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Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

Apr 22, 2023

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David Engels
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Page 1: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

1 Biologistische und zyklische Geschichtsphiloso-phie Ein struktureller Annaumlherungsversuch

DAVID ENGELS

Facultas philosophorum propria est ut in rebus longe dissitis ac diversis similes videant rationes

Giambattista Vico 1 Einleitung Als an der Universiteacute libre de Bruxelles im Wintersemester 20102011 nach langer Zeit erstmals wieder eine Vorlesung zur Geschichtsphilosophie einge-fuumlhrt und dem Herausgeber vorliegenden Bandes anvertraut wurde fand sich dieser sowohl mit der Situation konfrontiert daszlig seine Studenten mit nahezu jeglicher Form philosophischen Denkens uumlber Geschichte voumlllig unvertraut waren als auch mit der Tatsache daszlig die Geschichtsphilosophie selber aus verschiedenen Gruumlnden in einer tiefen Krise zu stecken schien so daszlig das vorliegende Projekt eine Zusammenstellung einiger paradigmatischer Unter-suchungen zu zyklischen und biologistischen geschichtsphilosophischen An-saumltzen vorzulegen als ein aumluszligerst unzeitgemaumlszliges Unternehmen wahrgenom-men werden koumlnnte welches einer gewissen Legitimation bedarf

Die Krise des modernen Geschichtsdenkens erklaumlrt sich dabei wohl zum ei-nen dadurch daszlig die Geschichtsphilosophie ebenso wie die Philosophie selbst seit einigen Jahrzehnten in die Gefahr geraten ist als gewissermaszligen abgeschlossene historische Disziplin betrachtet zu werden als eine Ansamm-lung von Texten welche es im wesentlichen zu erlaumlutern kommentieren und kontextualisieren gilt welche aber mit der urspruumlnglich zentralen Wahrheits-frage nur noch wenig gemein haben Hinzu kommt zum anderen die Tatsache daszlig die allgemeine geschichtsphilosophische Diskussion seit mehr als einem halben Jahrhundert den Frontlinien des Kalten Krieges entsprechend in zwei antagonistische Schulen zerfallen zu sein scheint welche beide allerdings den Status als bdquoGeschichtsphilosophieldquo ablehnen und vielmehr den Rang einer unphilosophischen rein materialistischen Tatsachenwissenschaft beanspru-chen

EINLEITUNG 9

So herrschte auf der oumlstlichen Seite des Eisernen Vorhangs lange Zeit der dialektische Materialismus welcher den Glauben an das notwendige Kommen der sozialistischen Zukunftsgesellschaft mit einer rein pragmatischen das Geistige zugunsten des Materiellen verdraumlngenden Bewertung historischer Einzelvorfaumllle verband waumlhrend kurioserweise auf der anderen Seite der Grenze eine ganz aumlhnliche intellektuelle Konzeption das Denken der Historiker und Politiker praumlgte naumlmlich die etwas widerspruumlchliche Kombination zwi-schen rationalistischer Fortschrittsglaumlubigkeit und dem Modell einer prinzipiell bdquooffenenldquo Geschichte wie wir es etwa in exemplarischer Weise bei Karl Pop-per vertreten finden Dieser verstieg sich in eine prinzipielle Ablehnung des urspruumlnglichen also morphologisch argumentierenden Konzepts von Ge-schichtswissenschaft welches er verwirrenderweise als bdquoHistorizismusldquo be-zeichnete (womit wesentlich Hegel und seine Schule gemeint sind) und dem er keinerlei Anspruch auf Formulierung wissenschaftlich allgemeinguumlltiger Aus-sagen zugestand Popper beharrte vielmehr auf der Singularitaumlt aller histori-schen Ereignisse und formulierte apodiktisch folgendes Credo welches letzt-lich ja nur einer Neubelebung des Historismus des 19 Jh gleichkommt

The hope [hellip] that we may some day find the lsquolaws of motion of societyrsquo just as Newton found the laws of motion of physical bodies is nothing but the result of these misunderstandings [hellip] But it will be said the existence of trends or tenden-cies in social change can hardly be questioned every statistician can calculate such trends [hellip] The answer is trends exist or more precisely the assumption of trends is often a useful statistical device But trends are not laws A statement asserting the existence of a trend is existential not universal [hellip] And a statement asserting the existence of a trend at a certain time and place would be a singular historical state-ment and not a universal law The practical significance of this logical situation is considerable while we may base scientific predictions on laws we cannot (as every cautious statistician knows) base them merely on the existence of trends A trend (we may again take population growth as an example) which has persisted for hun-dreds or even thousands of years may change within a decade of even more rapidly than that1

Nachdem die politischen Ereignisse des spaumlten 20 Jahrhunderts dem westli-chen Gesellschaftsmodell zum Sieg verholfen haben gelang es auch besagtem Geschichtsmodell sich weitgehend zu einer uumlberall vertretenen Einheitsschule zu entwickeln welche dadurch umso dominanter geworden ist daszlig sie die Selbstbezeichnung als bdquoGeschichtsphilosophieldquo grundsaumltzlich ablehnt und vielmehr ganz aumlhnlich wie der sozialistische Materialismus im ehemaligen Osten als rein bdquopragmatischeldquo Geschichtsbetrachtung aufgefaszligt werden will Die Absurditaumlt einer solchen Selbstbezeichnung sollte natuumlrlich jedem unvor-eingenommenen Betrachter unmittelbar klar sein sind die beiden Grundan-nahmen der gegenwaumlrtig bdquoguumlltigenldquo Geschichtsphilosophie doch tief in der Vergangenheit abendlaumlndischen Geschichtsdenkens verankert und koumlnnen

1 K POPPER The Poverty of Historicism London 1957 section 27

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kaum als grundlegende wissenschaftsgeschichtliche bdquoNeuheitldquo betrachtet wer-den

Waumlhrend so der insgeheim uumlberall unterschwellig vertretene Glaube an den bdquoFortschrittldquo als wichtigster Motor der Menschheitsgeschichte fraglos in der spezifischen Fortschrittsglaumlubigkeit wurzelt wie sie sich seit dem 17 Jh uumlber-all in Europa entwickelt und durch Denker wie Kant oder Condorcet klassi-schen Ausdruck gefunden hat stellt die Annahme einer prinzipiell bdquooffenenldquo Geschichte deren Ablaumlufe ndash wenigstens im kleinteiligen Rahmen ndash letztlich nur der Gesamtheit der mehr oder weniger zufaumllligen individuellen Handlun-gen zu verdanken sind ebenfalls eine seit alters her vertretene vor allem im Historismus besonders praumlgende geschichtsphilosophische Position dar so daszlig wie gesagt hinter der vordergruumlndigen Absage Poppers an den bdquoHistori-zismusldquo letztlich nichts anderes steckt als die Ruumlckkehr zum bdquoHistorismusldquo und zu Rankes Wunsch zu zeigen bdquowie es eigentlich gewesen istldquo Beide Komponenten des gegenwaumlrtigen angeblich bdquounphilosophischenldquo Geschichts-denkens koumlnnen also vom logischen Standpunkt aus keinerlei houmlhere Deu-tungshoheit beanspruchen als die meisten anderen von den Fakten nicht uumlber-holten geschichtsphilosophischen Modelle ringen doch offene wie geschlos-sene historische Denkmodelle miteinander seit es uumlberhaupt Denken uumlber die Geschichte gibt so daszlig alle ideologischen Siege hier nur voruumlbergehender Art sein koumlnnen

Beide Positionen Fortschrittsglaube und offene Geschichte sind dabei nur auf den ersten Blick widerspruumlchlich ebenso wie auch dialektischer Materia-lismus und bdquorealistischeldquo Tatsachenbeschreibung eng zusammengehoumlren fin-den sich doch etwa seit Kants geschickter Engfuumlhrung beider Konzepte indivi-duelle Freiheit wie uumlbergeordnete Notwendigkeit strukturell auf uumlberzeugende Weise miteinander verbunden (wobei anstatt einer linear-teleologisch ausge-richteten Orientierung der Gesamtgeschichte durchaus auch andere Modelle eingesetzt werden koumlnnten ohne der Argumentation zu schaden)

Die Geschichte welche sich mit der Erzaumlhlung dieser Erscheinungen beschaumlftigt so tief auch deren Ursachen verborgen sein moumlgen laumlszligt dennoch von sich hoffen daszlig wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Groszligen betrachtet sie einen regelmaumlszligigen Gang derselben entdecken koumlnne und daszlig auf die Art was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen faumlllt an der ganzen Gat-tung doch als eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwicklung der urspruumlng-lichen Anlagen derselben werde erkannt werden koumlnnen So scheinen die Ehen die daher kommenden Geburten und das Sterben da der freie Wille der Menschen auf sie so groszligen Einfluszlig hat keiner Regel unterworfen zu sein nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen koumlnne und doch beweisen die jaumlhrlichen Tafeln derselben in groszligen Laumlndern daszlig sie eben so wohl nach be-staumlndigen Naturgesetzen geschehen als die so unbestaumlndigen Witterungen deren Ereignis man einzeln nicht vorher bestimmen kann die aber im Ganzen nicht er-

EINLEITUNG 11

mangeln das Wachstum der Pflanzen den Lauf der Stroumlme und andere Naturanstal-ten in einem gleichfoumlrmigen ununterbrochenen Gange zu erhalten2

Dabei wird die gegenwaumlrtig uumlberall anzutreffende Hauptschule historischen Denkens sich eines Tages nicht nur dem Vorwurf aussetzen muumlssen durch ihr nach auszligen hin vertretenes scheinbar allgemeines Ablehnen geschichtsphilo-sophischer Argumentationen hinter der sich ja nur die Ablehnung bdquoandererldquo Argumentationen verbirgt wertvolle geistesgeschichtliche Kontinuitaumltsfaumlden abgerissen und das Abendland in seinem verhaumlngnisvollen Wachstums- und Fortschrittswahn bekraumlftigt zu haben sondern die von ihr postulierte bdquooffeneldquo Geschichtssicht gefaumlhrdet auch die gesellschaftliche und intellektuelle Stellung des Historikers an sich

Denn der Ruumlckzug in eine Betrachtung der Ereignisse bdquowie sie eigentlich gewesen sindldquo mag zwar vom rein einzelwissenschaftlichen Standpunkt her ebenso komfortabel wie unproblematisch sein laumluft aber letztlich auf eine Apologie rein antiquarischer Geschichtsbetrachtung hinaus welche dadurch auch gesamtgesellschaftliche Tragweite erhaumllt daszlig sie darauf bedacht ist innerhalb der eigenen Disziplin keinerlei Opposition zu tolerieren welche eine andere Perspektive auf die zusammengetragenen Fakten entwickeln koumlnnte Anders ausgedruumlckt Dadurch daszlig die Geschichtswissenschaft mit Spengler gesprochen sich selbst zur bloszligen bdquoAmeisenarbeitldquo herabgewuumlrdigt hat und aus Opposition gegen die bdquoGefahrenldquo der Geschichtsphilosophie die Moumlglich-keit bestreitet die solchermaszligen aufgehaumluften Fakten uumlberhaupt irgendwie sinnbringend fuumlr Gegenwart wie Zukunft zu deuten ist eben diese Deutungs-hoheit keineswegs verschwunden sondern hat sich vielmehr in die Kreise derer verlagert welche erfahrungsgemaumlszlig hierzu am schlechtesten qualifiziert sind da ihr Interesse an Geschichte unweigerlich von ebenso eigennuumltzigen wie kurzsichtigen Zielsetzungen gepraumlgt ist Journalisten und Politiker

Daszlig eine solche geschichtsphilosophisch motivierte Selbstabdankung der Geschichtswissenschaft auf lange Sicht hin tragische Folgen fuumlr die Disziplin an sich haben muszlig (und bereits hat bedenkt man den geradezu spektakulaumlren akademischen Schrumpfungsprozeszlig aller historischen Disziplinen und den konsequenten Abbau des Humboldtrsquoschen humanistischen Bildungsideals) ist daher nur eine natuumlrliche Konsequenz miszligt sich doch die Bedeutsamkeit einer wissenschaftlichen Disziplin an ihrem konkreten Nutzen fuumlr Gegenwart und Zukunft Und welchen Nutzen soll dabei eine Geschichtsschreibung haben welche auf prinzipieller bdquoOffenheitldquo besteht und somit bestreitet daszlig Ge-schichte in Anbetracht der prinzipiell gleichbleibenden menschlichen Natur vielmehr durch die Wiederkehr repetitiver Strukturen gepraumlgt ist und daszlig es die eigentliche Aufgabe der Geschichtsschreibung sein muumlszligte durch Studium

2 I KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbuumlrgerlicher Absicht (urspr

in Berlinische Monatsschrift November 1784 S 385-411) Einleitung

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der Vergangenheit eben diese Strukturen als solche kenntlich zu machen um somit ihr Wiedererkennen in der Gegenwart und im Rahmen des Moumlglichen ihre Auswirkungen auf die Zukunft zu ermoumlglichen Dies war jedenfalls die urspruumlngliche Definition der Historie denkt man etwa an Thukydides dessen klassische Beschreibung des Nutzens der Geschichtsschreibung offensichtlich den Gegenpol dessen ausmacht was seit einigen Jahrzehnten offizieller Kon-sens zu sein scheint

Zum Zuhoumlren wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergoumltzlich scheinen wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Kuumlnftige das wieder einmal nach der menschlichen Natur gleich oder aumlhnlich sein wird der mag es so fuumlr nuumltzlich halten und das soll mir genug sein zum dauernden Besitz nicht als Prunkstuumlck fuumlrʼs einmalige Houmlren ist es aufgeschrieben3

2 Grundstrukturen deterministischen Geschichtsdenkens Jede echte Geschichtsbetrachtung muszlig also in gewisser Weise die Moumlglich-keit ja sogar Notwendigkeit einer analogen Wiederkehr identischer Struktur-muster annehmen will sie nicht in bloszlige deskriptive und antiquarische Belie-bigkeit verfallen und somit gleichzeitig auch ihre eigene Daseinsberechtigung ausloumlschen Wer nun aber die Moumlglichkeit des Analogieschlusses als funda-mentales Gesetz der Geschichtsdeutung gelten lassen will muszlig notwendiger-weise eine bdquodeterministischeldquo Grundhaltung einnehmen bedeutet doch die Akzeptanz der Annahme daszlig aus analogen Grundvoraussetzungen analoge Folgen entstehen nichts weniger als historische Gesetzmaumlszligigkeiten und somit Determinismen zu vermuten Nun ist bdquoDeterminismusldquo ndash zumindest in der hier zugrundegelegten recht weitlaumlufigen Auffassung des Begriffs ndash ein weites Feld das die verschiedensten Interpretationen erlaubt Nimmt man einmal komplexere da aus vielfaumlltiger Addition unterschiedlichster Vorstellungen gespeiste Faumllle wie etwa theologische Heilsgeschichten aus so lassen sich die verschiedenen geschichtsdeterministischen Denkschulen recht schnell auf einige wenige Grundmuster reduzieren welche freilich keineswegs als (not-wendigerweise simplistische) Reduktion der Komplexitaumlt historischen Den-kens aufgefaszligt werden sollen sondern vielmehr als dynamische Grundbaustei-ne deren vielfaumlltige Kombination Interpretation und wechselseitige Bezug-nahme erst den Reiz echter Geschichtsphilosophie ausmachen

3 THUK 122 (Uumlbers P LANDMANN 1991) καὶ ἐς microὲν ἀκρόασιν ἴσως τὸ microὴ

microυθῶδες αὐτῶν ἀτερπέστερον φανεῖται ὅσοι δὲ βουλήσονται τῶν τε γενοmicroένων τὸ σαφὲς σκοπεῖν καὶ τῶν microελλόντων ποτὲ αὖθις κατὰ τὸ ἀνθρώπινον τοιούτων καὶ παραπλησίων ἔσεσθαι ὠφέλιmicroα κρίνειν αὐτὰ ἀρκούντως ἕξει κτῆmicroά τε ἐς αἰεὶ microᾶλλον ἢ ἀγώνισmicroα ἐς τὸ παραχρῆmicroα ἀκούειν ξύγκειται

EINLEITUNG 13

21 Fortschritt Das erste deterministische Geschichtsmodell das im Vorfeld ja auch bereits kurz besprochen wurde geht von einem grundsaumltzlichen bdquoFortschrittldquo in der Weltgeschichte aus wobei dieser Fortschritt natuumlrlich verschiedenster Art sein kann So mag der Begriff bdquoFortschrittldquo etwa auf den ethischen technologi-schen politischen kuumlnstlerischen oder religioumlsen Bereich bezogen werden fernerhin sowohl unbegrenzt als auch teleologisch auf ein festes Ziel zulaufend interpretiert werden und sich in verschiedensten Verlaufsformen aumluszligern etwa als lineares exponentielles dialektisches oder Stufenmodell wobei im Falle des Stufenmodells auch vielfaumlltige Kombinationen mit anderen deterministi-schen Grundstrukturen moumlglich sind wie etwa dem Dekadenz- oder dem Bio-logismusmodell Typische Beispiele fuumlr das Fortschrittsmodell liefern etwa die linearen Fortschrittstheorien Aristotelesʼ Lucrez oder Diodors das teleolo-gisch-theologische Stufenmodell der meisten monotheistischen Heilslehren welches bei Joachim von Fiore eine bislang ungeahnte dialektische Kondensie-rung erfahren sollte die naive Zukunftsglaumlubigkeit der bdquoQuerelle des Anciens et Modernesldquo und des Aufklaumlrungsdenken und schlieszliglich die Hegelsche Geschichtsdialektik mit ihren verschiedenen linken wie rechten Spielarten und Auslaumlufern bis hin zu Jaspers Achsenzeit Fukuyamas bdquoEnd of Historyldquo und den meisten heute vorherrschenden geschichtsoptimistischen Ansaumltzen

Zur Verdeutlichung seien einige Zitate erlaubt So mag man in erster Linie an Lucrez denken der in Anlehnung an Epikur wohl das erste (erhaltene) Bei-spiel einer ausformulierten Fortschrittstheorie vorlegte wobei die diesem inhauml-rente Kritik am Fortschrittsgedanken naumlmlich daszlig dieser an den grundlegen-den Problemen der Menschheit nichts wesentlich aumlndere sondern diese nur auf andere Ebenen verlagere nahelegen duumlrfte daszlig es sich hierbei schon um eine Reaktion auf fruumlhere positivere Wertschaumltzungen des Fortschritts handelt wie wir sie ja zum Beispiel bei Xenophanes oder Sophokles finden So heiszligt es bei Xenophanes noch Nicht von Anfang an haben die Goumltter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt sondern allmaumlhlich finden sie suchend das Bessere4 Lu-crez hingegen erklaumlrt

Denn was grade im Schwang das gefaumlllt und wirkt ja besonders Wenn man nicht vorher schon Schoumlneres hatte gesehen Wird dann spaumlter das Beszligre entdeckt so vernichtet es alles Was man fruumlher geliebt der Geschmack veraumlndert sich eben So ward ihnen die Eichel verhaszligt so verlieszlig man die alten Lagerstaumltten die Graumlser und Laubwerk hatten gepolstert Ebenso fiel in Verachtung die fruumlhere Kleidung aus Tierfell Einstmals muszligte den Neid wie mich duumlnkt die Erfindung des Fell-kleids Wecken so daszlig sein Traumlger von Meuchelmoumlrdern bedroht war Und doch muszligt es verschwinden und konnte nicht fuumlrder mehr dienen Weil es im Hader des

4 DK 18 in Stob Ecl 182 (Uumlbers DK) οὔτοι ἀπ᾽ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖσ᾽

ὑπέδειξαν ἀλλὰ χρόνωι ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄmicroεινον

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Streits zerrissen und blutuumlberstroumlmt ward Damals war es das Fell jetzt bringt das Gold und der Purpur Sorgen dem Leben der Menschen und stiftet bei ihnen den Krieg an Doch kommt groumlszligere Schuld wie mich duumlnkt auf unsere Rechnung Jene Soumlhne der Erde die nackt und noch ohne die Felle Waren litten vom Prost doch was schadet es uns wenn dem Kleide Fehlet der Purpur verbraumlmt mit Gold und mit riesigem Zierat Koumlnnte doch auch ein plebejisch Gewand vor der Kaumllte uns schuumltzen So muumlht also das Menschengeschlecht sich umsonst und vergebens Immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben Leider versteht es ja nicht der Besitzgier Schranken zu setzen Und die Grenze wieweit sich das wah-re Vergnuumlgen noch steigert Dies istʼs was mit der Zeit das Leben ins offene Meer trieb Und von Grund aus erregte die maumlchtigen Wogen des Krieges5

Nun gilt allerdings zu bedenken daszlig die epikureische Fortschrittslehre in ty-pisch antiker Weise zwar das Streben nach Fortschritt als eine dem Menschen inhaumlrente Gesetzlichkeit betrachtet welche wesentlich fuumlr den Lauf der Ge-schichte verantwortlich ist hieraus aber keineswegs ein Anwachsen seines persoumlnlichen Gluumlcks ableitet welches eben zu allen Zeiten nur in der Abkehr von Ehrgeiz und Uumlbertreibung gesucht werden kann

Ganz umgekehrt argumentiert etwa Polybios der in der Einleitung zu sei-nem groszligen Geschichtswerk die im Vorderen Orient weitverbreitete meist rein additive Abfolge groszliger Weltreiche als einen wesentlich dynamischen Prozeszlig begreift und mit dem stoisch gepraumlgten Glauben an die goumlttliche Vorsehung in Verbindung bringt welche auf eine immer groumlszligere wechselseitige Durchdrin-gung von politischer Geschichte und naturhafter Gesetzmaumlszligigkeit draumlnge und daher auch die Weltgeschichte allmaumlhlich auf einen Punkt absoluter Uumlberein-stimmung zwischen natuumlrlichem Weltganzen und harmonischer politischer Ordnung hinauslaufen lasse Dies bringt ihn zu der Uumlberzeugung die Abfolge groszliger Reiche fuumlhre letztlich zur Herausbildung immer maumlchtigerer Staaten und schluszligendlich in Form des roumlmischen Reiches zur Zusammenfassung der gesamten Oikoumene unter die Herrschaft von Verstand und Sitte

Wie auszligerordentlich und wichtig aber der unserer Betrachtung zu unterziehende Ge-genstand ist wird alsdann am deutlichsten werden wenn wir die beruumlhmtesten der

5 LUCR 51412ndash1435 (Uumlbers H DIELS 1924) Nam quod adest praesto nisi quid

cognouimus ante suauius in primis placet et pollere uidetur posteriorque fere meli-or res illa reperta perdit et immutat sensus ad pristina quaeque Sic odium coepit glandis sic illa relicta strata cubilia sunt herbis et frondibus aucta Pellis item ceci-dit uestis contempta ferina quam reor inuidia tali tunc esse repertam ut letum insidiis qui gessit primus obiret et tamen inter eos distractam sanguine multo dispe-riise neque in fructum conuertere quisse Tunc igitur pelles nunc aurum et purpura curis exercent hominum uitam belloque fatigant quo magis in nobis ut opinor culpa resedit Frigus enim nudos sine pellibus excruciabat terrigenas at nos nil laedit ueste carere purpurea atque auro signisque ingentibus apta dum plebeia tamen sit quae defendere possit Ergo hominum genus in cassum frustraque laborat semper et in curis consumit inanibus aeuom ni mirum quia non cognouit quae sit habendi finis et omnino quoad crescat uera uoluptas idque minutatim uitam prou-exit in altum et belli magnos commouit funditus aestus

EINLEITUNG 15

fruumlheren Reiche die von den Geschichtsschreibern auf das Ausfuumlhrlichste behandelt sind mit der Herrschaft der Roumlmer zusammenstellen und vergleichen Es sind aber folgende die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen Die Per-ser besaszligen einst eine groszlige Herrschaft und Macht allein so oft sie die Grenzen von Asien zu uumlberschreiten wagten so wurde dies nicht bloszlig ihrer Herrschaft sondern ihnen selbst gefaumlhrlich Die Lakedaumlmonier rangen lange Zeit nach der Oberherr-schaft uumlber die Griechen und hatten dieselbe nachdem sie endlich Meister gewor-den kaum zwoumllf Jahre unbestritten inne Die Makedonier herrschten in Europa von den Kuumlsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluszlig was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint sodann aber fuumlgten sie die Herrschaft uumlber Asien hinzu nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht Allein so groszlig ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien so lieszligen sie noch einen sehr groszligen Teil des Erdbodens unberuumlhrt Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kaumlmpfen fiel ihnen niemals ein und von den streitbarsten unter den westlichen Voumll-kern Europas fehlte ihnen im eigentlichen Sine des Wortes sogar die Kunde Die Roumlmer aber nachdem sie nicht einzelne Teile sondern beinahe den ganzen Erdbo-den sich unterworfen haben eine Herrschaft von solcher Groumlszlige aufgerichtet daszlig die Mitwelt sie nur anstaunen kann die Nachwelt aber niemals uumlber dieselbe wird hin-ausschreiten koumlnnen6

In fruumlhchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Ent-wicklung der Religionsgeschichte bezogen werden um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maio-rum zu liefern wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht

Aber sagt ihr es ist nicht vernuumlnftig eine uns von den Vaumltern uumlberlieferte Sitte um-zustoszligen Ja warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung die Milch an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewoumlhnten Warum vermehren oder vermindern wir das vaumlterliche Vermoumlgen und erhalten es nicht in der gleichen Groumlszlige wie wir es uumlberkommen haben Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Vaumlter herablaufen oder vollfuumlhren

6 POLYB 121 (Uumlbers A HAAKH 1858) Ὡς δacute ἔστι παράδοξον καὶ microέγα τὸ περὶ τὴν

ἡmicroετέραν ὑπόθεσιν θεώρηmicroα γένοιτacute ἂν οὕτως microάλιστacute ἐmicroφανές εἰ τὰς ἐλλογιmicroωτάτας τῶν προγεγενηmicroένων δυναστειῶν περὶ ἃς οἱ συγγραφεῖς τοὺς πλείστους διατέθεινται λόγους παραβάλοιmicroεν καὶ συγκρίναιmicroεν πρὸς τὴν Ῥωmicroαίων ὑπεροχήν εἰσὶ δacute αἱ τῆς παραβολῆς ἄξιαι καὶ συγκρίσεως αὗται Πέρσαι κατά τινας καιροὺς microεγάλην ἀρχὴν κατεκτήσαντο καὶ δυναστείαν ἀλλacute ὁσάκις ἐτόλmicroησαν ὑπερβῆναι τοὺς τῆς Ἀσίας ὅρους οὐ microόνον ὑπὲρ τῆς ἀρχῆς ἀλλὰ καὶ περὶ σφῶν ἐκινδύνευσαν Λακεδαιmicroόνιοι πολλοὺς ἀmicroφισβητήσαντες χρόνους ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἡγεmicroονίας ἐπειδή ποτacute ἐκράτησαν microόλις ἔτη δώδεκα κατεῖχον αὐτὴν ἀδήριτον Μακεδόνες τῆς microὲν Εὐρώπης ἦρξαν ἀπὸ τῶν κατὰ τὸν Ἀδρίαν τόπων ἕως ἐπὶ τὸν Ἴστρον ποταmicroόν ὃ βραχὺ παντελῶς ἂν φανείη microέρος τῆς προειρηmicroένης χώρας microετὰ δὲ ταῦτα προσέλαβον τὴν τῆς Ἀσίας ἀρχήν καταλύσαντες τὴν τῶν Περσῶν δυναστείαν ἀλλacute ὅmicroως οὗτοι πλείστων δόξαντες καὶ τόπων καὶ πραγmicroάτων γενέσθαι κύριοι τὸ πολὺ microέρος ἀκmicroὴν ἀπέλιπον τῆς οἰκουmicroένης ἀλλότριον Σικελίας microὲν γὰρ καὶ Σαρδοῦς καὶ Λιβύης οὐδacute ἐπεβάλοντο καθάπαξ ἀmicroφισβητεῖν τῆς δacute Εὐρώπης τὰ microαχιmicroώτατα γένη τῶν προσεσπερίων ἐθνῶν ἰσχνῶς εἰπεῖν οὐδacute ἐγίνωσκον Ῥωmicroαῖοί γε microὴν οὐ τινὰ microέρη σχεδὸν δὲ πᾶσαν πεποιηmicroένοι τὴν οἰκουmicroένην ὑπήκοον αὑτοῖς ἀνυπόστατον microὲν τοῖς ὑπάρχουσι πᾶσιν ἀνυπέρβλητον δὲ καὶ τοῖς ἐπιγινοmicroένοις ὑπεροχὴν κατέλιπον τῆς αὑτῶν δυναστείας

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auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

EINLEITUNG 17

Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

EINLEITUNG 19

Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

DAVID ENGELS 28

Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 2: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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So herrschte auf der oumlstlichen Seite des Eisernen Vorhangs lange Zeit der dialektische Materialismus welcher den Glauben an das notwendige Kommen der sozialistischen Zukunftsgesellschaft mit einer rein pragmatischen das Geistige zugunsten des Materiellen verdraumlngenden Bewertung historischer Einzelvorfaumllle verband waumlhrend kurioserweise auf der anderen Seite der Grenze eine ganz aumlhnliche intellektuelle Konzeption das Denken der Historiker und Politiker praumlgte naumlmlich die etwas widerspruumlchliche Kombination zwi-schen rationalistischer Fortschrittsglaumlubigkeit und dem Modell einer prinzipiell bdquooffenenldquo Geschichte wie wir es etwa in exemplarischer Weise bei Karl Pop-per vertreten finden Dieser verstieg sich in eine prinzipielle Ablehnung des urspruumlnglichen also morphologisch argumentierenden Konzepts von Ge-schichtswissenschaft welches er verwirrenderweise als bdquoHistorizismusldquo be-zeichnete (womit wesentlich Hegel und seine Schule gemeint sind) und dem er keinerlei Anspruch auf Formulierung wissenschaftlich allgemeinguumlltiger Aus-sagen zugestand Popper beharrte vielmehr auf der Singularitaumlt aller histori-schen Ereignisse und formulierte apodiktisch folgendes Credo welches letzt-lich ja nur einer Neubelebung des Historismus des 19 Jh gleichkommt

The hope [hellip] that we may some day find the lsquolaws of motion of societyrsquo just as Newton found the laws of motion of physical bodies is nothing but the result of these misunderstandings [hellip] But it will be said the existence of trends or tenden-cies in social change can hardly be questioned every statistician can calculate such trends [hellip] The answer is trends exist or more precisely the assumption of trends is often a useful statistical device But trends are not laws A statement asserting the existence of a trend is existential not universal [hellip] And a statement asserting the existence of a trend at a certain time and place would be a singular historical state-ment and not a universal law The practical significance of this logical situation is considerable while we may base scientific predictions on laws we cannot (as every cautious statistician knows) base them merely on the existence of trends A trend (we may again take population growth as an example) which has persisted for hun-dreds or even thousands of years may change within a decade of even more rapidly than that1

Nachdem die politischen Ereignisse des spaumlten 20 Jahrhunderts dem westli-chen Gesellschaftsmodell zum Sieg verholfen haben gelang es auch besagtem Geschichtsmodell sich weitgehend zu einer uumlberall vertretenen Einheitsschule zu entwickeln welche dadurch umso dominanter geworden ist daszlig sie die Selbstbezeichnung als bdquoGeschichtsphilosophieldquo grundsaumltzlich ablehnt und vielmehr ganz aumlhnlich wie der sozialistische Materialismus im ehemaligen Osten als rein bdquopragmatischeldquo Geschichtsbetrachtung aufgefaszligt werden will Die Absurditaumlt einer solchen Selbstbezeichnung sollte natuumlrlich jedem unvor-eingenommenen Betrachter unmittelbar klar sein sind die beiden Grundan-nahmen der gegenwaumlrtig bdquoguumlltigenldquo Geschichtsphilosophie doch tief in der Vergangenheit abendlaumlndischen Geschichtsdenkens verankert und koumlnnen

1 K POPPER The Poverty of Historicism London 1957 section 27

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kaum als grundlegende wissenschaftsgeschichtliche bdquoNeuheitldquo betrachtet wer-den

Waumlhrend so der insgeheim uumlberall unterschwellig vertretene Glaube an den bdquoFortschrittldquo als wichtigster Motor der Menschheitsgeschichte fraglos in der spezifischen Fortschrittsglaumlubigkeit wurzelt wie sie sich seit dem 17 Jh uumlber-all in Europa entwickelt und durch Denker wie Kant oder Condorcet klassi-schen Ausdruck gefunden hat stellt die Annahme einer prinzipiell bdquooffenenldquo Geschichte deren Ablaumlufe ndash wenigstens im kleinteiligen Rahmen ndash letztlich nur der Gesamtheit der mehr oder weniger zufaumllligen individuellen Handlun-gen zu verdanken sind ebenfalls eine seit alters her vertretene vor allem im Historismus besonders praumlgende geschichtsphilosophische Position dar so daszlig wie gesagt hinter der vordergruumlndigen Absage Poppers an den bdquoHistori-zismusldquo letztlich nichts anderes steckt als die Ruumlckkehr zum bdquoHistorismusldquo und zu Rankes Wunsch zu zeigen bdquowie es eigentlich gewesen istldquo Beide Komponenten des gegenwaumlrtigen angeblich bdquounphilosophischenldquo Geschichts-denkens koumlnnen also vom logischen Standpunkt aus keinerlei houmlhere Deu-tungshoheit beanspruchen als die meisten anderen von den Fakten nicht uumlber-holten geschichtsphilosophischen Modelle ringen doch offene wie geschlos-sene historische Denkmodelle miteinander seit es uumlberhaupt Denken uumlber die Geschichte gibt so daszlig alle ideologischen Siege hier nur voruumlbergehender Art sein koumlnnen

Beide Positionen Fortschrittsglaube und offene Geschichte sind dabei nur auf den ersten Blick widerspruumlchlich ebenso wie auch dialektischer Materia-lismus und bdquorealistischeldquo Tatsachenbeschreibung eng zusammengehoumlren fin-den sich doch etwa seit Kants geschickter Engfuumlhrung beider Konzepte indivi-duelle Freiheit wie uumlbergeordnete Notwendigkeit strukturell auf uumlberzeugende Weise miteinander verbunden (wobei anstatt einer linear-teleologisch ausge-richteten Orientierung der Gesamtgeschichte durchaus auch andere Modelle eingesetzt werden koumlnnten ohne der Argumentation zu schaden)

Die Geschichte welche sich mit der Erzaumlhlung dieser Erscheinungen beschaumlftigt so tief auch deren Ursachen verborgen sein moumlgen laumlszligt dennoch von sich hoffen daszlig wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Groszligen betrachtet sie einen regelmaumlszligigen Gang derselben entdecken koumlnne und daszlig auf die Art was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen faumlllt an der ganzen Gat-tung doch als eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwicklung der urspruumlng-lichen Anlagen derselben werde erkannt werden koumlnnen So scheinen die Ehen die daher kommenden Geburten und das Sterben da der freie Wille der Menschen auf sie so groszligen Einfluszlig hat keiner Regel unterworfen zu sein nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen koumlnne und doch beweisen die jaumlhrlichen Tafeln derselben in groszligen Laumlndern daszlig sie eben so wohl nach be-staumlndigen Naturgesetzen geschehen als die so unbestaumlndigen Witterungen deren Ereignis man einzeln nicht vorher bestimmen kann die aber im Ganzen nicht er-

EINLEITUNG 11

mangeln das Wachstum der Pflanzen den Lauf der Stroumlme und andere Naturanstal-ten in einem gleichfoumlrmigen ununterbrochenen Gange zu erhalten2

Dabei wird die gegenwaumlrtig uumlberall anzutreffende Hauptschule historischen Denkens sich eines Tages nicht nur dem Vorwurf aussetzen muumlssen durch ihr nach auszligen hin vertretenes scheinbar allgemeines Ablehnen geschichtsphilo-sophischer Argumentationen hinter der sich ja nur die Ablehnung bdquoandererldquo Argumentationen verbirgt wertvolle geistesgeschichtliche Kontinuitaumltsfaumlden abgerissen und das Abendland in seinem verhaumlngnisvollen Wachstums- und Fortschrittswahn bekraumlftigt zu haben sondern die von ihr postulierte bdquooffeneldquo Geschichtssicht gefaumlhrdet auch die gesellschaftliche und intellektuelle Stellung des Historikers an sich

Denn der Ruumlckzug in eine Betrachtung der Ereignisse bdquowie sie eigentlich gewesen sindldquo mag zwar vom rein einzelwissenschaftlichen Standpunkt her ebenso komfortabel wie unproblematisch sein laumluft aber letztlich auf eine Apologie rein antiquarischer Geschichtsbetrachtung hinaus welche dadurch auch gesamtgesellschaftliche Tragweite erhaumllt daszlig sie darauf bedacht ist innerhalb der eigenen Disziplin keinerlei Opposition zu tolerieren welche eine andere Perspektive auf die zusammengetragenen Fakten entwickeln koumlnnte Anders ausgedruumlckt Dadurch daszlig die Geschichtswissenschaft mit Spengler gesprochen sich selbst zur bloszligen bdquoAmeisenarbeitldquo herabgewuumlrdigt hat und aus Opposition gegen die bdquoGefahrenldquo der Geschichtsphilosophie die Moumlglich-keit bestreitet die solchermaszligen aufgehaumluften Fakten uumlberhaupt irgendwie sinnbringend fuumlr Gegenwart wie Zukunft zu deuten ist eben diese Deutungs-hoheit keineswegs verschwunden sondern hat sich vielmehr in die Kreise derer verlagert welche erfahrungsgemaumlszlig hierzu am schlechtesten qualifiziert sind da ihr Interesse an Geschichte unweigerlich von ebenso eigennuumltzigen wie kurzsichtigen Zielsetzungen gepraumlgt ist Journalisten und Politiker

Daszlig eine solche geschichtsphilosophisch motivierte Selbstabdankung der Geschichtswissenschaft auf lange Sicht hin tragische Folgen fuumlr die Disziplin an sich haben muszlig (und bereits hat bedenkt man den geradezu spektakulaumlren akademischen Schrumpfungsprozeszlig aller historischen Disziplinen und den konsequenten Abbau des Humboldtrsquoschen humanistischen Bildungsideals) ist daher nur eine natuumlrliche Konsequenz miszligt sich doch die Bedeutsamkeit einer wissenschaftlichen Disziplin an ihrem konkreten Nutzen fuumlr Gegenwart und Zukunft Und welchen Nutzen soll dabei eine Geschichtsschreibung haben welche auf prinzipieller bdquoOffenheitldquo besteht und somit bestreitet daszlig Ge-schichte in Anbetracht der prinzipiell gleichbleibenden menschlichen Natur vielmehr durch die Wiederkehr repetitiver Strukturen gepraumlgt ist und daszlig es die eigentliche Aufgabe der Geschichtsschreibung sein muumlszligte durch Studium

2 I KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbuumlrgerlicher Absicht (urspr

in Berlinische Monatsschrift November 1784 S 385-411) Einleitung

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der Vergangenheit eben diese Strukturen als solche kenntlich zu machen um somit ihr Wiedererkennen in der Gegenwart und im Rahmen des Moumlglichen ihre Auswirkungen auf die Zukunft zu ermoumlglichen Dies war jedenfalls die urspruumlngliche Definition der Historie denkt man etwa an Thukydides dessen klassische Beschreibung des Nutzens der Geschichtsschreibung offensichtlich den Gegenpol dessen ausmacht was seit einigen Jahrzehnten offizieller Kon-sens zu sein scheint

Zum Zuhoumlren wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergoumltzlich scheinen wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Kuumlnftige das wieder einmal nach der menschlichen Natur gleich oder aumlhnlich sein wird der mag es so fuumlr nuumltzlich halten und das soll mir genug sein zum dauernden Besitz nicht als Prunkstuumlck fuumlrʼs einmalige Houmlren ist es aufgeschrieben3

2 Grundstrukturen deterministischen Geschichtsdenkens Jede echte Geschichtsbetrachtung muszlig also in gewisser Weise die Moumlglich-keit ja sogar Notwendigkeit einer analogen Wiederkehr identischer Struktur-muster annehmen will sie nicht in bloszlige deskriptive und antiquarische Belie-bigkeit verfallen und somit gleichzeitig auch ihre eigene Daseinsberechtigung ausloumlschen Wer nun aber die Moumlglichkeit des Analogieschlusses als funda-mentales Gesetz der Geschichtsdeutung gelten lassen will muszlig notwendiger-weise eine bdquodeterministischeldquo Grundhaltung einnehmen bedeutet doch die Akzeptanz der Annahme daszlig aus analogen Grundvoraussetzungen analoge Folgen entstehen nichts weniger als historische Gesetzmaumlszligigkeiten und somit Determinismen zu vermuten Nun ist bdquoDeterminismusldquo ndash zumindest in der hier zugrundegelegten recht weitlaumlufigen Auffassung des Begriffs ndash ein weites Feld das die verschiedensten Interpretationen erlaubt Nimmt man einmal komplexere da aus vielfaumlltiger Addition unterschiedlichster Vorstellungen gespeiste Faumllle wie etwa theologische Heilsgeschichten aus so lassen sich die verschiedenen geschichtsdeterministischen Denkschulen recht schnell auf einige wenige Grundmuster reduzieren welche freilich keineswegs als (not-wendigerweise simplistische) Reduktion der Komplexitaumlt historischen Den-kens aufgefaszligt werden sollen sondern vielmehr als dynamische Grundbaustei-ne deren vielfaumlltige Kombination Interpretation und wechselseitige Bezug-nahme erst den Reiz echter Geschichtsphilosophie ausmachen

3 THUK 122 (Uumlbers P LANDMANN 1991) καὶ ἐς microὲν ἀκρόασιν ἴσως τὸ microὴ

microυθῶδες αὐτῶν ἀτερπέστερον φανεῖται ὅσοι δὲ βουλήσονται τῶν τε γενοmicroένων τὸ σαφὲς σκοπεῖν καὶ τῶν microελλόντων ποτὲ αὖθις κατὰ τὸ ἀνθρώπινον τοιούτων καὶ παραπλησίων ἔσεσθαι ὠφέλιmicroα κρίνειν αὐτὰ ἀρκούντως ἕξει κτῆmicroά τε ἐς αἰεὶ microᾶλλον ἢ ἀγώνισmicroα ἐς τὸ παραχρῆmicroα ἀκούειν ξύγκειται

EINLEITUNG 13

21 Fortschritt Das erste deterministische Geschichtsmodell das im Vorfeld ja auch bereits kurz besprochen wurde geht von einem grundsaumltzlichen bdquoFortschrittldquo in der Weltgeschichte aus wobei dieser Fortschritt natuumlrlich verschiedenster Art sein kann So mag der Begriff bdquoFortschrittldquo etwa auf den ethischen technologi-schen politischen kuumlnstlerischen oder religioumlsen Bereich bezogen werden fernerhin sowohl unbegrenzt als auch teleologisch auf ein festes Ziel zulaufend interpretiert werden und sich in verschiedensten Verlaufsformen aumluszligern etwa als lineares exponentielles dialektisches oder Stufenmodell wobei im Falle des Stufenmodells auch vielfaumlltige Kombinationen mit anderen deterministi-schen Grundstrukturen moumlglich sind wie etwa dem Dekadenz- oder dem Bio-logismusmodell Typische Beispiele fuumlr das Fortschrittsmodell liefern etwa die linearen Fortschrittstheorien Aristotelesʼ Lucrez oder Diodors das teleolo-gisch-theologische Stufenmodell der meisten monotheistischen Heilslehren welches bei Joachim von Fiore eine bislang ungeahnte dialektische Kondensie-rung erfahren sollte die naive Zukunftsglaumlubigkeit der bdquoQuerelle des Anciens et Modernesldquo und des Aufklaumlrungsdenken und schlieszliglich die Hegelsche Geschichtsdialektik mit ihren verschiedenen linken wie rechten Spielarten und Auslaumlufern bis hin zu Jaspers Achsenzeit Fukuyamas bdquoEnd of Historyldquo und den meisten heute vorherrschenden geschichtsoptimistischen Ansaumltzen

Zur Verdeutlichung seien einige Zitate erlaubt So mag man in erster Linie an Lucrez denken der in Anlehnung an Epikur wohl das erste (erhaltene) Bei-spiel einer ausformulierten Fortschrittstheorie vorlegte wobei die diesem inhauml-rente Kritik am Fortschrittsgedanken naumlmlich daszlig dieser an den grundlegen-den Problemen der Menschheit nichts wesentlich aumlndere sondern diese nur auf andere Ebenen verlagere nahelegen duumlrfte daszlig es sich hierbei schon um eine Reaktion auf fruumlhere positivere Wertschaumltzungen des Fortschritts handelt wie wir sie ja zum Beispiel bei Xenophanes oder Sophokles finden So heiszligt es bei Xenophanes noch Nicht von Anfang an haben die Goumltter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt sondern allmaumlhlich finden sie suchend das Bessere4 Lu-crez hingegen erklaumlrt

Denn was grade im Schwang das gefaumlllt und wirkt ja besonders Wenn man nicht vorher schon Schoumlneres hatte gesehen Wird dann spaumlter das Beszligre entdeckt so vernichtet es alles Was man fruumlher geliebt der Geschmack veraumlndert sich eben So ward ihnen die Eichel verhaszligt so verlieszlig man die alten Lagerstaumltten die Graumlser und Laubwerk hatten gepolstert Ebenso fiel in Verachtung die fruumlhere Kleidung aus Tierfell Einstmals muszligte den Neid wie mich duumlnkt die Erfindung des Fell-kleids Wecken so daszlig sein Traumlger von Meuchelmoumlrdern bedroht war Und doch muszligt es verschwinden und konnte nicht fuumlrder mehr dienen Weil es im Hader des

4 DK 18 in Stob Ecl 182 (Uumlbers DK) οὔτοι ἀπ᾽ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖσ᾽

ὑπέδειξαν ἀλλὰ χρόνωι ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄmicroεινον

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Streits zerrissen und blutuumlberstroumlmt ward Damals war es das Fell jetzt bringt das Gold und der Purpur Sorgen dem Leben der Menschen und stiftet bei ihnen den Krieg an Doch kommt groumlszligere Schuld wie mich duumlnkt auf unsere Rechnung Jene Soumlhne der Erde die nackt und noch ohne die Felle Waren litten vom Prost doch was schadet es uns wenn dem Kleide Fehlet der Purpur verbraumlmt mit Gold und mit riesigem Zierat Koumlnnte doch auch ein plebejisch Gewand vor der Kaumllte uns schuumltzen So muumlht also das Menschengeschlecht sich umsonst und vergebens Immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben Leider versteht es ja nicht der Besitzgier Schranken zu setzen Und die Grenze wieweit sich das wah-re Vergnuumlgen noch steigert Dies istʼs was mit der Zeit das Leben ins offene Meer trieb Und von Grund aus erregte die maumlchtigen Wogen des Krieges5

Nun gilt allerdings zu bedenken daszlig die epikureische Fortschrittslehre in ty-pisch antiker Weise zwar das Streben nach Fortschritt als eine dem Menschen inhaumlrente Gesetzlichkeit betrachtet welche wesentlich fuumlr den Lauf der Ge-schichte verantwortlich ist hieraus aber keineswegs ein Anwachsen seines persoumlnlichen Gluumlcks ableitet welches eben zu allen Zeiten nur in der Abkehr von Ehrgeiz und Uumlbertreibung gesucht werden kann

Ganz umgekehrt argumentiert etwa Polybios der in der Einleitung zu sei-nem groszligen Geschichtswerk die im Vorderen Orient weitverbreitete meist rein additive Abfolge groszliger Weltreiche als einen wesentlich dynamischen Prozeszlig begreift und mit dem stoisch gepraumlgten Glauben an die goumlttliche Vorsehung in Verbindung bringt welche auf eine immer groumlszligere wechselseitige Durchdrin-gung von politischer Geschichte und naturhafter Gesetzmaumlszligigkeit draumlnge und daher auch die Weltgeschichte allmaumlhlich auf einen Punkt absoluter Uumlberein-stimmung zwischen natuumlrlichem Weltganzen und harmonischer politischer Ordnung hinauslaufen lasse Dies bringt ihn zu der Uumlberzeugung die Abfolge groszliger Reiche fuumlhre letztlich zur Herausbildung immer maumlchtigerer Staaten und schluszligendlich in Form des roumlmischen Reiches zur Zusammenfassung der gesamten Oikoumene unter die Herrschaft von Verstand und Sitte

Wie auszligerordentlich und wichtig aber der unserer Betrachtung zu unterziehende Ge-genstand ist wird alsdann am deutlichsten werden wenn wir die beruumlhmtesten der

5 LUCR 51412ndash1435 (Uumlbers H DIELS 1924) Nam quod adest praesto nisi quid

cognouimus ante suauius in primis placet et pollere uidetur posteriorque fere meli-or res illa reperta perdit et immutat sensus ad pristina quaeque Sic odium coepit glandis sic illa relicta strata cubilia sunt herbis et frondibus aucta Pellis item ceci-dit uestis contempta ferina quam reor inuidia tali tunc esse repertam ut letum insidiis qui gessit primus obiret et tamen inter eos distractam sanguine multo dispe-riise neque in fructum conuertere quisse Tunc igitur pelles nunc aurum et purpura curis exercent hominum uitam belloque fatigant quo magis in nobis ut opinor culpa resedit Frigus enim nudos sine pellibus excruciabat terrigenas at nos nil laedit ueste carere purpurea atque auro signisque ingentibus apta dum plebeia tamen sit quae defendere possit Ergo hominum genus in cassum frustraque laborat semper et in curis consumit inanibus aeuom ni mirum quia non cognouit quae sit habendi finis et omnino quoad crescat uera uoluptas idque minutatim uitam prou-exit in altum et belli magnos commouit funditus aestus

EINLEITUNG 15

fruumlheren Reiche die von den Geschichtsschreibern auf das Ausfuumlhrlichste behandelt sind mit der Herrschaft der Roumlmer zusammenstellen und vergleichen Es sind aber folgende die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen Die Per-ser besaszligen einst eine groszlige Herrschaft und Macht allein so oft sie die Grenzen von Asien zu uumlberschreiten wagten so wurde dies nicht bloszlig ihrer Herrschaft sondern ihnen selbst gefaumlhrlich Die Lakedaumlmonier rangen lange Zeit nach der Oberherr-schaft uumlber die Griechen und hatten dieselbe nachdem sie endlich Meister gewor-den kaum zwoumllf Jahre unbestritten inne Die Makedonier herrschten in Europa von den Kuumlsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluszlig was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint sodann aber fuumlgten sie die Herrschaft uumlber Asien hinzu nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht Allein so groszlig ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien so lieszligen sie noch einen sehr groszligen Teil des Erdbodens unberuumlhrt Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kaumlmpfen fiel ihnen niemals ein und von den streitbarsten unter den westlichen Voumll-kern Europas fehlte ihnen im eigentlichen Sine des Wortes sogar die Kunde Die Roumlmer aber nachdem sie nicht einzelne Teile sondern beinahe den ganzen Erdbo-den sich unterworfen haben eine Herrschaft von solcher Groumlszlige aufgerichtet daszlig die Mitwelt sie nur anstaunen kann die Nachwelt aber niemals uumlber dieselbe wird hin-ausschreiten koumlnnen6

In fruumlhchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Ent-wicklung der Religionsgeschichte bezogen werden um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maio-rum zu liefern wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht

Aber sagt ihr es ist nicht vernuumlnftig eine uns von den Vaumltern uumlberlieferte Sitte um-zustoszligen Ja warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung die Milch an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewoumlhnten Warum vermehren oder vermindern wir das vaumlterliche Vermoumlgen und erhalten es nicht in der gleichen Groumlszlige wie wir es uumlberkommen haben Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Vaumlter herablaufen oder vollfuumlhren

6 POLYB 121 (Uumlbers A HAAKH 1858) Ὡς δacute ἔστι παράδοξον καὶ microέγα τὸ περὶ τὴν

ἡmicroετέραν ὑπόθεσιν θεώρηmicroα γένοιτacute ἂν οὕτως microάλιστacute ἐmicroφανές εἰ τὰς ἐλλογιmicroωτάτας τῶν προγεγενηmicroένων δυναστειῶν περὶ ἃς οἱ συγγραφεῖς τοὺς πλείστους διατέθεινται λόγους παραβάλοιmicroεν καὶ συγκρίναιmicroεν πρὸς τὴν Ῥωmicroαίων ὑπεροχήν εἰσὶ δacute αἱ τῆς παραβολῆς ἄξιαι καὶ συγκρίσεως αὗται Πέρσαι κατά τινας καιροὺς microεγάλην ἀρχὴν κατεκτήσαντο καὶ δυναστείαν ἀλλacute ὁσάκις ἐτόλmicroησαν ὑπερβῆναι τοὺς τῆς Ἀσίας ὅρους οὐ microόνον ὑπὲρ τῆς ἀρχῆς ἀλλὰ καὶ περὶ σφῶν ἐκινδύνευσαν Λακεδαιmicroόνιοι πολλοὺς ἀmicroφισβητήσαντες χρόνους ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἡγεmicroονίας ἐπειδή ποτacute ἐκράτησαν microόλις ἔτη δώδεκα κατεῖχον αὐτὴν ἀδήριτον Μακεδόνες τῆς microὲν Εὐρώπης ἦρξαν ἀπὸ τῶν κατὰ τὸν Ἀδρίαν τόπων ἕως ἐπὶ τὸν Ἴστρον ποταmicroόν ὃ βραχὺ παντελῶς ἂν φανείη microέρος τῆς προειρηmicroένης χώρας microετὰ δὲ ταῦτα προσέλαβον τὴν τῆς Ἀσίας ἀρχήν καταλύσαντες τὴν τῶν Περσῶν δυναστείαν ἀλλacute ὅmicroως οὗτοι πλείστων δόξαντες καὶ τόπων καὶ πραγmicroάτων γενέσθαι κύριοι τὸ πολὺ microέρος ἀκmicroὴν ἀπέλιπον τῆς οἰκουmicroένης ἀλλότριον Σικελίας microὲν γὰρ καὶ Σαρδοῦς καὶ Λιβύης οὐδacute ἐπεβάλοντο καθάπαξ ἀmicroφισβητεῖν τῆς δacute Εὐρώπης τὰ microαχιmicroώτατα γένη τῶν προσεσπερίων ἐθνῶν ἰσχνῶς εἰπεῖν οὐδacute ἐγίνωσκον Ῥωmicroαῖοί γε microὴν οὐ τινὰ microέρη σχεδὸν δὲ πᾶσαν πεποιηmicroένοι τὴν οἰκουmicroένην ὑπήκοον αὑτοῖς ἀνυπόστατον microὲν τοῖς ὑπάρχουσι πᾶσιν ἀνυπέρβλητον δὲ καὶ τοῖς ἐπιγινοmicroένοις ὑπεροχὴν κατέλιπον τῆς αὑτῶν δυναστείας

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auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

EINLEITUNG 17

Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

EINLEITUNG 19

Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

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seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

DAVID ENGELS 30

ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 3: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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kaum als grundlegende wissenschaftsgeschichtliche bdquoNeuheitldquo betrachtet wer-den

Waumlhrend so der insgeheim uumlberall unterschwellig vertretene Glaube an den bdquoFortschrittldquo als wichtigster Motor der Menschheitsgeschichte fraglos in der spezifischen Fortschrittsglaumlubigkeit wurzelt wie sie sich seit dem 17 Jh uumlber-all in Europa entwickelt und durch Denker wie Kant oder Condorcet klassi-schen Ausdruck gefunden hat stellt die Annahme einer prinzipiell bdquooffenenldquo Geschichte deren Ablaumlufe ndash wenigstens im kleinteiligen Rahmen ndash letztlich nur der Gesamtheit der mehr oder weniger zufaumllligen individuellen Handlun-gen zu verdanken sind ebenfalls eine seit alters her vertretene vor allem im Historismus besonders praumlgende geschichtsphilosophische Position dar so daszlig wie gesagt hinter der vordergruumlndigen Absage Poppers an den bdquoHistori-zismusldquo letztlich nichts anderes steckt als die Ruumlckkehr zum bdquoHistorismusldquo und zu Rankes Wunsch zu zeigen bdquowie es eigentlich gewesen istldquo Beide Komponenten des gegenwaumlrtigen angeblich bdquounphilosophischenldquo Geschichts-denkens koumlnnen also vom logischen Standpunkt aus keinerlei houmlhere Deu-tungshoheit beanspruchen als die meisten anderen von den Fakten nicht uumlber-holten geschichtsphilosophischen Modelle ringen doch offene wie geschlos-sene historische Denkmodelle miteinander seit es uumlberhaupt Denken uumlber die Geschichte gibt so daszlig alle ideologischen Siege hier nur voruumlbergehender Art sein koumlnnen

Beide Positionen Fortschrittsglaube und offene Geschichte sind dabei nur auf den ersten Blick widerspruumlchlich ebenso wie auch dialektischer Materia-lismus und bdquorealistischeldquo Tatsachenbeschreibung eng zusammengehoumlren fin-den sich doch etwa seit Kants geschickter Engfuumlhrung beider Konzepte indivi-duelle Freiheit wie uumlbergeordnete Notwendigkeit strukturell auf uumlberzeugende Weise miteinander verbunden (wobei anstatt einer linear-teleologisch ausge-richteten Orientierung der Gesamtgeschichte durchaus auch andere Modelle eingesetzt werden koumlnnten ohne der Argumentation zu schaden)

Die Geschichte welche sich mit der Erzaumlhlung dieser Erscheinungen beschaumlftigt so tief auch deren Ursachen verborgen sein moumlgen laumlszligt dennoch von sich hoffen daszlig wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Groszligen betrachtet sie einen regelmaumlszligigen Gang derselben entdecken koumlnne und daszlig auf die Art was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen faumlllt an der ganzen Gat-tung doch als eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwicklung der urspruumlng-lichen Anlagen derselben werde erkannt werden koumlnnen So scheinen die Ehen die daher kommenden Geburten und das Sterben da der freie Wille der Menschen auf sie so groszligen Einfluszlig hat keiner Regel unterworfen zu sein nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen koumlnne und doch beweisen die jaumlhrlichen Tafeln derselben in groszligen Laumlndern daszlig sie eben so wohl nach be-staumlndigen Naturgesetzen geschehen als die so unbestaumlndigen Witterungen deren Ereignis man einzeln nicht vorher bestimmen kann die aber im Ganzen nicht er-

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mangeln das Wachstum der Pflanzen den Lauf der Stroumlme und andere Naturanstal-ten in einem gleichfoumlrmigen ununterbrochenen Gange zu erhalten2

Dabei wird die gegenwaumlrtig uumlberall anzutreffende Hauptschule historischen Denkens sich eines Tages nicht nur dem Vorwurf aussetzen muumlssen durch ihr nach auszligen hin vertretenes scheinbar allgemeines Ablehnen geschichtsphilo-sophischer Argumentationen hinter der sich ja nur die Ablehnung bdquoandererldquo Argumentationen verbirgt wertvolle geistesgeschichtliche Kontinuitaumltsfaumlden abgerissen und das Abendland in seinem verhaumlngnisvollen Wachstums- und Fortschrittswahn bekraumlftigt zu haben sondern die von ihr postulierte bdquooffeneldquo Geschichtssicht gefaumlhrdet auch die gesellschaftliche und intellektuelle Stellung des Historikers an sich

Denn der Ruumlckzug in eine Betrachtung der Ereignisse bdquowie sie eigentlich gewesen sindldquo mag zwar vom rein einzelwissenschaftlichen Standpunkt her ebenso komfortabel wie unproblematisch sein laumluft aber letztlich auf eine Apologie rein antiquarischer Geschichtsbetrachtung hinaus welche dadurch auch gesamtgesellschaftliche Tragweite erhaumllt daszlig sie darauf bedacht ist innerhalb der eigenen Disziplin keinerlei Opposition zu tolerieren welche eine andere Perspektive auf die zusammengetragenen Fakten entwickeln koumlnnte Anders ausgedruumlckt Dadurch daszlig die Geschichtswissenschaft mit Spengler gesprochen sich selbst zur bloszligen bdquoAmeisenarbeitldquo herabgewuumlrdigt hat und aus Opposition gegen die bdquoGefahrenldquo der Geschichtsphilosophie die Moumlglich-keit bestreitet die solchermaszligen aufgehaumluften Fakten uumlberhaupt irgendwie sinnbringend fuumlr Gegenwart wie Zukunft zu deuten ist eben diese Deutungs-hoheit keineswegs verschwunden sondern hat sich vielmehr in die Kreise derer verlagert welche erfahrungsgemaumlszlig hierzu am schlechtesten qualifiziert sind da ihr Interesse an Geschichte unweigerlich von ebenso eigennuumltzigen wie kurzsichtigen Zielsetzungen gepraumlgt ist Journalisten und Politiker

Daszlig eine solche geschichtsphilosophisch motivierte Selbstabdankung der Geschichtswissenschaft auf lange Sicht hin tragische Folgen fuumlr die Disziplin an sich haben muszlig (und bereits hat bedenkt man den geradezu spektakulaumlren akademischen Schrumpfungsprozeszlig aller historischen Disziplinen und den konsequenten Abbau des Humboldtrsquoschen humanistischen Bildungsideals) ist daher nur eine natuumlrliche Konsequenz miszligt sich doch die Bedeutsamkeit einer wissenschaftlichen Disziplin an ihrem konkreten Nutzen fuumlr Gegenwart und Zukunft Und welchen Nutzen soll dabei eine Geschichtsschreibung haben welche auf prinzipieller bdquoOffenheitldquo besteht und somit bestreitet daszlig Ge-schichte in Anbetracht der prinzipiell gleichbleibenden menschlichen Natur vielmehr durch die Wiederkehr repetitiver Strukturen gepraumlgt ist und daszlig es die eigentliche Aufgabe der Geschichtsschreibung sein muumlszligte durch Studium

2 I KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbuumlrgerlicher Absicht (urspr

in Berlinische Monatsschrift November 1784 S 385-411) Einleitung

DAVID ENGELS 12

der Vergangenheit eben diese Strukturen als solche kenntlich zu machen um somit ihr Wiedererkennen in der Gegenwart und im Rahmen des Moumlglichen ihre Auswirkungen auf die Zukunft zu ermoumlglichen Dies war jedenfalls die urspruumlngliche Definition der Historie denkt man etwa an Thukydides dessen klassische Beschreibung des Nutzens der Geschichtsschreibung offensichtlich den Gegenpol dessen ausmacht was seit einigen Jahrzehnten offizieller Kon-sens zu sein scheint

Zum Zuhoumlren wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergoumltzlich scheinen wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Kuumlnftige das wieder einmal nach der menschlichen Natur gleich oder aumlhnlich sein wird der mag es so fuumlr nuumltzlich halten und das soll mir genug sein zum dauernden Besitz nicht als Prunkstuumlck fuumlrʼs einmalige Houmlren ist es aufgeschrieben3

2 Grundstrukturen deterministischen Geschichtsdenkens Jede echte Geschichtsbetrachtung muszlig also in gewisser Weise die Moumlglich-keit ja sogar Notwendigkeit einer analogen Wiederkehr identischer Struktur-muster annehmen will sie nicht in bloszlige deskriptive und antiquarische Belie-bigkeit verfallen und somit gleichzeitig auch ihre eigene Daseinsberechtigung ausloumlschen Wer nun aber die Moumlglichkeit des Analogieschlusses als funda-mentales Gesetz der Geschichtsdeutung gelten lassen will muszlig notwendiger-weise eine bdquodeterministischeldquo Grundhaltung einnehmen bedeutet doch die Akzeptanz der Annahme daszlig aus analogen Grundvoraussetzungen analoge Folgen entstehen nichts weniger als historische Gesetzmaumlszligigkeiten und somit Determinismen zu vermuten Nun ist bdquoDeterminismusldquo ndash zumindest in der hier zugrundegelegten recht weitlaumlufigen Auffassung des Begriffs ndash ein weites Feld das die verschiedensten Interpretationen erlaubt Nimmt man einmal komplexere da aus vielfaumlltiger Addition unterschiedlichster Vorstellungen gespeiste Faumllle wie etwa theologische Heilsgeschichten aus so lassen sich die verschiedenen geschichtsdeterministischen Denkschulen recht schnell auf einige wenige Grundmuster reduzieren welche freilich keineswegs als (not-wendigerweise simplistische) Reduktion der Komplexitaumlt historischen Den-kens aufgefaszligt werden sollen sondern vielmehr als dynamische Grundbaustei-ne deren vielfaumlltige Kombination Interpretation und wechselseitige Bezug-nahme erst den Reiz echter Geschichtsphilosophie ausmachen

3 THUK 122 (Uumlbers P LANDMANN 1991) καὶ ἐς microὲν ἀκρόασιν ἴσως τὸ microὴ

microυθῶδες αὐτῶν ἀτερπέστερον φανεῖται ὅσοι δὲ βουλήσονται τῶν τε γενοmicroένων τὸ σαφὲς σκοπεῖν καὶ τῶν microελλόντων ποτὲ αὖθις κατὰ τὸ ἀνθρώπινον τοιούτων καὶ παραπλησίων ἔσεσθαι ὠφέλιmicroα κρίνειν αὐτὰ ἀρκούντως ἕξει κτῆmicroά τε ἐς αἰεὶ microᾶλλον ἢ ἀγώνισmicroα ἐς τὸ παραχρῆmicroα ἀκούειν ξύγκειται

EINLEITUNG 13

21 Fortschritt Das erste deterministische Geschichtsmodell das im Vorfeld ja auch bereits kurz besprochen wurde geht von einem grundsaumltzlichen bdquoFortschrittldquo in der Weltgeschichte aus wobei dieser Fortschritt natuumlrlich verschiedenster Art sein kann So mag der Begriff bdquoFortschrittldquo etwa auf den ethischen technologi-schen politischen kuumlnstlerischen oder religioumlsen Bereich bezogen werden fernerhin sowohl unbegrenzt als auch teleologisch auf ein festes Ziel zulaufend interpretiert werden und sich in verschiedensten Verlaufsformen aumluszligern etwa als lineares exponentielles dialektisches oder Stufenmodell wobei im Falle des Stufenmodells auch vielfaumlltige Kombinationen mit anderen deterministi-schen Grundstrukturen moumlglich sind wie etwa dem Dekadenz- oder dem Bio-logismusmodell Typische Beispiele fuumlr das Fortschrittsmodell liefern etwa die linearen Fortschrittstheorien Aristotelesʼ Lucrez oder Diodors das teleolo-gisch-theologische Stufenmodell der meisten monotheistischen Heilslehren welches bei Joachim von Fiore eine bislang ungeahnte dialektische Kondensie-rung erfahren sollte die naive Zukunftsglaumlubigkeit der bdquoQuerelle des Anciens et Modernesldquo und des Aufklaumlrungsdenken und schlieszliglich die Hegelsche Geschichtsdialektik mit ihren verschiedenen linken wie rechten Spielarten und Auslaumlufern bis hin zu Jaspers Achsenzeit Fukuyamas bdquoEnd of Historyldquo und den meisten heute vorherrschenden geschichtsoptimistischen Ansaumltzen

Zur Verdeutlichung seien einige Zitate erlaubt So mag man in erster Linie an Lucrez denken der in Anlehnung an Epikur wohl das erste (erhaltene) Bei-spiel einer ausformulierten Fortschrittstheorie vorlegte wobei die diesem inhauml-rente Kritik am Fortschrittsgedanken naumlmlich daszlig dieser an den grundlegen-den Problemen der Menschheit nichts wesentlich aumlndere sondern diese nur auf andere Ebenen verlagere nahelegen duumlrfte daszlig es sich hierbei schon um eine Reaktion auf fruumlhere positivere Wertschaumltzungen des Fortschritts handelt wie wir sie ja zum Beispiel bei Xenophanes oder Sophokles finden So heiszligt es bei Xenophanes noch Nicht von Anfang an haben die Goumltter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt sondern allmaumlhlich finden sie suchend das Bessere4 Lu-crez hingegen erklaumlrt

Denn was grade im Schwang das gefaumlllt und wirkt ja besonders Wenn man nicht vorher schon Schoumlneres hatte gesehen Wird dann spaumlter das Beszligre entdeckt so vernichtet es alles Was man fruumlher geliebt der Geschmack veraumlndert sich eben So ward ihnen die Eichel verhaszligt so verlieszlig man die alten Lagerstaumltten die Graumlser und Laubwerk hatten gepolstert Ebenso fiel in Verachtung die fruumlhere Kleidung aus Tierfell Einstmals muszligte den Neid wie mich duumlnkt die Erfindung des Fell-kleids Wecken so daszlig sein Traumlger von Meuchelmoumlrdern bedroht war Und doch muszligt es verschwinden und konnte nicht fuumlrder mehr dienen Weil es im Hader des

4 DK 18 in Stob Ecl 182 (Uumlbers DK) οὔτοι ἀπ᾽ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖσ᾽

ὑπέδειξαν ἀλλὰ χρόνωι ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄmicroεινον

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Streits zerrissen und blutuumlberstroumlmt ward Damals war es das Fell jetzt bringt das Gold und der Purpur Sorgen dem Leben der Menschen und stiftet bei ihnen den Krieg an Doch kommt groumlszligere Schuld wie mich duumlnkt auf unsere Rechnung Jene Soumlhne der Erde die nackt und noch ohne die Felle Waren litten vom Prost doch was schadet es uns wenn dem Kleide Fehlet der Purpur verbraumlmt mit Gold und mit riesigem Zierat Koumlnnte doch auch ein plebejisch Gewand vor der Kaumllte uns schuumltzen So muumlht also das Menschengeschlecht sich umsonst und vergebens Immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben Leider versteht es ja nicht der Besitzgier Schranken zu setzen Und die Grenze wieweit sich das wah-re Vergnuumlgen noch steigert Dies istʼs was mit der Zeit das Leben ins offene Meer trieb Und von Grund aus erregte die maumlchtigen Wogen des Krieges5

Nun gilt allerdings zu bedenken daszlig die epikureische Fortschrittslehre in ty-pisch antiker Weise zwar das Streben nach Fortschritt als eine dem Menschen inhaumlrente Gesetzlichkeit betrachtet welche wesentlich fuumlr den Lauf der Ge-schichte verantwortlich ist hieraus aber keineswegs ein Anwachsen seines persoumlnlichen Gluumlcks ableitet welches eben zu allen Zeiten nur in der Abkehr von Ehrgeiz und Uumlbertreibung gesucht werden kann

Ganz umgekehrt argumentiert etwa Polybios der in der Einleitung zu sei-nem groszligen Geschichtswerk die im Vorderen Orient weitverbreitete meist rein additive Abfolge groszliger Weltreiche als einen wesentlich dynamischen Prozeszlig begreift und mit dem stoisch gepraumlgten Glauben an die goumlttliche Vorsehung in Verbindung bringt welche auf eine immer groumlszligere wechselseitige Durchdrin-gung von politischer Geschichte und naturhafter Gesetzmaumlszligigkeit draumlnge und daher auch die Weltgeschichte allmaumlhlich auf einen Punkt absoluter Uumlberein-stimmung zwischen natuumlrlichem Weltganzen und harmonischer politischer Ordnung hinauslaufen lasse Dies bringt ihn zu der Uumlberzeugung die Abfolge groszliger Reiche fuumlhre letztlich zur Herausbildung immer maumlchtigerer Staaten und schluszligendlich in Form des roumlmischen Reiches zur Zusammenfassung der gesamten Oikoumene unter die Herrschaft von Verstand und Sitte

Wie auszligerordentlich und wichtig aber der unserer Betrachtung zu unterziehende Ge-genstand ist wird alsdann am deutlichsten werden wenn wir die beruumlhmtesten der

5 LUCR 51412ndash1435 (Uumlbers H DIELS 1924) Nam quod adest praesto nisi quid

cognouimus ante suauius in primis placet et pollere uidetur posteriorque fere meli-or res illa reperta perdit et immutat sensus ad pristina quaeque Sic odium coepit glandis sic illa relicta strata cubilia sunt herbis et frondibus aucta Pellis item ceci-dit uestis contempta ferina quam reor inuidia tali tunc esse repertam ut letum insidiis qui gessit primus obiret et tamen inter eos distractam sanguine multo dispe-riise neque in fructum conuertere quisse Tunc igitur pelles nunc aurum et purpura curis exercent hominum uitam belloque fatigant quo magis in nobis ut opinor culpa resedit Frigus enim nudos sine pellibus excruciabat terrigenas at nos nil laedit ueste carere purpurea atque auro signisque ingentibus apta dum plebeia tamen sit quae defendere possit Ergo hominum genus in cassum frustraque laborat semper et in curis consumit inanibus aeuom ni mirum quia non cognouit quae sit habendi finis et omnino quoad crescat uera uoluptas idque minutatim uitam prou-exit in altum et belli magnos commouit funditus aestus

EINLEITUNG 15

fruumlheren Reiche die von den Geschichtsschreibern auf das Ausfuumlhrlichste behandelt sind mit der Herrschaft der Roumlmer zusammenstellen und vergleichen Es sind aber folgende die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen Die Per-ser besaszligen einst eine groszlige Herrschaft und Macht allein so oft sie die Grenzen von Asien zu uumlberschreiten wagten so wurde dies nicht bloszlig ihrer Herrschaft sondern ihnen selbst gefaumlhrlich Die Lakedaumlmonier rangen lange Zeit nach der Oberherr-schaft uumlber die Griechen und hatten dieselbe nachdem sie endlich Meister gewor-den kaum zwoumllf Jahre unbestritten inne Die Makedonier herrschten in Europa von den Kuumlsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluszlig was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint sodann aber fuumlgten sie die Herrschaft uumlber Asien hinzu nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht Allein so groszlig ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien so lieszligen sie noch einen sehr groszligen Teil des Erdbodens unberuumlhrt Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kaumlmpfen fiel ihnen niemals ein und von den streitbarsten unter den westlichen Voumll-kern Europas fehlte ihnen im eigentlichen Sine des Wortes sogar die Kunde Die Roumlmer aber nachdem sie nicht einzelne Teile sondern beinahe den ganzen Erdbo-den sich unterworfen haben eine Herrschaft von solcher Groumlszlige aufgerichtet daszlig die Mitwelt sie nur anstaunen kann die Nachwelt aber niemals uumlber dieselbe wird hin-ausschreiten koumlnnen6

In fruumlhchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Ent-wicklung der Religionsgeschichte bezogen werden um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maio-rum zu liefern wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht

Aber sagt ihr es ist nicht vernuumlnftig eine uns von den Vaumltern uumlberlieferte Sitte um-zustoszligen Ja warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung die Milch an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewoumlhnten Warum vermehren oder vermindern wir das vaumlterliche Vermoumlgen und erhalten es nicht in der gleichen Groumlszlige wie wir es uumlberkommen haben Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Vaumlter herablaufen oder vollfuumlhren

6 POLYB 121 (Uumlbers A HAAKH 1858) Ὡς δacute ἔστι παράδοξον καὶ microέγα τὸ περὶ τὴν

ἡmicroετέραν ὑπόθεσιν θεώρηmicroα γένοιτacute ἂν οὕτως microάλιστacute ἐmicroφανές εἰ τὰς ἐλλογιmicroωτάτας τῶν προγεγενηmicroένων δυναστειῶν περὶ ἃς οἱ συγγραφεῖς τοὺς πλείστους διατέθεινται λόγους παραβάλοιmicroεν καὶ συγκρίναιmicroεν πρὸς τὴν Ῥωmicroαίων ὑπεροχήν εἰσὶ δacute αἱ τῆς παραβολῆς ἄξιαι καὶ συγκρίσεως αὗται Πέρσαι κατά τινας καιροὺς microεγάλην ἀρχὴν κατεκτήσαντο καὶ δυναστείαν ἀλλacute ὁσάκις ἐτόλmicroησαν ὑπερβῆναι τοὺς τῆς Ἀσίας ὅρους οὐ microόνον ὑπὲρ τῆς ἀρχῆς ἀλλὰ καὶ περὶ σφῶν ἐκινδύνευσαν Λακεδαιmicroόνιοι πολλοὺς ἀmicroφισβητήσαντες χρόνους ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἡγεmicroονίας ἐπειδή ποτacute ἐκράτησαν microόλις ἔτη δώδεκα κατεῖχον αὐτὴν ἀδήριτον Μακεδόνες τῆς microὲν Εὐρώπης ἦρξαν ἀπὸ τῶν κατὰ τὸν Ἀδρίαν τόπων ἕως ἐπὶ τὸν Ἴστρον ποταmicroόν ὃ βραχὺ παντελῶς ἂν φανείη microέρος τῆς προειρηmicroένης χώρας microετὰ δὲ ταῦτα προσέλαβον τὴν τῆς Ἀσίας ἀρχήν καταλύσαντες τὴν τῶν Περσῶν δυναστείαν ἀλλacute ὅmicroως οὗτοι πλείστων δόξαντες καὶ τόπων καὶ πραγmicroάτων γενέσθαι κύριοι τὸ πολὺ microέρος ἀκmicroὴν ἀπέλιπον τῆς οἰκουmicroένης ἀλλότριον Σικελίας microὲν γὰρ καὶ Σαρδοῦς καὶ Λιβύης οὐδacute ἐπεβάλοντο καθάπαξ ἀmicroφισβητεῖν τῆς δacute Εὐρώπης τὰ microαχιmicroώτατα γένη τῶν προσεσπερίων ἐθνῶν ἰσχνῶς εἰπεῖν οὐδacute ἐγίνωσκον Ῥωmicroαῖοί γε microὴν οὐ τινὰ microέρη σχεδὸν δὲ πᾶσαν πεποιηmicroένοι τὴν οἰκουmicroένην ὑπήκοον αὑτοῖς ἀνυπόστατον microὲν τοῖς ὑπάρχουσι πᾶσιν ἀνυπέρβλητον δὲ καὶ τοῖς ἐπιγινοmicroένοις ὑπεροχὴν κατέλιπον τῆς αὑτῶν δυναστείας

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auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

EINLEITUNG 17

Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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DAVID ENGELS 18

Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

EINLEITUNG 19

Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

DAVID ENGELS 22

wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

DAVID ENGELS 24

seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

DAVID ENGELS 26

gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

DAVID ENGELS 32

noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

EINLEITUNG 37

Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 4: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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mangeln das Wachstum der Pflanzen den Lauf der Stroumlme und andere Naturanstal-ten in einem gleichfoumlrmigen ununterbrochenen Gange zu erhalten2

Dabei wird die gegenwaumlrtig uumlberall anzutreffende Hauptschule historischen Denkens sich eines Tages nicht nur dem Vorwurf aussetzen muumlssen durch ihr nach auszligen hin vertretenes scheinbar allgemeines Ablehnen geschichtsphilo-sophischer Argumentationen hinter der sich ja nur die Ablehnung bdquoandererldquo Argumentationen verbirgt wertvolle geistesgeschichtliche Kontinuitaumltsfaumlden abgerissen und das Abendland in seinem verhaumlngnisvollen Wachstums- und Fortschrittswahn bekraumlftigt zu haben sondern die von ihr postulierte bdquooffeneldquo Geschichtssicht gefaumlhrdet auch die gesellschaftliche und intellektuelle Stellung des Historikers an sich

Denn der Ruumlckzug in eine Betrachtung der Ereignisse bdquowie sie eigentlich gewesen sindldquo mag zwar vom rein einzelwissenschaftlichen Standpunkt her ebenso komfortabel wie unproblematisch sein laumluft aber letztlich auf eine Apologie rein antiquarischer Geschichtsbetrachtung hinaus welche dadurch auch gesamtgesellschaftliche Tragweite erhaumllt daszlig sie darauf bedacht ist innerhalb der eigenen Disziplin keinerlei Opposition zu tolerieren welche eine andere Perspektive auf die zusammengetragenen Fakten entwickeln koumlnnte Anders ausgedruumlckt Dadurch daszlig die Geschichtswissenschaft mit Spengler gesprochen sich selbst zur bloszligen bdquoAmeisenarbeitldquo herabgewuumlrdigt hat und aus Opposition gegen die bdquoGefahrenldquo der Geschichtsphilosophie die Moumlglich-keit bestreitet die solchermaszligen aufgehaumluften Fakten uumlberhaupt irgendwie sinnbringend fuumlr Gegenwart wie Zukunft zu deuten ist eben diese Deutungs-hoheit keineswegs verschwunden sondern hat sich vielmehr in die Kreise derer verlagert welche erfahrungsgemaumlszlig hierzu am schlechtesten qualifiziert sind da ihr Interesse an Geschichte unweigerlich von ebenso eigennuumltzigen wie kurzsichtigen Zielsetzungen gepraumlgt ist Journalisten und Politiker

Daszlig eine solche geschichtsphilosophisch motivierte Selbstabdankung der Geschichtswissenschaft auf lange Sicht hin tragische Folgen fuumlr die Disziplin an sich haben muszlig (und bereits hat bedenkt man den geradezu spektakulaumlren akademischen Schrumpfungsprozeszlig aller historischen Disziplinen und den konsequenten Abbau des Humboldtrsquoschen humanistischen Bildungsideals) ist daher nur eine natuumlrliche Konsequenz miszligt sich doch die Bedeutsamkeit einer wissenschaftlichen Disziplin an ihrem konkreten Nutzen fuumlr Gegenwart und Zukunft Und welchen Nutzen soll dabei eine Geschichtsschreibung haben welche auf prinzipieller bdquoOffenheitldquo besteht und somit bestreitet daszlig Ge-schichte in Anbetracht der prinzipiell gleichbleibenden menschlichen Natur vielmehr durch die Wiederkehr repetitiver Strukturen gepraumlgt ist und daszlig es die eigentliche Aufgabe der Geschichtsschreibung sein muumlszligte durch Studium

2 I KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbuumlrgerlicher Absicht (urspr

in Berlinische Monatsschrift November 1784 S 385-411) Einleitung

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der Vergangenheit eben diese Strukturen als solche kenntlich zu machen um somit ihr Wiedererkennen in der Gegenwart und im Rahmen des Moumlglichen ihre Auswirkungen auf die Zukunft zu ermoumlglichen Dies war jedenfalls die urspruumlngliche Definition der Historie denkt man etwa an Thukydides dessen klassische Beschreibung des Nutzens der Geschichtsschreibung offensichtlich den Gegenpol dessen ausmacht was seit einigen Jahrzehnten offizieller Kon-sens zu sein scheint

Zum Zuhoumlren wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergoumltzlich scheinen wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Kuumlnftige das wieder einmal nach der menschlichen Natur gleich oder aumlhnlich sein wird der mag es so fuumlr nuumltzlich halten und das soll mir genug sein zum dauernden Besitz nicht als Prunkstuumlck fuumlrʼs einmalige Houmlren ist es aufgeschrieben3

2 Grundstrukturen deterministischen Geschichtsdenkens Jede echte Geschichtsbetrachtung muszlig also in gewisser Weise die Moumlglich-keit ja sogar Notwendigkeit einer analogen Wiederkehr identischer Struktur-muster annehmen will sie nicht in bloszlige deskriptive und antiquarische Belie-bigkeit verfallen und somit gleichzeitig auch ihre eigene Daseinsberechtigung ausloumlschen Wer nun aber die Moumlglichkeit des Analogieschlusses als funda-mentales Gesetz der Geschichtsdeutung gelten lassen will muszlig notwendiger-weise eine bdquodeterministischeldquo Grundhaltung einnehmen bedeutet doch die Akzeptanz der Annahme daszlig aus analogen Grundvoraussetzungen analoge Folgen entstehen nichts weniger als historische Gesetzmaumlszligigkeiten und somit Determinismen zu vermuten Nun ist bdquoDeterminismusldquo ndash zumindest in der hier zugrundegelegten recht weitlaumlufigen Auffassung des Begriffs ndash ein weites Feld das die verschiedensten Interpretationen erlaubt Nimmt man einmal komplexere da aus vielfaumlltiger Addition unterschiedlichster Vorstellungen gespeiste Faumllle wie etwa theologische Heilsgeschichten aus so lassen sich die verschiedenen geschichtsdeterministischen Denkschulen recht schnell auf einige wenige Grundmuster reduzieren welche freilich keineswegs als (not-wendigerweise simplistische) Reduktion der Komplexitaumlt historischen Den-kens aufgefaszligt werden sollen sondern vielmehr als dynamische Grundbaustei-ne deren vielfaumlltige Kombination Interpretation und wechselseitige Bezug-nahme erst den Reiz echter Geschichtsphilosophie ausmachen

3 THUK 122 (Uumlbers P LANDMANN 1991) καὶ ἐς microὲν ἀκρόασιν ἴσως τὸ microὴ

microυθῶδες αὐτῶν ἀτερπέστερον φανεῖται ὅσοι δὲ βουλήσονται τῶν τε γενοmicroένων τὸ σαφὲς σκοπεῖν καὶ τῶν microελλόντων ποτὲ αὖθις κατὰ τὸ ἀνθρώπινον τοιούτων καὶ παραπλησίων ἔσεσθαι ὠφέλιmicroα κρίνειν αὐτὰ ἀρκούντως ἕξει κτῆmicroά τε ἐς αἰεὶ microᾶλλον ἢ ἀγώνισmicroα ἐς τὸ παραχρῆmicroα ἀκούειν ξύγκειται

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21 Fortschritt Das erste deterministische Geschichtsmodell das im Vorfeld ja auch bereits kurz besprochen wurde geht von einem grundsaumltzlichen bdquoFortschrittldquo in der Weltgeschichte aus wobei dieser Fortschritt natuumlrlich verschiedenster Art sein kann So mag der Begriff bdquoFortschrittldquo etwa auf den ethischen technologi-schen politischen kuumlnstlerischen oder religioumlsen Bereich bezogen werden fernerhin sowohl unbegrenzt als auch teleologisch auf ein festes Ziel zulaufend interpretiert werden und sich in verschiedensten Verlaufsformen aumluszligern etwa als lineares exponentielles dialektisches oder Stufenmodell wobei im Falle des Stufenmodells auch vielfaumlltige Kombinationen mit anderen deterministi-schen Grundstrukturen moumlglich sind wie etwa dem Dekadenz- oder dem Bio-logismusmodell Typische Beispiele fuumlr das Fortschrittsmodell liefern etwa die linearen Fortschrittstheorien Aristotelesʼ Lucrez oder Diodors das teleolo-gisch-theologische Stufenmodell der meisten monotheistischen Heilslehren welches bei Joachim von Fiore eine bislang ungeahnte dialektische Kondensie-rung erfahren sollte die naive Zukunftsglaumlubigkeit der bdquoQuerelle des Anciens et Modernesldquo und des Aufklaumlrungsdenken und schlieszliglich die Hegelsche Geschichtsdialektik mit ihren verschiedenen linken wie rechten Spielarten und Auslaumlufern bis hin zu Jaspers Achsenzeit Fukuyamas bdquoEnd of Historyldquo und den meisten heute vorherrschenden geschichtsoptimistischen Ansaumltzen

Zur Verdeutlichung seien einige Zitate erlaubt So mag man in erster Linie an Lucrez denken der in Anlehnung an Epikur wohl das erste (erhaltene) Bei-spiel einer ausformulierten Fortschrittstheorie vorlegte wobei die diesem inhauml-rente Kritik am Fortschrittsgedanken naumlmlich daszlig dieser an den grundlegen-den Problemen der Menschheit nichts wesentlich aumlndere sondern diese nur auf andere Ebenen verlagere nahelegen duumlrfte daszlig es sich hierbei schon um eine Reaktion auf fruumlhere positivere Wertschaumltzungen des Fortschritts handelt wie wir sie ja zum Beispiel bei Xenophanes oder Sophokles finden So heiszligt es bei Xenophanes noch Nicht von Anfang an haben die Goumltter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt sondern allmaumlhlich finden sie suchend das Bessere4 Lu-crez hingegen erklaumlrt

Denn was grade im Schwang das gefaumlllt und wirkt ja besonders Wenn man nicht vorher schon Schoumlneres hatte gesehen Wird dann spaumlter das Beszligre entdeckt so vernichtet es alles Was man fruumlher geliebt der Geschmack veraumlndert sich eben So ward ihnen die Eichel verhaszligt so verlieszlig man die alten Lagerstaumltten die Graumlser und Laubwerk hatten gepolstert Ebenso fiel in Verachtung die fruumlhere Kleidung aus Tierfell Einstmals muszligte den Neid wie mich duumlnkt die Erfindung des Fell-kleids Wecken so daszlig sein Traumlger von Meuchelmoumlrdern bedroht war Und doch muszligt es verschwinden und konnte nicht fuumlrder mehr dienen Weil es im Hader des

4 DK 18 in Stob Ecl 182 (Uumlbers DK) οὔτοι ἀπ᾽ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖσ᾽

ὑπέδειξαν ἀλλὰ χρόνωι ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄmicroεινον

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Streits zerrissen und blutuumlberstroumlmt ward Damals war es das Fell jetzt bringt das Gold und der Purpur Sorgen dem Leben der Menschen und stiftet bei ihnen den Krieg an Doch kommt groumlszligere Schuld wie mich duumlnkt auf unsere Rechnung Jene Soumlhne der Erde die nackt und noch ohne die Felle Waren litten vom Prost doch was schadet es uns wenn dem Kleide Fehlet der Purpur verbraumlmt mit Gold und mit riesigem Zierat Koumlnnte doch auch ein plebejisch Gewand vor der Kaumllte uns schuumltzen So muumlht also das Menschengeschlecht sich umsonst und vergebens Immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben Leider versteht es ja nicht der Besitzgier Schranken zu setzen Und die Grenze wieweit sich das wah-re Vergnuumlgen noch steigert Dies istʼs was mit der Zeit das Leben ins offene Meer trieb Und von Grund aus erregte die maumlchtigen Wogen des Krieges5

Nun gilt allerdings zu bedenken daszlig die epikureische Fortschrittslehre in ty-pisch antiker Weise zwar das Streben nach Fortschritt als eine dem Menschen inhaumlrente Gesetzlichkeit betrachtet welche wesentlich fuumlr den Lauf der Ge-schichte verantwortlich ist hieraus aber keineswegs ein Anwachsen seines persoumlnlichen Gluumlcks ableitet welches eben zu allen Zeiten nur in der Abkehr von Ehrgeiz und Uumlbertreibung gesucht werden kann

Ganz umgekehrt argumentiert etwa Polybios der in der Einleitung zu sei-nem groszligen Geschichtswerk die im Vorderen Orient weitverbreitete meist rein additive Abfolge groszliger Weltreiche als einen wesentlich dynamischen Prozeszlig begreift und mit dem stoisch gepraumlgten Glauben an die goumlttliche Vorsehung in Verbindung bringt welche auf eine immer groumlszligere wechselseitige Durchdrin-gung von politischer Geschichte und naturhafter Gesetzmaumlszligigkeit draumlnge und daher auch die Weltgeschichte allmaumlhlich auf einen Punkt absoluter Uumlberein-stimmung zwischen natuumlrlichem Weltganzen und harmonischer politischer Ordnung hinauslaufen lasse Dies bringt ihn zu der Uumlberzeugung die Abfolge groszliger Reiche fuumlhre letztlich zur Herausbildung immer maumlchtigerer Staaten und schluszligendlich in Form des roumlmischen Reiches zur Zusammenfassung der gesamten Oikoumene unter die Herrschaft von Verstand und Sitte

Wie auszligerordentlich und wichtig aber der unserer Betrachtung zu unterziehende Ge-genstand ist wird alsdann am deutlichsten werden wenn wir die beruumlhmtesten der

5 LUCR 51412ndash1435 (Uumlbers H DIELS 1924) Nam quod adest praesto nisi quid

cognouimus ante suauius in primis placet et pollere uidetur posteriorque fere meli-or res illa reperta perdit et immutat sensus ad pristina quaeque Sic odium coepit glandis sic illa relicta strata cubilia sunt herbis et frondibus aucta Pellis item ceci-dit uestis contempta ferina quam reor inuidia tali tunc esse repertam ut letum insidiis qui gessit primus obiret et tamen inter eos distractam sanguine multo dispe-riise neque in fructum conuertere quisse Tunc igitur pelles nunc aurum et purpura curis exercent hominum uitam belloque fatigant quo magis in nobis ut opinor culpa resedit Frigus enim nudos sine pellibus excruciabat terrigenas at nos nil laedit ueste carere purpurea atque auro signisque ingentibus apta dum plebeia tamen sit quae defendere possit Ergo hominum genus in cassum frustraque laborat semper et in curis consumit inanibus aeuom ni mirum quia non cognouit quae sit habendi finis et omnino quoad crescat uera uoluptas idque minutatim uitam prou-exit in altum et belli magnos commouit funditus aestus

EINLEITUNG 15

fruumlheren Reiche die von den Geschichtsschreibern auf das Ausfuumlhrlichste behandelt sind mit der Herrschaft der Roumlmer zusammenstellen und vergleichen Es sind aber folgende die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen Die Per-ser besaszligen einst eine groszlige Herrschaft und Macht allein so oft sie die Grenzen von Asien zu uumlberschreiten wagten so wurde dies nicht bloszlig ihrer Herrschaft sondern ihnen selbst gefaumlhrlich Die Lakedaumlmonier rangen lange Zeit nach der Oberherr-schaft uumlber die Griechen und hatten dieselbe nachdem sie endlich Meister gewor-den kaum zwoumllf Jahre unbestritten inne Die Makedonier herrschten in Europa von den Kuumlsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluszlig was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint sodann aber fuumlgten sie die Herrschaft uumlber Asien hinzu nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht Allein so groszlig ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien so lieszligen sie noch einen sehr groszligen Teil des Erdbodens unberuumlhrt Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kaumlmpfen fiel ihnen niemals ein und von den streitbarsten unter den westlichen Voumll-kern Europas fehlte ihnen im eigentlichen Sine des Wortes sogar die Kunde Die Roumlmer aber nachdem sie nicht einzelne Teile sondern beinahe den ganzen Erdbo-den sich unterworfen haben eine Herrschaft von solcher Groumlszlige aufgerichtet daszlig die Mitwelt sie nur anstaunen kann die Nachwelt aber niemals uumlber dieselbe wird hin-ausschreiten koumlnnen6

In fruumlhchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Ent-wicklung der Religionsgeschichte bezogen werden um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maio-rum zu liefern wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht

Aber sagt ihr es ist nicht vernuumlnftig eine uns von den Vaumltern uumlberlieferte Sitte um-zustoszligen Ja warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung die Milch an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewoumlhnten Warum vermehren oder vermindern wir das vaumlterliche Vermoumlgen und erhalten es nicht in der gleichen Groumlszlige wie wir es uumlberkommen haben Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Vaumlter herablaufen oder vollfuumlhren

6 POLYB 121 (Uumlbers A HAAKH 1858) Ὡς δacute ἔστι παράδοξον καὶ microέγα τὸ περὶ τὴν

ἡmicroετέραν ὑπόθεσιν θεώρηmicroα γένοιτacute ἂν οὕτως microάλιστacute ἐmicroφανές εἰ τὰς ἐλλογιmicroωτάτας τῶν προγεγενηmicroένων δυναστειῶν περὶ ἃς οἱ συγγραφεῖς τοὺς πλείστους διατέθεινται λόγους παραβάλοιmicroεν καὶ συγκρίναιmicroεν πρὸς τὴν Ῥωmicroαίων ὑπεροχήν εἰσὶ δacute αἱ τῆς παραβολῆς ἄξιαι καὶ συγκρίσεως αὗται Πέρσαι κατά τινας καιροὺς microεγάλην ἀρχὴν κατεκτήσαντο καὶ δυναστείαν ἀλλacute ὁσάκις ἐτόλmicroησαν ὑπερβῆναι τοὺς τῆς Ἀσίας ὅρους οὐ microόνον ὑπὲρ τῆς ἀρχῆς ἀλλὰ καὶ περὶ σφῶν ἐκινδύνευσαν Λακεδαιmicroόνιοι πολλοὺς ἀmicroφισβητήσαντες χρόνους ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἡγεmicroονίας ἐπειδή ποτacute ἐκράτησαν microόλις ἔτη δώδεκα κατεῖχον αὐτὴν ἀδήριτον Μακεδόνες τῆς microὲν Εὐρώπης ἦρξαν ἀπὸ τῶν κατὰ τὸν Ἀδρίαν τόπων ἕως ἐπὶ τὸν Ἴστρον ποταmicroόν ὃ βραχὺ παντελῶς ἂν φανείη microέρος τῆς προειρηmicroένης χώρας microετὰ δὲ ταῦτα προσέλαβον τὴν τῆς Ἀσίας ἀρχήν καταλύσαντες τὴν τῶν Περσῶν δυναστείαν ἀλλacute ὅmicroως οὗτοι πλείστων δόξαντες καὶ τόπων καὶ πραγmicroάτων γενέσθαι κύριοι τὸ πολὺ microέρος ἀκmicroὴν ἀπέλιπον τῆς οἰκουmicroένης ἀλλότριον Σικελίας microὲν γὰρ καὶ Σαρδοῦς καὶ Λιβύης οὐδacute ἐπεβάλοντο καθάπαξ ἀmicroφισβητεῖν τῆς δacute Εὐρώπης τὰ microαχιmicroώτατα γένη τῶν προσεσπερίων ἐθνῶν ἰσχνῶς εἰπεῖν οὐδacute ἐγίνωσκον Ῥωmicroαῖοί γε microὴν οὐ τινὰ microέρη σχεδὸν δὲ πᾶσαν πεποιηmicroένοι τὴν οἰκουmicroένην ὑπήκοον αὑτοῖς ἀνυπόστατον microὲν τοῖς ὑπάρχουσι πᾶσιν ἀνυπέρβλητον δὲ καὶ τοῖς ἐπιγινοmicroένοις ὑπεροχὴν κατέλιπον τῆς αὑτῶν δυναστείας

DAVID ENGELS 16

auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

EINLEITUNG 17

Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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DAVID ENGELS 18

Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

EINLEITUNG 19

Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

DAVID ENGELS 22

wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

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25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 5: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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der Vergangenheit eben diese Strukturen als solche kenntlich zu machen um somit ihr Wiedererkennen in der Gegenwart und im Rahmen des Moumlglichen ihre Auswirkungen auf die Zukunft zu ermoumlglichen Dies war jedenfalls die urspruumlngliche Definition der Historie denkt man etwa an Thukydides dessen klassische Beschreibung des Nutzens der Geschichtsschreibung offensichtlich den Gegenpol dessen ausmacht was seit einigen Jahrzehnten offizieller Kon-sens zu sein scheint

Zum Zuhoumlren wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergoumltzlich scheinen wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Kuumlnftige das wieder einmal nach der menschlichen Natur gleich oder aumlhnlich sein wird der mag es so fuumlr nuumltzlich halten und das soll mir genug sein zum dauernden Besitz nicht als Prunkstuumlck fuumlrʼs einmalige Houmlren ist es aufgeschrieben3

2 Grundstrukturen deterministischen Geschichtsdenkens Jede echte Geschichtsbetrachtung muszlig also in gewisser Weise die Moumlglich-keit ja sogar Notwendigkeit einer analogen Wiederkehr identischer Struktur-muster annehmen will sie nicht in bloszlige deskriptive und antiquarische Belie-bigkeit verfallen und somit gleichzeitig auch ihre eigene Daseinsberechtigung ausloumlschen Wer nun aber die Moumlglichkeit des Analogieschlusses als funda-mentales Gesetz der Geschichtsdeutung gelten lassen will muszlig notwendiger-weise eine bdquodeterministischeldquo Grundhaltung einnehmen bedeutet doch die Akzeptanz der Annahme daszlig aus analogen Grundvoraussetzungen analoge Folgen entstehen nichts weniger als historische Gesetzmaumlszligigkeiten und somit Determinismen zu vermuten Nun ist bdquoDeterminismusldquo ndash zumindest in der hier zugrundegelegten recht weitlaumlufigen Auffassung des Begriffs ndash ein weites Feld das die verschiedensten Interpretationen erlaubt Nimmt man einmal komplexere da aus vielfaumlltiger Addition unterschiedlichster Vorstellungen gespeiste Faumllle wie etwa theologische Heilsgeschichten aus so lassen sich die verschiedenen geschichtsdeterministischen Denkschulen recht schnell auf einige wenige Grundmuster reduzieren welche freilich keineswegs als (not-wendigerweise simplistische) Reduktion der Komplexitaumlt historischen Den-kens aufgefaszligt werden sollen sondern vielmehr als dynamische Grundbaustei-ne deren vielfaumlltige Kombination Interpretation und wechselseitige Bezug-nahme erst den Reiz echter Geschichtsphilosophie ausmachen

3 THUK 122 (Uumlbers P LANDMANN 1991) καὶ ἐς microὲν ἀκρόασιν ἴσως τὸ microὴ

microυθῶδες αὐτῶν ἀτερπέστερον φανεῖται ὅσοι δὲ βουλήσονται τῶν τε γενοmicroένων τὸ σαφὲς σκοπεῖν καὶ τῶν microελλόντων ποτὲ αὖθις κατὰ τὸ ἀνθρώπινον τοιούτων καὶ παραπλησίων ἔσεσθαι ὠφέλιmicroα κρίνειν αὐτὰ ἀρκούντως ἕξει κτῆmicroά τε ἐς αἰεὶ microᾶλλον ἢ ἀγώνισmicroα ἐς τὸ παραχρῆmicroα ἀκούειν ξύγκειται

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21 Fortschritt Das erste deterministische Geschichtsmodell das im Vorfeld ja auch bereits kurz besprochen wurde geht von einem grundsaumltzlichen bdquoFortschrittldquo in der Weltgeschichte aus wobei dieser Fortschritt natuumlrlich verschiedenster Art sein kann So mag der Begriff bdquoFortschrittldquo etwa auf den ethischen technologi-schen politischen kuumlnstlerischen oder religioumlsen Bereich bezogen werden fernerhin sowohl unbegrenzt als auch teleologisch auf ein festes Ziel zulaufend interpretiert werden und sich in verschiedensten Verlaufsformen aumluszligern etwa als lineares exponentielles dialektisches oder Stufenmodell wobei im Falle des Stufenmodells auch vielfaumlltige Kombinationen mit anderen deterministi-schen Grundstrukturen moumlglich sind wie etwa dem Dekadenz- oder dem Bio-logismusmodell Typische Beispiele fuumlr das Fortschrittsmodell liefern etwa die linearen Fortschrittstheorien Aristotelesʼ Lucrez oder Diodors das teleolo-gisch-theologische Stufenmodell der meisten monotheistischen Heilslehren welches bei Joachim von Fiore eine bislang ungeahnte dialektische Kondensie-rung erfahren sollte die naive Zukunftsglaumlubigkeit der bdquoQuerelle des Anciens et Modernesldquo und des Aufklaumlrungsdenken und schlieszliglich die Hegelsche Geschichtsdialektik mit ihren verschiedenen linken wie rechten Spielarten und Auslaumlufern bis hin zu Jaspers Achsenzeit Fukuyamas bdquoEnd of Historyldquo und den meisten heute vorherrschenden geschichtsoptimistischen Ansaumltzen

Zur Verdeutlichung seien einige Zitate erlaubt So mag man in erster Linie an Lucrez denken der in Anlehnung an Epikur wohl das erste (erhaltene) Bei-spiel einer ausformulierten Fortschrittstheorie vorlegte wobei die diesem inhauml-rente Kritik am Fortschrittsgedanken naumlmlich daszlig dieser an den grundlegen-den Problemen der Menschheit nichts wesentlich aumlndere sondern diese nur auf andere Ebenen verlagere nahelegen duumlrfte daszlig es sich hierbei schon um eine Reaktion auf fruumlhere positivere Wertschaumltzungen des Fortschritts handelt wie wir sie ja zum Beispiel bei Xenophanes oder Sophokles finden So heiszligt es bei Xenophanes noch Nicht von Anfang an haben die Goumltter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt sondern allmaumlhlich finden sie suchend das Bessere4 Lu-crez hingegen erklaumlrt

Denn was grade im Schwang das gefaumlllt und wirkt ja besonders Wenn man nicht vorher schon Schoumlneres hatte gesehen Wird dann spaumlter das Beszligre entdeckt so vernichtet es alles Was man fruumlher geliebt der Geschmack veraumlndert sich eben So ward ihnen die Eichel verhaszligt so verlieszlig man die alten Lagerstaumltten die Graumlser und Laubwerk hatten gepolstert Ebenso fiel in Verachtung die fruumlhere Kleidung aus Tierfell Einstmals muszligte den Neid wie mich duumlnkt die Erfindung des Fell-kleids Wecken so daszlig sein Traumlger von Meuchelmoumlrdern bedroht war Und doch muszligt es verschwinden und konnte nicht fuumlrder mehr dienen Weil es im Hader des

4 DK 18 in Stob Ecl 182 (Uumlbers DK) οὔτοι ἀπ᾽ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖσ᾽

ὑπέδειξαν ἀλλὰ χρόνωι ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄmicroεινον

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Streits zerrissen und blutuumlberstroumlmt ward Damals war es das Fell jetzt bringt das Gold und der Purpur Sorgen dem Leben der Menschen und stiftet bei ihnen den Krieg an Doch kommt groumlszligere Schuld wie mich duumlnkt auf unsere Rechnung Jene Soumlhne der Erde die nackt und noch ohne die Felle Waren litten vom Prost doch was schadet es uns wenn dem Kleide Fehlet der Purpur verbraumlmt mit Gold und mit riesigem Zierat Koumlnnte doch auch ein plebejisch Gewand vor der Kaumllte uns schuumltzen So muumlht also das Menschengeschlecht sich umsonst und vergebens Immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben Leider versteht es ja nicht der Besitzgier Schranken zu setzen Und die Grenze wieweit sich das wah-re Vergnuumlgen noch steigert Dies istʼs was mit der Zeit das Leben ins offene Meer trieb Und von Grund aus erregte die maumlchtigen Wogen des Krieges5

Nun gilt allerdings zu bedenken daszlig die epikureische Fortschrittslehre in ty-pisch antiker Weise zwar das Streben nach Fortschritt als eine dem Menschen inhaumlrente Gesetzlichkeit betrachtet welche wesentlich fuumlr den Lauf der Ge-schichte verantwortlich ist hieraus aber keineswegs ein Anwachsen seines persoumlnlichen Gluumlcks ableitet welches eben zu allen Zeiten nur in der Abkehr von Ehrgeiz und Uumlbertreibung gesucht werden kann

Ganz umgekehrt argumentiert etwa Polybios der in der Einleitung zu sei-nem groszligen Geschichtswerk die im Vorderen Orient weitverbreitete meist rein additive Abfolge groszliger Weltreiche als einen wesentlich dynamischen Prozeszlig begreift und mit dem stoisch gepraumlgten Glauben an die goumlttliche Vorsehung in Verbindung bringt welche auf eine immer groumlszligere wechselseitige Durchdrin-gung von politischer Geschichte und naturhafter Gesetzmaumlszligigkeit draumlnge und daher auch die Weltgeschichte allmaumlhlich auf einen Punkt absoluter Uumlberein-stimmung zwischen natuumlrlichem Weltganzen und harmonischer politischer Ordnung hinauslaufen lasse Dies bringt ihn zu der Uumlberzeugung die Abfolge groszliger Reiche fuumlhre letztlich zur Herausbildung immer maumlchtigerer Staaten und schluszligendlich in Form des roumlmischen Reiches zur Zusammenfassung der gesamten Oikoumene unter die Herrschaft von Verstand und Sitte

Wie auszligerordentlich und wichtig aber der unserer Betrachtung zu unterziehende Ge-genstand ist wird alsdann am deutlichsten werden wenn wir die beruumlhmtesten der

5 LUCR 51412ndash1435 (Uumlbers H DIELS 1924) Nam quod adest praesto nisi quid

cognouimus ante suauius in primis placet et pollere uidetur posteriorque fere meli-or res illa reperta perdit et immutat sensus ad pristina quaeque Sic odium coepit glandis sic illa relicta strata cubilia sunt herbis et frondibus aucta Pellis item ceci-dit uestis contempta ferina quam reor inuidia tali tunc esse repertam ut letum insidiis qui gessit primus obiret et tamen inter eos distractam sanguine multo dispe-riise neque in fructum conuertere quisse Tunc igitur pelles nunc aurum et purpura curis exercent hominum uitam belloque fatigant quo magis in nobis ut opinor culpa resedit Frigus enim nudos sine pellibus excruciabat terrigenas at nos nil laedit ueste carere purpurea atque auro signisque ingentibus apta dum plebeia tamen sit quae defendere possit Ergo hominum genus in cassum frustraque laborat semper et in curis consumit inanibus aeuom ni mirum quia non cognouit quae sit habendi finis et omnino quoad crescat uera uoluptas idque minutatim uitam prou-exit in altum et belli magnos commouit funditus aestus

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fruumlheren Reiche die von den Geschichtsschreibern auf das Ausfuumlhrlichste behandelt sind mit der Herrschaft der Roumlmer zusammenstellen und vergleichen Es sind aber folgende die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen Die Per-ser besaszligen einst eine groszlige Herrschaft und Macht allein so oft sie die Grenzen von Asien zu uumlberschreiten wagten so wurde dies nicht bloszlig ihrer Herrschaft sondern ihnen selbst gefaumlhrlich Die Lakedaumlmonier rangen lange Zeit nach der Oberherr-schaft uumlber die Griechen und hatten dieselbe nachdem sie endlich Meister gewor-den kaum zwoumllf Jahre unbestritten inne Die Makedonier herrschten in Europa von den Kuumlsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluszlig was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint sodann aber fuumlgten sie die Herrschaft uumlber Asien hinzu nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht Allein so groszlig ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien so lieszligen sie noch einen sehr groszligen Teil des Erdbodens unberuumlhrt Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kaumlmpfen fiel ihnen niemals ein und von den streitbarsten unter den westlichen Voumll-kern Europas fehlte ihnen im eigentlichen Sine des Wortes sogar die Kunde Die Roumlmer aber nachdem sie nicht einzelne Teile sondern beinahe den ganzen Erdbo-den sich unterworfen haben eine Herrschaft von solcher Groumlszlige aufgerichtet daszlig die Mitwelt sie nur anstaunen kann die Nachwelt aber niemals uumlber dieselbe wird hin-ausschreiten koumlnnen6

In fruumlhchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Ent-wicklung der Religionsgeschichte bezogen werden um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maio-rum zu liefern wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht

Aber sagt ihr es ist nicht vernuumlnftig eine uns von den Vaumltern uumlberlieferte Sitte um-zustoszligen Ja warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung die Milch an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewoumlhnten Warum vermehren oder vermindern wir das vaumlterliche Vermoumlgen und erhalten es nicht in der gleichen Groumlszlige wie wir es uumlberkommen haben Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Vaumlter herablaufen oder vollfuumlhren

6 POLYB 121 (Uumlbers A HAAKH 1858) Ὡς δacute ἔστι παράδοξον καὶ microέγα τὸ περὶ τὴν

ἡmicroετέραν ὑπόθεσιν θεώρηmicroα γένοιτacute ἂν οὕτως microάλιστacute ἐmicroφανές εἰ τὰς ἐλλογιmicroωτάτας τῶν προγεγενηmicroένων δυναστειῶν περὶ ἃς οἱ συγγραφεῖς τοὺς πλείστους διατέθεινται λόγους παραβάλοιmicroεν καὶ συγκρίναιmicroεν πρὸς τὴν Ῥωmicroαίων ὑπεροχήν εἰσὶ δacute αἱ τῆς παραβολῆς ἄξιαι καὶ συγκρίσεως αὗται Πέρσαι κατά τινας καιροὺς microεγάλην ἀρχὴν κατεκτήσαντο καὶ δυναστείαν ἀλλacute ὁσάκις ἐτόλmicroησαν ὑπερβῆναι τοὺς τῆς Ἀσίας ὅρους οὐ microόνον ὑπὲρ τῆς ἀρχῆς ἀλλὰ καὶ περὶ σφῶν ἐκινδύνευσαν Λακεδαιmicroόνιοι πολλοὺς ἀmicroφισβητήσαντες χρόνους ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἡγεmicroονίας ἐπειδή ποτacute ἐκράτησαν microόλις ἔτη δώδεκα κατεῖχον αὐτὴν ἀδήριτον Μακεδόνες τῆς microὲν Εὐρώπης ἦρξαν ἀπὸ τῶν κατὰ τὸν Ἀδρίαν τόπων ἕως ἐπὶ τὸν Ἴστρον ποταmicroόν ὃ βραχὺ παντελῶς ἂν φανείη microέρος τῆς προειρηmicroένης χώρας microετὰ δὲ ταῦτα προσέλαβον τὴν τῆς Ἀσίας ἀρχήν καταλύσαντες τὴν τῶν Περσῶν δυναστείαν ἀλλacute ὅmicroως οὗτοι πλείστων δόξαντες καὶ τόπων καὶ πραγmicroάτων γενέσθαι κύριοι τὸ πολὺ microέρος ἀκmicroὴν ἀπέλιπον τῆς οἰκουmicroένης ἀλλότριον Σικελίας microὲν γὰρ καὶ Σαρδοῦς καὶ Λιβύης οὐδacute ἐπεβάλοντο καθάπαξ ἀmicroφισβητεῖν τῆς δacute Εὐρώπης τὰ microαχιmicroώτατα γένη τῶν προσεσπερίων ἐθνῶν ἰσχνῶς εἰπεῖν οὐδacute ἐγίνωσκον Ῥωmicroαῖοί γε microὴν οὐ τινὰ microέρη σχεδὸν δὲ πᾶσαν πεποιηmicroένοι τὴν οἰκουmicroένην ὑπήκοον αὑτοῖς ἀνυπόστατον microὲν τοῖς ὑπάρχουσι πᾶσιν ἀνυπέρβλητον δὲ καὶ τοῖς ἐπιγινοmicroένοις ὑπεροχὴν κατέλιπον τῆς αὑτῶν δυναστείας

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auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

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Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

EINLEITUNG 19

Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

DAVID ENGELS 28

Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 6: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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21 Fortschritt Das erste deterministische Geschichtsmodell das im Vorfeld ja auch bereits kurz besprochen wurde geht von einem grundsaumltzlichen bdquoFortschrittldquo in der Weltgeschichte aus wobei dieser Fortschritt natuumlrlich verschiedenster Art sein kann So mag der Begriff bdquoFortschrittldquo etwa auf den ethischen technologi-schen politischen kuumlnstlerischen oder religioumlsen Bereich bezogen werden fernerhin sowohl unbegrenzt als auch teleologisch auf ein festes Ziel zulaufend interpretiert werden und sich in verschiedensten Verlaufsformen aumluszligern etwa als lineares exponentielles dialektisches oder Stufenmodell wobei im Falle des Stufenmodells auch vielfaumlltige Kombinationen mit anderen deterministi-schen Grundstrukturen moumlglich sind wie etwa dem Dekadenz- oder dem Bio-logismusmodell Typische Beispiele fuumlr das Fortschrittsmodell liefern etwa die linearen Fortschrittstheorien Aristotelesʼ Lucrez oder Diodors das teleolo-gisch-theologische Stufenmodell der meisten monotheistischen Heilslehren welches bei Joachim von Fiore eine bislang ungeahnte dialektische Kondensie-rung erfahren sollte die naive Zukunftsglaumlubigkeit der bdquoQuerelle des Anciens et Modernesldquo und des Aufklaumlrungsdenken und schlieszliglich die Hegelsche Geschichtsdialektik mit ihren verschiedenen linken wie rechten Spielarten und Auslaumlufern bis hin zu Jaspers Achsenzeit Fukuyamas bdquoEnd of Historyldquo und den meisten heute vorherrschenden geschichtsoptimistischen Ansaumltzen

Zur Verdeutlichung seien einige Zitate erlaubt So mag man in erster Linie an Lucrez denken der in Anlehnung an Epikur wohl das erste (erhaltene) Bei-spiel einer ausformulierten Fortschrittstheorie vorlegte wobei die diesem inhauml-rente Kritik am Fortschrittsgedanken naumlmlich daszlig dieser an den grundlegen-den Problemen der Menschheit nichts wesentlich aumlndere sondern diese nur auf andere Ebenen verlagere nahelegen duumlrfte daszlig es sich hierbei schon um eine Reaktion auf fruumlhere positivere Wertschaumltzungen des Fortschritts handelt wie wir sie ja zum Beispiel bei Xenophanes oder Sophokles finden So heiszligt es bei Xenophanes noch Nicht von Anfang an haben die Goumltter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt sondern allmaumlhlich finden sie suchend das Bessere4 Lu-crez hingegen erklaumlrt

Denn was grade im Schwang das gefaumlllt und wirkt ja besonders Wenn man nicht vorher schon Schoumlneres hatte gesehen Wird dann spaumlter das Beszligre entdeckt so vernichtet es alles Was man fruumlher geliebt der Geschmack veraumlndert sich eben So ward ihnen die Eichel verhaszligt so verlieszlig man die alten Lagerstaumltten die Graumlser und Laubwerk hatten gepolstert Ebenso fiel in Verachtung die fruumlhere Kleidung aus Tierfell Einstmals muszligte den Neid wie mich duumlnkt die Erfindung des Fell-kleids Wecken so daszlig sein Traumlger von Meuchelmoumlrdern bedroht war Und doch muszligt es verschwinden und konnte nicht fuumlrder mehr dienen Weil es im Hader des

4 DK 18 in Stob Ecl 182 (Uumlbers DK) οὔτοι ἀπ᾽ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖσ᾽

ὑπέδειξαν ἀλλὰ χρόνωι ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄmicroεινον

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Streits zerrissen und blutuumlberstroumlmt ward Damals war es das Fell jetzt bringt das Gold und der Purpur Sorgen dem Leben der Menschen und stiftet bei ihnen den Krieg an Doch kommt groumlszligere Schuld wie mich duumlnkt auf unsere Rechnung Jene Soumlhne der Erde die nackt und noch ohne die Felle Waren litten vom Prost doch was schadet es uns wenn dem Kleide Fehlet der Purpur verbraumlmt mit Gold und mit riesigem Zierat Koumlnnte doch auch ein plebejisch Gewand vor der Kaumllte uns schuumltzen So muumlht also das Menschengeschlecht sich umsonst und vergebens Immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben Leider versteht es ja nicht der Besitzgier Schranken zu setzen Und die Grenze wieweit sich das wah-re Vergnuumlgen noch steigert Dies istʼs was mit der Zeit das Leben ins offene Meer trieb Und von Grund aus erregte die maumlchtigen Wogen des Krieges5

Nun gilt allerdings zu bedenken daszlig die epikureische Fortschrittslehre in ty-pisch antiker Weise zwar das Streben nach Fortschritt als eine dem Menschen inhaumlrente Gesetzlichkeit betrachtet welche wesentlich fuumlr den Lauf der Ge-schichte verantwortlich ist hieraus aber keineswegs ein Anwachsen seines persoumlnlichen Gluumlcks ableitet welches eben zu allen Zeiten nur in der Abkehr von Ehrgeiz und Uumlbertreibung gesucht werden kann

Ganz umgekehrt argumentiert etwa Polybios der in der Einleitung zu sei-nem groszligen Geschichtswerk die im Vorderen Orient weitverbreitete meist rein additive Abfolge groszliger Weltreiche als einen wesentlich dynamischen Prozeszlig begreift und mit dem stoisch gepraumlgten Glauben an die goumlttliche Vorsehung in Verbindung bringt welche auf eine immer groumlszligere wechselseitige Durchdrin-gung von politischer Geschichte und naturhafter Gesetzmaumlszligigkeit draumlnge und daher auch die Weltgeschichte allmaumlhlich auf einen Punkt absoluter Uumlberein-stimmung zwischen natuumlrlichem Weltganzen und harmonischer politischer Ordnung hinauslaufen lasse Dies bringt ihn zu der Uumlberzeugung die Abfolge groszliger Reiche fuumlhre letztlich zur Herausbildung immer maumlchtigerer Staaten und schluszligendlich in Form des roumlmischen Reiches zur Zusammenfassung der gesamten Oikoumene unter die Herrschaft von Verstand und Sitte

Wie auszligerordentlich und wichtig aber der unserer Betrachtung zu unterziehende Ge-genstand ist wird alsdann am deutlichsten werden wenn wir die beruumlhmtesten der

5 LUCR 51412ndash1435 (Uumlbers H DIELS 1924) Nam quod adest praesto nisi quid

cognouimus ante suauius in primis placet et pollere uidetur posteriorque fere meli-or res illa reperta perdit et immutat sensus ad pristina quaeque Sic odium coepit glandis sic illa relicta strata cubilia sunt herbis et frondibus aucta Pellis item ceci-dit uestis contempta ferina quam reor inuidia tali tunc esse repertam ut letum insidiis qui gessit primus obiret et tamen inter eos distractam sanguine multo dispe-riise neque in fructum conuertere quisse Tunc igitur pelles nunc aurum et purpura curis exercent hominum uitam belloque fatigant quo magis in nobis ut opinor culpa resedit Frigus enim nudos sine pellibus excruciabat terrigenas at nos nil laedit ueste carere purpurea atque auro signisque ingentibus apta dum plebeia tamen sit quae defendere possit Ergo hominum genus in cassum frustraque laborat semper et in curis consumit inanibus aeuom ni mirum quia non cognouit quae sit habendi finis et omnino quoad crescat uera uoluptas idque minutatim uitam prou-exit in altum et belli magnos commouit funditus aestus

EINLEITUNG 15

fruumlheren Reiche die von den Geschichtsschreibern auf das Ausfuumlhrlichste behandelt sind mit der Herrschaft der Roumlmer zusammenstellen und vergleichen Es sind aber folgende die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen Die Per-ser besaszligen einst eine groszlige Herrschaft und Macht allein so oft sie die Grenzen von Asien zu uumlberschreiten wagten so wurde dies nicht bloszlig ihrer Herrschaft sondern ihnen selbst gefaumlhrlich Die Lakedaumlmonier rangen lange Zeit nach der Oberherr-schaft uumlber die Griechen und hatten dieselbe nachdem sie endlich Meister gewor-den kaum zwoumllf Jahre unbestritten inne Die Makedonier herrschten in Europa von den Kuumlsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluszlig was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint sodann aber fuumlgten sie die Herrschaft uumlber Asien hinzu nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht Allein so groszlig ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien so lieszligen sie noch einen sehr groszligen Teil des Erdbodens unberuumlhrt Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kaumlmpfen fiel ihnen niemals ein und von den streitbarsten unter den westlichen Voumll-kern Europas fehlte ihnen im eigentlichen Sine des Wortes sogar die Kunde Die Roumlmer aber nachdem sie nicht einzelne Teile sondern beinahe den ganzen Erdbo-den sich unterworfen haben eine Herrschaft von solcher Groumlszlige aufgerichtet daszlig die Mitwelt sie nur anstaunen kann die Nachwelt aber niemals uumlber dieselbe wird hin-ausschreiten koumlnnen6

In fruumlhchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Ent-wicklung der Religionsgeschichte bezogen werden um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maio-rum zu liefern wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht

Aber sagt ihr es ist nicht vernuumlnftig eine uns von den Vaumltern uumlberlieferte Sitte um-zustoszligen Ja warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung die Milch an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewoumlhnten Warum vermehren oder vermindern wir das vaumlterliche Vermoumlgen und erhalten es nicht in der gleichen Groumlszlige wie wir es uumlberkommen haben Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Vaumlter herablaufen oder vollfuumlhren

6 POLYB 121 (Uumlbers A HAAKH 1858) Ὡς δacute ἔστι παράδοξον καὶ microέγα τὸ περὶ τὴν

ἡmicroετέραν ὑπόθεσιν θεώρηmicroα γένοιτacute ἂν οὕτως microάλιστacute ἐmicroφανές εἰ τὰς ἐλλογιmicroωτάτας τῶν προγεγενηmicroένων δυναστειῶν περὶ ἃς οἱ συγγραφεῖς τοὺς πλείστους διατέθεινται λόγους παραβάλοιmicroεν καὶ συγκρίναιmicroεν πρὸς τὴν Ῥωmicroαίων ὑπεροχήν εἰσὶ δacute αἱ τῆς παραβολῆς ἄξιαι καὶ συγκρίσεως αὗται Πέρσαι κατά τινας καιροὺς microεγάλην ἀρχὴν κατεκτήσαντο καὶ δυναστείαν ἀλλacute ὁσάκις ἐτόλmicroησαν ὑπερβῆναι τοὺς τῆς Ἀσίας ὅρους οὐ microόνον ὑπὲρ τῆς ἀρχῆς ἀλλὰ καὶ περὶ σφῶν ἐκινδύνευσαν Λακεδαιmicroόνιοι πολλοὺς ἀmicroφισβητήσαντες χρόνους ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἡγεmicroονίας ἐπειδή ποτacute ἐκράτησαν microόλις ἔτη δώδεκα κατεῖχον αὐτὴν ἀδήριτον Μακεδόνες τῆς microὲν Εὐρώπης ἦρξαν ἀπὸ τῶν κατὰ τὸν Ἀδρίαν τόπων ἕως ἐπὶ τὸν Ἴστρον ποταmicroόν ὃ βραχὺ παντελῶς ἂν φανείη microέρος τῆς προειρηmicroένης χώρας microετὰ δὲ ταῦτα προσέλαβον τὴν τῆς Ἀσίας ἀρχήν καταλύσαντες τὴν τῶν Περσῶν δυναστείαν ἀλλacute ὅmicroως οὗτοι πλείστων δόξαντες καὶ τόπων καὶ πραγmicroάτων γενέσθαι κύριοι τὸ πολὺ microέρος ἀκmicroὴν ἀπέλιπον τῆς οἰκουmicroένης ἀλλότριον Σικελίας microὲν γὰρ καὶ Σαρδοῦς καὶ Λιβύης οὐδacute ἐπεβάλοντο καθάπαξ ἀmicroφισβητεῖν τῆς δacute Εὐρώπης τὰ microαχιmicroώτατα γένη τῶν προσεσπερίων ἐθνῶν ἰσχνῶς εἰπεῖν οὐδacute ἐγίνωσκον Ῥωmicroαῖοί γε microὴν οὐ τινὰ microέρη σχεδὸν δὲ πᾶσαν πεποιηmicroένοι τὴν οἰκουmicroένην ὑπήκοον αὑτοῖς ἀνυπόστατον microὲν τοῖς ὑπάρχουσι πᾶσιν ἀνυπέρβλητον δὲ καὶ τοῖς ἐπιγινοmicroένοις ὑπεροχὴν κατέλιπον τῆς αὑτῶν δυναστείας

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auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

EINLEITUNG 17

Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

EINLEITUNG 19

Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

DAVID ENGELS 22

wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

DAVID ENGELS 24

seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

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ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

DAVID ENGELS 32

noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

DAVID ENGELS 34

sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

DAVID ENGELS 36

gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

EINLEITUNG 37

Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 7: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Streits zerrissen und blutuumlberstroumlmt ward Damals war es das Fell jetzt bringt das Gold und der Purpur Sorgen dem Leben der Menschen und stiftet bei ihnen den Krieg an Doch kommt groumlszligere Schuld wie mich duumlnkt auf unsere Rechnung Jene Soumlhne der Erde die nackt und noch ohne die Felle Waren litten vom Prost doch was schadet es uns wenn dem Kleide Fehlet der Purpur verbraumlmt mit Gold und mit riesigem Zierat Koumlnnte doch auch ein plebejisch Gewand vor der Kaumllte uns schuumltzen So muumlht also das Menschengeschlecht sich umsonst und vergebens Immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben Leider versteht es ja nicht der Besitzgier Schranken zu setzen Und die Grenze wieweit sich das wah-re Vergnuumlgen noch steigert Dies istʼs was mit der Zeit das Leben ins offene Meer trieb Und von Grund aus erregte die maumlchtigen Wogen des Krieges5

Nun gilt allerdings zu bedenken daszlig die epikureische Fortschrittslehre in ty-pisch antiker Weise zwar das Streben nach Fortschritt als eine dem Menschen inhaumlrente Gesetzlichkeit betrachtet welche wesentlich fuumlr den Lauf der Ge-schichte verantwortlich ist hieraus aber keineswegs ein Anwachsen seines persoumlnlichen Gluumlcks ableitet welches eben zu allen Zeiten nur in der Abkehr von Ehrgeiz und Uumlbertreibung gesucht werden kann

Ganz umgekehrt argumentiert etwa Polybios der in der Einleitung zu sei-nem groszligen Geschichtswerk die im Vorderen Orient weitverbreitete meist rein additive Abfolge groszliger Weltreiche als einen wesentlich dynamischen Prozeszlig begreift und mit dem stoisch gepraumlgten Glauben an die goumlttliche Vorsehung in Verbindung bringt welche auf eine immer groumlszligere wechselseitige Durchdrin-gung von politischer Geschichte und naturhafter Gesetzmaumlszligigkeit draumlnge und daher auch die Weltgeschichte allmaumlhlich auf einen Punkt absoluter Uumlberein-stimmung zwischen natuumlrlichem Weltganzen und harmonischer politischer Ordnung hinauslaufen lasse Dies bringt ihn zu der Uumlberzeugung die Abfolge groszliger Reiche fuumlhre letztlich zur Herausbildung immer maumlchtigerer Staaten und schluszligendlich in Form des roumlmischen Reiches zur Zusammenfassung der gesamten Oikoumene unter die Herrschaft von Verstand und Sitte

Wie auszligerordentlich und wichtig aber der unserer Betrachtung zu unterziehende Ge-genstand ist wird alsdann am deutlichsten werden wenn wir die beruumlhmtesten der

5 LUCR 51412ndash1435 (Uumlbers H DIELS 1924) Nam quod adest praesto nisi quid

cognouimus ante suauius in primis placet et pollere uidetur posteriorque fere meli-or res illa reperta perdit et immutat sensus ad pristina quaeque Sic odium coepit glandis sic illa relicta strata cubilia sunt herbis et frondibus aucta Pellis item ceci-dit uestis contempta ferina quam reor inuidia tali tunc esse repertam ut letum insidiis qui gessit primus obiret et tamen inter eos distractam sanguine multo dispe-riise neque in fructum conuertere quisse Tunc igitur pelles nunc aurum et purpura curis exercent hominum uitam belloque fatigant quo magis in nobis ut opinor culpa resedit Frigus enim nudos sine pellibus excruciabat terrigenas at nos nil laedit ueste carere purpurea atque auro signisque ingentibus apta dum plebeia tamen sit quae defendere possit Ergo hominum genus in cassum frustraque laborat semper et in curis consumit inanibus aeuom ni mirum quia non cognouit quae sit habendi finis et omnino quoad crescat uera uoluptas idque minutatim uitam prou-exit in altum et belli magnos commouit funditus aestus

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fruumlheren Reiche die von den Geschichtsschreibern auf das Ausfuumlhrlichste behandelt sind mit der Herrschaft der Roumlmer zusammenstellen und vergleichen Es sind aber folgende die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen Die Per-ser besaszligen einst eine groszlige Herrschaft und Macht allein so oft sie die Grenzen von Asien zu uumlberschreiten wagten so wurde dies nicht bloszlig ihrer Herrschaft sondern ihnen selbst gefaumlhrlich Die Lakedaumlmonier rangen lange Zeit nach der Oberherr-schaft uumlber die Griechen und hatten dieselbe nachdem sie endlich Meister gewor-den kaum zwoumllf Jahre unbestritten inne Die Makedonier herrschten in Europa von den Kuumlsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluszlig was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint sodann aber fuumlgten sie die Herrschaft uumlber Asien hinzu nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht Allein so groszlig ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien so lieszligen sie noch einen sehr groszligen Teil des Erdbodens unberuumlhrt Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kaumlmpfen fiel ihnen niemals ein und von den streitbarsten unter den westlichen Voumll-kern Europas fehlte ihnen im eigentlichen Sine des Wortes sogar die Kunde Die Roumlmer aber nachdem sie nicht einzelne Teile sondern beinahe den ganzen Erdbo-den sich unterworfen haben eine Herrschaft von solcher Groumlszlige aufgerichtet daszlig die Mitwelt sie nur anstaunen kann die Nachwelt aber niemals uumlber dieselbe wird hin-ausschreiten koumlnnen6

In fruumlhchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Ent-wicklung der Religionsgeschichte bezogen werden um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maio-rum zu liefern wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht

Aber sagt ihr es ist nicht vernuumlnftig eine uns von den Vaumltern uumlberlieferte Sitte um-zustoszligen Ja warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung die Milch an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewoumlhnten Warum vermehren oder vermindern wir das vaumlterliche Vermoumlgen und erhalten es nicht in der gleichen Groumlszlige wie wir es uumlberkommen haben Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Vaumlter herablaufen oder vollfuumlhren

6 POLYB 121 (Uumlbers A HAAKH 1858) Ὡς δacute ἔστι παράδοξον καὶ microέγα τὸ περὶ τὴν

ἡmicroετέραν ὑπόθεσιν θεώρηmicroα γένοιτacute ἂν οὕτως microάλιστacute ἐmicroφανές εἰ τὰς ἐλλογιmicroωτάτας τῶν προγεγενηmicroένων δυναστειῶν περὶ ἃς οἱ συγγραφεῖς τοὺς πλείστους διατέθεινται λόγους παραβάλοιmicroεν καὶ συγκρίναιmicroεν πρὸς τὴν Ῥωmicroαίων ὑπεροχήν εἰσὶ δacute αἱ τῆς παραβολῆς ἄξιαι καὶ συγκρίσεως αὗται Πέρσαι κατά τινας καιροὺς microεγάλην ἀρχὴν κατεκτήσαντο καὶ δυναστείαν ἀλλacute ὁσάκις ἐτόλmicroησαν ὑπερβῆναι τοὺς τῆς Ἀσίας ὅρους οὐ microόνον ὑπὲρ τῆς ἀρχῆς ἀλλὰ καὶ περὶ σφῶν ἐκινδύνευσαν Λακεδαιmicroόνιοι πολλοὺς ἀmicroφισβητήσαντες χρόνους ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἡγεmicroονίας ἐπειδή ποτacute ἐκράτησαν microόλις ἔτη δώδεκα κατεῖχον αὐτὴν ἀδήριτον Μακεδόνες τῆς microὲν Εὐρώπης ἦρξαν ἀπὸ τῶν κατὰ τὸν Ἀδρίαν τόπων ἕως ἐπὶ τὸν Ἴστρον ποταmicroόν ὃ βραχὺ παντελῶς ἂν φανείη microέρος τῆς προειρηmicroένης χώρας microετὰ δὲ ταῦτα προσέλαβον τὴν τῆς Ἀσίας ἀρχήν καταλύσαντες τὴν τῶν Περσῶν δυναστείαν ἀλλacute ὅmicroως οὗτοι πλείστων δόξαντες καὶ τόπων καὶ πραγmicroάτων γενέσθαι κύριοι τὸ πολὺ microέρος ἀκmicroὴν ἀπέλιπον τῆς οἰκουmicroένης ἀλλότριον Σικελίας microὲν γὰρ καὶ Σαρδοῦς καὶ Λιβύης οὐδacute ἐπεβάλοντο καθάπαξ ἀmicroφισβητεῖν τῆς δacute Εὐρώπης τὰ microαχιmicroώτατα γένη τῶν προσεσπερίων ἐθνῶν ἰσχνῶς εἰπεῖν οὐδacute ἐγίνωσκον Ῥωmicroαῖοί γε microὴν οὐ τινὰ microέρη σχεδὸν δὲ πᾶσαν πεποιηmicroένοι τὴν οἰκουmicroένην ὑπήκοον αὑτοῖς ἀνυπόστατον microὲν τοῖς ὑπάρχουσι πᾶσιν ἀνυπέρβλητον δὲ καὶ τοῖς ἐπιγινοmicroένοις ὑπεροχὴν κατέλιπον τῆς αὑτῶν δυναστείας

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auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

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Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

EINLEITUNG 19

Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

DAVID ENGELS 28

Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 8: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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fruumlheren Reiche die von den Geschichtsschreibern auf das Ausfuumlhrlichste behandelt sind mit der Herrschaft der Roumlmer zusammenstellen und vergleichen Es sind aber folgende die eine solche Zusammenstellung und Vergleichung verdienen Die Per-ser besaszligen einst eine groszlige Herrschaft und Macht allein so oft sie die Grenzen von Asien zu uumlberschreiten wagten so wurde dies nicht bloszlig ihrer Herrschaft sondern ihnen selbst gefaumlhrlich Die Lakedaumlmonier rangen lange Zeit nach der Oberherr-schaft uumlber die Griechen und hatten dieselbe nachdem sie endlich Meister gewor-den kaum zwoumllf Jahre unbestritten inne Die Makedonier herrschten in Europa von den Kuumlsten des adriatischen Meeres bis an den Ister-Fluszlig was als ein ganz geringer Teil des ebengenannten Weltteils erscheint sodann aber fuumlgten sie die Herrschaft uumlber Asien hinzu nachdem sie dem Reiche der Perser ein Ende gemacht Allein so groszlig ihr Gebiet und ihre Macht zu sein schien so lieszligen sie noch einen sehr groszligen Teil des Erdbodens unberuumlhrt Denn um Sicilien und Sardinien und Libyen zu kaumlmpfen fiel ihnen niemals ein und von den streitbarsten unter den westlichen Voumll-kern Europas fehlte ihnen im eigentlichen Sine des Wortes sogar die Kunde Die Roumlmer aber nachdem sie nicht einzelne Teile sondern beinahe den ganzen Erdbo-den sich unterworfen haben eine Herrschaft von solcher Groumlszlige aufgerichtet daszlig die Mitwelt sie nur anstaunen kann die Nachwelt aber niemals uumlber dieselbe wird hin-ausschreiten koumlnnen6

In fruumlhchristlicher Zeit sollte das Fortschrittsmodell dann auch auf die Ent-wicklung der Religionsgeschichte bezogen werden um ein wirkungsvolles Argument gegen die weitverbreitete Idealisierung des heidnischen mos maio-rum zu liefern wie folgendes Zitat bei Clemens von Alexandrien verdeutlicht

Aber sagt ihr es ist nicht vernuumlnftig eine uns von den Vaumltern uumlberlieferte Sitte um-zustoszligen Ja warum verwenden wir dann nicht auch unsere erste Nahrung die Milch an die uns doch unsere Ammen nach unserer Geburt gewoumlhnten Warum vermehren oder vermindern wir das vaumlterliche Vermoumlgen und erhalten es nicht in der gleichen Groumlszlige wie wir es uumlberkommen haben Warum lassen wir nicht mehr aus unserem Mund Speichel auf die Brust unserer Vaumlter herablaufen oder vollfuumlhren

6 POLYB 121 (Uumlbers A HAAKH 1858) Ὡς δacute ἔστι παράδοξον καὶ microέγα τὸ περὶ τὴν

ἡmicroετέραν ὑπόθεσιν θεώρηmicroα γένοιτacute ἂν οὕτως microάλιστacute ἐmicroφανές εἰ τὰς ἐλλογιmicroωτάτας τῶν προγεγενηmicroένων δυναστειῶν περὶ ἃς οἱ συγγραφεῖς τοὺς πλείστους διατέθεινται λόγους παραβάλοιmicroεν καὶ συγκρίναιmicroεν πρὸς τὴν Ῥωmicroαίων ὑπεροχήν εἰσὶ δacute αἱ τῆς παραβολῆς ἄξιαι καὶ συγκρίσεως αὗται Πέρσαι κατά τινας καιροὺς microεγάλην ἀρχὴν κατεκτήσαντο καὶ δυναστείαν ἀλλacute ὁσάκις ἐτόλmicroησαν ὑπερβῆναι τοὺς τῆς Ἀσίας ὅρους οὐ microόνον ὑπὲρ τῆς ἀρχῆς ἀλλὰ καὶ περὶ σφῶν ἐκινδύνευσαν Λακεδαιmicroόνιοι πολλοὺς ἀmicroφισβητήσαντες χρόνους ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἡγεmicroονίας ἐπειδή ποτacute ἐκράτησαν microόλις ἔτη δώδεκα κατεῖχον αὐτὴν ἀδήριτον Μακεδόνες τῆς microὲν Εὐρώπης ἦρξαν ἀπὸ τῶν κατὰ τὸν Ἀδρίαν τόπων ἕως ἐπὶ τὸν Ἴστρον ποταmicroόν ὃ βραχὺ παντελῶς ἂν φανείη microέρος τῆς προειρηmicroένης χώρας microετὰ δὲ ταῦτα προσέλαβον τὴν τῆς Ἀσίας ἀρχήν καταλύσαντες τὴν τῶν Περσῶν δυναστείαν ἀλλacute ὅmicroως οὗτοι πλείστων δόξαντες καὶ τόπων καὶ πραγmicroάτων γενέσθαι κύριοι τὸ πολὺ microέρος ἀκmicroὴν ἀπέλιπον τῆς οἰκουmicroένης ἀλλότριον Σικελίας microὲν γὰρ καὶ Σαρδοῦς καὶ Λιβύης οὐδacute ἐπεβάλοντο καθάπαξ ἀmicroφισβητεῖν τῆς δacute Εὐρώπης τὰ microαχιmicroώτατα γένη τῶν προσεσπερίων ἐθνῶν ἰσχνῶς εἰπεῖν οὐδacute ἐγίνωσκον Ῥωmicroαῖοί γε microὴν οὐ τινὰ microέρη σχεδὸν δὲ πᾶσαν πεποιηmicroένοι τὴν οἰκουmicroένην ὑπήκοον αὑτοῖς ἀνυπόστατον microὲν τοῖς ὑπάρχουσι πᾶσιν ἀνυπέρβλητον δὲ καὶ τοῖς ἐπιγινοmicroένοις ὑπεροχὴν κατέλιπον τῆς αὑτῶν δυναστείας

DAVID ENGELS 16

auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

EINLEITUNG 17

Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

82

DAVID ENGELS 18

Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

EINLEITUNG 19

Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

DAVID ENGELS 24

seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

DAVID ENGELS 26

gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

DAVID ENGELS 32

noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

DAVID ENGELS 36

gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

EINLEITUNG 37

Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 9: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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auch sonst noch all das woruumlber man lachte als wir noch kleine Kinder waren und unter der Leitung unserer Muumltter aufgezogen wurden sondern haben uns selbst auch wenn wir keine guten Erzieher bekamen zum Bessern veraumlndert7

In der Folge sollte sich die Idee des Fortschritts in breiten Teilen der abendlaumln-dischen Geschichtsphilosophie einer fast unbeschraumlnkten Wertschaumltzung er-freuen welche spaumltestens seit der Aufklaumlrung zu einem massiven Durchbruch gelangte und ihren Houmlhepunkt wohl bei Condorcet fand welcher noch kurz vor seiner offiziellen Hinrichtung durch die Tribunale der Franzoumlsischen Revo-lution diese letztere zusammen mit vielen weiteren historischen Ereignissen als Beweis fuumlr die Tatsache interpretierte die Menschheitsgeschichte draumlnge un-weigerlich und ohne Moumlglichkeit des Ruumlckschritts auf eine volle Entfaltung aller menschlichen Talente

Tel est le but de lrsquoouvrage que jrsquoai entrepris et dont le reacutesultat sera de montrer par le raisonnement et par les faits qursquoil nrsquoa eacuteteacute marqueacute aucun terme au perfectionne-ment des faculteacutes humaines que la perfectibiliteacute de lrsquohomme est reacuteellement indeacutefi-nie que les progregraves de cette perfectibiliteacute deacutesormais indeacutependante de toute puis-sance qui voudrait les arrecircter nrsquoont drsquoautre terme que la dureacutee du globe ougrave la nature nous a jeteacutes Sans doute ces progregraves pourront suivre une marche plus ou moins ra-pide mais jamais elle ne sera reacutetrograde du moins tant que la terre occupera la mecircme place dans le systegraveme de lrsquounivers et que les lois geacuteneacuterales de ce systegraveme ne produiront sur ce globe ni un bouleversement geacuteneacuteral ni des changements qui ne permettraient plus agrave lrsquoespegravece humaine drsquoy conserver drsquoy deacuteployer les mecircmes facul-teacutes et drsquoy trouver les mecircmes ressources8

Einen auf den ersten Blick aumlhnlichen Ansatz scheint auch Hegel zu vertreten wenn wir im folgenden auch sehen werden daszlig zwischen seinem teleologi-schen am Fortschritt orientierten Stufenmodell zum einen und seinen zyk-lisch-biologistischen Vorstellungen zum anderen groumlszligere Verbindungen beste-hen als man folgendem Zitat entnehmen koumlnnte

Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben es ist die langweilige Geschichte mit demselben Kreislauf Unter der Sonne geschieht nichts Neues Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders Deren Gang Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung sondern das wechselnde Ansehen das der Geist sich in immer andern Gebilden macht ist wesentlich Fortschreiten9

7 CLEM Protr 891 (Uumlbers BKV) Ἀλλ ἐκ πατέρων φατέ παραδεδοmicroένον ἡmicroῖν

ἔθος ἀνατρέπειν οὐκ εὔλογον Καὶ τί δὴ οὐχὶ τῇ πρώτῃ τροφῇ τῷ γάλακτι χρώmicroεθα ᾧ δήπουθεν συνείθισαν ἡmicroᾶς ἐκ γενετῆς αἱ τίτθαι Τί δὲ αὐξάνοmicroεν ἢ microειοῦmicroεν τὴν πατρῴαν οὐσίαν καὶ οὐχὶ τὴν ἴσην ὡς παρειλήφαmicroεν διαφυλάττοmicroεν Τί δὲ οὐκέτι τοῖς κόλποις τοῖς πατρῴοις ἐναποβλύζοmicroεν ἢ καὶ τὰ ἄλλα ἃ νηπιάζοντες ὑπὸ microητράσιν τε ἐκτρεφόmicroενοι γέλωτα ὤφλοmicroεν ἐπιτελοῦmicroεν ἔτι ἀλλὰ σφᾶς αὐτούς καὶ εἰ microὴ παιδαγωγῶν ἐτύχοmicroεν ἀγαθῶν ἐπανωρθώσαmicroεν

8 N de CONDORCET Esquisse drsquoun tableau historique des progregraves de lrsquoesprit hu-main (Paris 1795 posth) Einleitung

9 GWF HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (posth) in Saumlmtliche Werke Bd 9 hrsg von G LASSON Leipzig 21923 S 48

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Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

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Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

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Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

DAVID ENGELS 26

gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

DAVID ENGELS 28

Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

DAVID ENGELS 32

noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 10: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Freilich ist dieser Fortschritt bei Hegel nicht linear-additiv sondern wesentlich dialektisch so daszlig jeder Entwicklungsschritt nicht nur inhaltlich an den vorhe-rigen anschlieszligt sondern auch zunaumlchst durch die Negierung dann durch die Aufhebung auch eine qualitative Vertiefung des jeweiligen Ausgangspunktes ermoumlglicht ein hochkomplexer Mechanismus welcher wie noch zu zeigen sein wird vielfaumlltige Moumlglichkeiten zur Anknuumlpfung an andere geschichtsphi-losophische Muster liefert

Das Spekulative oder Positiv-Vernuumlnftige faszligt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative das in ihrer Aufloumlsung und ihrem Uumlbergehen enthalten ist Die Dialektik hat ein positives Resultat weil sie einen bestimmten In-halt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere abstrakte Nichts sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist welche im Resultate eben deswegen ent-halten sind weil dies nicht ein unmittelbares Nichts sondern ein Resultat ist Dies Vernuumlnftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes zugleich ein Konkre-tes weil es nicht einfache formelle Einheit sondern Einheit unterschiedener Best-immungen ist10

Die scheinbare Bestaumltigung dieses Fortschrittsglaubens durch die technologi-schen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte hat dann den etwas kurz-sichtigen Glauben daran daszlig Weltgeschichte sich im wesentlichen auf die Aneinanderreihung bdquogroszliger Erfindungenldquo reduziere zu einem verbreiteten Allgemeingut zumindest innerhalb der westlichen Welt gemacht woran wohl auch die uumlberall festzustellende erschreckende Schrumpfung des historischen Horizonts des akademischen Betriebs nicht unschuldig sein duumlrfte welcher mittlerweile auf naivste und reduktionistischste Weise das Studium der bdquoWelt-geschichteldquo auf eine bdquomoderneldquo letztlich rein westliche Epoche und eine bdquovormoderneldquo Epoche reduziert hat welche dann den Rest der Welt und die letzten Jahrtausende behandelt 22 Niedergang Das zweite geschichtsphilosophische Grundmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des ersten und geht vielmehr von einem systematischen in seiner genauen Beschreibung freilich ebenso dehnbaren Niedergang geschichtlicher Strukturen im Hinblick auf eine idealisierte Vergangenheit aus Auch hier haumlngen die Definition dessen was als bdquoniedergehendldquo vorgestellt wird die teleologische Zielgerichtetheit der Entwicklung und die genaue Art des histori-schen Fortschreitens dieses Niedergangs von den jeweiligen philosophischen Grundannahmen der betroffenen Denker ab und erlauben daher va uumlber den

10 GWF HEGEL Enzyklopaumldie der Wissenschaften (urspr Heidelberg 1817) 1 sect

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Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

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Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

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Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 11: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Umweg des Stufenmodells vielfaumlltige Varianten und Verbindungen zu den beiden anderen Grundmodellen

Das Niedergangsmodell begegnet uns im menschlichen Geschichtsdenken wohl erheblich fruumlher als das Fortschrittsmodell und geht bereits weit in die Vorstellungswelt des alten Orients zuruumlck So findet sich uumlberall im pharaoni-schen Aumlgypten oder im Zweistromland der Gedanke an eine idealisierte Fruumlh-zeit in welcher Menschen wie Herrscher den Goumlttern in vielerlei Hinsicht nah verwandt waren waumlhrend der Rest der Geschichte als ein allmaumlhlicher Abfall von diesem Urzustand betrachtet wird erinnert man sich etwa an die staumlndig abnehmende Lebenszeit der fruumlhmesopotamischen Herrscher und der bibli-schen Patriarchen wie auch an die Sage der Vertreibung aus dem Paradies

Nun schlieszligt ein solches Niedergangsmodell freilich nie den Traum von ei-ner Ruumlckkehr zur Harmonie des Ursprungs aus ein Traum welcher sich etwa im alten Aumlgypten im Trachten nach einer Wiederherstellung des Gleichge-wichts der Maat niederschlug und spaumlter mit dem Glauben an das Kommen eines Messias verbunden wurde und der sich im klassischen China in der nostalgischen Beschwoumlrung daoistisch gepraumlgter Utopien wie etwa der Sage vom bdquoPfirsichbluumltenquellldquo des Tao Yuanming niederschlug

Diese heimliche Hoffnung auf eine endzeitliche Uumlberwindung des Nieder-gangs mutierte in vielen altorientalischen wie indoeuropaumlischen Sagentraditio-nen zum Alptraum von Sintflut und Weltbrand ohne welche man sich die Ruumlckkehr zur Reinheit der Urspruumlnge nicht vorzustellen koumlnnen schien Die Kombination und Assoziation dieser verschiedenen Spielarten von Ge-schichtspessimismus und Hoffnung auf eine bessere Zukunft ermoumlglichten dann die Ausformung von staumlndig komplexer werdenden Heilsgeschichten welche dem Geschichtsverlauf in seiner Gesamtansicht wieder einen optimisti-scheren Charakter zu geben wuszligten und zudem die Moumlglichkeit zyklischer Uminterpretation erleichterten Wie im Fortschrittsmodell sehen wir also auch hier die extreme Dehnbarkeit scheinbar rein bdquolinearenldquo Geschichtsdenkens welche freilich nicht vergessen machen darf daszlig sich hinter der verwirrenden (und oft inhaltlich teilweise widerspruumlchlichen) Vielfalt verschiedenster Ge-schichtsbilder letztlich strukturell doch nur eine Assoziierung einiger weniger Grundmuster verbirgt

Das Niedergangsmodell finden wir auch an prominenter Stelle in der klas-sischen Antike wieder gedenkt man der einfluszligreichen mythengeschichtlichen Dekadenzlehre Hesiods oder der Idealisierung des mos maiorum bzw des patrios nomos im politischen Geschichtsdenken der Griechen und Roumlmer Geschichtsbilder welche schlieszliglich in gewisser Weise durch die Antikenbe-wunderung der Renaissance sowie breite Stroumlmungen der neuzeitlichen Kul-turkritik Rousseaursquoscher Observanz fortgesetzt werden sollten Zitieren wir hier etwa zunaumlchst folgende uumlberaus einfluszligreiche Passagen aus Hesiod

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Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

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Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

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bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

DAVID ENGELS 26

gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

DAVID ENGELS 28

Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

DAVID ENGELS 32

noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 12: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Wie aus gleicher Geburt geworden sind Goumltter und Menschen Golden war ja zu-erst das Geschlecht der sprechenden Menschen das die Unsterblichen schufen die hohen Olympos-Bewohner Jene waren zur Zeit des Kronos der herrschte im Himmel Und sie lebten wie Goumltter und hatten das Herz ohne Kummer ohne Pla-gen und Jammer Sogar das klaumlgliche Alter nahte nicht sondern immer an Fuumlszligen und Haumlnden sich gleichend freuten sie sich am uumlppigen Mahl und kannten kein Unheil [hellip] Wieder ein zweites Geschlecht ein viel geringeres schufen silbern die Goumltter dann spaumlter die hohen Olympos-Bewohner nicht dem goldenen gleich an Gestalt und nicht an Gesinnung [hellip] Nun erschuf ein andres Geschlecht von sprechenden Menschen Zeus der Vater ein drittes aus Erz dem silbernen un-gleich eschenentsprossen und wild und strotzend von Kraft Sie betrieben grausige Werke des Ares vermessen [] Aber als nun auch dieses Geschlecht die Erde be-deckte wieder ein anderes noch ein viertes auf naumlhrender Erde Zeus der Kroni-de erschuf und dies war gerechter und besser von heroischen Maumlnnern ein goumlttli-cher Stamm und sie heiszligen Halbgoumltter Vorfahren uns auf unermeszliglicher Erde [hellip] Muumlszligte ich selber doch nicht ein Zeitgenosse der fuumlnften Maumlnner sein waumlr zuvor ich gestorben spaumlter geboren Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes nie-mals am Tage ruhn sie von quaumllender Muumlhe und Jammer und immer die Naumlchte reiben sie auf mit druumlckenden Sorgen Geschenken der Goumltter Dennoch wird auch ihnen zum Unheil Freude gemischt sein Dann wird Zeus auch dieses Geschlecht der Menschen vernichten wenn sie bei ihrer Geburt schon graue Schlaumlfen bekom-men Nicht ist der Vater den Kindern aumlhnlich und sie nicht dem Vater11

Eine aumlhnliche Grundhaltung sollte dann zahlreiche Geschichtsdenker bis in die Kaiserzeit praumlgen welche saumlmtlich der festen Uumlberzeugung waren echte Har-monie lieszlige sich nur durch eine kompromiszliglose Ruumlckkehr zu Lebensart und Gesellschaft der Altvorderen ermoumlglichen eine konservative Grundhaltung welche sich politisch in der Ablehnung einer jeden Reform welche nicht als bdquoRestitutionldquo eines fruumlheren Zustands nachgewiesen werden konnte nieder-schlug und bei Tacitus die paradoxale Frucht einer Idealisierung selbst der

11 HES Erga 108ndash115 127ndash129 143ndash146 156ndash160 und 173-181 (Uumlbers A VON

SCHIRNDING 1997) ὡς ὁmicroόθεν γεγάασι θεοὶ θνητοί τ ἄνθρωποι Χρύσεον microὲν πρώτιστα γένος microερόπων ἀνθρώπων ἀθάνατοι ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες οἳ microὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν ὅτ οὐρανῷ ἐmicroϐασίλευεν ὥστε θεοὶ δ ἔζωον ἀκηδέα θυmicroὸν ἔχοντες νόσφιν ἄτερ τε πόνων καὶ ὀιζύος οὐδέ τι δειλὸν γῆρας ἐπῆν αἰεὶ δὲ πόδας καὶ χεῖρας ὁmicroοῖοι τέρποντ ἐν θαλίῃσι κακῶν ἔκτοσθεν ἁπάντων [hellip] ∆εύτερον αὖτε γένος πολὺ χειρότερον microετόπισθεν ἀργύρεον ποίησαν Ὀλύmicroπια δώmicroατ ἔχοντες χρυσέῳ οὔτε φυὴν ἐναλίγκιον οὔτε νόηmicroα [hellip] Ζεὺς δὲ πατὴρ τρίτον ἄλλο γένος microερόπων ἀνθρώπων χάλκειον ποίησ οὐκ ἀργυρέῳ οὐδὲν ὁmicroοῖον ἐκ microελιᾶν δεινόν τε καὶ ὄϐριmicroον οἷσιν Ἄρηος ἔργ ἔmicroελεν στονόεντα καὶ ὕϐριες [hellip] Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖ ἐκάλυψεν αὖτις ἔτ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυϐοτείρῃ Ζεὺς Κρονίδης ποίησε δικαιότερον καὶ ἄρειον ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος οἳ καλέονται ἡmicroίθεοι προτέρη γενεὴ κατ ἀπείρονα γαῖαν [hellip] microηκέτ᾽ ἔπειτ᾽ ὤφελλον ἐγὼ πέmicroπτοισι microετεῖναι ἀνδράσιν ἀλλ᾽ ἢ πρόσθε θανεῖν ἢ ἔπειτα γενέσθαι νῦν γὰρ δὴ γένος ἐστὶ σιδήρεον οὐδέ ποτ᾽ ἦmicroαρ παύονται καmicroάτου καὶ ὀιζύος οὐδέ τι νύκτωρ φθειρόmicroενοι χαλεπὰς δὲ θεοὶ δώσουσι microερίmicroνας ἀλλ᾽ ἔmicroπης καὶ τοῖσι microεmicroείξεται ἐσθλὰ κακοῖσιν Ζεὺς δ᾽ ὀλέσει καὶ τοῦτο γένος microερόπων ἀνθρώπων εὖτ᾽ ἂν γεινόmicroενοι πολιοκρόταφοι τελέθωσιν

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

EINLEITUNG 21

Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

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bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

DAVID ENGELS 26

gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

DAVID ENGELS 36

gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

EINLEITUNG 37

Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 13: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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bdquobarbarischenldquo Germanen tragen sollte deren naturverbundene unverfaumllschte Lebensart der Dekadenz des zeitgenoumlssischen roumlmischen Weltstaats entgegen-gehalten wurde

Es erstaunt kaum daszlig dieses memento mori dann auch zur Grundstimmung der mittelalterlichen Gesellschaft werden sollte welche trotz heilsgeschichtli-chem Fortschrittsdenken uumlber lange Jahrhunderte hinweg wesentlich vom Bewuszligtsein der eigenen Spaumltzeitlichkeit gepraumlgt war und bereits lange Zeit vor der italienischen Renaissance die Gegenwart nur als muumlden Nachzuumlgler antiker Groumlszlige empfand wie sich etwa im beruumlhmten von John of Salisbury uumlberliefer-ten Diktum des Bernard de Chartres widerspiegelt

Bernard de Chartres sagte wir seien wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge so daszlig wir zwar mehr und Entfernteres als diese sehen koumlnnen doch weder dank der Schaumlrfe der eigenen Sehkraft noch wegen der Groumlszlige des Koumlrpers sondern nur weil wir durch die Groumlszlige der Riesen nach oben getragen und emporgehoben werden12

Selbst im 18 Jh also auf dem Houmlhepunkt zukunftsorientierten Fortschrittsop-timismus sollten sich dann Stimmen finden welche zwar auch an einer kon-struktiven Mitarbeit beim Aufbau einer harmonischen Gesellschaft interessiert waren und in dieser Hinsicht durchaus an einen begrenzten Fortschritt glaub-ten letztlich aber doch die Entwicklung der Menschheitsgeschichte als Nie-dergangsentwicklung erlebten zumindest was das individuelle Gluumlck des Menschen betrifft So erklaumlrte etwa Rousseau

Le premier qui ayant enclos un terrain srsquoavisa de dire lsquoCeci est agrave moirsquo et trouva des gens assez simples pour le croire fut le vrai fondateur de la socieacuteteacute civile Que de crimes de guerres de meurtres que de misegraveres et drsquohorreurs nrsquoeucirct point eacutepargneacutes au genre humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fosseacute eucirct crieacute agrave ses semblables lsquoGardez-vous drsquoeacutecouter cet imposteur vous ecirctes perdus si vous ou-bliez que les fruits sont agrave tous et que la terre nrsquoest agrave personnersquo Mais il y a grande apparence qursquoalors les choses en eacutetaient deacutejagrave venues au point de ne pouvoir plus du-rer comme elles eacutetaient car cette ideacutee de proprieacuteteacute deacutependant de beaucoup drsquoideacutees anteacuterieures qui nrsquoont pu naicirctre que successivement ne se forma pas tout drsquoun coup dans lrsquoesprit humain Il fallut faire bien des progregraves acqueacuterir bien de lrsquoindustrie et des lumiegraveres les transmettre et les augmenter drsquoacircge en acircge avant que drsquoarriver agrave ce dernier terme de lrsquoeacutetat de nature13

Fortschritts- und Niedergangsgedanke koumlnnen einander also in vielerlei Hin-sicht verbunden sein da die Parameter dessen was bdquofortschreitetldquo bzw bdquonie-dergehtldquo einer komplexen Wertung unterliegen und durchaus miteinander in

12 JOHN OF SALISBURY Metalogicon 3446ndash50 (Uumlbers DE) Dicebat Bernardus

Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes ut possimus plura eis et remotiora uidere non utique proprii uisus acumine aut eminentia corporis sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea

13 JJ ROUSSEAU Discours sur lrsquoorigine et les fondements de lrsquoineacutegaliteacute parmi les hommes (urspr 1755) Teil II

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Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

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bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

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seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

DAVID ENGELS 30

ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 14: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Einklang gebracht werden koumlnnen Und so erstaunt nicht daszlig sich gerade im 20 und 21 Jh angesichts der zunehmenden Fragwuumlrdigkeit des inhaltlich weiterhin nicht bezweifelten Fortschrittsgedankens viele Stimmen erhoben haben welche einer nostalgischen Sehnsucht nach der vermeintlich bdquoheilenldquo Zeit der bdquoVormoderneldquo nachhaumlngen eine Sehnsucht welche zum einen durch-aus als wertvolles Korrektiv der Entartungen der Gegenwart interpretiert wer-den kann zum anderen aber auch groszlige Gefahren in sich birgt da meist nicht erkannt wird daszlig das scheinbare bdquoHeilldquo der Vergangenheit wesentlich von gesellschaftlichen und spirituellen Geistesverfassungen gepraumlgt war deren Wiederkehr gleichzeitig alle Grundvoraussetzungen aushebeln wuumlrde auf denen die gegenwaumlrtige westliche Welt gegruumlndet ist 23 Biologismus Das dritte Modell schlieszliglich das im folgenden als bdquobiologistischldquo bezeichnet werden soll ist graphisch zwar wesentlich vom Gedanken der Kurve be-stimmt da es sich auf den ersten Blick aus einer Kombination beider vorher genannten Muster zusammensetzt doch stellt es in vielerlei Hinsicht einen voumlllig eigenstaumlndigen Ansatz dar und duumlrfte wahrscheinlich erheblich aumllter als die beiden vorhergehenden Modelle sein Tatsaumlchlich waumlre es verfehlt eine biologistische Geschichtssicht als bloszlige Addition einer ersten aufsteigenden Phase an die sich ab einem gewissen Punkt eine zweite absteigende schlieszligen wuumlrde zu fassen werden Aufstieg und Abstieg aumlhnlicher historischer Faktoren hier doch nicht als eine wesentlich duale Dynamik gefaszligt sondern vielmehr als ein einziger von Anfang an festgelegter Evolutionsprozeszlig so daszlig die kau-salen Grundlagen fuumlr den Abstieg bereits im Aufstieg selbst angelegt sind und umgekehrt der Aufstieg in vielerlei Hinsicht nur dadurch moumlglich ist daszlig schon von Anfang an der Abstieg mitgedacht wird Nun zeigt eine genauere strukturelle Betrachtung der geschichtsphilosophischen Grundmuster daszlig eine solche wellen- oder kurvenfoumlrmige Bewegung in sich dringender Interpretation bedarf um in ihrem eigentlichen Sinn verstanden zu werden weshalb wir jene Modelle lieber je nach Kontext und Intention als Manifestation eines von drei recht unterschiedlichen Sonderfaumlllen betrachten wollen welche freilich eng miteinander zusammenhaumlngen dem bdquobiologistischenldquo Modell (su) dem bdquozyklischenldquo Modell (24) und dem Kompositfall der additiven Reihung von wiederholten Fortschritts- bzw Niedergangsphasen (25) Die bdquobiologistischeldquo Geschichtsphilosophie gruumlndet auf dem Lebensalterver-gleich und nimmt an daszlig gesellschaftliche Koumlrperschaften sich nicht rational-anorganischen Gesetzen entsprechend entwickeln sondern vielmehr einer vitalistischen Gesetzmaumlszligigkeit unterliegen und daher notgedrungen Etappen

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

EINLEITUNG 23

bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

DAVID ENGELS 24

seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

DAVID ENGELS 26

gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

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ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 15: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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wie Geburt Wachstum Reife Alter und Tod durchleben eine Ansicht die wir bereits bei Platon ausgedruumlckt finden welcher alle weltlichen Dinge den Ge-setzen des Organischen unterwirft

Schwer zwar ist es daszlig ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen sondern sich aufloumlsen Die Aufloumlsung aber ist diese Nicht nur den aus der Erde wachsenden Pflanzen sondern auch den auf der Erde le-benden Tieren entsteht Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Seele und des Leibes wenn Umwendungen einem jeden der Kreise Umschwung heranfuumlhren kurzlebigen auch von kleinem Umfang entgegengesetzten entgegengesetzte14

Diese Lebensetappen koumlnnen dabei auch in vereinfachender Weise als Genese Aufstieg Houmlhepunkt Niedergang und Ende verstanden werden wenn diese allzu mathematische Umschreibung nicht die vitalistische Gesetzmaumlszligigkeit durch eine rein geometrische ersetzen und zudem auch einen wertenden Bei-klang tragen wuumlrde da sie notgedrungen je nach angesetztem Wertmaszligstab den positiven Akzent der Entwicklung auf einen einzigen Entwicklungspunkt legt (etwa Minimum Maximum oder Mittel) waumlhrend der Lebensalterver-gleich ja zumindest in der Theorie eine durchaus positive Wuumlrdigung aller Phasen als sui generis ermoumlglicht

Typische Beispiele fuumlr die Fruchtbarkeit der Uumlbertragung des Lebensalter-vergleichs auf das politisch-historische Feld finden sich vor allem in der Anti-ke denkt man an Platon Cato Cicero Livius Seneca Florus oder Ammian welche sich alle mit mehr oder weniger Uumlberzeugungskraft bemuumlht haben den Werdegang des einzelnen Menschen auf die historische Entwicklung des je-weiligen Gesamtstaates zu uumlbertragen So fuumlhrt Cicero in seiner Staatsschrift das Beispiel Catos des Aumllteren an welcher in seinem Geschichtswerk wohl als erster das Wachsen des roumlmischen Staates mit der Entwicklung eines Einzel-menschen verglichen habe allerdings offensichtlich ohne die sich daraus letzt-lich ergebenden duumlsteren Zukunftsperspektiven ins Auge gefaszligt zu haben folgen doch auf die Reife auch Alter und Tod

Deshalb wird meine Rede jetzt so wie er es zu tun pflegte den Ursprung des roumlmi-schen Volkes aufsuchen Gern naumlmlich gebrauche ich auch das Wort Catos Leichter aber werde ich erreichen was ich mir vorgesetzt wenn ich euch unser Gemeinwesen

14 PLAT Pol 8546a (Uumlbers Fr SCHLEIERMACHER 1817-1828) χαλεπὸν microὲν

κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν ἀλλrsquo ἐπεὶ γενοmicroένῳ παντὶ φθορά ἐστιν οὐδrsquo ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα microενεῖ χρόνον ἀλλὰ λυθήσεται λύσις δὲ ἥδε οὐ microόνον φυτοῖς ἐγγείοις ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωmicroάτων γίγνονται ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι βραχυβίοις microὲν βραχυπόρους ἐναντίοις δὲ ἐναντίας

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bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

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seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

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War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 16: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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bei der Geburt im Wachsen in der Reife und schon in Festigkeit und Staumlrke zeige als wenn ich mir irgendeines selbst ausdenke wie Sokrates bei Platon15

Aumlhnliches finden wir dann spaumlter auch im Denken der Renaissance etwa bei Francis Bacon welcher nicht nur den Aufstieg und Niedergang der groszligen Weltreiche mit den verschiedenen Altersstufen des Einzelmenschen vergleicht sondern selbst die Entwicklung von Kuumlnsten und Wissenschaften mit dem Instrumentarium biologistischen Analogiedenkens behandelt

In the youth of a state arms do flourish in the middle age of a state learning and then both of them together for a time in the declining age of a state mechanical arts and merchandize Learning hath his infancy when it is but beginning and almost childish then his youth when it is luxuriant and juvenile then his strength of years when it is solid and reduced and lastly his old age when it waxeth dry and ex-haust16

Von ganz aumlhnlichen Praumlmissen gehen dann ja auch Giambattista Vico Nikolai Danilewksi Oswald Spengler und Arnold Toynbee aus wenn sie auch die obigen Ansaumltze auf alle ihnen bekannten Menschheitskulturen anwenden und nicht nur auf eine einzige so daszlig die hieraus folgende Aneinanderreihung einzelner phasengleicher Kulturzyklen sie dazu zwingt sich auch mit den Problemen der uumlbergeordneten historischen Dynamik der Menschheitsge-schichte in ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen wie wir im folgenden sehen werden

Waumlhrend in den besprochenen Beispielen der Lebensaltervergleich nur die Einzelkultur definiert kann er gleichzeitig durchaus auch auf die menschliche Gesamtgeschichte uumlbertragen werden wie wir dies etwa bei Hegel finden und somit in gewisser Weise als alternative Betrachtungsweise einer ansonsten weitgehend stufenmaumlszligig oder linearen Progression interpretiert werden

Das erste Zeitalter also worin wir den Geist betrachten ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur die wir in der orientalischen Welt finden [] Das zweite Verhaumlltnis des Geistes ist das der Trennung der Reflexion des Geistes in sich [] Dieses Verhaumlltnis spaltet sich in zwei Das erste ist das Juumlnglingsalter des Geistes [] die griechische Welt Das an-dere ist das des Mannesalters des Geistes [] die Roumlmerwelt [] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter die christliche Welt Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen koumlnnte so wuumlrde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heiszligen muumlssen [] Das Individuum gehoumlrt seiner Negativitaumlt nach dem Elemente an und vergeht Der Geist aber kehrt zuruumlck zu seinen Begriffen [] Dies ist die Versoumlhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Der Geist ist mit

15 CIC Rep 213 (Uumlbers K BUumlCHNER 1952) Quam ob rem ut ille solebat ita

nunc mea repetet oratio populi Romani originem libenter enim etiam uerbo utor Cato-nis facilius autem quod est propositum consequar si nostram rem publicam uobis et nascentem et crescentem et adultam et iam firmam atque robustam ostendero Quam si mihi aliquam ut apud Platonem Socrates ipse finxero

16 Fr BACON Of Vicissitude of Things (1625)

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

EINLEITUNG 25

Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

DAVID ENGELS 26

gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

EINLEITUNG 27

seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

DAVID ENGELS 28

Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

DAVID ENGELS 32

noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 17: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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seinem Begriffe versoumlhnt vereint in welchem er sich zur Subjektivitaumlt entzweit sich dazu aus dem Naturzustande herausgeboren hatte ndash Dieses alles nun ist das Apriorische der Geschichte dem die Erfahrung entsprechen muszlig17

Hierbei sind Biologismus und Lebensaltervergleich strikt zu trennen von der Koumlrpermetapher welche zwar auch von einer Vergleichbarkeit politischer oder gesellschaftlicher Institutionen mit biologischen Entitaumlten ausgeht diesen Vergleich aber statisch nicht dynamisch auskleidet da das Augenmerk nicht auf das Wachstum oder Vergehen des Koumlrpers gerichtet ist sondern vielmehr auf die Harmonie bzw das Ungleichgewicht der einzelnen Koumlrperteile und ihrer Funktionen Alle Zustaumlnde die sich vom Idealstaat entfernen werden also nicht als evolutorische Prozesse begriffen sondern vielmehr als Krankhei-ten oder Ungleichgewichte die es im Sinne der bdquoGesundungldquo des Staatskoumlr-pers so rasch wie moumlglich zu beseitigen gilt Ein typisches Beispiel fuumlr einen solchen bdquostatischenldquo und notwendigerweise zutiefst konservativ eingestellten Biologismus welcher weniger dem Bereich der Geschichtsphilosophie als vielmehr demjenigen der Institutionenlehre zuzuordnen ist stellt die bei Titus Livius erhaltene Fabel des Menenius Agrippa dar welche den Aufbau des roumlmischen Staates mit der Zusammensetzung eines menschlichen Koumlrpers vergleicht aber keinerlei Interesse daran zeigt diese Analogie durch Einbezie-hung der Lebensaltermetaphorik auch dynamisch zu begreifen

Einst als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war als je-des der einzelnen Glieder des Koumlrpers seinen Willen seine eigene Sprache hatte empoumlrten sich die uumlbrigen Glieder daszlig sie ihre Sorge und Muumlhe und ihre Dienste nur aufwendeten um alles fuumlr den Magen herbeizuschaffen Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes als sich an den dargebotenen Genuumlssen zu saumlttigen Sie verabredeten sich also folgendermaszligen Die Haumlnde sollten keine Speise mehr zum Munde fuumlhren der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen die Zaumlhne nichts mehr zerkleinern Waumlhrend sie nun in ihrer Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Koumlrper an den Rand voumllliger Erschoumlpfung Da sahen sie ein daszlig sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschoumlpfte daszlig er ebensosehr andere ernaumlhre wie er selbst ernaumlhrt werde Er bringe ja das Blut das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kraumlften bleiben gleichmaumlszligig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Koumlrpers In-dem er durch den Vergleich zeigte wie dieser Aufruhr im Koumlrper Aumlhnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Vaumlter soll er die Gemuumlter umgestimmt haben18

17 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 136f 18 LIV 2329ndash11 (Uumlbers M GIEBEL 1987) Tempore quo in homine non ut nunc

omnia in unum consentiant sed singulis membris suum cuique consilium suus sermo fuerit indignatas reliquas partes sua cura suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent nec os acciperet datum nec dentes quae acciperent

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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

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seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

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25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

DAVID ENGELS 32

noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

EINLEITUNG 37

Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 18: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Sieht man einmal von der umfangreichen unmittelbaren Rezeption dieser bis ins 19 Jh wirkmaumlchtigen Fabel ab koumlnnte man zur Illustration des bdquostati-schenldquo Biologismus auch auf die Wirtschaftslehre Quesnays verweisen der in ganz aumlhnlicher Weise den Blutkreislauf des menschlichen Koumlrpers mit den Guumlter- und Geldstroumlmen der fruumlhneuzeitlichen Staaten verglich 24 Zyklizitaumlt Vom Biologismus ist es nur ein kurzer Schritt zur Zyklizitaumlt wobei der Begriff im folgenden (im Gegensatz zur gegenwaumlrtigen recht schwammigen Verwen-dung) im Sinne seiner Ableitung von κύκλος streng etymologisch gefaszligt wer-den soll also als Synonym zu einer strikt kreisfoumlrmigen Entwicklung durch welche der Endpunkt einer Entwicklung prinzipiell zum Ausgangspunkt zu-ruumlckfuumlhrt also nur durch die Chronologie nicht aber die historische Form eine Weiterentwicklung geschichtlicher Dynamik impliziert Die Naumlhe zum biolo-gistischen kurvenfoumlrmigen Entwicklungsmodell liegt auf der Hand bedenkt man die wechselseitige mathematische Ableitbarkeit von Kreis und Kurve

Typisch hierfuumlr ist etwa das zyklische Modell das sich bei Vergil wieder-findet Dieser biegt gewissermaszligen die Hesiodrsquosche stufenweise progressie-rende Dekadenzlehre unter dem Einfluszlig messianistischer Heilslehren zum Zyklus um da ihm das Ende gleichzeitig auch wieder als Neubeginn gilt in-terpretiert aber gleichzeitig die gesamte Entwicklung welche bei Hesiod ja rein niedergehend war durch die Analogie mit der Geburt und dem Wachsen eines Knaben ganz klar biologistisch wobei nicht verhehlt sein soll daszlig beide Modelle sich im Detail eigentlich widersprechen gilt bei der Niedergangslehre doch der Beginn immer als Houmlhepunkt waumlhrend sich der Akzent fuumlr den Bio-logismus meist auf das Mannesalter verlagert Interessant ist bei Vergil auch daszlig die Geburt des Knaben nicht etwa das Aufkommen eines vollstaumlndig bdquoneu-enldquo historischen Zyklus ankuumlndigt sondern die weitgehende Wiederholung des alten soll doch selbst der Troianische Krieg sich erneut wiederholen

Musen Siziliens laszligt uns ein wenig Groumlszligeres singen Freut doch nicht jeden Ge-buumlsch und ein niedriger Strauch Tamarisken Klingt von Waumlldern mein Lied seien wert auch des Konsuls die Waumllder Letzte Weltzeit ist nun da cumaeischen Sanges groszlig aus Ursprungsreine erwaumlchst der Zeitalter Reihe Nun kehrt wieder die Jung-frau kehrt wieder saturnische Herrschaft nun wird neu ein Sproszlig entsandt aus himmlischen Houmlhen Sei der Geburt nur des Knaben mit dem die eiserne Weltzeit

conficerent Hac ira dum uentrem fame domare vellent ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse Inde apparuisse uentris quoque haud segne minis-terium esse nec magis ali quam alere eum reddentem in omnis corporis partes hinc quo uiuimus uigemusque diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres flexisse mentes hominum

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

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seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

DAVID ENGELS 30

ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 19: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt sei nur Lucina du reine ihm hold schon herrscht dein Apollo [hellip] Einige Spur aber bleibt noch zu-ruumlck des Frevels der Urzeit treibt mit Schiffen das Meer zu durchwuumlhlen Staumldte mit Mauern rings zu beengen und Furchen tief zu reiszligen durchs Erdreich Neu kehrt wieder ein Tiphys und neu eine Argo die wieder Helden erlesene traumlgt es gibt wieder andere Kriege und gen Troja wird wieder entsandt ein groszliger Achil-leus19

Aumlhnliches lieszlige sich auch von Nietzsche behaupten dessen Konzept der bdquoEwi-gen Wiederkehrldquo eine radikale Zirkularitaumlt impliziert wenn diese auch freilich nicht als Muster fuumlr den historischen Gesamtablauf zu sehen ist sondern nur in positiver Umdeutung des Schopenhauerrsquoschen Willenspessimismus fuumlr die Erlebniswelt des Einzelmenschen

Alles geht Alles kommt zuruumlck ewig rollt das Rad des Seins Alles stirbt Alles bluumlht wieder auf ewig laumluft das Jahr des Seins Alles bricht Alles wird neu gefuumlgt ewig baut sich das gleiche Haus des Seins Alles scheidet Alles gruumlszligt sich wieder ewig bleibt sich treu der Ring des Seins In jedem Nu beginnt das Sein um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort Die Mitte ist uumlberall Krumm ist der Pfad der Ewig-keit [hellip] Nun sterbe und schwinde ich wuumlrdest du sprechen und im Nu bin ich ein Nichts Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder in den ich verschlungen bin ndash der wird mich wieder schaffen Ich sel-ber gehoumlre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft Ich komme wieder mit dieser Sonne mit dieser Erde mit diesem Adler mit dieser Schlange ndash nicht zu einem neu-en Leben oder besseren Leben oder aumlhnlichen Leben ndash ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben im Groumlszligten und auch im Kleinsten daszlig ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre ndash daszlig ich wieder das Wort spreche vom groszligen Erden- und Menschen-Mittage daszlig ich wieder den Menschen den Uumlbermen-schen kuumlnde Ich sprach mein Wort ich zerbreche an meinem Wort so will es mein ewiges Los ndash als Verkuumlndiger gehe ich zu Grunde20

Nun ist wie bereits erwaumlhnt klar daszlig bdquoZyklizitaumltldquo und bdquoBiologismusldquo keine sich gegenseitig ausschlieszligenden Modelle darstellen sondern nur Nuancen ein und desselben zyklischen Grundgedankens ist es doch seit jeher gang und gaumlbe das Alter in seiner Gebrechlichkeit als Wiederkehr der Kindheit und

19 VERG Ecl 41ndash10 und 31ndash36 (Uumlbers J und M GOumlTTE 1972) Sicelides Musae

paulo maiora canamus Non omnis arbusta iuuant humilesque myricae si canimus siluas siluae sint consule dignae Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas magnus ab integro saeclorum nascitur ordo Iam redit et Virgo redeunt Saturnia regna iam noua progenies caelo demittitur alto Tu modo nascenti puero quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo casta faue Lucina tuus iam regnat Apollo [hellip] Pauca tamen suberunt priscae uestigia fraudis quae temptare Thetin ratibus quae cingere muris oppida quae iubeant telluri infindere sulcos Alter erit tum Tiphys et altera quae uehat Argo delectos heroas erunt etiam altera bella atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles

20 Fr NIETZSCHE Also sprach Zarathustra (urspr 1883-1886) Kap bdquoDer Genesen-deldquo

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seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

DAVID ENGELS 28

Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

DAVID ENGELS 30

ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 20: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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seiner Abhaumlngigkeit zu interpretieren und somit das Leben selbst als einen zyklischen Prozeszlig zu fassen Daher sind die Grenzen zwischen einem mehr und einem weniger bdquokreisfoumlrmigenldquo Lebensaltermodell oft nur in Nuancen zu fassen wie an zwei Beispielen deutlich werden duumlrfte

Denken wir zunaumlchst etwa an Seneca welcher einem bei Lactanz erhaltenen Fragment zufolge die Entwicklung des roumlmischen Reichs durch die Lebensal-termetapher zu begreifen sucht zudem aber das Ende dieser Entwicklung also das Alter ganz klar als eine Art bdquozweite Kindheitldquo auffaszligt also als eine Ruumlck-kehr zu den Urspruumlngen der nicht unbedingt auch eine Wiedergeburt folgen muszlig

Nicht ungeschickt hat Seneca die Perioden der Stadt Rom nach Lebensaltern aufgeteilt Zunaumlchst naumlmlich sagte er habe sie ihre Saumluglingszeit unter der Herrschaft des Romulus gehabt durch den Rom ja auch gezeugt und gleichsam er-zogen worden war danach ihre Kindheit unter den anderen Koumlnigen durch die sie vergroumlszligert und durch viele Kuumlnste und Lehren gebildet wurde dann als Tarquinius herrschte und sie schon fast erwachsen zu werden begann die Knechtschaft nicht mehr ertragen und nachdem sie das Joch der hochfahrenden Herrschaft abgeworfen habe lieber den Gesetzen gehorcht als den Koumlnigen und als ihre Jugendzeit gegen Ende des Punischen Krieges beendet wurde angefangen zu vollen Kraumlften heran-zuwachsen Nachdem Karthago unterworfen worden war welche lange Zeit eine Rivalin um die Herrschaft war streckte sie zu Lande wie zu Wasser ihre Hand uumlber den gesamten Erdkreis aus und als alle Koumlnige und Voumllker dem Reich unterworfen worden waren und keine Moumlglichkeit mehr zu weiteren Kriegen bestand verzehrte sie sich durch eben jene Kraumlfte mit denen sie sich selbst besiegte Dies war ihr erstes Alter als sie durch Buumlrgerkriege zerrissen durch innere Unruhen unter-druumlckt unter die Herrschaft eines Einzelnen zuruumlckkehrte sozusagen in eine neue Kindheit zuruumlckfallend Denn nachdem die Freiheit verlorengegangen war welche sie unter der Fuumlhrung und Eingebung Brutusrsquo erkaumlmpft hatte vergreiste sie sol-chermaszligen daszlig sie es nicht vermocht haumltte sich selbst aufrechtzuerhalten wenn sie sich nicht unter die Vormundschaft von Regenten begeben haumltte Doch wenn all dies wahr ist was bleibt dann auszliger dem Tod um auf das Alter zu folgen21

21 LACT Inst 71514ndash16 (Uumlbers DE) Non inscite Seneca Romanae urbis tempora

distribuit in aetatis Primam enim dixit infantiam sub rege Romulo fuisse a quo et genita et quasi educata sit Roma deinde pueritiam sub exteris regibus a quibus et aucta sit et disciplinis pluribus institutisque formata at uero Tarquinio regnante cum iam quasi adulta esse coepisset seruitium non tulisse et reiecto superbae dominationis iugo maluisse legibus obtemperare quam regibus cumque esset adolescentia eius fine Punici belli terminata tum denique confirmatis uiribus coepisse iuuenescere Sublata enim Carthagine quae tamdiu aemula imperii fuit manus suas in totum orbem terra marique porrexit donec regibus cunctis et nationibus Imperio subiugatis cum iam bellorum materia deficeret uiribus suis male uteretur quibus se ipsa confecit Haec fuit prima eius senectus cum bellis lacerata ciuilibus atque intestino malo pressa rursus ad regimen singularis imperii recidit quasi ad alteram infantiam reuoluta Amissa enim libertate quam Bruto duce et auctore defenderat ita consenuit tanquam sustentare se ipsa non ualeret nisi adminiculo regentium niteretur Quod si haec ita sunt quid restat nisi ut sequatur interitus senectutem

DAVID ENGELS 28

Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 21: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Die Passage zeigt im Vergleich mit der auf den ersten Blick aumlhnlich gearteten Geschichtsmorphologie Spenglers ganz klar die zahlreichen Schwierigkeiten die sich aus dem Versuch einer allzu rigiden Kategorisierung geschichtsphilo-sophischer Modelle ergeben So lieszlige sich behaupten daszlig Seneca seine biolo-gistische Theorie in vielerlei Hinsicht bdquozirkulaumlrerldquo praumlsentiert als Spengler Das antike Lebensaltermodell Senecas begreift naumlmlich sowohl die Kindheit als auch das Alter als gewissermaszligen bdquoverminderteldquo Stadien menschlicher Entwicklung wobei die Parallelisierung zwischen den fruumlhroumlmischen Koumlnigen und den spaumltzeitlichen Kaisern welche gewissermaszligen als bdquoErzieherldquo bzw bdquoStuumltzerldquo des unreifen bzw gleichsam verwelkten roumlmischen Volkes dienen diesen Eindruck einer kreisfoumlrmigen Ruumlckkehr zu den Urspruumlngen noch ver-staumlrkt

Bei Spengler hingegen wirkt die romantische Vorstellung von der bdquoUr-spruumlnglichkeitldquo der Fruumlhzeit nach so daszlig die Jugend einer Kultur als verhei-szligungsvoll und kraumlftig das Alter aber als nachgeordnet erscheint wozu noch die Tatsache kommt daszlig die bei Spengler vertretene Progression einer jeden Gesellschaft von einem bdquokulturellenldquo zu einem bdquozivilisiertenldquo Stadium recht deutlich eher an ein Kurvenmodell als an einen wirklichen Zyklus gemahnt So heiszligt es bei Spengler

Jede Kultur durchlaumluft die Altersstufen des einzelnen Menschen Jede hat ihre Kind-heit ihre Jugend ihre Maumlnnlichkeit und ihr Greisentum Eine junge verschuumlchterte ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfruumlhe der Romanik und Gotik Sie erfuumlllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hil-desheimer Dom Bischof Bernwards Hier weht Fruumlhlingswind bdquoMan sieht in den Werken der altdeutschen Baukunstldquo sagt Goethe bdquodie Bluumlte eines auszligerordentlichen Zustandes Wem eine solche Bluumlte unmittelbar entgegentritt der kann nichts als an-staunen wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht in das Regen der Kraumlfte und wie sich die Bluumlte nach und nach entwickelt der sieht die Sache mit ganz andern Augen der weiszlig was er siehtldquo Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der fruumlhhomerischen Dorik aus der altchristlichen das heiszligt fruumlharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4 Dynastie beginnenden Al-ten Reiches in Aumlgypten Da ringt ein mythisches Weltbewuszligtsein mit allem Dunklen und Daumlmonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins ent-gegenzureifen [hellip] Zuletzt im Greisentum der anbrechenden Zivilisation erlischt das Feuer der Seele Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal mit halbem Er-folge mdash im Klassizismus der keiner erloumlschenden Kultur fremd ist mdash an eine groszlige Schoumlpfung die Seele denkt noch einmal mdash in der Romantik mdash wehmuumltig an ihre Kindheit zuruumlck Endlich verliert sie muumlde verdrossen und kalt die Lust am Dasein und sehnt sich mdash wie zur roumlmischen Kaiserzeit mdash aus tausendjaumlhrigem Lichte wie-der in das Dunkel urseelenhafter Mystik in den Mutterschoszlig ins Grab zuruumlck22

22 O SPENGLER Der Untergang des Abendlandes Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte (als uumlberarbeitete Gesamtausgabe zuerst erschienen 1923 vorher Bd 1 Wien 1918 Band 2 Muumlnchen 1922) Muumlnchen 131997 S 144ndash145

EINLEITUNG 29

25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

DAVID ENGELS 30

ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

EINLEITUNG 35

vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 22: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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25 Zusammengesetzte Modelle Im vorangehenden wurde bereits mehrfach ausgefuumlhrt daszlig sich die vorgestell-ten Modelle zu denen man dann noch das nicht-deterministische Modell einer bdquooffenenldquo Geschichte zaumlhlen kann in vielerlei Weise miteinander kombinieren lassen So ermoumlglicht eine offene eine linear aufsteigende bzw absteigende oder eine zyklisch-biologistische Sichtweise der Gesamtgeschichte durchaus diese gleichzeitig auch als Zusammenstellung von untergeordneten Entwick-lungen zu fassen welche selber anderen Gesetzmaumlszligigkeiten unterliegen wie denn auch umgekehrt viele Geschichtsdenker sich vor allem auf die Formulie-rung idealtypischer Ablaumlufe konzentriert haben welche nur in einem begrenz-ten historischen Rahmen Guumlltigkeit beanspruchen waumlhrend ihre Addition in der Gesamtgeschichte ein ganz anderes strukturelles Bild ergibt Es wuumlrde zu weit fuumlhren und wohl auch der inneren Komplexitaumlt und Differenziertheit der jeweiligen Theorien nicht ganz gerecht werden hier alle denkbaren Kombina-tionsmoumlglichkeiten (also einer bdquooffenenldquo aufsteigenden niedergehenden oder zyklisch-biologistischen Kombination bdquooffenerldquo aufsteigender niedergehen-der oder zyklisch-biologistischer historischer Grundkomponenten) durchzu-spielen zumal vor allem die Untersuchung der makrohistorischen linearen Aneinanderreihung einzelner ebenso linearer mikrohistorischer Entwicklungen gleicher Orientierung kaum von Interesse sein duumlrfte ebenso wie die Kombi-nation einer bdquooffenenldquo Menschheitsgeschichte die aus bdquooffenenldquo Grundkoumlr-pern bestehen wuumlrde Immerhin sei in Anbetracht des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Bandes beispielhaft jener Kombinationen gedacht welche ver-schiedene zyklisch-biologistische Grundeinheiten in einen logischen Gesamt-zusammenhang zu bringen suchen So kann Geschichte als eine weitgehend additive nicht-teleologische Folge unterschiedlicher in sich aber biologistisch verstandener Grundeinheiten ge-dacht werden wie wir dies etwa bei Vico bei dem freilich noch Spuren christ-licher Teleologie zu finden sind und vor allem bei Oswald Spengler sehen So argumentiert Spengler zum einen daszlig die Menschheitsgeschichte an sich kein bdquoZielldquo habe ihr Verlauf also wesentlich sinnlos und daher in gewisser Weise bdquooffenldquo sei ihre Grundbestandteile aber dh die Entwicklung der einzelnen Kulturkreise durch ein strikt biologistisches Muster gepraumlgt seien welches das Leben des Einzelmenschen unbarmherzig festlege sich aber eben nicht auf die Gesamtgeschichte uumlbertragen lasse

Aber bdquodie Menschheitldquo hat kein Ziel keine Idee keinen Plan so wenig wie die Gat-tung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat bdquoDie Menschheitldquo ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort Man lasse dies Phantom aus dem Um-kreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen uumlberraschen-den Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen Hier ist eine unermeszligliche Fuumll-le Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen die bis jetzt durch ein Schlagwort durch

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

EINLEITUNG 31

ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

DAVID ENGELS 32

noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

EINLEITUNG 33

War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

EINLEITUNG 37

Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 23: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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ein duumlrres Schema durch persoumlnliche bdquoIdealeldquo verdeckt wurde Ich sehe statt jenes oumlden Bildes einer linienfoumlrmigen Weltgeschichte das man nur aufrecht erhaumllt wenn man vor der uumlberwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schlieszligt das Schauspiel einer Vielzahl maumlchtiger Kulturen die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoszlig einer muumltterlichen Landschaft an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist aufbluumlhen von denen jede ihrem Stoff dem Menschtum ihre eigne Form aufgepraumlgt hat von denen jede ihre eigne Idee ihre eignen Leidenschaf-ten ihr eignes Leben Wollen Fuumlhlen ihren eignen Tod hat23

Interessanterweise sollte Spengler stuumltzt man sich auf die Fragmente seiner nie veroumlffentlichten Spaumltschrift bdquoFruumlhzeit der Weltgeschichteldquo in der Folgezeit diese bdquooffeneldquo Sicht der Gesamtgeschichte zugunsten einer gewissen Fort-schrittsvorstellung nuancieren welche zwar immer noch eine jegliche wech-selseitige Beeinflussung der groszligen Kulturen ablehnt die Entwicklungsstadi-en welche die Menschheit von der Vorgeschichte hin zur Hochkultur leiten aber sehr wohl auf Basis eines stufenartigen Fortschritsmodells staffelt Alternativ ist es auch moumlglich die Folge einzelner in sich eher biologistisch oder gar zyklisch angeordneter gesellschaftlicher Koumlrper als lineare Progressi-on zu verstehen welche dann entweder Aufstieg oder Niedergang erlebt

So finden wir in den Danielischen Prophezeiungen eine Aneinanderreihung des biologistisch interpretierten Aufstiegs und Niedergangs groszliger Weltreiche welche an anderen Stellen des Werks auch durch ihre Identifizierung mit ein-zelnen Fabeltieren ganz klar als biologistische Einheiten gefaszligt werden Ihre chronologische Folge wird vom Autor nun in ein durch die pseudo-hesiodische Metallanalogie klar hervorgehobenes Niedergangsmuster eingeordnet Interes-santerweise wird dieses Niedergangsmuster dann aber durch seine Verbildli-chung in Gestalt einer Statue selber wiederum erneut koumlrperhaft gefaszligt so daszlig hier eine komplexe Kombination zwischen biologistischer Metapher und all-gemeinem Niedergangsmodell vorliegt

Du Koumlnig bist der Koumlnig der Koumlnige dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht Staumlrke und Ruhm verliehen Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen die Tiere auf dem Feld und die Voumlgel am Himmel in deine Hand gege-ben dich hat er zum Herrscher uumlber sie alle gemacht Du bist das goldene Haupt Nach dir kommt ein anderes Reich geringer als deines dann ein drittes Reich von Bronze das die ganze Erde beherrschen wird Ein viertes endlich wird hart wie Ei-sen sein Eisen zerschlaumlgt und zermalmt ja alles und wie Eisen alles zerschmettert so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern Die Fuumlszlige und Ze-hen waren wie du gesehen hast teils aus Toumlpferton teils aus Eisen das bedeutet Das Reich wird geteilt sein es wird aber etwas von der Haumlrte des Eisens haben da-rum hast du das Eisen mit Ton vermischt gesehen Daszlig aber die Zehen teils aus Ei-sen teils aus Ton waren bedeutet Zum Teil wird das Reich hart sein zum Teil bruuml-chig Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast so heiszligt das Sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden doch das eine wird nicht am ande-

23 SPENGLER Der Untergang des Abendlandes [Anm 22] S 28ndash29

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ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

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War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 24: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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ren haften wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet Zur Zeit jener Koumlnige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten das in Ewigkeit nicht untergeht dieses Reich wird er keinem anderen Volk uumlberlassen Es wird alle jene Reiche zermalmen und endguumlltig vernichten es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen Du hast ja gesehen daszlig ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Ei-sen Bronze und Ton Silber und Gold zermalmte Der groszlige Gott hat den Koumlnig wissen lassen was dereinst geschehen wird Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlaumlssig24

Ganz anders argumentiert Hegel In Anlehnung an Herder der schon in seinen Fragmenten zur Sprachentwicklung angenommen hatte eine jede Sprache bdquokeimt traumlgt Knospen bluumlht auf und verbluumlhtldquo25 betrachtet Hegel die bdquoVolks-geisterldquo als Grundbestandteil der Weltgeschichte und beschreibt ihre jeweilige Entwicklung mit dem typischen Vokabular des Biologismus sieht sie aber als Etappen einer Gesamtentwicklung welche wesentlich zielgerichtet auf die Utopie der voumllligen Selbstreflexivitaumlt des Geistes in der Weltgeschichte hin-auslaumluft

Der Volksgeist ist ein natuumlrliches Individuum als ein solches bluumlht er auf ist stark nimmt ab und stirbt Es liegt in der Natur der Endlichkeit daszlig der beschraumlnkte Geist vergaumlnglich ist Er ist lebendig und insofern wesentlich Taumltigkeit [hellip] Ein Gegen-satz ist vorhanden sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemaumlszlig [hellip] ist Sobald aber der Geist sich seine Objektivitaumlt in seinem Leben gegeben hat [hellip] so ist er [hellip] zum Genusse seiner selbst gekommen der nicht mehr Taumltigkeit der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist In die Periode wo der Geist

24 Dan 237ndash45 (Einheitsuumlbers) σύ βασιλεῦ βασιλεὺς βασιλέων καὶ σοὶ ὁ κύριος

τοῦ οὐρανοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν βασιλείαν καὶ τὴν ἰσχὺν καὶ τὴν τιmicroὴν καὶ τὴν δόξαν ἔδωκεν ἐν πάσῃ τῇ οἰκουmicroένῃ ἀπὸ ἀνθρώπων καὶ θηρίων ἀγρίων καὶ πετεινῶν οὐρανοῦ καὶ τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης παρέδωκεν ὑπὸ τὰς χεῖράς σου κυριεύειν πάντων σὺ εἶ ἡ κεφαλὴ ἡ χρυσῆ καὶ microετὰ σὲ ἀναστήσεται βασιλεία ἐλάττων σου καὶ τρίτη βασιλεία ἄλλη χαλκῆ ἣ κυριεύσει πάσης τῆς γῆς καὶ βασιλεία τετάρτη ἰσχυρὰ ὥσπερ ὁ σίδηρος ὁ δαmicroάζων πάντα καὶ πᾶν δένδρον ἐκκόπτων καὶ σεισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ καὶ ὡς ἑώρακας τοὺς πόδας αὐτῆς microέρος microέν τι ὀστράκου κεραmicroικοῦ microέρος δέ τι σιδήρου βασιλεία ἄλλη διmicroερὴς ἔσται ἐν αὐτῇ καθάπερ εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ καὶ οἱ δάκτυλοι τῶν ποδῶν microέρος microέν τι σιδηροῦν microέρος δέ τι ὀστράκινον microέρος τι τῆς βασιλείας ἔσται ἰσχυρὸν καὶ microέρος τι ἔσται συντετριmicromicroένον καὶ ὡς εἶδες τὸν σίδηρον ἀναmicroεmicroειγmicroένον ἅmicroα τῷ πηλίνῳ ὀστράκῳ συmicromicroειγεῖς ἔσονται εἰς γένεσιν ἀνθρώπων οὐκ ἔσονται δὲ ὁmicroονοοῦντες οὔτε εὐνοοῦντες ἀλλήλοις ὥσπερ οὐδὲ ὁ σίδηρος δύναται συγκραθῆναι τῷ ὀστράκῳ καὶ ἐν τοῖς χρόνοις τῶν βασιλέων τούτων στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται καὶ αὕτη ἡ βασιλεία ἄλλο ἔθνος οὐ microὴ ἐάσῃ πατάξει δὲ καὶ ἀφανίσει τὰς βασιλείας ταύτας καὶ αὐτὴ στήσεται εἰς τὸν αἰῶνα καθάπερ ἑώρακας ἐξ ὄρους τmicroηθῆναι λίθον ἄνευ χειρῶν καὶ συνηλόησε τὸ ὄστρακον τὸν σίδηρον καὶ τὸν χαλκὸν καὶ τὸν ἄργυρον καὶ τὸν χρυσόν ὁ θεὸς ὁ microέγας ἐσήmicroανε τῷ βασιλεῖ τὰ ἐσόmicroενα ἐπ ἐσχάτων τῶν ἡmicroερῶν καὶ ἀκριβὲς τὸ ὅραmicroα καὶ πιστὴ ἡ τούτου κρίσις

25 JG HERDER Fragment Von den Lebensaltern der Sprache (urspr 1767)

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

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War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 25: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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noch taumltig ist faumlllt die schoumlnste Zeit die Jugend eines Volkes [hellip] Ist das voll-bracht tritt die Gewohnheit des Lebens ein und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst Wenn der Geist des Volkes seine Taumltigkeit durchgesetzt hat dann houmlrt die Regsamkeit und das Interesse auf das Volk lebt in dem Uumlbergange vom Mannesalter ins Greisenalter [hellip] Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden im Innern und Aumluszligern es kann noch lange fortvegetieren Es regt sich aber diese Regsamkeit ist bloszlig die der be-sondern Interessen der Individuen nicht mehr das Interesse des Volkes selbst So sterben Individuen so sterben Voumllker eines natuumlrlichen Todes26

Oder aumlhnlich

Es ist das Houmlchste fuumlr den Geist sich zu wissen sich nicht nur zur Anschauung sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen Dies muszlig und wird er auch vollbringen aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe eines anderen Geistes Der einzelne Volksgeist vollbringt sich indem er den Uumlbergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht und so ergibt sich ein Fortgehen Entstehen Abloumlsen der Prinzipien der Voumllker27

Und schlieszliglich und endlich kann auch der Zusammenhang verschiedener Lebensalterphasen als in sich zyklisch ablaufend begriffen werden nicht im Sinne einer ewigen rein additiven und somit vom chronologischen Stand-punkt her wesentlich lineraren Wiederkehr ein- und derselben zirkulaumlren Konstellation wie etwa bei Vergil oder individualistisch bei Nietzsche son-dern im Sinne einer kreisfoumlrmigen Abfolge verschiedener Strukturdynamiken welche jeweils unterschiedliche historische Auspraumlgungen erfahren Ein typi-sches Beispiel hierfuumlr ist der Han-zeitliche Historiker Sima Qian der die chi-nesische Geschichte als zyklische Abfolge einzelner Dynastien begreift wel-che jeweils ihre Herrschaft durch eine spezifische Grundtugend erlangen und ausbauen dann aber naturgemaumlszlig fruumlher oder spaumlter durch ihr moralisches Gegenteil verlieren und somit zum Aufstieg einer weiteren Dynastie beitragen Da die Gesamtzahl dieser Herrschertugenden aber auf drei begrenzt ist muszlig die Geschichte nach einiger Zeit unweigerlich zu einem Neubeginn besagter Kreisbewegung fuumlhren

Die Herrschaft der Hia war ehrlich als die Ehrlichkeit pervertiert wurde benahmen die Menschen sich immer schlechter deshalb erlangten die Yn (die Herrschaft) auf-grund ihrer Ehrfurcht als die Ehrfurcht pervertiert wurde verfielen die Menschen dem Aberglauben deshalb erlangten die Zhou (die Herrschaft) aufgrund ihres Formbewuszligtseins als das Formbewuszligtsein aber pervertiert wurde verfielen die Menschen der Frivolitaumlt Um die Frivolitaumlt einzudaumlmmen ist nichts so angebracht wie Ehrlichkeit Das Verhalten der drei Dynastien beschrieb also sozusagen einen Kreis welcher einmal abgeschlossen von neuem beginnt Zur Zeit der Zhou und der Qin war das Formbewuszligtsein pervertiert worden Die Herrschaft der Qin aumlnderte daran nichts sondern machte im Gegenteil die Strafen und die Gesetze grausam

26 HEGEL Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte [Anm 9] S 45ndash46 27 Ibid S 42

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War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 26: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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War dies nicht ein Irrtum Deshalb erlangte die Han-Dynastie die Herrschaft und der Zustand der Entartung welche sie vorfand war einfach zu beseitigen Sie be-wirkte daszlig die Menschen nicht mehr so nachlaumlssig waren und erlangte daher das himmlische Mandat28

Auch in der klassischen Antike erfreute sich dieses Modell einer kreisfoumlrmigen Entwicklung in sich selbst kreisfoumlrmig gestalteter Evolutionen im Hinblick auf den Kreislauf der Verfassungen einer gewissen Beliebtheit bedenkt man va Polybios den wir oben uumlbrigens gleichzeitig als Verfechter eines stoischen Fortschrittsoptimismus kenengelernt haben welcher im folgenden aber die Entwicklung eines jeden Staates als Aufeinanderfolge von Monarchie Aristo-kratie und Demokratie mitsamt ihren jeweiligen Verfallsformen deutete bevor der Kreis sich schlieszligt und die Entwicklung von neuem am Anfang beginnt

Daher denn sechs Verfassungsformen anzunehmen sind drei die in aller Munde sind und die im Vorhergehenden erwaumlhnt wurden und drei denselben verwandte ich meine die Alleinherrschaft die Oligarchie und die Ochlokratie Zuerst nun bildet sich ohne geordnete Formen und ganz von selbst die Alleinherrschaft und dieser folgt und erzeugt sich aus ihr mit geordneten und verbesserten Formen das Koumlnig-tum Wenn dieses in das verwandte Schlechte sich verkehrt ich meine die Zwing-herrschaft so entsteht hinwiederum aus der Aufloumlsung des Schlechten die Aris-tokratie Und wenn diese dem natuumlrlichen Verlaufe zufolge in Oligarchie sich ver-wandelt und sofort die Menge in Zorn entflammt das Unrecht der Regierenden geraumlcht hat so erzeugt sich die Volksherrschaft Und aus der Uumlberhebung und Ge-setzlosigkeit des Volkes hinwiederum geht zuletzt im Verlaufe der Zeiten die Och-lokratie hervor Die Wahrheit dessen was ich aufgestellt kann aber einer aufrsquos Deutlichste einsehen wenn er auf die natuumlrlichen Anfaumlnge und Urspruumlnge und Um-wandlungen der einzelnen Formen achtet Denn wer jede einzelne in ihrem Ent-stehen kennen gelernt kann allein auch das Wachstum und die Bluumlte und die Um-wandlung der einzelnen und das Ziel derselben wann und wie und womit wieder jede sich enden wird erkennen Vorzuumlglich aber glaubte ich daszlig diese Weise der Darlegung auf die roumlmische Verfassung ihre Anwendung finden werde bei der Naturhaftigkeit die von Anfang ihre Ausbildung und ihr Wachstum kennzeichnet [hellip] In Folge davon wenn sie einmal durch ihre toumlrichte Ehrsucht das Volk anrsquos Geschenkenehmen gewoumlhnt und es gierig nach Geschenken gemacht haben geht es nunmehr hinwiederum mit der Demokratie zu Ende und es tritt die Gewalt und das Faustrecht an die Stelle Sobald naumlmlich die Menge die von fremdem Gute zu leben und die Hoffnung fuumlr ihren Unterhalt auf die Habe anderer zu setzen gewohnt ist einen hochstrebenden und kuumlhnen aber durch die Armut von den Ehren im Staate ausgeschlossenen Fuumlhrer erlangt hat so schreitet sie zur Anwendung des Faustrechts Und jetzt sich zusammenrottend wuumltet sie mit Mord und Verbannung und nimmt Landverteilungen vor bis sie ganz verwildert wieder in die Gewalt eines unumschraumlnkten Gebieters und Alleinherrn geraumlt Dies ist der Kreislauf der Verfas-

28 SIMA QIAN Shiji 9 [Gaotsu] Schluszlig nach der Uumlbersetzung von E CHAVANNES

1895ndash1904 S 404f

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 27: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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sungen und dies die Ordnung der Natur nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander uumlbergehen und wieder zum Anfang zuruumlckkehren29

Und selbst bei Hegel dessen einem Vexierspiel nahekommende argumentati-ve Komplexitaumlt wohl mittlerweile uumlberdeutlich geworden sein duumlrfte entzieht er sich doch letztlich jeder geschichtsphilosophischen Kategorisierung indem er sie gleichsam transzendiert finden sich deutliche Ansaumltze zu einem Denken welches zyklische Mikro- und Makrostrukturen zu verbinden weiszlig und somit erstmals die bekannte Metapher vom bdquoKreis aus Kreisenldquo auch explizit zu einem geschichtsphilosophischen Paradigma gemacht hat

Vermoumlge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar in dessen Anfang den einfachen Grund die Vermitt-lung das Ende zuruumlckschlingt dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen denn je-des einzelne Glied als Beseeltes der Methode ist die Reflexion-in-sich die indem sie in den Anfang zuruumlckkehrt zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist Bruch-stuumlcke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften deren jede ein Vor und ein Nach hat oder genauer gesprochen nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt30

Diese doppelte Zirkularitaumlt ermoumlglichte in der Folge eine vielfache Ausdeu-tung So laumlszligt sie sich etwa zur Basis des Versuchs machen die von Hegel

29 POLYB 646ndash12 und 77ndash10 (Uumlbers A HAAKH 1858) διὸ καὶ γένη microὲν ἓξ εἶναι

ῥητέον πολιτειῶν τρία microὲν ἃ πάντες θρυλοῦσι καὶ νῦν προείρηται τρία δὲ τὰ τούτοις συmicroφυῆ λέγω δὲ microοναρχίαν ὀλιγαρχίαν ὀχλοκρατίαν πρώτη microὲν οὖν ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς συνίσταται microοναρχία ταύτῃ δacute ἕπεται καὶ ἐκ ταύτης γεννᾶται microετὰ κατασκευῆς καὶ διορθώσεως βασιλεία microεταβαλλούσης δὲ ταύτης εἰς τὰ συmicroφυῆ κακά λέγω δacute εἰς τυραννίδacute αὖθις ἐκ τῆς τούτων καταλύσεως ἀριστοκρατία φύεται καὶ microὴν ταύτης εἰς ὀλιγαρχίαν ἐκτραπείσης κατὰ φύσιν τοῦ δὲ πλήθους ὀργῇ microετελθόντος τὰς τῶν προεστώτων ἀδικίας γεννᾶται δῆmicroος ἐκ δὲ τῆς τούτου πάλιν ὕβρεως καὶ παρανοmicroίας ἀποπληροῦται σὺν χρόνοις ὀχλοκρατία γνοίη δacute ἄν τις σαφέστατα περὶ τούτων ὡς ἀληθῶς ἐστιν οἷα δὴ νῦν εἶπον ἐπὶ τὰς ἑκάστων κατὰ φύσιν ἀρχὰς καὶ γενέσεις καὶ microεταβολὰς ἐπιστήσας ὁ γὰρ συνιδὼν ἕκαστον αὐτῶν ὡς φύεται microόνος ἂν οὗτος δύναιτο συνιδεῖν καὶ τὴν αὔξησιν καὶ τὴν ἀκmicroὴν καὶ τὴν microεταβολὴν ἑκάστων καὶ τὸ τέλος πότε καὶ πῶς καὶ ποῦ καταντήσει πάλιν microάλιστα δacute ἐπὶ τῆς Ῥωmicroαίων πολιτείας τοῦτον ἁρmicroόσειν τὸν τρόπον ὑπείληφα τῆς ἐξηγήσεως διὰ τὸ κατὰ φύσιν αὐτὴν ἀπacute ἀρχῆς εἰληφέναι τήν τε σύστασιν καὶ (τὴν) αὔξησιν [hellip] ἐξ ὧν ὅταν ἅπαξ δωροδόκους καὶ δωροφάγους κατασκευάσωσι τοὺς πολλοὺς διὰ τὴν ἄφρονα δοξοφαγίαν τότacute ἤδη πάλιν τὸ microὲν τῆς δηmicroοκρατίας καταλύεται microεθίσταται δacute εἰς βίαν καὶ χειροκρατίαν ἡ δηmicroοκρατία συνειθισmicroένον γὰρ τὸ πλῆθος ἐσθίειν τὰ ἀλλότρια καὶ τὰς ἐλπίδας ἔχειν τοῦ ζῆν ἐπὶ τοῖς τῶν πέλας ὅταν λάβῃ προστάτην microεγαλόφρονα καὶ τολmicroηρόν ἐκκλειόmicroενον δὲ διὰ πενίαν τῶν ἐν τῇ πολιτείᾳ τιmicroίων τότε δὴ χειροκρατίαν ἀποτελεῖ καὶ τότε συναθροιζόmicroενον ποιεῖ σφαγάς φυγάς γῆς ἀναδασmicroούς ἕως ἂν ἀποτεθηριωmicroένον πάλιν εὕρῃ δεσπότην καὶ microόναρχον Αὕτη πολιτειῶν ἀνακύκλωσις αὕτη φύσεως οἰκονοmicroία καθacute ἣν microεταβάλλει καὶ microεθίσταται καὶ πάλιν εἰς αὑτὰ καταντᾷ τὰ κατὰ τὰς πολιτείας

30 GWF HEGEL Groszlige Logik (1816) Schluszligkapitel

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 28: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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vertretene zirkulaumlre Geschichtsdynamik wesentlich auf die Entwicklung ein-zelner Kulturen zu beziehen hierdurch also gewissermaszligen Spenglers und Toynbees biologistisches System dialektisch zu unterfuumlttern ohne doch gleichzeitig anzunehmen auch die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit folge einer dialektischen Kausalitaumlt Dies ist ein Ansatz den etwa der Verfasser vorliegender Zeilen vertreten hat

Gerade die Freiheit des Willens ist es die uumlber die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Bar-rieren fuumlhrt welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Houmlhepunkt zu-nehmend beschraumlnken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom ma-teriellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve die schlieszliglich kreisfoumlrmig an den Ausgangspunkt zuruumlckfuumlhrt Der Weltgeist wuumlrde sich also nicht geradlinig entwickeln sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen in reiner Geistigkeit bluumlhen und in der Aporie der Lebensunvertraumlglichkeit des nackten Individualismus vergehen ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen dessen Interpretation ausgehend von ei-nem neuen bdquoVolksgeistldquo ohnehin fehlerhaft sein muszlig31

Gleichzeitig aber laumlszligt sich der Hegelʼsche Ansatz des bdquoKreises von Kreisenldquo auch mit einer uumlbergeordneten Fortschrittsperspektive verknuumlpfen wenn man die beiden von Hegel hier besprochenen Dimensionen um eine dritte erweitert und die zirkulaumlre Dynamik in eine sich spiralisch emporschraubende Entwick-lung umwandelt wie dies von Houmlsle in Bezug auf die Geschichte der abend-laumlndischen Philosophie entwickelt wurde

Die Geschichte der Philosophie des Abendlands so soll hier also hypothetisch ver-treten werden verlaumluft sowohl dialektisch als auch spiralfoumlrmig Sie besteht in ihrer Totalitaumlt aus mehreren Perioden oder Zyklen die unter sich charakteristische Ent-sprechungen aufweisen die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dia-lektisch als diejenige Philosophie die abschlieszligend am Ende eines Zyklus er-scheint einen Fortschritt gegenuumlber jenen Philosophen darstellt die ihr in demsel-ben Zyklus vorangehen [hellip]32

Als dritte Abwandlung dieses Musters eines bdquoKreis von Kreisenldquo darf man dann die strukturell ebenfalls aumlhnlich gelagerte Annahme einer bdquoKurve von Kurvenldquo in Betracht ziehen aumlhnlich weil ja wie eingangs erlaumlutert das biolo-

31 D ENGELS Ducunt fata volentem nolentem trahunt Hegel Spengler und das

Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus in Saeculum 59 2009 S 269ndash298 s auch den Abdruck in diesem Band

32 V HOumlSLE Wahrheit und Geschichte Studien zur Struktur der Philoso-phiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon Stuttgart Bad Cannstatt 1984 S 131f

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 29: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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gistische Kurvenmodell und das zyklische Wiederkehrsmodell eng aufeinander bezogen sind laumlszligt sich doch jeder Kreis mathematisch je nach Projektion des Achsenkreuzes in Kurven umformulieren und umgekehrt Neben Karl Baurs bdquoZeitgeist und Geschichteldquo darf man hier vor allem an das von Wangenheim entwickelte fraktale Modell erinnern

So kommt es daszlig in diesem Buch die Anleitung gegeben wird das Wissen der Ge-schichte zu errechnen So wie wir einen mathematischen Satz aus den Axiomen her-leiten so werden wir aus dem Prinzip der Geschichte die Grundstroumlmungen der Zei-ten der groszligen Epochen der Stile hinab bis in die Generationen aufscheinen sehen und gerade darin ihr Verhaumlltnis untereinander begreifen koumlnnen die Folge der Stile [hellip] So scheint aus einer elementaren Gesetzmaumlszligigkeit der Abwechslung zweier Zu-staumlnde ein streng kausales Walten in der Welt postuliert Doch wir werden sehen wie die fraktale Behandlung jenes Kausalgesetzes eine recht wundersame Wendung nimmt Durch die Uumlberlagerung unzaumlhliger fuumlr sich kausaler Vorgaumlnge naumlmlich tritt immer mehr das Unuumlberschaubare in die Welt33

Nun waumlre diese Aufzaumlhlung nicht vollstaumlndig wenn wir nicht noch abschlie-szligend einen im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bdquozyklischldquo bezeichneten eigentlich aber eher bdquosaumlgezahnartigenldquo Sonderfall behandeln wuumlrden der vor allem in der traditionellen auszliger-europaumlischen Historiographie uumlberaus ge-braumluchlich ist naumlmlich die Interpretation von Geschichte als einer bestaumlndigen Folge einer Reihe von Dynastien welche jeweils alle aumlhnlichen Entwick-lungsmustern folgen Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um echte Zyklizitaumlt im etymologischen Sinne des Wortes κύκλος naumlmlich einer kreis-laufartigen bdquozirkulaumlrenldquo Ruumlckkehr zum tatsaumlchlichen Ursprung sondern eher im Sinne einer anorganischen Zick-zack-Entwicklung Diesem Modell zufolge waumlre Geschichte die Addition einer Folge von Herrschaftsphasen welche meist dem Dekadenzprinzip folgen demzufolge also der jeweils erste Herr-scher gleichzeitig auch schon den Houmlhepunkt der jeweiligen Dynastie aus-macht und dessen jeweilige Nachfolger in ihrer moralischen politischen oder religioumlsen Qualitaumlt stetig abnehmen bis es schlieszliglich zum Fall der Dynastie und dem abrupt einsetzenden Herrschaftsantritt einer neuen kommt

Ein typisches Beispiel hierfuumlr ist ibn Khaldun der gestuumltzt auf seine Be-trachtungen der maghrebinischen Staatenwelt des 14 Jh bekanntlicherweise die politische Geschichte als Abfolge einzelner Herrscherhaumluser wahrnahm welche jedesmal durch den Aufstieg nomadischer oder zumindest wirtschaft-lich aumlrmlicher aber sittlich-moralisch hochstehender Staumlmme zur politischen Macht begruumlndet werden dann im Laufe einiger weniger Generationen die urspruumlngliche Energie verlieren verweichlichen und zum Opfer ihrer Feinde werden Interessanterweise begruumlndet ibn Khaldun den unausweichlichen

33 Th WANGENHEIM Kultur und Ingenium Eine fraktale Geometrie der

Weltgeschichte Waltersdorf 2013 S 10

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

34 IBN KHALDUN Muqaddima 215 (Uumlbers M PAumlTZOLD 1992)

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 30: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Verfall einer jeden Dynastie aber nicht nur durch soziologische Dynamiken sondern gleichzeitig ndash leicht widerspruumlchlich ndash auch durch den Verweis auf die allgemeine Vergaumlnglichkeit der Dinge bemuumlht also ebenfalls vitalistische Erklaumlrungsmuster

Wisse daszlig in der Welt der Elemente alle Dinge entstehen und vergehen ndash sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Zustaumlnden Alle geschaffenen Dinge so die Minera-lien Pflanzen alle Tiere bis hin zum Menschen und anderes entstehen und verge-hen auch Das kann man mit eigenen Augen sehen Das trifft ebenso auf die Zustaumln-de insbesondere die den Menschen angehenden zu So entwickeln sich die Wissen-schaften und werden dann wieder ausgeloumlscht ebenso die Gewerbe und aumlhnliches [hellip] Rang und Wertschaumltzung gehen dann jedoch innerhalb von vier Generationen zu Ende Das verhaumllt sich folgendermaszligen Der Schoumlpfer des Ruhmes weiszlig was es ihn gekostet hat diesen zu begruumlnden und er bewahrt die Wesenszuumlge die Grundla-ge fuumlr die Existenz des Ruhmes und seines Fortbestandes waren Sein ihm nachfol-gender Sohn der unmittelbaren Umgang mit ihm hat houmlrt ihn hiervon berichten und lernt von ihm Er bleibt dabei aber (hinter seinem Vater) zuruumlck [hellip] Folgt die dritte Generation so besteht ihr Los darin nachzuahmen und insbesondere gedankenlos zu uumlbernehmen [hellip] Wenn dann die vierte Generation kommt so steht diese den ande-ren ganz und gar nach Sie zerstoumlrt die Wesenszuumlge die die Errichtung ihres Ruhmes sicherten schaumltzt sie gering und bildet sich ein daszlig dieser Aufbau ohne Muumlhe und Anstrengung vonstatten gegangen sei34

Streng genommen handelt es sich bei ibn Khalduns Geschichtssicht also um eine rein additive recht bdquooffeneldquo da keinem uumlbergeordneten Gesamtziel zu-strebende Aneinanderfuumlgung verschiedener Niedergangsszenarien der schein-bar biologistische Grundcharakter sieht man einmal vom Vergaumlnglichkeitsto-pos ab entsteht im Blick des Betrachters nur durch die Verschiebung der Grenze zwischen den einzelnen Herrscherhaumlusern welche jedesmal den Tief-punkt der verschiedenen Dynastien mit dem Aufstieg der jeweils naumlchsten verbindet und somit ein scheinbares bdquoAuf und Abldquo konstruiert wo in der Dar-stellung des Historikers wesentlich nur eine additive Folge verschiedener Nie-dergangsszenarien vorherrscht Eine solche bdquosaumlgezahnartigeldquo da wesentlich auf binaumlrem Denken beruhende geschichtsphilosophische Dynamik sollte daher getrennt werden von der bereits erwaumlhnten in biologistisch-zyklischem Denken verankerten bdquowellenfoumlrmigenldquo Struktur deren Grundgesetzlichkeiten sich vielmehr einem monistischen vitalistischen Muster verdanken fuumlr das der Niedergang bereits im Aufstieg einbegriffen ist und umgekehrt Nun sei abschlieszligend noch einmal betont daszlig der obige kleine Uumlberblick uumlber einige sich gleichsam apriorisch aufdraumlngende geschichtsphilosophische Grundstrukturen weder suggerieren soll daszlig sich Geschichtsphilosophie ins-gesamt durch die Ruumlckfuumlhrung auf ihre Grundkomponenten bdquowegerklaumlrenldquo lieszlige noch selbst daszlig diese Komponenten trennscharf genug seien um we-

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

EINLEITUNG 45

Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 31: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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nigstens einzelne Geschichtsdenker in ihrer Systematik bdquoauf den Punktldquo zu bringen Schon der haumlufige Verweis auf Platon Polybios Hegel und Spengler im Zusammenhang mit nicht nur einem sondern gleich mehreren geschichts-philosophischen Grundstrukturen hat ja gezeigt daszlig die eigentliche Attraktivi-taumlt der einzelnen Geschichtsphilosophien nicht in ihrer Reduzierbarkeit auf einzelne strukturelle bdquoBausteineldquo liegt sondern im Gegenteil in ihrer komple-xen und fruchtbaren Kombination und in der Tatsache daszlig Aufstieg Nieder-gang Biologismus und Zyklizitaumlt in vielfaumlltiger Weise aufeinander bezogen und in vielschichtiger Weise als Metaphern eingesetzt werden koumlnnen ohne sich gegenseitig auszuschlieszligen

In dieser Hinsicht ist es also gerade die Notwendigkeit die Wirklichkeit eben nicht simplifizierend (und offensichtlich der Sache unangemessen) auf eine einzige dynamische Grundausrichtung zu reduzieren sondern die ver-schiedensten Grunderfahrungen des Lebens in ein zwar rational faszligbares gleichzeitig aber doch hinreichend komplexes und glaubwuumlrdiges Modell umzuwandeln welche als Grundherausforderung der Geschichtsphilosophie zu betrachten ist und es duumlrften dabei wohl gerade jene Denker sein welche ohne tautologisch widerspruumlchlich oder nichtssagend zu werden eine groumlszligt-moumlgliche Komplexitaumlt und Vieldeutigkeit der Beschreibung mit einer kleinst-moumlglichen Anzahl historischer Gesetzmaumlszligigkeiten verbunden haben welche der bdquoWahrheitldquo der Sache am naumlchsten gekommen sein duumlrften 3 Zum Inhalt dieses Bandes In Anbetracht der Komplexitaumlt des uumlbergeordneten Themas vorliegenden Sammelbandes ndash Biologismus und Zyklizitaumlt in der antiken und abendlaumlndi-schen Geschichtsphilosophie ndash seien einige methodologische Bemerkungen gestattet

Zum einen duumlrfte es kaum verwundern daszlig es sich bei nachfolgender Zu-sammenstellung einzelner Beitraumlge nur um eine paradigmatische Annaumlherung an das Thema handeln kann die keine wie auch immer geartete Vollstaumlndig-keit beansprucht eine auf chronologische Bruchlosigkeit zielende Praumlsentation waumlre wohl einer Geschichte der Geschichtsphilosophie gleichgekommen Auch handelt es sich keineswegs um ein Lehrbuch sondern vielmehr um eine Folge wissenschaftlich und inhaltlich eigenstaumlndiger Aufsaumltze welche die Fruchtbarkeit wie auch die argumentativen Probleme eines solchen ge-schichtsphilosophischen Ansatzes am konkreten historischen Beispiel zu ver-deutlichen suchen und sich daher jeweils der Methodik der betroffenen aka-demischen Disziplinen bedienen

Zudem sei praumlzisiert daszlig die Auswahl der diskutierten Autoren und Kon-zepte verstaumlndlicherweise eher dem klassischen Kanon abendlaumlndischer All-

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 32: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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gemeinbildung verpflichtet ist als universalhistorischer Vollstaumlndigkeit Im-merhin hat eine solche Selbstbeschraumlnkung auf Antike und Abendland den Vorteil die haumlufigen Querbezuumlge zwischen Autoren und Texten zu verdeutli-chen und somit die Wiederkehr einer beschraumlnkten Anzahl von Themen Mo-dellen und Streitfragen uumlber die Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen eine inhaltliche Selbstbezuumlglichkeit welche wohl nur schwer in diesem Maszlige zu erreichen waumlre wenn vorliegender Band sich auch auf das Denken der alten vorderorientalischen Kulturen Chinas oder der praumlkolumbianischen Welt erstreckt haumltte

Schlieszliglich und endlich sei betont daszlig die Interpretation welche die hier besprochenen geschichtsphilosohischen Denker Konzepten wie bdquoBiologismusldquo und bdquoZyklizitaumltldquo zukommen lassen keineswegs immer identisch ist sondern sich aus vielerlei oft widerspruumlchlich scheinenden Inspirationen speist so daszlig einige Theorien zwar dem Selbstanspruch nach keineswegs als zyklisch gelten wollen auf rein struktureller Ebene einen solchen Ansatz aber sehr wohl ver-treten waumlhrend andere nach auszligen hin zyklische oder biologistische Denkmus-ter zu verteidigen scheinen letztlich aber ganz andere Argumentationsmuster bemuumlhen So mag es fuumlr den Leser von Nutzen sein den Inhalt der folgenden Aufsaumltze unter Beruumlcksichtigung der obigen Uumlberlegungen kurz zusammenzufassen um sowohl Kontinuitaumlten als auch Bruchlinien besser hervortreten zu lassen wel-che sonst gewissermaszligen in den Uumlbergaumlngen von einem Aufsatz zum naumlchsten verschwinden wuumlrden

Es stellt sich zunaumlchst die Frage ab wann eigentlich uumlberhaupt von der Existenz einer echten sich selbst kritisch infragestellenden bdquoGeschichtsphilo-sophieldquo in der antik-abendlaumlndischen Literatur ausgegangen werden kann und bis wann es sich lediglich um kaum reflektiertes Denken bdquouumlberldquo Geschichte bzw um die mehr oder weniger gedankenlose Tradierung nicht hinterfragter Geschichtsbilder handelt Unter dieser Praumlmisse wuumlrde ein solches kritisches systematisches Nachdenken nicht allein uumlber die Mechanismen sondern auch uumlber den Sinn der Geschichte recht spaumlt beginnen da bis auf einige oberflaumlch-liche Uumlberlegungen bei Herodot und Thukydides und schwer zu interpretieren-de Maximen der Vorsokratiker erst bei Platon und Aristoteles ernstzunehmen-de Ansaumltze zu geschichtsphilosophischem Denken belegt sind Sylvain Del-comminette zeigt in seinem Beitrag bdquoPreacutesence et absence drsquoune philosophie de lrsquohistoire chez Platon et Aristote Cycles deacutegeacuteneacuterescences et progregravesldquo daszlig zwar bei beiden Denkern die Auseinandersetzung zwischen linearem und zyk-lischem Denken bereits eine bedeutende Rolle spielt beide sich aber zu keiner wirklich uumlberzeugenden und kohaumlrenten Position durchringen konnten oder wollten

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

EINLEITUNG 45

Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

DAVID ENGELS 46

Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 33: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Erst die Erfahrungen der hellenistischen Zeit der folgenreiche Kontakt mit den orientalischen Zivilisationen und die Entwicklung einer feststehenden geschichtsphilosophischen Topik zumindest in den Prooimien der antiken Geschichtswerke sollten dann eine allmaumlhliche Selbstreflexion des Historikers nicht nur uumlber den Sinn seiner Taumltigkeit sondern auch den tieferliegenden Sinn der Geschichte selbst hervorbringen wenn eine solche Uumlberlegung auch in den meisten Faumlllen kaum zu einer kohaumlrenten geistig-philosophischen Durchdrin-gung des historischen Stoffes an sich fuumlhren sollte der bis auf einige bezeich-nende Ausnahmen weiterhin nach pragmatischen oder politisch-ideologischen Gesichtspunkten durchgeformt wurde Diese Entwicklung sollte sich va in der spaumltrepublikanischen Historiographie niederschlagen als die ebenso un-vermittelte Erfahrung der roumlmischen Hegemonie wie ihres raschen Zusam-menbruchs aufgrund innerer Krisen die historische Sinnfrage zeitgemaumlszliger denn je scheinen lieszlig wie der Verfasser dieser Zeilen in seiner Studie bdquoDeacuteter-minisme historique et perceptions de deacutecheacuteance sous la reacutepublique tardiveldquo darstellt Dieser Beitrag deckt den Zeitraum von Polybios bis Seneca ab und behandelt vor allem die Frage nach der Praumlsenz zyklischer und biologistischer Strukturen wobei ein ganz besonderes Augenmerk auf die intertektuellen Bezuumlge wie auch ihre jeweilige Abhaumlngigkeit von den zeitgenoumlssischen politi-schen Ereignissen gerichtet wird

Waumlhrend das Geschichtsdenken der Kaiserzeit dann wesentlich von einer Fortsetzung der in spaumltrepublikanischer Zeit erarbeiteten Muster gepraumlgt wurde und teils am Lebensaltermodell festhielt teils einen rein biographischen An-satz verfolgte der nur lose mit der Ideologie einer Roma aeterna verknuumlpft wurde fand im Bereich des philosophischen Denkens eine wahre Revolution statt seitdem die klassischen hellenistischen Schulen durch den Aufschwung des Neuplatonismus beiseitegedraumlngt wurden der dem Neupythagoreismus freilich viel verdankte die hier angelegten Uumlberlegungen aber in ungleich komplexerem Maszlige vertiefte Der Neuplatonismus sollte zwar der Philosophie der Geschichte nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit widmen was si-cherlich auch darauf zuruumlckzufuumlhren ist daszlig Platon selbst dessen Werke ja meist die Vorlage fuumlr die umfassende neuplatonische Kommentarliteratur liefern sollten diesen Problemen nur ein geringes und widerspruumlchliches Inte-resse beigemessen hatte und zahlreiche der von ihm erwaumlhnten Zeitfragen des fuumlnften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts in der Kaiserzeit ohnehin nur noch ein rein antiquarisches Interesse hatten und kaum zur Reflexion uumlber Geschichte an sich inspirierten Trotzdem sind einige neuplatonische Uumlberle-gungen zum Verhaumlltnis von Fortschritt Niedergang und Zyklizitaumlt houmlchst innovativ Daher ist es kaum erstaunlich daszlig die neuplatonische Schule wie Marc Antoine Gavray in seinem Aufsatz bdquoTemporaliteacute deacutegradation et conver-sion Les neacuteoplatoniciens drsquoAthegravenes face agrave lrsquoHistoireldquo zu zeigen versucht wesentlich Platons Aumluszligerungen uumlber den naturgesetzlichen Niedergang aller

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

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lebenden Dinge und somit auch der Geschichte und der Philosophie rezipierte und mit einem gewissermaszligen elitaumlr-spaumltzeitlichen Selbstbewuszligtsein kombi-nierte ein Geschichtspessimismus der aber insoweit eine zyklische Nuancie-rung erfuhr als zumindest einige Neuplatoniker an die Moumlglichkeit eines neu-en zyklischen Aufschwungs zu glauben wagten

Waumlhrend Geschichte also vom spaumltantik-heidnischen Standpunkt aus bes-tenfalls Stagnation schlimmstenfalls Niedergang bedeutete wuszligte die junge christliche Kirche diesem resigniert-nostalgischen Denken zum einen die posi-tive Dynamik der Heilsgeschichte zum anderen die im vorderorientalischen Messianismus verankerte Hoffnung auf die Wiederkehr des Erloumlsers entgegen-zusetzen Trotzdem schien der gewaltige Stoff der Weltgeschichte den christli-chen Historikern welche zudem aufgrund ihres Interesses am Alten Testament die griechisch-roumlmische Geschichtsschreibung mit dem historiographisch bis-lang kaum durchgearbeiteten Stoff der vorderorientalischen biblischen Ge-schichte zu verknuumlpfen hatten auf den ersten Blick kaum geeignet wesentlich auf Basis der Heilsgeschichte strukturiert zu werden In dieser Situation ge-schah dann der Ruumlckgriff auf die Lehre von der Sukzession der Weltreiche wie sie sich nicht nur bei Daniel sondern auch an vielen Stellen der antiken Historiographie wiederfand allen voran bei Poybios Dionysios von Halikar-nassus oder Velleius Paterculus Waumlhrend Daniel die Abfolge dieser Weltrei-che aufgrund der Identifizierung der Gesamtgeschichte mit einer menschlichen Statue und der Einzelreiche mit einzelnen Fabeltieren ganz klar biologistisch uumlberformt hatte wohingegen bei den heidnischen Denkern vielmehr eine teleo-logisch auf Rom zulaufende Dynamik vorlag fand die Weltreichslehre bei Orosius dem langfristig wohl einfluszligreichsten christlichen Historiker der Spaumltantike insoweit eine interessante Abwandlung als dieser die Folge der Imperien explizit mit dem himmlischen Heilsplan verknuumlpfte und zudem durch Identifizierung mit den Himmelsrichtungen als praumldestinierte wahrhaft zykli-sche Bewegung darstellte wie Peter Van Nuffelen in seinem Beitrag bdquoOn Moral Ends Orosius and the Circle of Life in Historyrdquo darlegt

Orosius der uumlber Jahrhunderte hinweg der bedeutendste Historiker zumin-dest der westlichen Christenheit bleiben sollte leitet bereits weiter zum Fortle-ben zyklischer und biologistischer Modelle in der mittelalterlichen Geschichts-schreibung Diese beschraumlnkte sich lange Zeit darauf die in der Spaumltantike entwickelten Denkmuster auf die reale Situation West- und Mitteleuropas anzuwenden und dabei vor allem die Uumlbertragung des roumlmischen Kaisertums auf die Koumlnige Germaniens mit dem goumlttlichen Heilsplan der erwarteten Ruumlckkehr des Herrn und der danielischen Weltreichslehre in Einklang zu brin-gen Zyklizitaumlt schien hier bestenfalls durch die symbolische und spirituelle Verknuumlpfung zwischen Adam Christus und dem wiederkehrenden Heiland moumlglich Origineller war in dieser Hinsicht der Ansatz des Joachim von Fiore wie Julia Eva Wannenmacher in bdquoThe Spiny Path of Salvation Linear and

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

DAVID ENGELS 44

geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

EINLEITUNG 45

Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

DAVID ENGELS 46

Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 35: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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Cyclical Structures of History in Joachim of Fiorerdquo zeigt Zwar geht natuumlrlich auch Joachim auf die zentralen Momente christlicher Offenbarung ein der weitgehende Verlust historischen Wissens uumlber die klassische oder gar vorder-orientalische Antike ermoumlglichte ihm hierbei aber eine uumlberaus kreative Um-deutung des zur Verfuumlgung stehenden Materials so daszlig bei Joachim gleich drei Ansaumltze historischen Denkens vorliegen Zum einen die Uumlbertragung der Visionen der Offenbarung auf die Weltgeschichte an sich dann der Versuch Altes und Neues Testament in symmetrischen Einklang zu bringen und schlieszliglich die Lehre von der trinitaumlren Struktur der Weltgeschichte welche um die dreifache Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte herum angeord-net ist und als Abfolge dreier uumlberlappender Kreise mit vielfaumlltigen wechsel-seitigen Bezuumlgen auch optisch eindringlich visualisiert werden konnte

Die Wiederentdeckung der Literatur der klassischen Antike in der Renais-sance bzw ihr veraumlnderter Stellenwert fuumlhrten dann in der Geschichte Europas zu einer breiten Reappropriation antiken Gedankenguts In Anbetracht der Menge des verfuumlgbaren Stoffes und der oft naiven Idealisierung der Antike in ihrer Gesamtheit muszligte diese Wiederentdeckung zum einen die Frage nach dem Stellenwert der eigenen Gegenwart und der weitgehend bdquouumlberwundenldquo geglaubten mittelalterlichen Gesellschaft aufwerfen und konnte zum anderen wenigstens in der Anfangszeit nur um den Preis sehr synkretistischer Ge-schichtsbilder gelingen war die Fuumllle verschiedenster ideologischer Ansaumltze aus einem Jahrtausend antiker Literatur doch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen Daher muszligte die Wiederentdeckung des zyklischen Den-kens der Antike welches den weitgehend teleologisch-linearen Vorstellungen christlichen Denkens oft entgegengesetzt schien auch zu einem verstaumlrkten Interesse an Problemen zirkulaumlrer oder biologistischer Geschichtsinterpretation fuumlhren wie sich va im reichhaltigen Oeuvre Machiavellis zeigen sollte In bdquoLrsquohistoire cyclique Machiavel et lrsquoaristoteacutelisme de la Renaissanceldquo zeigt Thamar Rossi Leidi wie komplex sich gerade hier der Einfluszlig Platons mit der Frage nach der Ewigkeit und Zyklizitaumlt der Welt der Einfluszlig Aristoteles mit der Frage nach der Rolle der bdquoNotwendigkeitldquo in der Geschichte und schlieszlig-lich der Einfluszlig Polybios mit der Frage nach der Rolle der Vorsehung und des Verfassungskreislaufs niedergeschlagen haben und inwieweit die von Machi-avelli vorgeschlagene geschichtsphilosophische Loumlsung eher einem Kompro-miszlig als einer wirklichen Symbiose gleichkommt

Der Aufschwung der fruumlhneuzeitlichen Staatenwelt der Einfluszlig der Refor-mation und der groszligen Entdeckungsfahrten und schlieszliglich die beginnende Industrialisierung des 18 Jahrhunderts sollten dann den Glauben an einen uneingeschraumlnkten bdquoFortschrittldquo fuumlr lange Zeit zur leitenden Doktrin der abendlaumlndischen Geschichtsphilosophie erheben Umso interessanter ist es allerdings zu untersuchen daszlig sich schon recht fruumlh grundlegende Zweifel an der Natur jenes bdquoFortschrittsldquo offenbaren sollten ein Fortschritt welcher zu-

EINLEITUNG 43

mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

EINLEITUNG 45

Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

Page 36: Biologistische und zyklische Geschichtsphilosophie. Ein struktureller Annäherungsversuch, in: D. Engels (Hg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der

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mindest bei Giambattista Vico dem bedeutendsten Theoretiker geschichts-morphologischen Denkens vor Oswald Spengler eher als eine wesentlich spaumltzeitliche und ephemere Besonderheit der europaumlischen Kultur empfunden wurde denn als Zeichen eines neuen jugendlichen Aufschwungs So zeigt Quentin Landenne in seinem Beitrag bdquoFondements meacutetaphysiques et institution eacutepisteacutemologique de la philosophie moderne de lrsquohistoire chez Giambattista Vicoldquo in welchem Maszlige Vico viele Standpunkte des modernen Transzenden-talismus vorweggenommen hat und gerade durch seine zyklische Fusion von Philosophie und Philologie wichtige Schritte auf dem Weg zu einer philoso-phischen Hermeneutik vollzogen hat Hierbei sollte es die Deutung der Ge-schichte einer Kultur als analog zur Entwicklung des Einzelmenschen sein welche Vicos Theorie eine uumlberragende argumentative Kohaumlrenz verlieh zu-mal gerade die Lebensalteranalogie es Vico ermoumlglichte die zentrale Rolle der bdquoVorsehungldquo als wichtige Triebkraft menschlichen Handels waumlhrend der vor-philosophischen Phasen einer jeden Kulturentwicklung zu unterstreichen

Eine jede Untersuchung uumlber die Entwicklung abendlaumlndischer Geschichs-philosophie hat sich mit dem Werk Immanuel Kants auseinanderzusetzen nicht nur aufgrund der von diesem vorgelegten und fuumlr alle spaumlteren Generati-onen maszliggeblichen Kritik der Grenzen unserer Erkenntnisfaumlhigkeit sondern auch trotz bzw aufgrund der Tatsache daszlig bei Kant nur wenig Platz fuumlr zykli-sche Geschichtsstrukturen uumlbrigbleibt In diesem Sinne unternimmt es Vittorio Houmlsle in seinem Aufsatz bdquoThe Place of Kantrsquos Philosophy of History within the History of the Philosophy of Historyrdquo nicht nur Kants eigene Positionen herauszuarbeiten sondern sie auch sinnhaft in den breiteren Rahmen der Ge-schichte der Geschichtsphilosophie einzuordnen also zu zeigen inwieweit die vorangehenden Entwicklungen und Modelle welche von einer Vielfalt ver-schiedenster Ansaumltze gepraumlgt waren brennpunktartig in Kant zusammenliefen und durch ihn eine neue Grundlegung erfuhren Und wenn Kants eigene Posi-tion auch wesentlich vom Fortschrittsgedanken gepraumlgt war und aus diesem Vernunftglauben die teleologische Hoffnung auf ein friedliches Zusammen-wachsen der Welt bezog sollte doch gerade die erkenntniskritische Grundle-gung seiner Darstellung spaumltere Historikern glauben machen aus denselben Grundvoraussetzungen radikal andere irrationale oder vitalistische Folgerun-gen ziehen zu koumlnnen

Bereits Spengler hat als den wesentlichen intellektuellen Antipoden Kants nicht etwa Hegel sondern vielmehr Goethe gesehen Und tatsaumlchlich ist der Einfluszlig Goethes gerade auf das vitalistische Geschichtsdenken des 19 und beginnenden 20 Jahrhunderts kaum zu uumlberschaumltzen wenn auch heute nur noch schwer nachzuvollziehen seitdem sich die generelle Kenntnis Goethes auf einige wenige Grundtexte beschraumlnkt und gerade jene Abhandlungen welche den Zeitgenossen noch so zentral schienen wie etwa die Theorien zur Urpflanze oder die Gespraumlche mit Eckermann weitgehend in Vergessenheit

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

EINLEITUNG 45

Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

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geraten sind In bdquolsquoEin schaffender Spiegellsquo Das Geschichtsbild Goethesldquo un-ternimmt Alexander Demandt es die oft sehr verstreuten Aumluszligerungen Goethes zur Geschichte zusammenzutragen und miteinander in Bezug zu setzen Zent-ral ist hierbei die bereits im bdquoFaustldquo zutage tretende Ablehnung rein antiquari-scher Geschichtsforschung und das Verlangen nach unmittelbarer Wirkmaumlch-tigkeit des Vergangenen auf Person und Persoumlnlichkeit des Historikers Frei-lich verschloszlig sich Goethe zeitlebens dem Versuch ein zusammenhaumlngendes System der Weltgeschichte zu skizzieren viele Aumluszligerungen und vor allem das Forschen nach der bdquoUrpflanzeldquo lassen jedoch deutlich werden daszlig Goethe auch in der Geschichte das Wirken archetypaler vitalistischer und somit zyk-lisch-biologistischer Grundgesetze am Werke sah

Das Stichwort bdquoGoetheldquo leitet damit fast zwangslaumlufig uumlber zu seinem gro-szligen Zeitgenossen Hegel Dieser wird in der allgemeinen Forschung meist recht einseitig auf eine teleologisch-dialektische Stufenlehre festgelegt derzufolge der Geist mit Hilfe der politischen und geistigen Entwicklung der Menschheit zunehmend Kenntnis seiner selber gewinne bevor dann im absoluten Ver-nunftstaat jene utopische Zeit beginne in welcher diese Selbstwerdung schlieszliglich vollzogen sei und das Zeitalter der bdquoNachgeschichteldquo beginne ndash eine arg vereinfachende Sichtweise welche dadurch noch staumlrker ins Auge faumlllt daszlig Hegel haumlufig gegen den biologistischen Determinismus Spenglers ausgespielt wird um dessen metaphysische Unzulaumlnglichkeiten zu zeigen und somit dem Biologismus an sich den Garaus zu machen Daszlig die tatsaumlchliche Sachlage erheblich komplizierter ist versucht der Verfasser dieser Zeilen in bdquo lsquoDucunt fata volentem nolentem trahuntʼ Hegel Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismusldquo zu zeigen Hier wird unter-nommen zum einen die bislang immer unterschaumltze Auswirkung dialektischen Denkens auf Spenglers Geschichtstheorie und unterschwellige Metaphysik aufzuzeigen zum anderen die meist ignorierte Bedeutung welche der biolo-gistischen Entwicklung der bdquoVolksgeisterldquo als wesentlicher Triebkraft des Weltgeschehens bei Hegel zukommt herauszuarbeiten um die methodologi-sche Grundlage fuumlr eine moumlgliche Verbindung zwischen Dialektik und Biolo-gismus zu schaffen

Der intellektuelle Einfluszlig Spenglers auf das Denken des 20 Jahrhunderts kann wohl kaum uumlberschaumltzt werden ein Einfluszlig der eben nicht nur auf das Fachpublikum begrenzt war sondern im Gegenteil weite Kreise der Gesell-schaft erreichte so daszlig die Auseinandersetzung mit Spengler unweigerlich zum prinzipiellen Pruumlfstein weltanschaulicher Gesinnung werden muszligte und die zeitgenoumlssische Gesellschaft tief polarisierte galt es doch sich der Frage zu stellen inwieweit Fortschritt Technik und Demokratie als Chancen fuumlr einen Neubeginn der Menschheit oder vielmehr als voruumlbergehende Alterser-scheinung des langsam vergreisenden Abendlandes zu interpretieren waumlren Wenige Zeitgenossen habe mit dieser Problematik staumlrker gehadert als Thomas

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

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Mann wie Barbara Beszliglich in ihrer paradigmatischen Analyse mit dem Titel bdquoZauberhafter Untergang Thomas Manns literarische Aneignung von Oswald Spenglers Geschichtsphilosophieldquo zeigt Auf eine kurze aber intensive Anleh-nungsphase Manns an Spenglers Denken die in etwa zeitgleich mit seinen patriotisch-konservativen Bekenntnissen in den bdquoBetrachtungen eines Unpoli-tischenldquo zu verorten ist folgt wiederum zeitgleich mit dem ebenso spaumlten wie uumlberraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik die Ablehnung nicht nur der kulturmorphologischen Lehre sondern auch der Person Spenglers selbst eine Dialektik von Annahme und Ablehnung welche vor allem durch den bdquoZauberbergldquo tiefe Spuren in der deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat

Neben Spengler gilt vielen vor allem Arnold Toynbee als der wichtigste Exponent kulturzyklischen Denkens des 20 Jahrhunderts und wenn beide Historiker auch in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs vom allgemeinen Publi-kum wie von den Fachkollegen weitgehend vergessen oder verdraumlngt worden sind erfreute sich doch Toynbee in Anbetracht seiner akademischen Stellung wie auch des gewaltigen Umfangs seines Werkes einer zweifellos besseren Reputation als Oswald Spengler dessen Verbindung von konservativem Impe-rialismus preuszligischem Sozialismus und verbissener Technikbegeisterung vielen Lesern politisch anruumlchig schien Nur selten jedoch wurde versucht das Denken beider Autoren miteinander zu konfrontieren und so betritt Thomas Wangenheim mit seiner Studie bdquoDer verschlafene Frimaire des Arnold Toyn-beeldquo historisches Neuland indem er versucht die geistigen Grundlagen wie auch die methodischen Probleme und inhaltlichen Inkohaumlrenzen Toynbees im Vergleich zum Denken Spenglers aufzuzeigen

Hierauf stellt sich natuumlrlich zwangslaumlufig die Frage bdquoUnd heuteldquo Freilich hat der vorlaumlufige Sieg des Konzeptes einer bdquooffenenldquo Geschichte verbunden mit einer nur verschaumlmt eingestandenen unterschwelligen Fortschrittsglaumlubig-keit nicht nur zyklische oder biologistische Geschichtsphilosophie sondern generell kritisches Denken uumlber historische Gesetzmaumlszligigkeiten an sich zu einer eher unbeliebten Uumlbung herabgestuft Schon die Bezeichnung allen Denkens welches sich abseits der gegenwaumlrtigen Hauptschule bewegt als bdquoIdeologieldquo verraumlt den bereits erwaumlhnten inhaltlichen Selbstwiderspruch einer materialisti-schen Geschichtsphilosophie welche sich selbst seit ihrem Sieg als jenseits aller Geschichtsphilosophie stehend deklariert und somit jeden moumlglichen inhaltlichen Widerspruch als Zeugnis ruumlckwaumlrtsgewandten bdquoideologischenldquo Denkens abqualifiziert Daszlig dies auch und gerade die Hegelrsquosche Teleologie und das zyklische Denken in Kulturkoumlrpern betrifft macht Christoph Bruumlll in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel bdquoUnter Ideologieverdacht Zur Auseinandersetzung mit Francis Fukuyamas End of History und Samuel P Huntingtons Clash of Civilizations in Deutsch-landldquo deutlich

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen

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Nach dieser kurzen Uumlbersicht uumlber den Inhalt des Bandes sowie die innere Logik welche die einzelnen Beitraumlge von den Urspruumlngen geschichtsphiloso-phischen Denkens in Zyklen und Lebensaltermodellen bis in die Jetztzeit ver-bindet bleibt nur zu hoffen daszlig vorliegende Arbeiten obwohl sie ein auf den ersten Blick weitgehend uumlberwunden geglaubtes Kapitel antiker und abendlaumln-discher Geistesgeschichte betreffen trotzdem einen kleinen Beitrag zur Klauml-rung der dringenden Zeitfragen liefern koumlnnen denen unser Kontinent augen-blicklich ausgesetzt ist Denn gerade in den Krisenzeiten welche Europa zu Beginn des 21 Jahrhunderts durchlebt und welche erstmals seit fast 300 Jah-ren den traditionellen Glauben an den bdquoFortschrittldquo an das friedliches Zusam-menwachsen der bdquoMenschheitldquo und an die Schluumlsselrolle des Abendlands im teleologischen Streben der Menschen nach Gluumlck und Freiheit infrage stellen vermag allein die Ruumlckbesinnung auf andere geistesgeschichtlich ebenso wertvolle Erklaumlrungsmuster der Weltgeschichte eine uumlberzeugende methodi-sche Grundlage zu schaffen um den eurozentrischen Wahn einer bdquovormoder-nenldquo und einer bdquomodernenldquo Epoche durch adaumlquatere Modelle abzuloumlsen welche dem doppelten Anspruch genuumlgen sowohl den auszligereuropaumlischen Voumllkern zu ihrem vollen Recht auf historische Eigenstaumlndigkeit und Eigenge-setzlichkeit zu verhelfen als auch den sich vor unseren Augen vollziehenden allmaumlhlichen Niedergang der abendlaumlndischen Welt sinnvoll in ein Gesamt-konzept kultureller Dynamik einzuordnen