BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/17240 21. Wahlperiode 24.05.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Carola Ensslen (DIE LINKE) vom 17.05.19 und Antwort des Senats Betr.: Widersprüche beim Jobcenter team.arbeit.hamburg – Lange Wartezei- ten für Betroffene Beim Jobcenter t.a.h. geht eine Vielzahl von Widersprüchen ein, was zu Überlastung und Überforderung zu führen scheint. Widersprüche können daher bei Weitem nicht innerhalb der gesetzlich als angemessen geltenden dreimonatigen Frist (nach § 88 Absatz 2 SGG) bearbeitet werden. Eine Überschreitung dieser Frist räumt den Betroffenen das Recht auf Untätig- keitsklage vor dem Sozialgericht ein. Dementsprechend bleibt Arbeit, die vom Jobcenter nicht geschafft wird, nicht nur unerledigt, sondern verursacht zusätzliche Arbeit für das Sozialgericht. Besonders problematisch ist dabei, dass trotz des eingelegten Widerspruches und gegebenenfalls einer anschließenden Klage der ALG-II-Bescheid vorläufig gültig ist. Da der Wider- spruch in der Regel keine aufschiebende Wirkung hat (§ 39 SGB II), sind die Betroffenen über einen unrechtmäßig langen Zeitraum mit den Konsequen- zen eines womöglich fehlerhaften Bescheids konfrontiert. In existenziellen Notsituationen sind die Betroffenen darauf angewiesen, einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b SGG beim Sozialgericht zu beantragen. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Bei der Bewertung der Zahl der Widerspruchs- und Klagverfahren sind Entwicklungen wie insbesondere die Anzahl von Leistungsberechtigten, die Komplexität und Ver- ständlichkeit des Leistungsrechts sowie die Mitwirkung der Leistungsberechtigten zu berücksichtigen. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen teilweise auf Grundlage von Auskünften von Jobcenter team.arbeit.hamburg (Jobcenter) und der Agentur für Arbeit Hamburg (AA) wie folgt: 1. Wie hoch war die Zahl der Widersprüche gegen Entscheidungen der Jobcenter in Hamburg in den Jahren 2016, 2017, 2018 und 2019? Bitte für 2016, 2017 und 2018 zusätzlich einen vergleichbaren Zeitraum angeben (jeweils Januar bis April). a. Über wie viele dieser Widersprüche ist in diesen Zeiträumen jeweils nicht innerhalb der Drei-Monats-Frist entschieden worden? b. Bei wie vielen davon ist die Frist jeweils um bis zu drei, über drei – sechs Monate und um mehr als sechs Monate überschritten wor- den? c. Wie war beziehungsweise ist jeweils die durchschnittliche Bearbei- tungszeit von Widersprüchen?
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BÜRGERSCHAFT
DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/1724021. Wahlperiode 24.05.19
Schriftliche Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Carola Ensslen (DIE LINKE) vom 17.05.19
und Antwort des Senats
Betr.: Widersprüche beim Jobcenter team.arbeit.hamburg – Lange Wartezei-ten für Betroffene
Beim Jobcenter t.a.h. geht eine Vielzahl von Widersprüchen ein, was zu Überlastung und Überforderung zu führen scheint. Widersprüche können daher bei Weitem nicht innerhalb der gesetzlich als angemessen geltenden dreimonatigen Frist (nach § 88 Absatz 2 SGG) bearbeitet werden. Eine Überschreitung dieser Frist räumt den Betroffenen das Recht auf Untätig-keitsklage vor dem Sozialgericht ein. Dementsprechend bleibt Arbeit, die vom Jobcenter nicht geschafft wird, nicht nur unerledigt, sondern verursacht zusätzliche Arbeit für das Sozialgericht. Besonders problematisch ist dabei, dass trotz des eingelegten Widerspruches und gegebenenfalls einer anschließenden Klage der ALG-II-Bescheid vorläufig gültig ist. Da der Wider-spruch in der Regel keine aufschiebende Wirkung hat (§ 39 SGB II), sind die Betroffenen über einen unrechtmäßig langen Zeitraum mit den Konsequen-zen eines womöglich fehlerhaften Bescheids konfrontiert. In existenziellen Notsituationen sind die Betroffenen darauf angewiesen, einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b SGG beim Sozialgericht zu beantragen.
Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat:
Bei der Bewertung der Zahl der Widerspruchs- und Klagverfahren sind Entwicklungen wie insbesondere die Anzahl von Leistungsberechtigten, die Komplexität und Ver-ständlichkeit des Leistungsrechts sowie die Mitwirkung der Leistungsberechtigten zu berücksichtigen.
Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen teilweise auf Grundlage von Auskünften von Jobcenter team.arbeit.hamburg (Jobcenter) und der Agentur für Arbeit Hamburg (AA) wie folgt:
1. Wie hoch war die Zahl der Widersprüche gegen Entscheidungen der Jobcenter in Hamburg in den Jahren 2016, 2017, 2018 und 2019? Bitte für 2016, 2017 und 2018 zusätzlich einen vergleichbaren Zeitraum angeben (jeweils Januar bis April).
a. Über wie viele dieser Widersprüche ist in diesen Zeiträumen jeweils nicht innerhalb der Drei-Monats-Frist entschieden worden?
b. Bei wie vielen davon ist die Frist jeweils um bis zu drei, über drei – sechs Monate und um mehr als sechs Monate überschritten wor-den?
c. Wie war beziehungsweise ist jeweils die durchschnittliche Bearbei-tungszeit von Widersprüchen?
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d. Wie viele der Widersprüche nach Ziffer 1. wurden von selbstständi-gen Leistungsbeziehern/-innen eingelegt? Wie stellt sich bei diesen die Zeitdauer bis zur Entscheidung über den Widerspruch nach Buchstaben a. bis c. dar?
2. Wie viele der Widersprüche in den Zeiträumen nach Ziffer 1. waren jeweils gegen Bescheide gerichtet, die
a. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben, zurücknehmen, widerrufen, entziehen,
b. eine Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsan-spruchs feststellen,
c. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regeln?
d. Wie stellen sich diesbezüglich jeweils die Fristüberschreitungen nach Ziffern 1. a. und b. sowie die durchschnittliche Bearbeitungs-dauer dar?
Siehe Anlage 1.
Im Übrigen werden die zur Beantwortung benötigten Daten nicht gesondert statistisch erfasst. Eine Einzelfallauswertung von rund 56 850 Leistungsakten ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.
e. Wie viele der Widersprüche gegen Bescheide nach den Buchstaben a. bis c. waren jeweils erfolgreich? Bitte auch die jeweilige Erfolgs-quote angeben.
Siehe Anlage 2.
Die dort aufgeführten Daten umfassen ganze oder teilweise Stattgaben. Bei den Statt-gaben handelt es sich vielfach auch um Fallkonstellationen, in denen erst im Wider-spruchsverfahren ergänzende Unterlagen seitens der Widersprechenden eingereicht wurden, die dann eine Stattgabe ermöglichten. Eine Aufklärung von Sachverhalten in Widerspruchsverfahren ist Wesensbestandteil dieser Verfahren. Eine hohe Anzahl von Stattgaben ist deshalb nicht per se ein Indiz für sachliche Fehleinschätzungen von Jobcenter.
Im Übrigen siehe Vorbemerkung.
f. Wie viele Klagen gegen ablehnende Widerspruchsbescheide zu den Gegenständen nach den Buchstaben a. bis c. gab es und wie viele waren davon jeweils erfolgreich? Bitte auch die jeweilige Erfolgs-quote angeben.
Siehe Anlagen 3 bis 10.
3. Wie viele Untätigkeitsklagen wurden in den Jahren 2016, 2017, 2018 und 2019 beim Sozialgericht eingereicht, weil über Widersprüche nicht fristgerecht entschieden wurde? Bitte für 2016, 2017 und 2018 zusätzlich einen vergleichbaren Zeitraum angeben (jeweils Januar bis April) und – soweit möglich – auch nach den Kriterien gemäß Ziffern 2. a. bis c. diffe-renzieren.
a. Wie lange hat es jeweils durchschnittlich gedauert, bis über die Kla-gen entschieden wurde?
b. Wie oft ist jeweils den Untätigkeitsklagen gegen Zeitüberschreitun-gen durch die Jobcenter in Hamburg stattgegeben worden? Bitte auch die Erfolgsquote angeben.
c. Wie lange hat es jeweils durchschnittlich insgesamt gedauert, bis die Kläger/-innen auf ihre Untätigkeitsklagen einen Bescheid erhal-ten haben?
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/17240
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Die Untätigkeitsklagen werden statistisch nicht gesondert erfasst. Aufgrund einer Datenbankauswertung aus dem Vorgangsverwaltungsprogramm des Sozialgerichts können die folgenden Eingangszahlen geliefert werden:
Zeitraum Jan. bis Apr. 2016
2016 Jan. bis Apr. 2017
2017 Jan. bis Apr. 2018
2018 Jan. bis Apr. 2019
Neuzugänge Untätigkeitsklagen
112 363 180 571 213 657 303
Darüber hinaus werden die zur weiteren Beantwortung benötigten Daten nicht geson-dert statistisch erfasst. Eine Einzelfallauswertung von rund 9 000 Akten ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.
4. Wie oft kam es 2016, 2017, 2018 und 2019 zur Einreichung eines Eilan-trags beim Sozialgericht? Bitte für 2016, 2017 und 2018 zusätzlich einen vergleichbaren Zeitraum angeben (jeweils Januar bis April) und – soweit möglich – auch nach den Kriterien gemäß Ziffern 2. a. bis c. differenzie-ren.
a. Wie lange hat es jeweils durchschnittlich gedauert, bis über die Eilanträge entschieden wurde?
SGB II-Verfahren (Einstweiliger Rechtsschutz) vor dem Sozialgericht
* Die Statistik wird vom Statistikamt Nord quartalsweise ausgewertet. Deshalb können die Daten für 2019 und für die entsprechenden Vergleichszeiträume nur jeweils für das 1. Quar-tal geliefert werden.
b. Wie oft ist diesen Eilanträgen jeweils stattgegeben worden? Bitte auch die Erfolgsquote angeben.
Siehe Anlage 11.
5. Wie hoch sind jeweils die durch Widersprüche und Untätigkeitsklagen entstandenen Kosten für das Jobcenter t.a.h. in den Jahren 2016, 2017, 2018 und 2019? Bitte für 2016, 2017 und 2018 zusätzlich einen ver-gleichbaren Zeitraum angeben (jeweils Januar bis April).
Die Kosten können nicht differenziert ausgewiesen werden. Mit der Bearbeitung von Widersprüchen und gerichtlichen Verfahren der ersten Instanz (Klagen und Eilverfah-ren) sind 70 Beschäftigte beziehungsweise 56,5 Vollzeitäquivalente befasst.
6. Wie hoch sind jeweils die beim Sozialgericht entstandenen Kosten in den Jahren 2016,2017, 2018 und 2019? Bitte für 2016, 2017 und 2018 zusätzlich einen vergleichbaren Zeitraum angeben (jeweils Januar bis April).
Aus der für die Sozialgerichte geführten Kosten- und Leistungsrechnung ergeben sich keine Teilwerte für einzelne Verfahrensarten. Aus diesem Grunde ist eine Beantwor-tung der Fragestellung nicht möglich.
7. Inwieweit hat sich die Trägerversammlung des Jobcenters t.a.h. mit den langen Bearbeitungszeiten von Widersprüchen befasst?
a. Wenn ja, wie soll gewährleistet werden, dass Widersprüche zukünf-tig in angemessener Frist bearbeitet werden?
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b. Inwieweit sind dahin gehende Reformen im Jobcenter t.a.h. geplant, dass sich die Qualität der Bescheide verbessert und so die Anzahl der Widersprüche reduziert wird?
Wenn ja, wie genau und wie wird überprüft und sichergestellt, dass dies zu Verbesserungen führt?
Wenn nein, warum unterbleiben solche Reformen?
c. Wenn nein, warum hat sich die Trägerversammlung nicht damit befasst und warum wurde beziehungsweise wird das Personal nicht aufgestockt? Wie wird die bewusste strukturelle Inkaufnahme des Überschreitens der Frist nach § 88 Absatz 2 SGG gerechtfertigt?
In der Trägerversammlung werden regelmäßig Ergebnisse der Fachaufsicht sowie Auswertungen zu Beschwerden, Petitionen und Eingaben von Jobcenter besprochen und mit Fragen des Qualitätsmanagements verknüpft. Diese beziehen sich gleicher-maßen auf fachlich-organisatorische Maßnahmen von Jobcenter (wie zum Beispiel Einarbeitungskonzepte für und Qualifizierung von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern, fachliche Spezialisierung innerhalb der Rechtsstelle, Beratung der Standorte seitens der Rechtsstelle und andere) sowie auch auf die Frage der Verbesserung der Verständlichkeit der Bescheide.
So erfolgt die Bescheiderteilung in der Regel mit vorgegebenen bundesweiten Text-vorlagen. Die Zentrale der Bundesagentur für Arbeit stellt ein umfangreiches Angebot an zentralen Vorlagen zur Verfügung, die regelmäßig aktualisiert und qualitätsgesi-chert werden
Zusätzlich erhielt die Rechtsstelle 2019 eine Personalaufstockung um zwei Mitarbei-terkapazitäten. Dies ist insbesondere auch vor dem Hintergrund komplexer leistungs-rechtlicher Anforderungen im Kontext von Flucht und Asyl erfolgt.
Im Übrigen siehe Vorbemerkung.
8. Wie viel Personal arbeitet derzeit im Jobcenter team.arbeit.hamburg an der Bearbeitung von Widersprüchen? Bitte in Personen und VZÄ ange-ben.
Siehe Antwort zu 5.
9. Wie hoch ist jeweils das aktuelle Budget von Jobcenters t.a.h. und BAS-FI für das Personal in den Jobcentern?
a. Wie hoch sind jeweils aktuell die tatsächlichen Personalkosten?
b. Falls das Budget nicht vollständig ausgeschöpft wird, ist geplant, die ungenutzten Mittel zeitnah für Personal einzusetzen?
c. Um wie viele VZÄ müsste das Personal aufgestockt werden, um in der Regel über Widersprüche in der nach § 88 Absatz 2 SGG angemessenen Frist zu entscheiden? Welche zusätzlichen Kosten würden hierdurch entstehen?
Die Personalausstattung von Jobcenter wird durch einen Kapazitätsplan bestimmt, der jährlich für das Folgejahr durch die Trägerversammlung beschlossen wird und alle Aufgaben- und Leistungsbereiche von Jobcenter berücksichtigt. Für 2019 sind im Verwaltungsbudget für Personalkosten rund 143 485 000 Euro vorgesehen. Dies Budget umfasst alle Beschäftigten der beiden Träger (Bund, Kommune).
Jobcenter ist bestrebt, alle im Kapazitätsplan seitens der Träger ausgewiesenen und genehmigten Kapazitäten durchgehend besetzt zu halten und gegebenenfalls schnellstmöglich nachzubesetzen.
Die Anzahl der Widersprüche wird kontinuierlich überwacht und auf die Entwicklung wird mit vorübergehenden oder strukturellen Personalveränderungen reagiert.