B ionik ist eine junge Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen Biologie und Technik, die unsere Erkennt- nisse über die funktionellen Leistungen der Organis- men und das technologische Wissen zusammenführt. Die Grundidee ist, vom „Einfallsreichtum“ der Natur zu lernen und sie als Vorbild für die Technik zu nutzen. Bei der Bionik, einem Begriff, der 1960 erstmals auftauchte, steht das „Ler- nen der Technik von der Natur“ im Vordergrund. Daneben existiert aber auch eine andere Zielrichtung – nämlich biolo- gische Strukturen und Leistungen aus einer ingenieurmäßi- gen Perspektive besser zu verstehen. Dies veranlasste Werner Nachtigall, den Nestor dieser Wissenschaft in Deutschland, zwischen Bionik und Technischer Biologie zu unterscheiden [1,2]. Im internationalen Sprachgebrauch wird hingegen zu- nehmend von „Biomimetik“ gesprochen (siehe Kasten). Mit dem Begriff „Bionik“ wurde bewusst gemacht, was in- tuitiv längst Praxis war: Erfindungen des Menschen wurden sicherlich von Anfang an durch die Natur angeregt. Vom Be- ginn des ersten Werkzeuggebrauchs in der Altsteinzeit durch frühe Vertreter der Gattung Homo (H. rudolfensis, H. habilis) vor über 2 Millionen Jahren bis zum Einsetzen der techni- schen Evolution vor ca. 10000 Jahren lebten die Menschen in starker Abhängigkeit von ihrer Umwelt. Während dieser Phase nutzten die Menschen wenig veränderte und prozess- technisch kaum bearbeitete natürliche Materialien und Strukturen wie Stein, Holz, Knochen, Geweihe und Zähne. Dieser Zeitraum kann als eine Phase der „Low-Tech-Bionik“ bezeichnet werden. Mit den verbesserten Bearbeitungs- und Produktionsme- thoden, die den Beginn des technischen Zeitalters charakte- risieren, kam es zu einer immer stärkeren Abkoppelung tech- nischer Entwicklungen von der Natur. Gerade Linien und Naturwissenschaftliche Rundschau | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 177 ÜBERSICHT . Bionik, Biomimetik Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential An der Schnittstelle zwischen Biologie und Technik hat sich seit den 60er Jahren eine neue Wissenschaft etabliert, die an uralte Traditionen anknüpfen kann und mit Leonardo da Vinci, Galileo Galilei und D’Arcy Thompson berühmte Vorgänger hat. Heute befinden wir uns in der Phase der „High-Tech-Bionik“, zu der die Material- und Ingenieurwissenschaften, die Physik und die Biologie Entscheidendes beitragen. Anhand von Beispielen wird die Bandbreite aktueller bionischer Forschung vorgestellt. Thomas Speck, Freiburg, Christoph Neinhuis, Dresden Abb. 1. Wiesenbocksbart (Tragopogon pratensis) als Vorbild für die Konstruktion eines Fallschirms. – a. Makroaufnahme des Fruchtstandes. [Photo P. Leins]. – b. Skizzen von Sir G. Cayley. Aus [1] a b
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Bionik, Biomimetik - Naturwissenschaftliche Rundschau · B ionik ist eine junge Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen Biologie und Technik, die unsere Erkennt-nisse über die
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Bionik ist eine junge Wissenschaft an der Schnittstelle
zwischen Biologie und Technik, die unsere Erkennt-
nisse über die funktionellen Leistungen der Organis-
men und das technologische Wissen zusammenführt. Die
Grundidee ist, vom „Einfallsreichtum“ der Natur zu lernen
und sie als Vorbild für die Technik zu nutzen. Bei der Bionik,
einem Begriff, der 1960 erstmals auftauchte, steht das „Ler-
nen der Technik von der Natur“ im Vordergrund. Daneben
existiert aber auch eine andere Zielrichtung – nämlich biolo-
gische Strukturen und Leistungen aus einer ingenieurmäßi-
gen Perspektive besser zu verstehen. Dies veranlasste Werner
Nachtigall, den Nestor dieser Wissenschaft in Deutschland,
zwischen Bionik und Technischer Biologie zu unterscheiden
[1,2]. Im internationalen Sprachgebrauch wird hingegen zu-
nehmend von „Biomimetik“ gesprochen (siehe Kasten).
Mit dem Begriff „Bionik“ wurde bewusst gemacht, was in-
tuitiv längst Praxis war: Erfindungen des Menschen wurden
sicherlich von Anfang an durch die Natur angeregt. Vom Be-
ginn des ersten Werkzeuggebrauchs in der Altsteinzeit durch
frühe Vertreter der Gattung Homo (H. rudolfensis, H. habilis)
vor über 2 Millionen Jahren bis zum Einsetzen der techni-
schen Evolution vor ca. 10 000 Jahren lebten die Menschen
in starker Abhängigkeit von ihrer Umwelt. Während dieser
Phase nutzten die Menschen wenig veränderte und prozess-
technisch kaum bearbeitete natürliche Materialien und
Strukturen wie Stein, Holz, Knochen, Geweihe und Zähne.
Dieser Zeitraum kann als eine Phase der „Low-Tech-Bionik“
bezeichnet werden.
Mit den verbesserten Bearbeitungs- und Produktionsme-
thoden, die den Beginn des technischen Zeitalters charakte-
risieren, kam es zu einer immer stärkeren Abkoppelung tech-
nischer Entwicklungen von der Natur. Gerade Linien und
Bionik, Biomimetik Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential
An der Schnittstelle zwischen Biologie und Technik hat sich seit den 60er Jahren eine neue
Wissenschaft etabliert, die an uralte Traditionen anknüpfen kann und mit Leonardo da Vinci,
Galileo Galilei und D’Arcy Thompson berühmte Vorgänger hat. Heute befinden wir uns in der
Phase der „High-Tech-Bionik“, zu der die Material- und Ingenieurwissenschaften, die Physik
und die Biologie Entscheidendes beitragen. Anhand von Beispielen wird die Bandbreite
aktueller bionischer Forschung vorgestellt.
Thomas Speck, Freiburg, Christoph Neinhuis, Dresden
Abb. 1. Wiesenbocksbart (Tragopogon pratensis) als Vorbild für dieKonstruktion eines Fallschirms. – a. Makroaufnahme des Fruchtstandes.[Photo P. Leins]. – b. Skizzen von Sir G. Cayley. Aus [1]
a
b
Übersicht
rechte Winkel begannen, die in der Natur vorherrschenden
abgerundeten, gebogenen Strukturen abzulösen, da es durch
sie einfacher wurde, bestimmte Gegenstände und Bauten
mit gewünschten, möglichst identischen Eigenschaften her-
zustellen. Zudem ermöglichten sie es später, relativ einfache
Berechnungen im Bau- und Konstruktionsbereich vorzuneh-
men. Anstelle der in der Natur weit verbreiteten flexiblen und
weichen Gebilde schuf die Technik steife und starre Kon-
struktionen. Mit der Erfindung des Rades schließlich, das
kein Vorbild in der Natur hatte (die Bakteriengeißel als rotie-
rende Radstruktur wurde erst im 20. Jhdt. entdeckt), eröffne-
ten sich nie dagewesene Möglichkeiten für die Fortbewegung
und den Transport [3].
Ein entscheidender Technologiesprung war die Gewin-
nung und Nutzung von Metallen. Metalle, die in natürlichen
Konstrukten fast nicht vorkommen, wurden aufgrund ihrer
leichten Bearbeitbarkeit zu den wichtigsten technischen
Materialien, die in der Bronzezeit (in Mitteleuropa ca. 2200–
800 v. Chr.) und Eisenzeit (ca. 800 v. Chr. bis Zeitenwende) die
kulturelle und technische Entwicklung des Menschen we-
sentlich beeinflussten. In der Phase der Industrialisierung
wurde die Kenntnis der Metallverarbeitung eine Schlüssel-
technologie für die Entwicklung von Dampfmaschinen und
Verbrennungsmotoren, die bei hohen Temperaturen arbei-
ten. Auch dies war ein weiterer entscheidender Schritt einer
„Emanzipation“ von der Natur, denn die hocheffizienten
Energiegewinnungsprozesse der organismischen Welt laufen
bei normaler Umgebungstemperatur ab.
Diese wenigen Meilensteine verdeutlichen, wie es zu einer
fortschreitenden Entkopplung der technischen Entwicklung
von der natürlichen Umwelt gekommen ist, was auch neue
und andere Umweltbezüge einschließt. Da die Menschheit
aber trotz aller Fortschritte in die Umwelt eingebunden
bleibt, hat dies zu großen ökologischen Problemen geführt.
Die in den letzten Jahren systematisch einsetzende bioni-
sche/biomimetische Forschung kann als „High-Tech-Bionik“
bezeichnet werden. Sie versucht gezielt, biologische Vorgän-
ge, Strukturen und Funktionsweisen quantitativ zu erfassen
und in technische Anwendungen umzusetzen. Es sei betont,
dass auch die moderne „High-Tech-Bionik“ per se nicht zu
umweltverträglichen Produkten führen muss und kein All-
heilmittel für ökologische Probleme darstellt. Zumindest in
einigen Bereichen vermag sie aber, Alternativen zu bieten
und Produkte mit einer verbesserten Ökobilanz zu liefern.
Vorläufer und Pioniere der BionikLeonardo da Vinci (1452–1519) wird häufig als der histori-
sche Begründer der Bionik bezeichnet. In einer seiner be-
kanntesten Arbeiten hat er beispielsweise die Formverände-
rung von Vogelflügeln (Handschwingen beim Abschlag ge-
spreizt, beim Aufschlag sich überdeckend zusammengelegt)
funktionell analysiert [4, 5]. Ausgehend von diesen Beobach-
tungen und Analysen versuchte er, Schlagflügel für den
menschlichen Flug zu konstruieren, die jedoch aufgrund
biophysikalischer Randbedingungen nicht funktionieren
konnten (die Masse eines Menschen ist im Bezug auf seine
Muskelleistung viel zu groß). Erst eine Entkopplung der beim
Vogelflügel vorhandenen Doppelfunktion, durch die mit ei-
ner Struktur Auf- und Vortrieb erzeugt wird, in starre, dem
Auftrieb dienende Tragflächen und einen den Vortrieb erzeu-
genden Motor brachte vor nunmehr 100 Jahren den Durch-
bruch bei technischen Fluggeräten [6, 7]. Die große Zahl der
erfolglosen Versuche, den Vogelflug zu kopieren, stellt einen
eindrucksvollen Beleg dar für die Grenzen, die einer direkten
Kopie von der Natur in die Technik gesetzt sind (dennoch
scheint es prinzipiell möglich, einen menschlichen Schwin-
genflug zu realisieren; vgl. NR 2/2003, S. 65).
Der italienische Arzt und Mathematiker Giovanni Alfonso
Borelli (1608–1679) hat die technisch-experimentelle Analyse
der Fortbewegungsvorgänge von Tieren begründet, während
Sir George Cayley (1773–1857) biomimetische Methoden bei
der Konstruktion sich selbst stabilisierender Flugmodelle
und Fallschirme verwendete. Hierbei diente ihm die Feder-
flugfrucht des Wiesenbocksbarts (Tragopogon pratensis) als
Vorlage zur Konstruktion eines Fallschirms mit tief liegen-
dem Schwerpunkt und nach außen hochgezogener Trag-
fläche (Abb. 1). Auch Galileo Galilei (1564–1642) hat sich in
seinen Discorsi e dimonstrazioni matematiche von 1637 mit
dem mechanischen Aufbau von Pflanzen im Vergleich zu
technischen Konstruktionen beschäftigt [8, 9]; so zum Bei-
spiel mit der unter Belastung durch das Eigengewicht er-
reichbaren Maximalhöhe von Bäumen und Bauwerken.
Außerdem hat er am Beispiel des Getreidehalms und des
Schafts der Vogelfeder beschrieben, dass eine erhöhte Biege-
B I O N I K , B I O M I M E T I K , T E C H N I S C H E B I O L O G I E .
Bionik, Biomimetik (zusammengesetzt aus „Biologie“ und „Tech-nik“ bzw. „mimesis“ = Nachahmung): Umsetzung der Erkenntnisseaus der biologischen Forschung in technische Anwendungen. DerBegriff bionics wurde vermutlich 1960 von J. E. Steele geprägt, wo-bei bereits bei ihm das „Lernen der Technik von der Natur“ im Vor-dergrund stand. Der im internationalen Sprachgebrauch üblichereBegriff „Biomimetik“ (engl. biomimetics) entspricht im Wesentli-chen dem deutschen Bionik (engl. bionics) und findet auch imdeutschsprachigen Raum zunehmend Verbreitung. Bionik bestehtin den seltensten Fällen darin, natürliche Funktionsstrukturen di-rekt in technische Konstruktionen zu übertragen. In aller Regelhandelt es sich um ein über mehrere Abstraktions- und Modifika-tionsprozesse laufendes kreatives Umsetzen in die Technik, alsoum ein durch die Natur angeregtes „Neuerfinden“. Technische Biologie: Erforschung des Form-Struktur-Funktions-Zusammenhangs lebender Organismen unter der Verwendungphysikalischer und technischer Methoden. Dieser Begriff wurdevon Werner Nachtigall als komplementärer Begriff zur Bionik ein-geführt. Während es in der Bionik um einen (Erkenntnis-)Transfervon der Biologie in die Technik geht, findet in der Technischen Bio-logie ein (Methoden-)Transfer aus Physik und Technik in die biolo-gische Forschung statt. Ursprünglich wurde anstelle von „Techni-scher Biologie“ teilweise auch der Begriff „Biotechnik“ verwendet.Dieser ist als „Biotechnologie“ heute jedoch eindeutig mit mikro-und molekularbiologischen sowie biochemischen Inhalten belegtund sollte nur noch in diesem Sinne verwendet werden.
Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential
steifigkeit durch periphere Materialanordnung erreicht wird.
Im deutschsprachigen Raum war es vor allem Raoul Heinrich
Francé (1874–1943), der zu Beginn des letzten Jahrhunderts
den Gedanken des „Von der Natur lernen“ in einer Vielzahl
populärwissenschaftlicher Schriften einer breiten Öffentlich-
keit bekannt machte [10, 11]. Wie manch anderer seiner Zeit-
genossen hielt er es für möglich, die Konstruktionsprinzipien
der Natur naiv kopieren zu können. Bei seinen Betrachtun-
gen zur Übertragung in technische Anwendungen fehlten in
der Regel die Einbeziehung grundlegender funktioneller
Überlegungen und Dimensionsanalysen sowie quantitative
Untersuchungen von Struktur und Funktionsweise der „bio-
logischen Modelle“. Auch Alf Gießler hat bereits in seinem
1939 erschienenen, leider von nationalsozialistischer Ideolo-
gie getrübten Buch Biotechnik die Natur auf mögliche Anre-
gungen für technische Entwicklungen hin untersucht [12, 2].
Von den zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden For-
schern muss vor allem D’Arcy Wentworth Thompson (1860–
1948) Erwähnung finden. Er war der wohl wichtigste Vertre-
ter einer Forschungsrichtung, die man heute im Grenzgebiet
zwischen mathematischer, technischer und theoretischer
Biologie ansiedeln würde [13]. Thompson beschrieb in seinem
1917 erschienenen Werk On Growth and Form die physika-
lischen und mathematischen Aspekte einer Vielzahl von bio-
logischen Strukturen und (Formbildungs-)Prozessen in gera-
dezu genialer Weise [14]. Er vermied jedoch jegliche Kausal-
analyse und verzichtete zudem auf experimentelle Untersu-
chungen. Neben Überlegungen zum Zusammenhang von
Form, Struktur und mechanischer Effektivität bei Knochen,
Skelettkonstruktionen und Pflanzenachsen, hat sich Thomp-
son vor allem mit der mathematischen Beschreibung der
Form(bildung) bei Pflanzen und Tieren auseinander gesetzt.
Eine seiner bekanntesten Überlegungen zeigt, wie man
durch Cartesische Transformationen Formen ineinander
überführen und somit deren „Form-Verwandtschaft“ auf-
decken kann (Abb. 2).
Versuche, Lebewesen und ihre Funktionen mit physika-
lisch-technischen Methoden zu analysieren (Technische
Biologie) und andererseits „Lösungsvorschläge“ der Natur in
die Technik zu übertragen (Bionik/Biomimetik), blieben al-
lerdings bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts auf
vereinzelte Ansätze beschränkt und kamen nicht zu einer
breiten Anwendung.
Facetten der BionikWerner Nachtigall hat 1992 eine Unterteilung der Bionik
vorgeschlagen, die deutlich macht, wie viele Aspekte in diesem
Abb. 3. Von den natürlichen Vorbildern nicht beeinflusste Analogent-wicklungen der Technik. – a. Vielzwecktaschenmesser (mit Verstau-und Ausklapp-Prinzip). – b. Multifunktionelles Bein eines Stutzkäfers(Histeridae). – c. Saugnäpfe einer Seifenschale. – d. Saugnäpfe an denVorderbeinen eines männlichen Gelbrandkäfers. [Photos W. Nachtigall]
a b
c d
Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential
Wie bereits angedeutet, darf man nicht erwarten, dass die
Bionik prinzipiell die „natürlichere“, „umweltverträglichere“
Variante der Technik darstellt. Außerdem kann die Bionik –
wie jede Wissenschaft – auch missbraucht werden. Diese
Ambivalenz zeigt sich beispielsweise an den „Micro Air
Vehicles“ (MAV), „intelligente Kleinstflugobjekte“, die mit
Hilfe bionischer Methoden entwickelt werden. Sie können
vielfältigen zivilen Zwecken dienen (etwa im Brandschutz
oder bei der Überwachung von Vulkanen), aber auch eine
neue Dimension in kriegerische Auseinandersetzungen brin-
gen.
Ausgewählte Beispiele bionischer/biomimetischer ForschungFormoptimierung nach dem Muster wachsender Bäume
und Knochen
Ausgehend von Beobachtungen der (Wuchs-)Form von
Bäumen und anderer mechanisch stark belasteter natürli-
cher Strukturen wie Knochen hat sich Claus Mattheck vom
Institut für Materialforschung des Forschungszentrums
Karlsruhe mit den Gesetzmäßigkeiten ihrer Formgebung be-
schäftigt [17, 18]. Er konnte nachweisen, dass Strukturen bei
minimalem Materialeinsatz den Festigkeitsanforderungen
genügen, wenn auf ihrer Oberfläche überall gleiche Span-
nungen herrschen. Die Hypothese der konstanten Spannun-
gen wurde bereits 1893 von dem Förster K. Metzger für Fich-
tenstämme formuliert [19]. Eine solche „Bauvorschrift“ führt
dazu, dass bei Bäumen, Knochen, Zähnen und Krallen unter
Abb. 4. Natürliche Gestaltoptimierung führt bei Baumgabeln (Zwie-seln) zu einer günstigen Spannungsverteilung und zu Formen ohneKerbspannung. Die v. Mises-Spannung ist ein relatives Maß für dieSpannungsverteilung. Aus [18]
Übersicht
führten zu vergleichbaren Spindelformen, die selbst bei tur-
bulenter Umströmung einen sehr geringen Strömungswider-
stand besitzen [23, 24]. Besonders interessant ist, dass der
Rumpf beim schnellen Unterwasser-„Flug“ der Pinguine na-
hezu starr bleibt, während es bei Fischen hingegen zu ausge-
prägten seitlichen und bei Säugetieren zu starken vertikalen
Bewegungen der Wirbelsäule kommt. Das Vorhandensein ei-
nes beim Schwimmen starren Rumpfs bei den Pinguinen er-
leichtert eine Übertragung auf technische Strömungskörper.
Abgüsse der Körper verschiedener Pinguinarten führten bei
realitätsnaher turbulenter Umströmung zu sehr niedrigen
Widerstandsbeiwerten; an einem Zwergpinguin-Modell er-
gab sich ein Widerstandsbeiwert von lediglich 0,025 (Abb. 6).
Mit einem künstlichen Rotationsköper, der basierend auf
den gemittelten Werten der Pinguinabgüsse hergestellt wur-
de, konnte der Widerstandsbeiwert sogar bis auf 0,016 ge-
senkt werden. Dieser Wert ist fast 20-mal niedriger als der Wi-
derstandsbeiwert bei Automobilen, die mit Werten von 0,3
als strömungsgünstig gelten.
Bei lebenden Pinguinen dürfte durch die feinstrukturierte
Oberfläche des Gefieders der Strömungswiderstand sogar
noch geringer sein (ein ähnliches Prinzip findet sich bei
Haien, s. u.). Mögliche Anwendungsbereiche dieser bionisch
inspirierten Formgebung sind Großraumflugzeuge und Un-
terwasserfahrzeuge, bei denen eine optimierte Spindelform
bei erhöhtem Fassungsvermögen zu einer deutlichen Reduk-
tion des Treibstoffverbrauchs führen könnte.
Haihaut und Ribletfolien
Ende der 70er Jahre stellte der Tübinger Wirbeltierpalä-
ontologe Wolf-Ernst Reif fest, dass die zwischen 0,15 und
0,5 mm großen Schuppen rezenter und fossiler Haie feinste
Längsriefen und -rippen besitzen, die in Strömungsrichtung
verlaufen und der Kontur des Haikörpers entlangziehen
(Abb. 7a,b) [25, 26]. Im Anschluss an diese aus der biologisch-
Abb. 5. Schematischer Ablauf eines Designvorgangs zur Bauteilopti-mierung. – a. Am Anfang steht ein grober Designentwurf mit einzuhal-tenden Randbedingungen (Lagerung, Kraftangriff, Maximalgröße).Durch das SKO-Verfahren entsteht eine Leichtbaukonstruktion mitmöglichen oberflächlichen Spannungsspitzen. Durch das CAO-Verfah-ren werden die Spannungsspitzen beseitigt, aber es kann wieder zu ei-ner Gewichtszunahme kommen. Aus [18]. – b. Spannungsverteilung ineiner durch Anwendung von SKO- und CAO-Verfahren form- und ge-wichtsoptimierten Leichtmetallfelge. Bei gleichem Material und gleicherFestigkeit wurde eine Gewichtsreduktion von 26% erreicht, obwohl nurdie Speichenbereiche optimiert wurden. [Adam Opel AG]
a
b
Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential
Laufmaschinen
Tiere, die mit mehreren Beinpaaren laufen, können sich –
im Gegensatz zu auf Rädern rollenden Fahrzeugen – auch in
unwegsamem, extrem steilem Gelände fortbewegen. In der
bionischen Robotik geht es um die Konstruktion technischer
Laufapparate, deren Mechanik und Bewegungssteuerung
sich an laufenden Tieren (vorzugsweise Insekten) orientiert.
Als hervorragendes Studienobjekt hat sich die trockenen
Zweigen täuschend ähnlich sehende Stabheuschrecke
(Carausius morosus) erwiesen (Abb. 8a).
Die Zoologen Gernot Wendler und Hans Scharstein (Uni-
versität Köln) sowie Holk Cruse (Universität Bielefeld) haben
die Fortbewegung der Stabheuschrecke analysiert und be-
schrieben [30, 31]. Bei schneller Bewegung haben stets drei
der sechs Beine einen festen Halt, wenn die anderen drei ei-
nen Schritt machen. Hierbei bilden ein Vorder- und Hinter-
bein einer Körperseite zusammen mit dem mittleren Bein der
anderen Körperseite ein „stabiles Dreibein“. Für die techni-
sche Umsetzung ist interessant, dass die Steuerung der Beine
dezentral abläuft, d. h. jedes Bein verfügt über eine unabhän-
gige, steuernde Nervenzelle. Die Nervenzellen sind miteinan-
der vernetzt und generieren so das Gesamtmuster der Bewe-
gung. Angeregt durch diese und ähnliche Untersuchungen
wurden in den Arbeitsgruppen von Rüdiger Dillmann (Tech-
nische Universität Karlsruhe) und Friedrich Pfeiffer (Techni-
sche Universität München) nach dem Prinzip neuronaler
Netzwerke dezentrale Steuerkonzepte für sechsbeinige Lauf-
maschinen entwickelt [31]. Ein Beispiel ist die 1993 von Stefan
Abb. 6. Wirbeltierrumpf als Vorbild für einen widerstandsarmen Strö-mungskörper. – a. Eselspinguin (Pygoscelis papua) mit strömungsgüns-tigem, spindelförmigem Rumpf. – b. Künstlicher Rotationskörper mit ex-trem strömungsgünstigen Eigenschaften, der aus den gemittelten Datenvon Abgüssen der Pinguinkörper entwickelt wurde. Aus [64]. – c. Mo-dell eines nicht realisierten Verkehrsflugzeugs mit spindelförmigem La-minarrumpf. [a, c: K. Luginsland, Landesmuseum für Technik und Arbeit,Mannheim]
a
b
c
Abb. 7. Widerstandsmindernde Oberflächenstrukturen. – a. Schuppen-rillenmuster bei einem Jungtier des Milbert-Hais (Carcharhinus milberti),das dem Strömungsrichtungsmuster in der Grenzschicht gleicht. Aus [2]. –b. Rillen- und Riefenstruktur auf den Hautschuppen eines adulten Samt-hais (Carcharhinus falciformis) als Beispiel für natürliche Riblets. [Photo W.E. Reif]. – c. Modell einer künstlichen Ribletstruktur mit beweglichenSchuppen. [K. Luginsland, Landesmuseum für Technik und Arbeit,Mannheim]
a
b
c
Übersicht
Selbstreinigende Oberflächen: Der Lotus-Effekt
Eines der bekanntesten Beispiele bionischer Forschung ist
die von dem Botaniker Wilhelm Barthlott entdeckte Selbst-
reinigungsfähigkeit vieler Pflanzen. Mitte der 70er Jahre hatte
er festgestellt, dass die Oberflächen unbenetzbarer, also wasser-
abstoßender Pflanzenblätter nur selten verschmutzt sind.
Diese Beobachtung ergab sich im Rahmen einer repräsenta-
Abb. 8. Insekt als biologisches Vorbild für die Entwicklung dezentralgesteuerter Laufmaschinen. – a. Die Gemeine Stabheuschrecke (Carau-sius morosus). [Photo H. Scharstein]. – b. LAURON II, die zweite Gene-ration eines nach dem Vorbild der Stabheuschrecke konstruiertenLaufroboters. [Photo K. Luginsland, Landesmuseum für Technik und Arbeit,Mannheim]
a
b
Abb. 9. Lotus-Effekt. – a. Ein Blatt derLotosblume (Nelumbo nucifera) nachKontamination mit dem Farbstoff Sudan III.Selbst dieser hartnäckige Farbstoff wirddurch einfaches Besprühen mit Wasser inwenigen Sekunden vollständig vom Blattentfernt. – b. Rasterelektronenmikroskopi-sche Aufnahme der Blattoberfläche. Deutlicherkennbar ist die doppelte Strukturierung ausEpidermispapillen und feinen Wachs-kristallen. – c. Aufgrund der wasser-abweisenden Chemie der Wachse und derRauhigkeit der Oberfläche kugelt sich einWassertropfen vollständig ab und haftetpraktisch nicht am Blatt. – d. Funktionsweiseder Selbstreinigung durch den Lotus-Effekt:Die glatte Oberfläche (links) wird von denWassertropfen benetzt, und die Schmutzparti-kel werden nur verschoben, wenn die Tropfenüber sie hinwegkriechen. Auf der rauhen, feingenoppten Oberfläche (rechts) haften
Schmutzpartikel schlecht, werden von den abperlenden Wassertropfen aufgenommen und von der Oberfläche abgewaschen. Aus [35]
a c
b d
Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential
werden seit 1994 Schmutz abweisende, selbstreinigende
Lacke, Farben und andere Oberflächenbeschichtungen pro-
duziert, die weitreichende Anwendungsmöglichkeiten besit-
zen (siehe: www.lotus-effekt.de). Dieses Beispiel zeigt ein-
drucksvoll, dass reine Grundlagenforschung zu hochgradig
anwendungsrelevanten Ergebnissen führen kann.
Strukturoptimierte Naturfaser-Verbundmaterialien
Seit Mitte der 80er Jahre beschäftigen sich an der Univer-
sität Freiburg der Biologe Thomas Speck und der Biophysiker
Hanns-Christof Spatz mit quantitativen Analysen der me-
chanischen Eigenschaften pflanzlicher Achsen und ihrer
strukturellen Hintergründe [37–40]. Ihre Untersuchungen
zeigten, dass pflanzliche Achsen hochkomplexe Verbundma-
terialien darstellen, die auf mindestens fünf hierarchischen
Ebenen als Verbundstrukturen interpretiert werden können
(Abb. 10). Im Laufe der Evolution haben sich die mechani-
schen Eigenschaften pflanzlicher Achsen an die jeweils herr-
schenden Umweltbedingungen angepasst [41], wobei Verän-
derungen auf allen hierarchischen Ebenen möglich sind.
Darüber hinaus ermöglichen diese Strukturebenen auch ei-
ne „Feinabstimmung“ der mechanischen Eigenschaften im
Verlauf der Individualentwicklung (Ontogenie) einer Pflanze
[42]. Die komplexe Struktur pflanzlicher Achsen führt zu
Abb. 10. Fünf Strukturebenen pflanzlicherAchsen am Beispiel eines Koniferenstammesund einer Koniferentracheide. IntegraleEbene: Eine pflanzliche Achse besteht ausverschiedenen Geweben mit unterschied-lichen mechanischen Eigenschaften undFunktionen. Makroskopische Ebene: Dieeinzelnen Gewebe bestehen typischerweiseaus mehreren Zellarten mit verschiedenenFunktionen und mechanischen Eigenschaf-ten. Mikroskopische Ebene: Die mechanischrelevante Zell(wand)struktur kann z. B. beiTracheiden durch die Form und Anordnungder Verstärkungsleisten bzw. Tüpfel variiertwerden. Ultrastrukturelle Ebene: Ultra-struktureller Zellwandaufbau, z. B. beiTracheiden Anordnung und Winkel derZellulosemikrofibrillen in den verschiedenenWandschichten. Biochemische Ebene: Bio-chemischer Aufbau der Zellwand, z. B. beiTracheiden Mengenverhältnis und Zusam-mensetzung von Cellulose, Hemicellulosen,Pektinen und Lignin (Polysaccharid-verhältnisse, Monomerenzusammensetzungdes Lignins). Aus [41]
Abb. 11. Pfahlrohr als Ideengeber. –a. Bestand des Pfahlrohrs (Arundo donax) imBotanischen Garten der Universität Freiburg.[Photo T. Speck]. – b., c. Schwingungs-verhalten und Schwingungsdämpfung einesArundo donax-Halms mit (b) und ohne Blätter(c) gemessen in einer Höhe von 2,5 m überdem Boden. In beiden Fällen ist eine starkeDämpfung der Schwingung zu erkennen. Die beim unbeblätterten Halm (c) im Wesent-lichen auf die Materialeigenschaften zurück-zuführende Schwingungsdämpfung beträgtca. 25% pro Schwingung. Blau: gemesseneKurve; rot: mathematisch simulierte Kurve füreine exponentiell gedämpfte Schwingung;gestrichelt: Hüllkurve für eine exponentielleDämpfung. Aus [46]
Übersicht
technisch interessanten mechanischen Eigenschaften, wie
zum Beispiel der Fähigkeit zur Schwingungsdämpfung, die
von Olga Speck (Universität Freiburg) am Pfahlrohr (Arundo
donax) untersucht wurde (Abb. 11) [43–46].
Für die Herstellung biomimetisch inspirierter technischer
Materialien sind vor allem drei Eigenschaften pflanzlicher
Achsen, die hierbei als „Ideengeber“ dienen, von Interesse:
Abb. 12. Strukturvon Pflanzen-achsen. – a., b.Graduelle Über-gänge von Strukturund mechanischenEigenschaften inder Halmwand undim Rhizom desPfahlrohrs (Arundodonax). – a. Sche-matischer Quer-schnitt durch dieHalmwand einesStengelinternodi-ums. Deutlich istder kontinuierlicheÜbergang zwi-schen äußeremSklerenchymringund dem lignifi-zierten Paren-chymgewebe zuerkennen. Vonaußen nach innenverringert sich dieAnzahl der vonverholzten Skle-renchymscheidenbegleiteten Leit-bündel kontinuier-lich, während dieGröße der Zellendes parenchymati-schen Grundgewe-bes zunimmt undgleichzeitig ihreWanddicke und ihrLignifizierungsgradabnehmen. Hier-durch kommt es zu
einer kontinuierlichen Abnahme der Steifigkeit der Halmwand vonaußen nach innen. Aus [48]. – b. Querschnitt durch ein Internodiumdes Rhizoms, die lignifizierten Gewebe sind durch Phloroglucin-Salz-säure rot angefärbt. Zwischen den stark lignifizierten Sklerenchym-scheiden der Leitbündel und dem nicht verholzten Speicherparenchymist ein kontinuierlicher Übergang von Zellgröße, Wanddicke undVerholzungsgrad zu erkennen. Aus [46]. – c. Querschnitt durch einebiege- und torsionsflexible Achse der tropischen Liane Condylocarponguianense, die eine hohe Energieabsorptionsfähigkeit besitzt. Auffälligsind die mächtigen parenchymatischen Holzstrahlen des sternförmigeingebuchteten flexiblen Holzes und die Vielzahl großlumiger Tracheen,die aufgrund der inneren Struktur ihrer Wände zudem einen sehrsicheren und effizienten Wassertransport ermöglichen. Aus [41]
a
b
c
Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential
Im zweiten Forschungsprojekt, das von Volker Mosbrug-
ger und Anita Roth-Nebelsick (Universität Tübingen) koordi-
niert wird, sollen nach dem Vorbild pflanzlicher Wassertrans-
portsysteme (insbesondere Lianen, Abb. 12c) – in Zusam-
menarbeit mit dem ITV Denkendorf neuartige technische
Textilien aus Hohlfasern für den Ferntransport von nieder-
viskösen Flüssigkeiten entwickelt werden [53]. In den mikro-
skopischen Hohlfasern dieser „Textilmatten“ sollen Flüssig-
keiten sicher (Embolievermeidung und Emboliereparatur
durch spezielle Strukturierung der inneren Oberfläche der
Hohlfasern) und bedarfsgesteuert über große Distanzen
transportiert werden. Mögliche Einsatzbereiche sind wasser-
sparende Bewässerungssysteme und schonende Entwässe-
rungssysteme, aber auch der Bekleidungsbereich.
Klimatechnik nach dem Vorbild Natur
Erhebliche – und tendentiell steigende – Mengen an Ener-
gie werden in den hoch technisierten Ländern für die Klima-
technik aufgewendet. Hier verspricht die Nutzung einfacher
physikalischer Prinzipien ein erhebliches Einsparpotential.
Vorbild kann das Belüftungssystem der Bauten des Prärie-
hundes (Cynomis ludovicianus) sein, das in den 70er Jahren
von Wissenschaftlern um den amerikanischen Zoologen und
Biophysiker Steven Vogel entdeckt wurde [3, 54].
Sie zeigten, dass Präriehunde ihre unterirdischen Bauten
mit zwei unterschiedlich hoch gelegenen Eingängen anlegen.
Einer liegt an der Spitze eines steilwandigen Kegels aus Aus-
hubmaterial, der andere hingegen auf einer flachen Kuppel.
Wenn ein Wind über den Bau weht, wird durch diesen
Höhenunterschied eine Druckdifferenz hervorgerufen, die
unabhängig von der Windrichtung eine immer in einer Rich-
tung durch den Bau ziehende Luftströmung erzeugt. Somit
lüften Präriehunde unter Ausnutzung des Bernoulli-Prinzips
(eine Druckdifferenz bewirkt eine entsprechende ausglei-
chende Strömung) durch letztlich von der Sonne induzierte
Windbewegungen ihren Bau, der ohne Lüftung unbewohn-
bar wäre. Ein auf Temperaturunterschieden beruhendes
Belüftungssystem hat bereits Mitte der 50er Jahre der
Schweizer Biologe M. Lüscher bei Termitenbauten entdeckt
[55]. Hierbei strömt die Luft, angetrieben durch das Wärme-
gefälle zwischen (warmer) Bauoberseite und den (kühlen)
unterirdischen Bereichen, in einem geschlossenen Röhren-
system durch den Bau nach oben und direkt unterhalb der
Bauoberfläche wieder nach unten. Da die Wände der Termi-
tenbauten aus porösem Material bestehen, kann Kohlendio-
xid aus dem Bau heraus diffundieren, während Sauerstoff
hinein diffundiert. Interessanterweise gibt es Parallelen in
der traditionellen vorderasiatischen Architektur zur Belüf-
tung von Gebäuden, die erst in neuerer Zeit gewürdigt werden.
Ein weiteres Phänomen, welches ebenfalls für Fragen der
Gebäudeklimatisierung interessant ist, wurde von dem Berli-
ner Physikochemiker Helmuth Tributsch und Mitarbeitern
beim Eisbären (Ursus maritimus) entdeckt. Beim Eisbärfell
leiten die weißen Haare die einfallende Licht- und Wärme-
strahlung ähnlich wie Lichtleiter nach unten zur dunklen
Hautoberfläche, die sie absorbiert. Dies führt in Zusammen-
spiel mit den im dicken Fell eingeschlossenen, isolierenden
Lufträumen zu einem Wärmegewinn [2, 56]. 1996 haben Wer-
ner Nachtigall und sein Mitarbeiter G. Rummel (Universität
Saarbrücken) ein Niedrigenergiehaus konzipiert, welches
das Lüftungsprinzip der Termitenbauten (passive Porenlüf-
tung) und das beim Eisbärfell verwirklichte Prinzip der
transparenten Wärmedämmung nutzt [57].
Flusskrebsauge und Röntgenastronomie
Mitte der 1970er Jahre entdeckten unabhängig voneinan-
der zuerst der Zoologe Klaus Vogt (damals Stuttgart, heute
Universität Freiburg) und kurze Zeit später M. F. Land (Uni-
versity of Sussex, England) das Funktionsprinzip der Kom-
plexaugen von Flusskrebsen (Orconectes, Astacus [58–60]).
Das Flusskrebsauge ist wie die Komplexaugen aller Glie-
derfüßer aus vielen kegelförmigen Einzelaugen (Ommati-
dien) zusammengesetzt. Im Gegensatz zu den als getrennte
Linsensysteme wirkenden, sechseckigen Ommatidien der
Insekten bilden die quadratischen Ommatidien der Fluss-
krebse in ihrer Gesamtheit eine Art facettierte Spiegellinse
(Abb. 14a, b). Hierdurch entsteht ein Auge mit großem Seh-
feld (etwa 90°), großer Lichtstärke und hoher Bildschärfe. Die
einfallenden Lichtstrahlen werden durch Spiegelung an den
Randflächen der quadratkegelförmigen Ommatidien auf die
darunter liegenden Sinneszellen geleitet. Entscheidend ist
Abb. 13. Stabi-lität von natür-lichen undkünstlichen Faser-verbundmaterialien.– a. Knickversuchmit einem Interno-dium des Pfahl-rohrs (Arundodonax) aus demmittleren Halm-bereich. Die Pfeilemarkieren daserste Vor-versagensereignisund den Punktendgültigen Halm-versagens. Nachjedem der bis zu10 kleinen Vorver-sagensereignissestabilisiert sich derHalm wieder undtoleriert bei weiteransteigendem
Biegemoment eine zunehmende Krümmung, bis es zum nächstenVorversagensereignis kommt. Hierdurch kann die durch die Pflanzetolerierbare Krümmung um bis zu 300% erhöht werden. Aus [48]. – b. Im Labormaßstab hergestelltes strukturoptimiertes Naturfasermate-rial mit hervorragendem Energieabsorptionsvermögen und gutmütigemBruchverhalten. Bei diesem biomimetisch inspirierten Material wurdenGewebe aus Pflanzenfasern in mehreren Schichten in Polyurethan-schaum eingebettet. Aus [50]
a
b
Übersicht
nun, dass nicht alle Randflächen verspiegelt sind. Hierdurch
kann es zu einer Bildverstärkung kommen, da parallel einfal-
lende Strahlen von verschiedenen Ommatidien auf dieselben
Sinneszellen gelenkt werden.
Angeregt durch diese biophysikalischen Arbeiten begann
Roger Angel vom Stewart-Observatorium (Tuscon, USA), Plä-
ne für ein neuartiges, auf dem Prinzip des Krebsauges basie-
rendes Weitwinkel-Röntgenteleskop zu entwickeln. Die zu-
vor bekannten Röntgenteleskope basierten auf Röntgen-
Kleinwinkelstreuung an Metalloberflächen (Röntgenstrahlen
können nicht durch Linsen fokussiert werden) und konnten
nur einen Himmelsausschnitt von etwa 1° gleichzeitig abbil-
den. Mit dem neuartigen Weitwinkel-Röntgenteleskop, bei
dem Millionen feinster, halbkugelig angeordneter Bleiglas-
röhrchen die einfallenden Röntgenstrahlen total reflektieren
und fokussieren, kann man dagegen ein Viertel des Himmels
gleichzeitig beobachten (Abb. 14c). In einer Versuchsversion
wird ein solches Weitwinkel-Röntgenteleskop bereits auf einem
Forschungs-Satelliten erprobt. Nach Abschluss dieser Test-
phase ist der Start eines größeren, verbesserten Modells ge-
plant.
Ganz andere Anwendungen ergeben sich, wenn man das
beschriebene Prinzip umkehrt und Röntgenstrahlen einer im
Abb. 14. Flusskrebsauge als Vorbild fürRöntgenoptik. – a. Prinzip des Strahlengangsdurch ein quadratkegeliges Ommatidium desKrebsauges. Aus [2]. – b. Prinzip derFunktionsweise des Krebsauges, das sichdurch eine konzentrische Schar virtuellspiegelnder, sich durchdringender Kegel-mäntel um jede Raumrichtung beschreibenlässt. Aus [59]. – c. Strahlengang beimRöntgenkollimator (Pfeil nach rechts) und beider Röntgenfokussierung (Pfeil nach links).Aus [59]
a
c
b
Speck, Neinhuis: Bionik, Biomimetik – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential
Biologische und technische Konstruktionen – ein Vergleich
Lebewesen unterliegen seit vielen hundert Millionen Jah-
ren den Prozessen der Mutation, Rekombination und Selekti-
on, die zu einer Vielzahl erstaunlicher Anpassungen an die
jeweiligen Umweltbedingungen führten. Berücksichtigt man
den großen Zeitraum (seit der Entstehung der ersten Lebe-
wesen ungefähr 3,8 Milliarden Jahre), so ist es nicht überra-
schend, dass sich in der belebten Natur für viele Problemstel-
lungen hervorragende Lösungen finden. Die „Qualität biolo-
gischer Lösungen“ ist noch bemerkenswerter, wenn man
bedenkt, dass biologische Strukturen in der Regel nicht nur
auf eine Funktion, sondern auf zwei oder mehrere Funkti-
onen hin optimiert wurden. Oberirdische, aufrechte Pflan-
zenachsen müssen beispielsweise nicht nur eine ausreichen-
de mechanische Stabilität besitzen, sondern auch Wasser
und Assimilate leiten, Speicherfunktionen erfüllen und unter
Abb. 15. Optimierung einer Zweiphasen-Überschalldüse nach dem Prinzip derEvolutionsstrategie. Ausgehend von einerkonventionell geformten Venturi-Düse (A)wurde über 44 zufällig entstandeneZwischenstufen (B) die optimierte Endform(C) gefunden. Aus [61]
Übersicht
Auf Bundesebene ist dies das vom Bundesministerium für Bildung und