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Gewalt und Gesellschaft
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"Civil Society", "Bürgerliche Gesellschaft", "Zivilgesellschaft". Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society (1767)

Mar 29, 2023

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Gewalt und Gesellschaft

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WALLSTEIN VERLAG

Gewalt und GesellschaftKlassiker modernen Denkens

neu gelesen

Herausgegeben von Uffa Jensen, Habbo Knoch,

Daniel Morat, Miriam Rürup

Page 4: "Civil Society", "Bürgerliche Gesellschaft", "Zivilgesellschaft". Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society (1767)

Bernd Weisbrod zum 65. Geburtstag

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Inhalt

Habbo KnochEinleitung. Vier Paradigmen des Gewaltdiskurses . . . . . . . . . . . . . 11

Hans Medick»Civil Society«, »Bürgerliche Gesellschaft«, »Zivilgesellschaft«.Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society (1767) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Christian JansenRassistischer und eliminatorischer Antisemitismus im frühen 19. Jahrhundert.Hartwig von Hundt-Radowsky: Judenspiegel (1819) . . . . . 59

Nicholas StargardtClausewitz’s Final Posting.Carl von Clausewitz: Vom Kriege (1832-34). . . . . . . . . . 69

James RetallackBismarck, Engels, and The Role of Force in History.Friedrich Engels: Die Rolle der Gewalt in der Geschichte (1896) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Frank BöschSpätviktorianische Präfigurationen und die Gewalt im 20. Jahrhundert.Joseph Conrad: Heart of Darkness (1899) . . . . . . . . . . . 91

Dorothee WierlingKonservativer Protest.Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) . . 101

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6 Inhalt

Alexander C. T. GeppertWerden und Vergehen eines sprachgewaltigen Schicksalsszenarios.Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Volker BerghahnZur Frage individueller und kollektiver Lernfähigkeit.Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) . . . . 122

Regina SchulteEine Erinnerung an den archaischen Gabentausch für Europa.Marcel Mauss: Essai sur le don (1924) . . . . . . . . . . . . 133

Thomas MergelDie Kühlheit des Revolutionärs.Antonio Gramsci: Quaderni del carcere (1926-1937) . . . . . 143

Uffa JensenGewalt als triebhafte Überwältigung? Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930) . . . . 154

Michael GeyerHumanity in an Age of Total Destruction.Friedrich Georg Jünger: Die Perfektion der Technik (1939/46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Ulrich HerbertVom Ende des Völkerrechts zur Rechtfertigung der Gewalt. Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraum-Ordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte (1939) . . 174

Adelheid von SaldernDer nationalsozialistische Un-Staat.Franz Neumann: Behemoth (1942/44) . . . . . . . . . . . . . 186

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7Inhalt

Norbert FreiZwischen Kollektivschuldthese und »Volksgemeinschaftsversöhnungs gerede«.Karl Jaspers: Die Schuldfrage (1946) . . . . . . . . . . . . . . 195

Bert-Oliver ManigHerrschaft der Vernunft oder Herrschaft der Gewalt? Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe (1946) . . . . 204

Moshe ZimmermannHeilige Gewalt.Israel Eldad: Der Erste Zehnte (1950) . . . . . . . . . . . . . 215

Miriam RürupStaatenlosigkeit als Entmenschlichung.Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism (1951) . . . 226

Holger NehringTechnologie, Moderne und Gewalt.Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956) . . 238

Paul BettsViolence, Separateness and Performance.Carl J. Friedrich/Zbigniew K. Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy (1956)y . . . . . . . . . . . . . . 248

Daniel MoratZur Tiernatur des Menschen.Elias Canetti: Masse und Macht (1960) . . . . . . . . . . . . 257

Juliane Haubold-StolleGewalt als Ausweg der Hoffnungslosen.E. P. Thompson: The Making of the English Working Class (1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Habbo KnochDie Suche nach der »unverlierbaren Zeit«. Jean Améry: Die Tortur (1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

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8 Inhalt

Frank BiessGewalt der Toleranz, Toleranz der Gewalt.Herbert Marcuse: Repressive Toleranz (1965) . . . . . . . . . 285

Axel Schildt»Bibel der Außerparlamentarischen Opposition«.Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

Petra TerhoevenGuerilla-Mentalität im SDS.Rudi Dutschke/Hans-Jürgen Krahl: Organisationsreferat (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Dirk SchumannHoffnung, Skepsis, Ermahnung.Johan Galtung: Violence, Peace, and Peace Research (1969) . . 317

Lutz NiethammerBegnadete Anthropologie.René Girard: La violence et le sacré (1972) . . . . . . . . . . 326

Jay WinterThe Lost Generation of the First World War.Paul Fussell: The Great War and Modern Memory (1975) . . 337

Lars KleinAn den tiefen Spuren des Imperialismus.Edward Said: Orientalism (1978) . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Tilmann SiebeneichnerWie »politisch« sollte Zeitgeschichte sein? Alexander Kluge: Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle (1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Eva-Maria SiliesSymbolische Gewalt als Gegenentwurf?Pierre Bourdieu: Le sens pratique (1980) . . . . . . . . . . . 371

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9Inhalt

Omer BartovGenocide and the Holocaust: What are we arguing about?Leo Kuper: Genocide (1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

Inge MarszolekFotografie und Gewalt.Judith Butler: Torture and the Ethics of Photography (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394

Carola DietzeApokalypsen der Moderne.John Gray: Black Mass (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

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Hans Medick

»Civil Society«, »Bürgerliche Gesellschaft«, »Zivilgesellschaft«

Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society (1767)

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts machte der englische Essayist und Philosoph Anthony Ashley Cooper, der 3. Earl of Shaftesbury, sei-nem Ärger Luft. Zugleich traf er eine bemerkenswerte Feststellung über die englische politische Sprache:

»I must confess, I have been apt sometimes to be very angry with our [English] language for having deny’d us the use of the word PATRIA, and afforded us no other name to express our na-tive Community than that of Country, which already bore two different Significations1 abstracted from Mankind or Society. Reigning words are many times of such force as to influence us considerably in our Apprehension of things. Whether it be from any such Cause as this, I know not: but certain it is, that in the Idea of a CIVIL state or NATION, we English-men are apt to mix somewhat more than ordinary gross and earthy. No people who ow’d so much to A CONSTITUTION, and so little to A SOIL or CLIMATE, were ever known so indifferent towards one, and so passionately fond of the other.«2

Shaftesbury sprach hier nicht nur eine spezielle Eigen art der eng-lischen Sprache an, nämlich die Tatsache, dass der Terminus für die kleinste regionale Einheit – »country« im Sinne von »county« – zugleich zur Bezeichnung des politischen Ganzen diente. Er wies auch auf einen Gesichtspunkt hin, der für alle Untersuchun gen der politischen Sprache von großer Wichtigkeit ist, nämlich die unter-schiedliche Wortgestalt und Bedeutung der »reigning words«, wie er sie nannte. Solche vor-herrschenden »Leitbegriffe« in den ver-

1 Die Fußnote lautet im Original: »Rus and Regio. In French Campagne and Pais.«2 Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury, Characteristicks of Men,

Manners, Opinions, Times (1709), hg. v. Philip Ayres, 2 Bde., Oxford 1999, hier Bd. 2, S. 201. Die Hervorhebungen sind die des Originals.

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schiedenen Sprachen und Gesellschaften Europas und der Welt sind häufig schwer übersetzbar, da sie jeweils in unterschiedliche kultu-relle Praktiken und politische Vorstellungen eingebunden sind. War dies für Shaftesbury noch ein Ärgernis, erscheint es dagegen für uns als Zeitgenossinnen und Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts geradezu als eine produktive Herausforderung. Statt sich im Rahmen von Übertragbarkeit, Äquivalenz oder gar Universalität der kulturellen, politischen oder auch wissenschaftlichen Begrifflichkeit zu bewegen, sind vielmehr Übertragungshindernisse produktiv zu machen. Nicht zuletzt auf der Ebene kultureller wie politischer Leitbegriffe und Praktiken erweisen sich hier Differenzen für die Analyse transna-tionaler und transkultureller Prozesse als fruchtbar. Hierauf jeden-falls weisen die neueren Einsichten des gegenwärtigen »translational turn« hin,3 der dabei auch ein dringliches Desiderat markiert, wel-ches in der begriffsgeschichtlichen Forschung zwar diskutiert, aber bisher noch zu wenig berücksichtigt worden ist: die Notwendigkeit differenzierend vergleichender Untersuchungen im Feld der politi-schen Sprache und der politischen Leitbegriffe.

Einer der besten Kenner der politischen Sprache und politischen Theorie im frühneuzeitlichen England, John Pocock, hat versucht, eine grundlegende Differenz zwischen dem englischen Diskurs und den kontinentaleuropäischen Diskursen zu umreißen. Er spricht für das 17. und 18. Jahrhundert in England von einem »paradigm of civic humanism and republicanism« im Unterschied zu einem »law and state centered paradigm« des politischen Diskurses auf dem europäischen Kontinent. Nach kontinentaleuropäischem Mus-ter sei Politik nahezu ausschließlich in juristischen Kategorien und Denk figuren gefasst. Sie sei einer obrigkeitlichen Vorstellung vom Rechts staat als dem entscheidenden ordnungsstiftenden Garanten bürgerlicher Freiheiten verhaftet gewesen und habe diese Freihei-ten selbst nur negativ definiert, als Freiheit von Staat und Politik. Dagegen hält Pocock die Normen und Vorstellungen des »civic humanism«. Dieser lebt von aktiven, konfliktbereiten, politischen

3 Vgl. hierzu Doris Bachmann-Medick, Translational Turn, in: dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2010, S. 238-283.

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Bürgern, die Herrschaft nur in dem Maße anerkennen müssen, wie sie an ihr aktiv teilhaben.4

Worum es hierbei geht, soll im Folgenden an Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society, erschienen in Edinburgh 1767, gezeigt werden, einem der klassischen Werke des schotti-schen Civic humanism.5 In zeitgenössischer deutscher Überset-zung hieß der Titel Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft.6

Zunächst soll hier Fergusons Verständnis von »civil society«, d.h. »Bürgerlicher Gesellschaft« diskutiert werden. Ferguson meint aus drücklich nicht die sich vom Feudalismus emanzipierende, wa-renproduzierende und »zivilisierte« neuzeitliche »Bürgerliche Ge-sellschaft«, d.h. die neuzeitliche Gesellschaft des Bürgertums, wenn er von »civil society« spricht. »Bürgerliche Gesellschaft« bedeutet für ihn eine politisch-moralische Norm, deren Verwirklichungs-chancen in den unterschiedlichsten Gesellschaften er kritisch zum Gegenstand seiner »history« macht, nicht hingegen einen fakti-schen gesellschaftlichen Zustand, der historisch auf eine bestimmte Gesellschaftsformation einzugrenzen wäre und sei es auf die in sei-ner Zeit entstehende Gesellschaft des Bürgertums. Diese Gesell-schaft bezeichnet Ferguson vielmehr als »commercial society« oder »polished society«, doch gerade nicht als »civil society«.

Wenn Ferguson von »civil society« spricht, dann tut er dies nicht als ein Geburtshelfer und Parteigänger der neuzeitlichen Bourgeois-Gesellschaft, sondern als Vertreter der klassischen Poli-tiktradition und des Republikanismus antik-humanistischer Prove-nienz. Es klingt für eine immer noch im Bann des 19. Jahrhunderts stehende, durchaus unhistorische Perspektive von heute paradox –

4 John G.A. Pocock, Virtues, Rights and Manners. A Model for Historians of Political Thought, in: ders., Virtue, Commerce and History. Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1985, S. 37-51.

5 Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft [1767], hg. u. eingeleitet v. Zwi Batscha/Hans Medick, Frankfurt a. M. 1986; neueste englische Ausgabe: Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society, hg. u. eingeleitet v. Fania Oz-Salzberger, Cambridge 1995.

6 Ders., Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft [übersetzt v. Christian Friedrich Jünger], Leipzig 1768.

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aber eine »Bürgerliche Gesellschaft« ohne bestimmende Rolle der neuzeitlichen Bourgeoisie, das lag für Ferguson als Zeitgenossen des anglo-schottischen 18. Jahrhunderts nicht nur im Bereich des historisch Vorstellbaren. Sie war vielmehr eine explizite kritische Norm seines »Versuchs«. Denn er hat mit seiner Vorstellung von »bürgerlicher Gesellschaft« sehr viel eher eine Gesellschaft politi-sierender Bürger nach dem Modell der griechi schen Polis oder der altrömischen Republik im Auge als jenes »System der Be dürfnisse« der arbeitenden und besitzenden bürgerlichen Privatpersonen, das Hegel im berühmten zweiten Abschnitt »Die bürgerliche Gesell-schaft« seiner Philosophie des Rechts (1821) behandelt.

Die Wirklichkeit dieser »bürgerlichen Gesellschaft« Hegels wird gerade aus ihrer systematischen Differenz und Entfernung zu den übergeordneten Institutionen von Staat und Politik bestimmt. Wenn dagegen Ferguson in seinem Essay schreibt: »It is in conducting the affairs of civil society that mankind find the exercise of their best talents, as well as the object of their best affections«,7 dann meint er eindeutig nicht die »Geschäfte« einer in seiner Zeit und Gesellschaft im Entstehen begriffenen Kommerzgesellschaft. Diese steht für ihn als »polished society« durchaus auch im Blickpunkt seines sozialwis-senschaftlichen und moralphilosophischen Interesses; sie zeichnet sich seiner Auffassung nach aber gerade dadurch aus, dass sie von der wahren »civil society« unterschieden ist. In dieser werden die »Ämter und Würden« weder durch ökonomisch mächtige Bour-geois, noch durch eine sachverständige und spezialisierte staatliche Bürokratie wahrgenommen, sondern vielmehr durch die aktive, kon-fliktbereite und affektive Teilnahme der politischen Bürger selbst.

Fergusons Vorstellung von »civil society« hat mit dem Begriffsver-ständnis von »Bürgerlicher Gesellschaft« nur wenig gemeinsam, wie es in der deutschen Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zum Thema wurde. Deut-lich zeigt sich dies schon an den Übersetzungen von Fergusons Schriften, insbesondere der seines Essay. Dieser Text wurde zwar schon ein Jahr nach seinem Erscheinen in England ins Deutsche

7 Ders., Civil Society, hg. v. Oz-Salzberger, Pt. III, Sect. IV, S. 149.

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übertragen und publiziert,8 doch erfolgte die Übersetzung, wie Fa-nia Oz-Salzberger aufgezeigt hat,9 gleichzeitig auch als ein Akt der Entpolitisierung. Fergusons politische Terminologie, die dem Enga-gement des politisch aktiven Bürgers das Wort redete, wurde in ein Vokabular unpolitischer pietistischer Innerlichkeit transformiert. Politische »Öffentlichkeit« wurde hier als lesendes Publikum oder gar als »Staat« missverstanden, der »public spirit« des aktiven Bür-gers zum »Geist« eines lesenden »Publikums« transformiert.10 »The ideas transforming these terminologies were often indiffe-rent or even hostile to political activism, or more generally to the significance of society as a polity.«11 Hier wurde in einem Akt der Übersetzung ein Konzept von »Bürgerlicher Gesellschaft« mit vor-bereitet, das diese als eine vom Staat geschiedene und doch von ihm abhängige, vom Staat halb freigelassene und doch gleichzeitig von ihm begrenzte und beherrschte Sphäre des ökonomischen und geselligen Verkehrs »staatsbürgerlicher« Untertanen und Privat-eigentümer entwarf. Wie verschiedentlich gezeigt wurde, war der »politische Bürger« antiker Provenienz im deutschen Diskurs über die »Bürgerliche Gesellschaft« bereits im 18. Jahrhundert weitge-hend verschwunden, längst vor dem Zeitpunkt, als dieser deutsche Diskurs bei Hegel auf seinen modernen theoretischen Begriff ge-bracht wurde, wie er die Vorstellungen von »Bürgerlicher Gesell-schaft« in Deutschland bis heute prägt.12

8 Ders., Versuch über die Geschichte. 9 Fania Oz-Salzberger, Translating the English Enlightenment. Scottish Civic

Discourse in Eighteenth Century Germany, Oxford 1995, S. 138-166.10 Ebd., S. 156f.11 Ebd., S. 157.12 Vgl. Manfred Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, in: Otto Brunner/Werner

Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 719-800; Michael Stolleis, Untertan – Bürger – Staatsbürger. Bemerkungen zur staatsrechtlichen Terminologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklä-rung, Heidelberg 1988, S. 65-99; Paul-Ludwig Weinacht, Staatsbürger – Zur Geschichte und Politik eines politischen Begriffs, in: Der Staat 8 (1969), S. 41-63; vgl. unter gleichem Titel in: Archiv für Begriffsgeschichte 14 (1970), S. 130-132.

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Kennzeichnend für die Besonderheit dieses deutschen Diskurses über »Bürgerliche Gesellschaft« scheint nicht in erster Linie – wie viel fach angenommen – die formal-begriffliche Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft seit dem Ende des 18. Jahrhun-derts zu sein, sondern vielmehr die frühzeitige »Verstaatlichung« und »Verrechtlichung« des Bürgers. Denn rein terminologisch blieb im deutschen Sprachgebrauch von »Bürgerlicher Gesell-schaft« die traditionelle aristotelische Identifikation der societas civilis mit dem »Staat« (civitas) bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zwar erhalten. Doch zeigt sich eine wichtige Wandlung im Inhalt des Begriffs. Die Gleichsetzung von »Bürgerlicher Gesellschaft« und »Staat« bzw. »Politik« verwies im Sprachgebrauch der Antike sowie in seiner Rezeption im politischen Humanismus Englands und Amerikas im 17. und 18. Jahrhundert auf die aktive Teilnahme aller Bürger an Politik und Machtausübung. Diese aktive Teilhabe der Bürger wurde als das Lebenselement wahrer »Bürgerlicher Gesell schaft«, d.h. »civil society« begriffen. In der deutschen poli-tischen Sprache überwog dagegen eine stark rechts- und staats-wissen schaftlich geprägte Argumentationsweise. Auf deren beson-dere Charakteristika hat John Pocock treffend hingewiesen:

»Law, one may generalize, is of the empire rather than the re-public. […] If the citizen acquires libertas, he acquires freedom of the city. […] But the libertas of this bourgeois is not enough to make him a citizen in the Greek sense of the word, of one who rules and is ruled.«13

Der Vorrang der Sphäre des Staates verweist im stark vom Rechts- und Gesetzesdenken geprägten deutschen Diskurs über »Bürger-liche Gesellschaft« auf gänzlich andere Verhältnisse, als sie dem anglo-schottischen und amerikanischen Civic humanism zugrun-delagen, dem auch Adam Ferguson zuzurechnen ist. Der Bürger der »Bürgerlichen Gesellschaft« war in der deutschen politischen Sprache bereits im 17. Jahrhundert zur »politisch macht losen Kunstfigur« geworden. Sein politischer Spielraum war auf die rechtliche Sicherung vor staatlicher Willkür und auf die Sicherung rechtlicher Verhältnisse des bürgerlichen Verkehrs der Privateigen-

13 Pocock, Virtues, Rights and Manners, S. 40.

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tümer der Wirtschafts- und Kultursubjekte durch den Staat be-grenzt. Bürgerliche Freiheit wurde von oben durch Handlungen eines aufgeklärten Staates hergestellt. Auch die terminologische Erhebung des »Untertanen« zum »Staatsbürger« seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veränderte diese Situation nicht grund-legend. Begrenzt blieben auch die Versuche aufgeklärter Reformer, meist Partei gänger eines »aufgeklärten Absolutismus«, den durch Besitz und Standesrechte bevorrechtigten Teil der Untertanen des »fürstlichen Territorialstaats« als »Staatsbürger« auf den Weg zu einer »politischen Gesellschaft« des Bürgertums zu bringen. Die Versuche, die »Staatsbürger« zu Teilnehmern einer politischen Ge-sellschaft zu machen, entsprachen primär den Interessen eines »Amts-«, »Beamten-« bzw. »Dienstleistungsbürger tums«, das den »Bürger« dagegen als »Staatsbürger« oder »Untertanen« in einer politisch passiven Rolle belassen wollte. Der »Staatsbürger« deut-scher politischer Provenienz entsprach bis ins 19. und 20. Jahrhun-dert hinein zumeist keineswegs dem französischen citoyen und schon gar nicht dem englischen citizen:

»Das Tätigsein, das dem Begriff des citoyen actif innewohnt«, so hat Paul-Ludwig Weinacht treffend festgestellt, »ist völlig abge-drängt – in den privaten Bereich von Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur; hier wird aber nicht der citoyen, sondern der Bourgeois tätig. Das Selbstbewußtsein des ›Staatsbürgers‹ in diesem Sinne wird geprägt durch das Gesetzförmige, Nicht-Polizei-Widrige seines Handels und Wandels, nicht durch ein mögliches politi-sches Engagement im Rahmen der Verfassung.«14

Aus dem Vergleich mit dem anglo-schottischen Civic humanism ergibt sich also ein durchaus unterschiedliches Verständnis von »Bürger« und »Bürgerlicher Gesellschaft« in Deutschland. Es er-fordert die Korrektur einer nach wie vor einflussreichen Interpre-tation, wie sie von der Heidelberger begriffsgeschichtlichen Schule im Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe in die Welt gesetzt wurde. Die terminologische Wende im deutschen Begriff von

14 Weinacht, Staatsbürger, S. 58, Anm. 80. Vgl. hierzu auch den scharfsinnigen deutsch-französischen Vergleich bei Rudolf von Thadden, Bürgerlich, in: Robert Picht u.a. (Hg.), Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München/Zürich 1997, S. 68-71.

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»Bürgerlicher Gesellschaft«, die seit dem Ausgang des 18. Jahrhun-derts – zuerst bei dem Göttinger Staatswissenschaftler und Profes-sor für Universalgeschichte August Ludwig von Schlözer15 – in der begrifflichen Trennung der »Bürgerlichen Gesellschaft« vom Staat als einer »societas civilis cum imperio« erfolgte, ist keineswegs als Anzeichen dafür zu verstehen, dass sich die Verhältnisse grundle-gend gewandelt hatten und sie gar eine bürgerliche Emanzipation in Deutschland ankündigten. Sie ist eher als terminologisches wie machtpolitisches Fazit vorangegangener Entwicklungen zu werten und deutet auf eine Kontinuität und Weiterentwicklung der älteren Machtstrukturen, Herrschaftspraktiken und Ideologien des Amts-, Beamten- und Dienstleistungsbürgertums angesichts der neuen Herausforderung durch die Französische Revolution hin. Das Ver-ständnis von »Bürgerlicher Gesellschaft« war und blieb, wie Rein-hard Blänkner überzeugend aufzeigt hat, lange Zeit ständisch ge-prägt.16 »Bürgerliche Gesellschaft« in der deutschen Sprache blieb zudem stets ein Begriff, der sich vom Staat her und im Hinblick auf den Staat und auf dessen Gewährleistung von Recht und Sicher-heit definierte. Es war eine solche Perspektive, die Hegels Sicht von »bürgerlicher Gesellschaft« prägte: »Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates er-folgt; denn als die Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muss, um zu bestehen.«17

Ganz anders bei Ferguson und der von der antiken Politiktradi-tion inspirierten Diskussion der Moral- und Sozialwissenschaften im Schottland des 18. Jahrhunderts, dem Ferguson als zugleich konservativster und in bestimmtem Sinne aber auch radikalster

15 Zuerst in einem Artikel der von Schlözer herausgegebenen StatsAnzeigen 17 (1792), S. 354, und in seinem Allgemeinen StatsRecht, Göttingen 1793, S. 4 u. S. 63ff.; vgl. Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, S. 754f.

16 Reinhard Blänkner, Strukturwandel der politischen Verfassung als politisch-soziale Integration der neuständischen Gesellschaft, in: Ungleichheiten. 47. Deutscher Historikertag Dresden 2008, hg. im Auftrag des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands v. Martin Jehne, Göttingen 2009, S. 218-222.

17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 14: Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss, T. 1, hg. v. Klaus Grotsch, Hamburg 2009, § 182, Zusatz.

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Vertreter angehörte: Hier war die Frage nach dem Ort des Bürgers in der Gesellschaft seiner Zeit nicht von vornherein im Sinne der Trennung der staatlich-politischen Sphäre von der des bürgerli-chen Verkehrs vorentschieden. Zwar konstatierte auch Ferguson eine Trennung von Staat und Gesellschaft, von citoyen und bürger-lichem Individuum im neuzeitlichen Europa. Er sah und beschrieb diese Trennung als Folge der Herausbildung großer Territorialstaa-ten, der Verhöflichung und Verrechtlichung des Kriegs nach Maß-gabe ritterlicher Normen und vor allem einer zunehmenden ge-sellschaftlichen Arbeitsteilung. Diese »division of labour« war für ihn das Lebensprinzip der »polished« oder »commercial societies«:

»In the modern nations of Europe, where extent of territory ad-mits of a distinction between the state and its subjects, we are accustomed to think of the individual with compassion, seldom of the public with zeal. We have improved on the laws of war, and on the lenitives, which have been devised to soften its rig-ours; we have mingled politeness with the use of the sword, we have learned to make war under the stipulations of treaties and cartels and trust to the faith of an enemy whose ruin we medi-tate. […] This is perhaps the principal characteristic, on which among modern nations, we bestow the epithets of civilized or of polished.«18

Ferguson unterschied sehr genau zwischen einem ursprünglichen, dem antiken Sprachgebrauch entlehnten Verständnis von »pol-ished« und »civilized« und einem modernen, entpolitisierten Ver-ständnis, das den Wortsinn beider Begriffe auf die Sphäre der Ar-beit, des Handels, der Bildung und des gesellschaftlichen Umgangs festlegte:

»The term polished, if we may judge from its etymology, origi-nally referred to the state of nations in respect to their laws and government and men civilized were men practised in the duty of citizens. In its later applications, it refers no less to their profici-ency in the liberal and mechanical arts, in literature and in com-

18 Ferguson, Essay, hg. v. Oz-Salzberger, Pt. III, Sect. IV, S. 190.

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merce; and men civilized are scholars, men of fashion and traders.«19

Fergusons eigener Begriff von »Zivilisiertheit« hält in aller Deut-lichkeit am ursprünglich politischen Begriff fest: »Civilization […] both in the nature of the thing and derivation of the word, belongs rather to the effects of law and political establishment, on the forms of Society, than to any state merely of lucrative possession or wealth.«20 Angesichts der auch im Englischen entpolitisierten zeitgenössischen Verwendung des Terminus »civilization« ist es bemerkenswert, dass Ferguson den Begriff »Civil Society« für den Titel seines Essays wählte. Den Essay einfach als eine »Geschichte der Zivilisation« zu bezeichnen, hätte die wichtigsten Fragen, die Ferguson aufwerfen wollte, einfach umgangen. Schließlich war es seine Absicht, nach den Kriterien wahrer politischer Zivilisation im ursprünglichen, klassischen Sinn des Wortes zu fragen, und zwar in den unterschiedlichsten Gesellschaften, nicht nur in denen sei-ner eigenen Zeit. »Civil Society« hatte die politischen ebenso wie die weiteren Konnotationen, die den Termini »civilization« und »society« gerade fehlten. »Civil Society« im Titel des Essay ver-weist somit auf Fergusons Absicht, zu untersuchen, ob und inwie-fern die von ihm als verbindlich und verpflichtend anerkannten Normen des politischen Bürgers antiker Provenienz auch unter den widerständigen Bedingungen des »zivilisierten« Fortschritts der modernen Gesellschaft zum Tragen gebracht werden könnten.

Fergusons Perspektive des Civic humanism ermöglichte also, auch die Strukturprobleme der zeitgenössischen »polished« oder »commercial society« durchaus kritisch zu erfassen.21 Ferguson hatte die ökonomischen Einsichten eines Adam Smith und die zivi-lisationskritische Perspektive eines Jean-Jacques Rousseau. Im Zu-sammenbringen beider – vor allem in seiner zukunftsgerichteten Kritik an den Prozessen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ar-

19 Ders., Essay, hg. v. Oz-Salzberger, Pt. V, Sect. I, S. 195. Hier zitiert nach der Version der 2. Auflage von 1768.

20 Ders., Principles of Moral and Political Science, 2 Bde., Edinburgh 1792, Bd. 1, S. 252.

21 Siehe hierzu Zwi Batscha/Hans Medick, Einleitung, in: Ferguson, Versuch, S. 7-91, bes. S. 76ff.

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beitsteilung seiner Zeit und deren möglicher Fortschritte wie Grenzen22 – ging er über Smith und Rousseau hinaus.

Es ist bemerkenswert, dass gerade dieses in den politischen Kul-turen Großbritanniens und Amerikas im 17. und 18. Jahrhundert entstandene und von Adam Ferguson auf den Begriff gebrachte Verständnis von »Civil Society« als einer Gesellschaft, die von der politisch aktiven und konfliktbereiten Teilhabe ihrer Bürger und Bürgerinnen gestaltet wird, seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahr-hunderts weltweit erneut in den Vordergrund getreten ist. »Civil Society« – und in seiner deutschen Übertragung: »Zivilgesellschaft« – wurde seit dem Ende der 1980er Jahre zu einem neuen Leitbegriff, nicht nur politischer Debatten, sondern gesellschaftlicher Bewegun-gen in zahlreichen Ländern und Gesellschaften der Welt.23

Diese Debatten und Bewegungen reichten und reichen von Ost- und Westeuropa bis nach Lateinamerika, Afrika und Asien. Insbe-sondere Indien, als die größte parlamentarische Demokratie der Welt, wird in Gesellschaft und Politik zunehmend von den Bewe-gungen der »Civil Society« geprägt.24 Angesichts der Größe und Vielfalt der indischen Gesellschaft und des auf 20.000 bis 30.000 aktive Gruppen geschätzten Umfangs der »Civil Society« in die-

22 Diese Kritik wurde von mir, unter Hinzuziehung und teilweiser Publikation des bis dahin unveröffentlichten Manuskripts Fergusons »Of the Separation of Departments, Professions and Tasks Resulting from the Progress of Arts in Society«, des Näheren behandelt in: ebd., S. 81-91.

23 Siehe John Keane, Civil Society, Definitions and Approaches, in: Helmut K. Anheier/Stefan Toepler (Hg.), International Encyclopedia of Civil Society, Berlin 2010; Sudipta Kaviraj/Sunil Khilnani (Hg.), Civil Society. History and Possibilities, Cambridge 2003; Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier/Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Ge-schichte, Chancen, Frankfurt a. M. 2000, S. 13-40.

24 Siehe hierzu besonders die verschiedenen Arbeiten von Neera Chandhoke, u. a. dies., State and Civil Society. Explorations in Political Theory, 3. Aufl., New De-lhi 2000; dies., The Conceits of Civil Society, Delhi 2003; Shalini Randeria, Ent-angled Histories. Civil Society, Caste Solidarities and Legal Pluralism in Post-Colonial India, in: John Keane (Hg.), Civil Society – Berlin Perspectives, New York/Oxford 2006, S. 213-243; zur politischen Einhegung des »Zivilitätsdiskur-ses« im kolonialen Indien vgl. Margrit Pernau, An ihren Gefühlen sollt Ihr sie erkennen. Eine Verflechtungsgeschichte des britischen Zivilitätsdiskurses (ca. 1750-1860), in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 249-281.

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sem Land stellt sich allerdings auch die Frage nach den Grenzen ihrer Wirkungsmöglichkeiten und der Notwendigkeit kontinuier-licher Leistungen des staatlich-politischen Bereichs und deren de-mokratischer Kontrolle neu.25 Im Vergleich zu solchen Notwendig-keiten einer »multi-level-governance« (Shalini Randeria) scheinen die Organisationsprobleme zivilgesellschaftlicher Politik in den kleinen Gesellschaften Ost- und Westeuropas relativ gering. Doch selbst hier stellt sich angesichts der weithin empfundenen Krise des Repräsentativsystems und der es tragenden Parteien und etab-lierten politischen Eliten die Frage nach den vermehrten Möglich-keiten demokratisch-zivilgesellschaftlicher Politik, aber auch nach ihren Grenzen, neu.

Der Begriff »Zivilgesellschaft« ist jedenfalls eine Gelenkstelle für derartige, differenzierende Kulturen übergreifende Vergleiche – sehr viel eher als der Begriff der »Bürgergesellschaft«, der einen leicht antiquierten Geruch verströmt.26

Die Protagonisten der neuen »Zivilgesellschaft« verfolgen das Ziel, nicht nur politische Institutionen und Herrschaftsträger in den betreffenden Ländern für Forderungen der neuen gesellschaft-lichen Bewegungen zugänglich zu machen und neue Formen de-mokratischer Kontrolle und öffentlicher Verhandlung zu praktizie-ren. Ziel ist ebenfalls, die globale Wirtschaftsmacht, insbesondere die informelle Herrschaft multinationaler Konzerne und wirt-schaftlicher Herrschaftsträger, einer stärkeren öffentlichen Kont-rolle zu unterwerfen. Bei den gleichzeitigen Versuchen einer histo-rischen Vergewisserung und theoretischen Grundlegung der »Civil Society« wird Fergusons Text regelmäßig als Vorläufer erwähnt. Doch sein Text selbst spielt dabei keine zentrale Rolle. Gleichwohl ist dessen politische Erbschaft in den vielfältigen Konzepten und Projekten von »Zivilgesellschaft« lebendig aufgehoben, die zu Be-ginn des 21. Jahrhunderts neue Entwürfe gesellschaftlicher Selbst-organisation und Praktiken nicht-institutionalisierten demokrati-schen Handelns weltweit auf den Weg bringen.

25 Neera Chandhoke, Putting Civil Society in its Place, in: Economic and Political Weekly (Mumbai) 44 (2009), S. 12-16.

26 Eine auf deutsche Webseiten bezogene Recherche auf google.de am 9.8.2010 ergab für den Begriff »Zivilgesellschaft« 342.000 Ergebnisse, für den Begriff »Bürgergesellschaft« 142.000 Ergebnisse.

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