupt an der
Frage, ob die sinnliche Wahrnehmung c in richtiges Bild von der
Wirklichkeit der Natur liefere, geschweige,da nach den Mitteln des
Bewutseins die Nachforschung gerichtet wrde:was das Denken zu
bedeuten habe neben der Empfindung, und alle dergleichen Probleme,
welche entstehen, wenn der Unterschied und das Verhltnis von
Subjekt und Objekt aufdmmert. Alle diese Fragen entkeimendem
Interesse an der Wirklichkeit, als einer Wahrheit. Fr den
Prophetenhingegen hat alle Wirklichkeit ihre Wahrheit nur auer
ihrer selbst: inGott, der sie hervorgebracht hat, der sie aber auch
verwandelt, so da dieWahrheit an der Natur selbst gar nicht haftet.
Das ist die Schranke desprophetischen Denkens. Es kennt keine
Wissenschaft, und es kann daherdas Problem der Erkenntnis hier
nicht entstehen.
Nun bedienen sich die Propheten aber allesamt dieses Wortes der
Erkenntnis von ihrem Gotte, und das Wort scheint nicht
unpassendgewhlt: denn dieser Gott ist der Wahrnehmung entrckt, und
alle Sinnlichkeit steht in scharfem Widerspruch zu ihm. Wenn wir
jedoch denmethodischen Zusammenhang, der in Griechenland der
geschichtliche ist,zwischen Erkenntnis und Wissenschaft festhalten,
so kann das Wort vonder Gotteserkenntnis nur eine bertragene
Bedeutung haben.
So wird es verstndlich, da Erkennen im hebrischen
Sprachgeisteidentisch wird mit Liebe. Freilich soll durch die Liebe
die Innigkeit derErfassung, die bis an die Vereinigung
heranstreift, ausgedrckt werden.Aber es bliebe doch immer
rtselhaft, wie diese Identitt von Erkennenund Lieben sich
herstellen, wie berhaupt der Gedanke der Liebe auf denunnahbaren
Gott gerichtet werden konnte, wenn nicht eben die Lsungdes Rtsels
darin lge: da die Erkenntnis berboten werden sollte. Eswar
unvermeidlich, Gott in Gegensatz zu stellen zu aller
Wahrnehmung,der konkreten, wie der bildlichen. Daher mute Erkennen
gegen Wahrnehmen aufgestellt werden. Aber um den Zusammenhang
zwischen Erkennen und aller Wissenschaft von der Natur
abzustreifen, wird die Erkenntnis in die Liebe umgewandelt, die mit
der Wissenschaft nichts gemein hat.
Wie rechtfertigt sich nun aber positiv der prophetische Begriff
der Liebe,sowohl zu Gott, wie bei Gott? Alle Gefahren der Religion
entstehen andiesem Punkt. Alle ihre guten und ihre schlimmen
Beziehungen zur Mystikentspringen hier. Sie selbst zwar ist nicht
des Zusammenhangs mit derWissenschaft entblt, aber sie will sich
ihm entreien. Daher tritt hierdie Liebe in Konflikt mit der
Erkenntnis. Ist nun dieser Zusammenhangmit der Mystik fr die
Religion unvermeidlich?
Die Propheten sind dadurch die Begrnder der sozialen
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Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 623
Religion geworden, und in ihr die des sozialen Bewutseins
berhaupt,da sie der Mystik die Gottesliebe entzogen und, ohne den
Leitfaden derWissenschaft zu benutzen, in der Liebe einen Weg der
Erkenntnis zu bahnensuchten. Wie konnte dies mglich werden? Bei
Gott wre es in der Tatnicht mglich geworden. Sie aber blieben nicht
allein bei Gott stehen,sondern setzten ihn in Verbindung, in
Verhltnis, in Wechselwirkung mitdem Menschen. So konnte das Problem
der Liebe entstehen: nicht ursprnglich bei Gott, sondern am
Menschen. Den Menschen wollten sieerkennen, nicht auf Grund einer
Wissenschaft vom Menschen. Diese warja auch Piaton versagt. Er half
sich mit seiner Idee. Die Propheten halfensich mit ihrem Gotte.
Es wre zwar nicht denkbar, da die Propheten, und sie allein
unter denSehern aller Vlker, den einzigen Gott erdacht htten, ohne
allen Antriebdurch Spekulation. Aber da diese Spekulation von Gott,
als dem einzigenSein, ohne die Sttze der Wissenschaft blieb, das
eben ist das Charakteristische: das eben leitet den Schwerpunkt von
aller Metaphysik hinberin das ausschlieliche Problem der
Sittlichkeit. Diese aber betrifft nichtsowohl die Fragen ber Gott
als vielmehr die vom Menschen. Und so istes von vornherein der
Menschengott, der Schpfer des Menschen, in denhier der .aus
Babylonien stammende Gott, als Schpfer des Himmels undder Erde,
verwandelt wurde.
Wenn nun aber Gott sonach gleichsam vor den Richterstuhl des
Menschenvon den Propheten gestellt wurde, so war ihnen der Mensch
nicht vorzugsweise der Gttersohn, der Halbgott, der Heros sondern
der Mensch inseiner Schwche wurde ihnen zum Vorbild. Und die
Schwche war zwar zunchst die moralische, und so wurde die Snde des
Menschen das erste Urbildvom Menschen. Aber wie bei ihnen die
Philosophie der Sittlichkeit fremdblieb, so auch die Tragdie. Und
so blieben sie nicht bei der Schuld stehen,noch bei der Strafe, als
den beiden Seiten des Schicksals, welches den poetischen Urgrund
des Menschendaseins bildet, sondern sie entrissen
diesemDoppelantlitz von Schuld und Strafe seine Wrde; sie faten das
Leidennicht als das Verhngnis des Menschen auf, sondern als eine
Staffel in derEntwicklung seines Begriffs. So wurde durch die
Ausschaltung diesestragischen Grundbegriffs der mythische Urgedanke
von dem Neide der Gtterausgerottet. Gott ist der Gute, nicht das
Gute. Wenn von ihm auch dasLeiden ausgeht, so ist dieses nicht ein
bses, sondern es wird eingegliedertin die Entwicklung des Guten,
das vom guten Gotte verantwortet wird.
Diese Abtrennung des Leidens, als Strafe fr die Schuld, von der
Schuldist eine der tiefsten Konsequenzen des Monotheismus, eine der
allertiefstenGrundlegungen des sozialen Problems. Denn das Leiden
bildet die schwersteFrage gegen die Gte Gottes. Wird es nun aber
hauptschlich am Todegedacht, so bleibt der Mythos Alleinherrscher.
Der Tod ist ein Bild desSchicksals, dem auch die Gtter selbst
unterworfen sind und das fr dieMenschen sich nur auf den Tod
erweitert. Der menschlichen Sittlichkeitbleibt dabei nichts zu tun;
sie kann demgegenber nur in der Mystik ver-
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624 Hermann Cohen:
harren. .Wenn sittliche Ttigkeit gegen das Leiden erweckt werden
soll,so mu der Blick abgewendet werden von dem gemeinen Schicksal
in Krankheit und Tod. Das Elend mute nicht mehr biologisch, sondern
soziologischentdeckt werden. So wurde der Arme zum Symbol des
Menschen.
Die ganze Entwicklung des Prophetismus lt sich an diesem
Leitgedanken verfolgen. Gott ist nicht der Vater der Helden, und
nicht diesewerden als die Gottgeliebten bezeichnet, sondern Gott
,,liebt den Fremdling". Der Fremde ist im Polytheismus, ausgenommen
da er zum Gastfreunde werden kann, der Widerpart zum idealen
Menschen, der nur derVolksgenosse ist. Er ist der Barbar. Sobald
aber der eigene Gott den Barbarenliebt, die feindlichen Vlker sich
zu eigen erklrt, wie sein Eigentum Israel,so erhellt sich der
Horizont des Menschen. Der Messianismus fordert undbeschwingt diese
Entwicklung, die zum Kosmopolitismus fhrt. Hier sollnun aber die
andere Reihe entrollt werden, welche zum Sozialismus fhrt.Wie Gott
neben dem Fremdling fast immer auch die Waise und die Witweliebt,
so sind diese es mit ihm, welche die soziale Bedrckung tragen,
vonder die Gerechtigkeit Gottes sie befreien soll.
Aber wie sehr die Propheten immerfort Recht und Gerechtigkeit
anrufen und ihren Gott als den Gott der Gerechtigkeit verkndigen,
so gengt ihnen diese Abstraktion nicht, die eine Art von Erkenntnis
ist. Siewenden sich an das Herz der Menschen, das ihnen die einzige
Schatzkammerseines Geistes ist, und so erregen sie als die dem
Leiden entsprechendeForm des Bewutseins das Mitleid. Ein ganz
ursprngliches Wortist es in der hebrischen Sprache, das dem
Mutterleibe (Rechem) entstammt.Mit diesem Gefhl erbarmt sich Gott
des Armen; mit diesem Gefhl sollder Mensch den Armen als Menschen
sich entdecken.
Das Mitleid ist daher nicht eine Leidenschaft, nicht ein
physiologischerAffekt, der dem Menschen mit dem Tiere gemeinsam
ist, sondern es istein geistiger Faktor, man mchte sagen: ein
Surrogat des Geistes. Dieganze Kraft einer Weltanschauung ringt mit
ihm zum Bewutsein. Manmte sonst an der Gerechtigkeit Gottes, an
seiner Gte und Vorsehungverzweifeln, wenn nicht dieses Mitleid eine
Kraft des menschlichen Bewutseins wrde, die alles niederschlgt, was
der sogenannte Geist alsSkepsis hervortreibt. Am Leiden des
Menschen interessiert mich nur dieArmut. Sie ist die Grundfessel
seines Wesens. Vielleicht knnte er selbstden Tod berwinden, wenn
nur nicht die Armut als Signatur der Menschenwelt, bliebe. Und es
ist der verhngnisvollste Betrug, da die Armut dieAntwort auf die
Schuld des Menschen wre. Bei diesem Irrtum kommt mannicht zu der
Wahrheit Gottes und ebensowenig zu der des Menschen, nochauch nur
zur ersten Entdeckung des Menschen. Das Mitleid erst entdecktim
Mitmenschen den Menschen. Im Mitleid wird das Leiden des anderenzum
eigenen und dadurch der andere zum Mitmenschen.
Es ist bedeutsam, da Piaton noch keine Idee des Menschen
auszeichnetUnd es ist ebenso bedeutsam, da Philo, der Jude, diesen
Fortschritt inder Ideenlehre vollzieht. Fr ihn bedarf der Mensch
ebenso dieser Aus-
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Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 625
Zeichnung des Erkenntniswertes, wie die mathematischen
Naturideen. Undauch die Idee des Guten gengt ihm nicht. Und wenn
Piaton selbst Gottals den Guten schon fordert, so bleibt dieser
Gedanke einseitig und un-ausgedacht, wenn nicht der Mensch seinen
Eigenanteil an der Gte erlangt. Diesen Eigenwert des Menschen haben
die Propheten entdeckt.Und es ist ihr soziales Gewissen, dem diese
Entdeckung verdankt wird.Die Armen setzten sie gleich mit
denFrommen. DieseGleichsetzung ist der entscheidende Hhepunkt in
der Entwicklung desMessianismus. Und der Messianismus selbst wird
daher zum Bannertrgerder Armut. Alle Schuld der Menschen nimmt er
auf sich, weil er allesLeiden der Menschen auf sich nimmt. Ohne den
Reiz der Heldenkraftund der Gtterschnheit reitet er, das Sinnbild
des menschlichen Leidens,auf seinem Esel durch die Welt. Er
verschmht allen Anteil an den sthetischen Reizen der Welt, nur das
Elend des Menschen stellt er in seinemsozialen Elend dar.
Die Faustdichtung der alten Bibel, der H i o b , tritt so in den
Kreis desMessianismus ein. Die Menschen fragen, nachdem die
Propheten es ihnenklargemacht haben, da der Mensch seiner Vorfahren
wegen weder sndigtnoch leidet: Woher aber entspringt das Bse im
Menschen? Anstattdieser metaphysischen Frage sollten sie zu fragen
lernen: Woher entspringtdas Leid im Menschen? Und das heiti was ist
der Sinn der Armut? Alsdiesen Sinn sollten sie negativ erkennen:
nicht die Schuld. Und positiv erwuchs daher die Einsicht, da der
Arme durchaus als der Gute erkanntwerden msse. An dieser Einsicht
sollte kein Begriff von Gott, noch vomMenschen, auch keine
Welterfahrung irre machen. Gott ist der Gott derGerechtigkeit, er
wird dem Armen schon helfen. Er ist der Gott der Weltgeschichte,
und er wird an der Menschheit gutmachen, was das Individuumzu
leiden hatte. Er ist der Gott der Gte, er kann daher nur aus dem
Lichteder Gte das Armenleid ber den Menschen verhngen. Und die
Erkenntnisseiner Gte bringt mich zu der Einsicht, da der Arme der
Fromme, derGottesfrchtige, der Liebling Gottes ist. Diese
Erkenntnis erwchst zwarnicht aus der Wissenschaft, sie ist daher
auch nicht eine Idee des Guten,aber sie ist auch nicht der Gedanke
von einem abstrakten Guten, dassich auch auf Sachgter bertragen
knnte, sondern sie wird konkretund persnlich am Menschen. Und am
Menschen erst entzndet sich dieLiebe zu Gott.
So erkennen wir zwar die Schranke im Begriffe dieses Gedankens,
sowohl von Gott, wie vom Menschen. Das Mitleid mit dem Leiden hat
diesenGedanken zur Entdeckung gebracht. Wir begreifen hiernach, wie
diesemangelhafte Erkenntnis die Metaphysik vom Tode nicht aus der
Weltschaffen konnte. Die Menschen lieben immer mehr andchtig zu
schwrzen, als gut zu handeln. Und wir begreifen so auch, da das
gute Handelnunter dem Zauberstabe dieser religisen Einsicht immer
zwar das Hchstenoch hervorgebracht hat, was die dmonische
Menschennatur an Zgelung und Bndigung zulie, zugleich aber wird es
uns klar, da Mitleid
Heft 10/11 40
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626 Hermann Cohen:
allein die Triebfeder der sozialen Kraft nicht sein kann, da
vielmehr imletzten Grunde die Quellen der Wissenschaft gegraben und
belebt werdenmssen, wenn Sicherheit, wenn fortschreitende
Entwicklung den sittlichen Problemen zuteil werden soll. Und so
mssen wir wiederum vonden Propheten auf Piaton zurckblicken.
Der Vorzug Piatons besteht in dem Prinzip der Erkenntnis. Alle
orphischeTheologie bleibt haltlos, wenn sie sich der Ideenlehre
nicht zu bemchtigenvermag. Das Mitleid kann dem Menschen die
Erkenntnis nicht ersetzen.Ohne Philosophie kann das Leiden kein
Ende nehmen unter den Menschen.So wird die Erkenntnis zum
Grundpfeiler der sozialen Welt. Schon dasLeiden selbst bedarf zu
seiner Ergrndung der Erkenntnis, geschweigedie Aufhebung des
Leidens, die Erlsung von ihm. Die prophetische Einsicht ist doch
nur eine Ahnung, eine Schau. Es ist gewi nicht zufllig,da das
hebrische Wort fr die prophetische Vision dieselbe Bedeutunghat,
wie die ursprngliche Wurzel fr die Idee. Aber das eben ist der
Mangelim Prophetismus, da die Schau nicht zur Grundlegung wird. Und
diesbleibt der Mangel der Religion, da sie nicht grundstzlich der
Methodikder Wissenschaft sich unterzieht, da sie zwar den
menschlichen Geistals den von Gott eingesetzten heiligen Geist"
erkennt, dennoch aber vorder Gleichsetzung der Wissenschaft mit der
gttlichen Erkenntnis desSittlichen Scheu trgt. Ohne die rckhaltlose
Anerkennung der wissenschaftlichen, der philosophischen Erkenntnis
vom Sittlichen kann es jedochnicht zur Wahrhaftigkeit im ganzen
Gebiete der Religion kommen. Undhier bleibt fr alle Zeiten der
gttliche Piaton der Mahner zur Wahrhaftigkeit, der Hter der
wissenschaftlichen Erkenntnis, als des einzigen untrglichen Hortes
der Wahrheit.
Indessen ist von dieser Sonnenseite aus nun auch der Schatten im
Plato-nismus zu erkennen. Schon das bekannte Wort, da das Ende des
Leidensunter den Menschen nicht kommen werde, bevor ,,die Knige
philosophierenund die Philosophen Knige werden", enthllt den
Schatten bei diesemLichte. Wir wollen keinen Ansto an den Knigen
nehmen, sondern sienur als die Regierenden auffassen: soll denn
aber der Unterschied unterden Menschen die Schroffheit zwischen
Regierenden und Regierten beibehalten? Sollen denn nicht alle
Menschen einstens an der RegierungAnteil erlangen, so da alle
ebensosehr Regierende wie Regierte sein werden?Knnte es bei Piaton
an dieser Konsequenz gebrechen, welche das Prinzipder Erkenntnis fr
alle Menschen, insofern sie Vernunft haben} fordern mu?
Und wenn das schier Undenkbare dennoch dem Sachverhalt
entsprche,so wrde diese Anomalie nur daraus erklrbar, da das
Prinzip der Erkenntnis selbst eine Einschrnkimg gleichsam
verschuldete: als ob es verstmmelt wrde, wenn seine Anwendung auf
alle Menschen gefordertwrde. Haben denn aber nicht alle Menschen
Geist und Vernunft?
Hier wird der Mangel im Prinzip des Geistes und der Vernunft,
als Prinzipien der Erkenntnis, welche mit der Wissenschaft
zusammenhngt, erkennbar, so da man zu dem gebrechlichen Prinzip des
Mitleids seine Zu-
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Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 627
flucht nehmen mchte. Wissenschaftlich ausgedrckt, wird hier die
Zweideutigkeit erkennbar, die bei Piaton im Begriffe der Vernunft
besteht,insofern sie sittliche Vernunft ist in Identitt und auf
Grund der wissenschaftlichen Vernunft. Da aber nicht alle Menschen
der Wissenschaftfhig seien warum nicht? , so knnen sie auch nicht
allesamt derPhilosophie fhig werden. Und da auf der philosophischen
Erkenntnis alleSittlichkeit beruht, so knnen sie auch nicht
allesamt der Sittlichkeit praktisch fhig werden. Deshalb mssen sie
von den Regierenden, den Philosophen, regiert werden. Diese
Konsequenz ist identisch mit dem Prinzipder Ideenlehre, wenigstens
soweit Piaton selbst die Idee des Guten in Einklang zu bringen
vermochte mit der allgemeinen Ideenlehre. Aber alleVorzge der
theoretischen Kultur knnen nicht ber den Schaden hinweg-trster, der
aus dieser berspannung des methodischen Leitgedankensber "die Welt
hereingebrochen ist. Noch heute nhrt sich der Skeptizismusgegen das
soziale Ideal aus diesem Vorurteil, da die Menschen schlechterdings
nicht allesamt zur Wissenschaft und darum auch nicht zur
Erkenntnisdes Sittlichen auf diesem Wege befhigt seien. So wird es
klar, da frPiaton die Idee des Menschen nicht aufging; denn ohne
den Grundgedankenvon der Gleichartigkeit der Vernunft in allen
Menschenkpfen kann keineinheitlicher Begriff vom Menschen
entstehen, und ohne diesen einheitlichen Begriff kann auch der
Glaube an die Verwirklichung der Sittlichkeit im
Menschengeschlechte nicht aufkommen. Was ist aber aller
wissenschaftliche Idealismus ohne diesen Abschlu, den die
Erkenntnis von derEinheit des Menschengeschlechts bildet, von der
Einheit aller Stnde injeglichem Staatswesen, von der Einheit aller
Menschen in der Bestimmungzum Guten und demgem in der Fhigkeit zum
Guten was bedeutetaller Idealismus ohne die Idee des Guten in jedem
Menschengeiste?
Hier wird wieder bei aller Einseitigkeit und allem Mangel an
wissenschaftlicher Begrndung dennoch der praktische Vorzug des
Prophetismuseinleuchtend. Eine solche Einschrnkung und Auswahl
unter den Menschenertrgt er nicht. Auch dem Knig, wenn er einmal
gewnscht wird,wird zur schlichten Vorschrift gemacht, da er das
Buch der gttlichenLehre sich niederschreiben soll. Diese
eigenhndige Niederschrift ist dieallgemeine Vorschrift, durch die
er mit jedeimann im Volke auf das gleicheNiveau gestellt wird. In
bezug auf Gott und den Menschen darf es keinenUnterschied geben
zwischen Regierenden und Regierten, noch zwischenPhilosophen und
Nichtphilosophen. Mose sagt: Mchte doch das ganzeVolk Gottes
Propheten sein". Nur fr die Zeitlage wird hier ein Unterschied
gemacht, nicht fr die Qualitt des Geistes unter den Menschen.Und so
fordert Jeremia von der Zukunft, da keiner den anderen lehrenwerde,
denn allesamt werden sie von gro bis klein Gott erkennen. DieFlle
der sittlichen Erkenntnis wird fr alle Menschen verheien: die
Flle,weil sie aus dem Prinzip Gottes hervorgeht, das freilich, das
eben nicht dasPrinzip der wissenschaftlichen Erkenntnis ist. Dieses
Prinzip Gottes ist daseinheitliche Doppelprinzip von Gott und
Mensch.
40*
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628
Wir werden bei Piaton aber nicht allein in dem Prinzip der Idee
denGrund seines Mangels im Idealismus erkennen drfen: auch hier
hngt diephilosophische Theorie mit der Wissenschaft und der
Erfahrung zusammen.Schon Karl Friedrich Hermann hat die
historischen Grundlagen im Platonischen Staatsideal erkannt. Piaton
war, als echter Idealist, in aller seinerSpekulation mit dem
Interesse an Natur und Erfahrung verwachsen. Imganzen Gebiete des
Naturwissens war er seinem pythagoreischen Vorbildetreu. Und so war
er auch als Ethiker mit der weiten und genauen Kenntnisdes
Politikers ausgerstet, und er hat auf seinen Reisen in gypten und
inUnteritalien nicht nur Mathematik erlernt, sondern an der
Schwelle desMannesalters noch hing er in Sizilien Jugendtrumen
nach, um die Weltnach Musterbildern zu verbessern, die er
keineswegs lediglich erahnte underschaute, sondern die er als
gelehrter Mann der Welterfahrung nach politischen Wirklichkeiten
entwarf.
Aus diesem Zusammenhange mit der geschichtlichen Erfahrung
wirdauch die literarische Tatsache verstndlich, da Piaton. das
soziale Idealnicht nur, wie sonst alle philosophischen Probleme,
innerhalb der Entwicklung einzelner Dialoge errterte, sondern da er
ganze Dialoge nahezuausschlielich ihm widmete. Denn schon seine
Republik" hat diesenHauptinhalt. Dann aber bringen die Gesetze"
eine neue Darstellung,und endlich bekommen diese nicht nur einen
Nachtrag, sondern auch einenNachlufer im Kritias", der die Ethik
des Staates in den Staatsromanverwandelt. Und dabei haben wir des
Gorgias" und des Staatsmanns"noch gar nicht Erwhnung getan. Es war
die Unsicherheit in der Grundlegung, welche die Unruhe und den
inneren Wechsel in der Darstellungseiner Staatslehre erklrlich
macht. Seine Anpassungsversuche an diepolitischen Wirklichkeiten
veranlaten immer neue Differenzen, aberseine eigenen Berichtigungen
trieben ihn immer tiefer in Materialisierungenseiner idealen
Grundlagen hinab, bis sie bei der Utopie endigten.
Seine vornehme Abkunft darf nicht etwa zur Erklrung
herangezogenwerden, denn sie hat ihn nicht abgehalten, gegen die
Flottenpolitik seinesGrooheims Perikles in ewig denkwrdigen
Ausfhrungen Widerspruch zuerheben. Hingegen ist es sein
hellenischer Standpunkt berhaupt, in dessenEngen er befangen blieb.
Wir sind jetzt durch Jakob Burckhardtauf die P o 1 i s als die
Grundlage des griechischen Staatswesens aufmerksamgeworden. Sie ist
das Grundelement des Partikularismus der Stmme undder Stdte. Dem
Individuum gegenber aber ist sie nicht minder absorbierend als der
Staat. Das Volk, als Masse bezeichnet, wird der
Individualittenteignet. Es tritt daher eine nur scheinbare
Individualisierung an dieStelle der echten, nmlich die Einteilung
in die drei Stnde: der Wchter,der Helfer und der
Gewerbetreibenden.
Von minderem Werte ist die Frage nach der Erblichkeit dieser
Kastenals die Einteilung der Menschen im Staate berhaupt nach
festgelegtenBerufen, deren Wechselwirkung fr das Staatsleben durch
die Festlegunggehemmt wird. Aber auch diese stndische Einschnrung
ist nicht der
-
Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 629
letzte Grund des bels, der vielmehr darin liegt, da der Stand
der Hterzugleich der der Krieger ist, und da der Kriegerstand das
eigentliche Fundament des gesamten Staates bildet.
Hier schon tritt uns die Kluft entgegen, welche dieses soziale
Ideal vondem der Propheten scheidet. Nach Jesajas
charakteristischem Ausdrucksollen die Vlker nicht mehr Krieg
lernen. Und Lernen bedeutet sprachlich die Gewhnung. Der Krieg soll
nicht ferner als Menschensitte gelten.Dem prophetischen Denken
bleibt es fremd und unbegreiflich, da derKriegerstand der ideale,
mithin fr alle Zukunft fortbestehende Untergrund und Lebensquell
des staatlichen Daseins, des sittlichen Menschenlebens sein knne.
Aber diese Differenz hat weitere Konsequenzen.
Erinnern wir uns, da fr Piaton die Wurzel alles Menschlichen in
derErkenntnis besteht. Das Fundament des Kriegerstandes bedarf
demzufolgeder Ergnzung durch den Stand der Philosophen. Ist es nun
schon ein unheilbares bel, da in den Philosophen die Wissenschaft
und die Erkenntniseinem besonderen Stande berliefert, nicht allen
Menschen zuerteilt wird,so ist es noch schlimmer, da der
Philosophenstand aus dem Kriegerstanderekrutiert und mit demselben
unter dem Namen der Wchter und Htervereinigt wird. Diese
Vereinigung ist die Konsequenz des Grundgedankensvon der Scheidung
des Volkes in Regierende und Regierte. Diese sind dieGrundstnde.
Und von dieser Unterscheidung aus ergibt sich sowohl dieTrennung
wie die Vereinigung der Regiei enden in den Stand der Kriegerund
den Stand der Philosophen. Beiden allein liegt die Herrschaft im
Staateob. Die Vereinigung ist ein notwendigei Gedanke, die Trennung
aber istein methodischer Widerspruch. Denn die Idee fordert
ausschlielich denStand der Wissenden. Der Kriegerstand stammt nicht
aus dem Lande derIdee, sondern aus der politischen Wirklichkeit,
die Piatons idealen Blickdennoch gefangen hlt.
Wenn man nun aber fragen mu, warum Piaton gerade an diesem
Punkteder politischen Erfahrung festgebannt wurde, whrend sein
Idealismus,wie wir noch sehen werden, sonst so vielfach die
Schranken der Erfahrungberfliegt, so haben wir die Lsung dieses
Rtsels in dem Fehlen eines einheitlichen Begriffs, der Idee des
Menschen, zu erkennen. Wieder Gedanke der Einheit des
Menschengeschlechts gnzlich bei ihm fehlt,so fehlt nicht minder
auch der Gedanke der auf selbstndigen Individuenberuhenden
staatlichen, menschlichen Gemeinschaft. Der Begriff desMenschen
bildet ihm nicht das Problem einer Einheit. Der Mensch sei
alsirgendein Spielwerk Gottes gebildet worden, und wirklich sei
dies das Bestefr ihn" (leg. 803 C). Das knstliche Spielwerkzeug
bildet den schroffstenKontrast gegen die Aufgabe, gegen die
Hypothese des Menschen innerhalbder Probleme der menschlichen
Kultur.
Und da der Mensch keine Idee ist, keine gedankliche Einheit, so
bedaifer auch in der empirischen Wirklichkeit nicht der Herstellung
und Htungdurch Einheit und Einheitlichkeit. Er kann daher gesondert
und gespaltenwerden in seinen Lebensberufen. Und es bedeutet keinen
Widerspruch
-
630 Hermann Cohen:
gegen seinen Begriff, da die Erkenntnis eigentlich nur einem
Standebertragen wird. Es ist auch kein Widerspruch, da das Amt der
Erkenntnisendlich auch noch dem Mutterboden der Krieger zufllt.
Denn diese teilensich ja mit den Philosophen in die Geschfte der
Herrschaft und der Staatsverwaltung.
Man knnte immer noch fragen, was der letzte Grund sei fr diese
Teilungder Hter und Wchter in Wissende und Krieger, und weshalb
nicht dieHerrschaft im Staate ausschlielich den Philosophen
anvertraut wird.Man knnte ja fr die Krieger einen Ausnahmestand
erdenken, der nurfr die Zwecke der Landesverteidigung notwendig sei
denn ber dieGrenzen seines Idealstaates, der aber vielmehr nur ein
Kirchturmsstaatist, wie er durch seine 4500 Ackerbrger begrndet und
festgelegt wird,geht Piatons Blick niemals hinweg; die Fernsicht
auf das Menschengeschlechtfehlt gnzlich bei ihm. Indessen hat der
Idealismus Piatons noch offenerliegende Lcken und Schden. Die
Krieger werden keineswegs lediglichder Landesverteidigung wegen zu
einem festen Stande gegliedert; dennsie werden auch gebraucht gegen
den Ungehorsam des dritten Standes imeigenen Staat.
Hierdurch wird nicht nur der Schleier ber das Wesen des
Kriegerstandesgelftet, sondern tiefer noch wird das Wesen des
dritten Standes entschleiert.Nicht darin besteht der Charakter des
dritten Standes, da er den niedrigenBeschftigungen des Erwerbs und
Handels preisgegeben wird, so da erauch den Gefahren des Eigentums
ausgesetzt bleibt, whrend die oberenStnde des Kommunismus teilhaft
werden; es ist nicht genug, da diesetiefste Wunde des sozialen
Lebens eine offene bleibt an seinem sozialenLeibe: es dient ihm
auch zur Voraussetzung, da er im organischen Ungehorsam gegen die
Staatsgesetze verharrt. Daher mssen die Regierendendie Krieger
sein, die ihn niederhalten und bestrafen.
Und charakteristisch ist auch der Gegensatz zum Prophetismus,
dahier in der Herrschaft der Wohlhabenden ber die Armen die
Herrschaftder edleren Begierden ber die schlechteren erkannt wird.
Piaton sagtnicht nur { was richtig und recht ist, da der Gtererwerb
die allgemeineethische Gefahr bilde, sondern mit dieser Erkenntnis
setzt er einen drittenStand in diesem Lebensberufe fest, und
isoliert ihn, und charakterisiertseelische Unterschiede in diesem
Stande aus dem Gesichtspunkte seinerKonstituierung.
Wir kommen auf eine wichtige methodische Grundlage der
PlatonischenStaatslehre. Diese ist schlechthin seine Seelenlehre.
Denn es ist einGrundzug seines ethischen Denkens, den wir nun
besser verstehen knnen,da er die Seele des Menschen, so sehr er
ihre Unsterblichkeit verteidigt,dennoch nicht so sehr im Individuum
erkennbar werden lt, wie im Staat.Auch dieser hat ja im Grunde
keine Individualitt, die vielmehr nur in dendrei Stnden
objektiviert ist. So konstruiert er nun auch nach dieser
falschenIndividualitt des Staates den Begriff der menschlichen
Seele, fr den erzwar Idee fordert und daher auch Einheit fordern
mte, aber wenngleich
-
Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 631
sein Ausdruck der Teile der Seele" nicht buchstblich zu nehmen
ist,sondern nur die Artbegriffe der Seele bedeutet, so bleibt es
doch immer dieAnalogie der Stnde, deren Dreiheit in einer Dreiheit
der Seelenarten sichwiderspiegelt.
Es ist die Logik im Zufall einer geistigen Entdeckung, die hier
ihr Spieltreibt. Vielleicht wre Piaton nicht auf die Entdeckung der
dritten Seelenart gekommen, wenn ihn der dritte Stand nicht darauf
hingelenkt htte.Und es spricht nicht dagegen, da die psychologische
Dreiteilung nichtgenau entsprechend der Drei-Stnde-Einteilung
ausfallen konnte. Dennfr den dritten Stand hatte, die bisherige
Psychologie schon ausgesorgt:dem Gtererwerb entspricht die
Begierdenseele. Aber die Abzweigung desherrschenden Standes in die
Krieger und die Wissenden war ein neuesProblem. Fr die Erkenntnis
war nun aber schon seit Anaxagoras gesorgt.Die Vernunft brauchte
nicht einmal die gttliche Weltvernunft zu bleiben,vielmehr war ihre
Auszeichnung notwendig fr den Stand der Wissenden,den idealen
Menschentypus. Aber die Vernunft hat jetzt auch im Kriegerstande
eine praktische Seelenprovinz. Diese mu ebenso von der
allgemeinenVernunft unterschieden, wie mit ihr vereinigt werden;
beides nach demMuster der Krieger und der Wissenden unter der
Einheit der Wchter.
So ist nun der Urtypus des Willens zur Welt gekommen. Aber
seinGeburtsmal trgt er in seinem Namen an sich. Den Willen kennt
Piatonnur erst in der Wollung: der den Willen vertretende Name ist
die falschbersetzte Leidenschaft. Es gibt aber auer dem Affekte
keine besserebersetzung fr dieses Wort, das Piaton aus seiner
Sprache fr seinenneuen Begriff eingesetzt hat. Bei Homer bedeutet
es noch den Zorn, undes ist ja wohl auch sprachlich verwandt der
Feuer- und Rauchseele, welcheeine Urform der Seele ist. Immerhin
hat sich nunmehr der Affekt ebensovon der Begierde wie von der
Denkkraft abgeschieden. Weder des GedankensBlsse noch der zgellose
Trieb macht sein Wesen aus: eine neue Grundkraft der Seele hat der
Kriegerstand der Staatsseele entbunden. Es ist jetztnicht mehr nur
der wilde Trieb und die Begierde und die Leidenschaft,die den
Menschen beherrschen, geschweige seine Seele ausfllen und
ausmachen, sondern eine Mittelkraft des Bewutseins ist an den Tag
gekommen,die nicht nur medial ist, insofern ihr die Eigenkrfte der
anderen Seelenarten fehlen, sondern die vermittelnd ist zwischen
ihnen. Die Begierdewird nicht entkrftet, aber zhmbar gemacht. Und
die Vernunft wird nichtfr die Erkenntnis reserviert, sondern sie
wird zusammengespannt mitdem Rosse des Mutes, und in diesem
Doppelgespann erschaut die Seele beiihrer Prexistenz die ewigen
Ideen. Die neue Seelenkraft vereinigt diebeiden frheren. Und in der
Tat fordert die Ethik Piatons eine solche Einheit der Seele.
Die reine Ethik Piatons, die auf der Idee des Guten beruhende,
fordertunbedingt diese Einheit der menschlichen Seele. Anders aber
steht es mitseiner angewandten Sittenlehre, mit seiner Staatslehre,
und aus dem Staatewill er die Seele des Mikrokosmos sicherer
erkennbar machen als in dem
-
6$2 Hermann Cohen:
menschlichen Olganismus. Danach wird aber wiederum der
Widerspruchstrend, den die Krieger neben den Wissenden, als
Grundfaktoren desStaates und demgem der Seele, bilden. So wird der
Dualismus zwischender erkennenden Vernunft und dem praktischen
Willen erkennbar. Sowird es auch verstndlich, da der Wille nur erst
als Affekt zur Entdeckungkam, da fernerhin auch noch nicht die
Einheit aufging, die zwischenVernunft und Willen bestehen mu. So
wird es endlich auch verstndlich,da der Vernunft selbst Schranken
gezogen wurden, wie der Affekt nochnicht in die unendlichen Grenzen
des Willens eingefat wurde. Der Wille,nur als Affekt noch gedacht,
legte auch der Vernunft hemmende Zgel anund engte den Horizont des
Idealismus ein.
Der Begriff des Menschen wurde hergeleitet aus dem Begriffe des
Staates,und zwar aus dem der empirischen griechischen Staaten. Die
Wirklichkeit,die Gegenwart und allenfalls auch die Vergangenheit,
in ihren Grenzenbewegt sich der Blick des Idealisten. Wird aber das
Zeitbild etwa durchVergangenheit und Gegenwart erfllt? Und fehlt
etwa eine Nebensache,wenn die Zukunft fehlt?
Hier wieder tut sich ein gewaltiger Unterschied auf gegenber dem
Zeitbewutsein der Propheten. Sie sind so wenig weltfremd, wie
Piaton, aberihre auswrtige Politik schon unterscheidet sie von der
Politik Piatons,fr den nur Griechenland vorhanden ist, und der in
Sizilien auch nur nachgriechischen Mustern seinen Idealstaat
einrichten will, wie er ihn in allenseinen Staatsschriften nur nach
diesen Mustern entwirft. Die Prophetendagegen sind zwar praktische
Politiker in ihrem Volke. Aber ihr Staatist nicht die Polis, fr
deren Eigenart jeder griechische Brgergeist eintritt,sondern ber
die Polis hinaus greift schon der Stamm, und ber den Staatselbst
der Doppelstaat von Juda und Israel. Und nun kommen gar
diePropheten und entwerfen ein ganz anderes Idealbild vom Staate,
zerschlagenden Staat der Stmme " und errichten das Idealbild eines
Vlker-, einesMenschenstaates. Fr dieses Bild reicht keine Gegenwart
aus, und keinerVergangenheit kann es entnommen sein. Es ist ein
ganz neuer Zeitbegriff,der hier das Bewutsein erfllt: in der
Zukunft entsteht die Unendlichkeitder Zeit, die fr die Entwicklung
des Menschengeschlechts bei Piaton garnicht vorhanden ist. Nur
rumlich ist sein Blick ber Griechenland hinauserweitert. Es hat
aber die Erde viele und wunderbare Orte, und es istweder an Gre
noch Gestalt so, wie von denen, die ber die Erde geredethaben,
geglaubt wird, nach dem, was ich von einem erfahren habe."(Phdon,
p. 108.) Aber da es einmal schnere Zeiten geben knne, davonahnt er
nichts.
Fr die Propheten hingegen konzentriert sich die Erde und das
Universum fast gnzlich auf die Zeit. Denn der Raum steht bei ihnen
im Widerspruch der beiden Begriffe: Jerusalem und die ganze Erde.
Sie schlichtendiese Antinomie durch den neuen Himmel" und die neue
Erde", dieam Ende der Tage" erstehen werden. Das Ende, die
Unendlichkeit der
-
Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 633
Zeit ist es, mit der sie die Widersprche im Rume, in der
geographischenAusbreitung der Menschheit berwinden.
Daher hat ihr Sein keinen Stillstand, sondern alles ist in
Entwicklung,in Verwandlung, in ewiger Neuentstehung. Daher besticht
sie keine Machtder Wirklichkeit; auch der Staat, der eigene Staat
macht sie nicht befangen.Er mu vernichtet werden, und nur der Rest
Israels" soll brig bleiben,damit aus ihm alle Vlker sich verjngen
knnen. Die Verwandlung erstreckt *ich bis auf die Sprache, die Gott
dereinst in Eine lautere Sprache"fr alle Vlker umwandeln wird. So
hat weder die Natur noch die Menschenwelt eine absolute Beharrung,
sondern ewige Neuschpfung ist der Sinn dergttlichen Schpfung.
Bei Piaton hat Burckhardt Stillstellung der griechischen Kultur"
getadelt. Wir erkennen aber, da die Enthaltung von der Zukunft den
Stillstand aller Kultur und Geschichte zur Folge hat. Es ist nicht
seingrter Fehler, da er nicht die Zukunft erraten oder gar
hervorgerufen"habe, sondern da er berhaupt den Begriff der
geschichtlichen Zukunftund dahei den Begriff der geschichtlichen
Entwicklung nicht gehabt hat.Auch seiner Utopie in der Atlantis
fehlt die Fernsicht. Daher bleibt dieVorsorge fr den Krieg eine
Obliegenheit selbst der Utopie.
Auf dem Prinzip der Entwicklung beruht das ganze Problem der
Erziehung. Und praktisch will die Ideenlehre durchaus ein
Erziehungssystemsein. Aber dieses ganze System, welches eine
Umwendung" bedeutenwill fr die Seele von der Wirklichkeit in das
Reich der Ideen: diese idealePdagogik ist dennoch auf den
unaufhrlichen Fortbestand des Kriegerstandes begrndet. Sonach gehrt
der Krieg in das Idealbild der Menschheit.
Wie anders dagegen dk Propheten. Sie predigen nicht nur das
Verschwinden der Kriege, sie g^ben ihrem Gotte als sein hchstes
Attributvielmehr den Frieden. Gott ist der Schpfer des Friedens,
wie der des Lichtesund des Menschen. Der Priestersegen gipfelt in
der Einsetzung des Friedens.Der Friede entstammt der Sprachwurzel
der Vollkommenheit. Er ist gleichsam ein Ausdruck des Ideals.
Aus diesem bergewicht, den der Kriegerstand behauptet, erklren
sichauch alle Schwchen und Mngel, alle Lcken und Widersprche in
PiatonsStaatslehre. Das Eigentum wird aufgehoben, aber nur fr die
oberen Stnde,wie wir schon sahen. Die Wissenden werden die
Regierenden, aber dasPriestertum bleibt und mit ihnen bleiben die
Opfer unangefochten. Mitdem Eifer der Propheten gegen das Opfer
hingegen wird auch das Priestertum von ihnen angegriffen. Und wenn
zwar auch die Leviten nur ohne unbewegliches Eigentum bleiben, so
wird ihnen aber keineswegs der Anteilam Geistigen ausschlielich
zuerteilt. Auch die Widersprche in den Instituten der Ehe und der
Familie drften sich im letzten Grunde aus der Wurzel,den der
Kriegerstand fr den Staat bildet, erklrlich machen. Die
Gemeinschaft der Kinder zieht die Gemeinschaft der Weiber nach
sich. Dennochaber bleibt der Ehebruch bestehen, und es wird nicht
nur die freie Liebenicht zugelassen, sondern die Liebe berhaupt,
als das Prinzip der Ehe,
-
34 Hermann Cohen:
nicht anerkannt und dafr die staatliche Zuteilung zum Zwecke
angemessenerKinderzeugung als Staatsgesetz begrndet.
Der militrische Giundgedanke beherrscht das politische
Erziehungssystem, wie auch das Rechtsverfahren; endlich aber kommt
er zu besondererAnstigkeit in der Sklaven-Gesetzgebung. Es ist
schon auffllig, danicht gefragt wird, woher bei der Staatsgrndung
die Sklaven kommen,geschweige ob sie bestndig foitbestehen drfen.
Aber unertrglich ist es,mit welcher Grausamkeit sie bestraft
werden, wie sie z. B. fr jede Beere,die sie aus dem Bereiche eines
anderen an Trauben gepflckt haben, krperliche Zchtigung zugezhlt
erhalten. Diese Raffiniertheit der krperlichenStrafen ist beinah
noch emprender als die Grausamkeit, welche die
ganzeSklaven-Gesetzgebung durchzieht.
Wie sehr entspricht dagegen die prophetische, die mosaische
Gesetzgebung ber die Sklaven ihrem Grundgedanken vom Menschen. Das
berchtigte Auge um Auge ist das wahnwitzigste und undankbarste
Beispielin der gesamten Geistesgeschichte. Der Kernspruch sollte
vielmehr lauten:Zahn um Zahn. Denn wenn der Herr seinem Sklaven
auch nur den Zahnausgeschlagen hatte, so mute er ihn frei
entlassen. Und es gibt kein Blutgeld in Israel fr den Totschlag
eines Sklaven. Auch durfte der entlaufeneSklave seinem Herrn nicht
wieder ausgeliefert werden. Auch hier greiftder Gedanke des
einheitlichen Menschen durch, der durch den Fremdlingvermittelt
wird. Piaton hingegen bleibt auf dem griechischen Boden, insofern
er an dem Unterschiede zwischen Hellenen und Barbaren festhlt.Die
Differenz zwischen Piatonismus und Prophetismus przisiert
sichsoziologisch in der Differenz zwischen Ger und Barbar. Der
Hellene istautochthon. Die Thora fordert Einheit fr den
Eingeborenen und den Auslnder. Dies ist die ethische Vorschrift,
die fr Recht und Staat freilichModifikationen erfordert. Aber die
Norm vollendet sich im Messianismus.Wenn Meyer die Prophezeiungen
der gypter als Schema fr die Prophetennachzuweisen sucht, so
bersieht er den Unterschied, da die Prophetennach der Vernichtung
des eigenen Staates die Herrlichkeit der Zukunftverheien. Erst mit
dieser unbedingten Herrschaft der Sittlichkeit ber deneigenen Staat
und das eigene Volk wird die Ausnahme von der Menschheitgetilgt,
welche das Barbarentum bildet. Durch die messianische Menschheit
erst wird Gott der Vater, nicht mehr nur der Schpfer der
Menschen,und die Menschen werden, als Kinder Gottes, zu Brdern.
Die Erfllung der Zukunft mit dem einheitlichen Bilde der
Menschheithat noch eine andere groe Differenz zur Folge. In das
Sittenbild der Propheten wirft der Mythos vom J e n s e i t nur
Schatten und Nachklnge,im sittlichen Weltbilde Piatons dagegen
bildet es den eigentlichen Horizont.Bei den Propheten tritt das
Jenseit zurck gegen das Einst. Vom Jenseitsagt Jesaja: kein Auge
hat es gesehen, auer Dir Gott allein". All ihrInteresse, geistig
wie sittlich, ist auf das Einst der Menschenwelt gerichtet.Das
Gottesreich ist ihnen mit dieser Erde verknpft, die bei aller ihrer
Erneuerung immer nur von derselben Menschenart bevlkert bleibt. Nur
die
-
Das soziale Ideal bei Piaton und den Propheten 635
Entwicklung und nur die Zukunft bestimmt und befestigt das
Dasein derMenschen.
Piaton dagegen schrnkt seinen Idealismus auch hier ein durch
Anpassung an die Reformbestrebungen der orphischen Theologie seiner
Zeit,Und sein ethischer Rigorismus bewhrt sich freilich darin, da
er nichtetwa als ein Schlaraffenland das Jenseit ausmalt, auch
nicht als die Inselder Seligen, sondern den Tartaros beschreibt er
als den Ort der Vergeltung,die sich auch auf die Wiedergeburt
erstreckt, in der die Menschen die Folgenihrer Bestrafung wieder
mit auf die Welt bringen.
Es ist auch hier charakteristisch, da die Bestrafung das
Grundproblemseiner praktischen Unsterblichkeitslehre bildet. Nun
sind diese wiederholten Beschreibungen die wichtigsten Vorwrfe
seiner Mythenbehandlung, und von allen Seiten her mu sich seine
Darstellung der Ideenlehrediese Verschmelzung mit dem Mythos
gefallen lassen. Und es ist unverkennbar, da bei dieser Verwendung
des Mythos sein Humor die mchtigstenSchwingen regt. Wie Dante bei
allem Patriotismus und aller mittelalterlichen Piett die Strafen in
Hlle und Fegefeuer nicht so erbarmungsloshtte beschreiben knnen,
wenn sein weltgeschichtlicher Humor ihm nichtden Griffel gefhrt
htte, wie denn auch alle Bilder des Jngsten Gerichtsnicht ohne
diesen Humor entstanden sind, so regt sich auch bei Piaton
derunfreiwillige Spott des Intellektualismus gegen die
Zauberfesseln derdogmatisch-religisen Phantasie. Aber wenn man dies
auch bedenkt undwrdigt, so bleibt es doch eine Besttigung seines
Grundgedankens vomKrieger, da auch hier die kriegerischen Mythen in
die Schattenwelt eintreten. Es verbleibt nicht bei dem Jenseit des
Daseins, welches, wenngleichnur ein Spro, so doch das Abbild des
Guten ist. Des Guten wegen wre dieZukunft erforderlich. Das Jenseit
aber mu fr die Schlechten und ihreBestrafung erdacht und
aufgenommen werden. Ohne Strafe, ohne Schmerzund Pein in der
Unterwelt ist es nach dem Gorgias (525) nicht mglich,der
Ungerechtigkeit entledigt zu werden. Und wenngleich als
Beispieleder unheilvollsten Frevler meistens Krieger und Frsten
aufgefhrt werden,so wirkt doch in der Notwendigkeit der Strafe der
ursprngliche Kriegsgedanke nach.
Dahingegen wird bei den Propheten die Vergeltung zur
Vergebung.Es ist das eigentliche Amt, der Beruf ihres Gottes, Gnade
ergehen zu lassenvor Recht, Vershnung und Erlsung zu ben an dem
Freyler. Nach demhebrischen Wortlaut trgt er die Snde, nimmt sie
auf sich, als ob er sich,als den Schpfer des Menschen, fr die
Gebrechen seiner Natur verantwortlich machen sollte. Dieser Gedanke
hat unmittelbare soziologische Kraft,nicht nur fr die Rechtspflege
und die Verbesserung des Strafvollzugs,sondern auch fr die
Erkenntnis der tieferen Ursachen der Unsittlich keitund ihrer
Milderung und Beseitigung. Mit dem Tartaros und der Strafeals
Bedingung der Wiedergeburt und Auferstehung wird das
schwersteHindernis hinfllig, welches fr den sozialen Idealismus der
Zukunft derMenschheit besteht.
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636 Hermann Cohen: Das soziale Ideal bei Piaton und den
Propheten
Wenn wir hier auf den Anfang zurckblicken, so ist es der
einseitigeIntellektualismus, der den Gedanken der Allheit gelhmt.
Fr die Mengesei die Philosophie nicht mglich. In diesem Satze wird
das PlatonischeLicht zum Aristotelischen Schatten, wird der
Idealismus verkehrt in empirischen Realismus. Die Propheten sind
nicht Philosophen. Fr sie gengtes, da die Menschen Gott erkennen
und durch ihn den Menschen. DieserGotteserkenntnis sind nach ihrer
Zuversicht alle Menschen fhig, und siewrden an Gott verzweifeln,
wenn sie in dieser Zuversicht wankend wrden.Dies ist der Vorzug
ihres Idealismus, wenn wir nach dem allgemeinenSprachgebrauche
diesen Optimismus so nennen drfen. Aber freilich beschrnkt sich
diese Gotteserkenntnis auf die Sittenlehre, und da diesenicht auf
der Idee der wissenschaftlichen Erkenntnis beruht, so darf mansie
in genauer Terminologie nicht als Ethik bezeichnen.
In den allgemeinsten Zgen bewegt sich die Weltgeschichte in dem
Kampfund der Wechselwirkung dieser beiden geistigen Grundkrfte. Und
allersoziale Fortschritt mu sich die allgemeine Schule und die
Einheitsschulezum Ziel setzen, auch wenn er von der
wirtschaftlichen Reform seinen Ausgang nimmt. Fr unsere Zeit gilt
es die doppelte Einsicht zu gewinnen,da der Pessimismus von der
Unfhigkeit der sogenannten Menge fr dieWissenschaft das Grundbel
ist, das allen wahrhaften Fortschritt hemmtund illusorisch macht.
Das ganze Volk ein Priesterreich, dieser prophetische Grundgedanke
mu die Losung der neuen Welt werden.
Ebenso mu aber auch das Vorurteil abgetan werden, da mit
Religionallein wahrhafte Sittlichkeit begrndet und befestigt werden
kann. Piatonhat nur darin unrecht, da er der Menge die Fhigkeit zur
Philosophieabspricht; recht aber behlt er darin, da er ohne
philosophische Ethik keinenFrieden auf Erden voraussieht. Es mu zur
einheitlichen Forderung derSoziallehre fr die Schule und fr den
Staat errungen werden, da derwissenschaftliche Unterricht dem
gesamten Volke erschlossen wird. Dassachliche, wie nicht minder
aber auch pdagogische Fundament alleshheren wissenschaftlichen
Unterrichts war, ist und wird sein die Philosophie, die in der
Verbindung von Logik und Ethik allein den Idealismusbegrndet. So
bleiben die Propheten ebenso wie Piaton die Geistesfhrerdes
Menschengeschlechts, die nur miteinander verbunden das Ziel
dessozialen Ideals erreichbar machen.
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