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„Bilder des Entsetzens und der Anklage“ 1 „Bilder des Entsetzens und der Anklage“ Fotografische Zeugnisse im Kontext von Weltkrieg, Völkermord und Hungersnot Tessa Hofmann Bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verbesserte sich die Technik der Fotografie wesentlich: Obwohl noch immer mit Stativ und Glasplatten foto- grafiert werden musste und Aufnahmen bewegter Objekte noch nicht möglich wa- ren, führte die steigende Produktion kleinerer, leichterer und preiswerterer Kame- ras mit geringerer Belichtungszeit zu einer größeren Flexibilität der Fotografen. 1 Der Erste Weltkrieg bewirkte zudem die Einbeziehung der Fotografie in die Kriegspropaganda sämtlicher Krieg führenden Staaten und steigerte somit ihre öf- fentliche Bedeutung, während im Privatbereich Kameras bis Ende der 1920er Jahre weiterhin Luxusobjekte darstellten. Entscheidend für die rasante Entwicklung der Fotografie wurde die Erfindung des Zelluloidfilms vor der Jahrhundertwende, die die Verkleinerung und damit eine erhöhte Mobilität der Apparatur ermöglichte. Genau in diesem zunehmend „veröffentlichten“ Bereich der Liebhaberfotogra- fie erfolgten die wenigen Beiträge zu einer fotografischen Dokumentation der Massenvernichtung von Zivilisten, wie sie der Genozid an den Armeniern des Osmanischen Reiches darstellte. In diesem Beitrag frage ich nach den Entste- hungsbedingungen der Privatfotografie unter den einschränkenden Verhältnissen von Weltkrieg und Militärzensur, nach ihrer Verwendung, den Bildinhalten und den methodischen Problemen, die mit ihrer Bestimmung verbunden sind, nach den Grenzen der Aussagekraft sowie nach den Fotografen selbst. Bilddokumente zur Verfolgungsgeschichte der Armenier Bilddokumente zur Verfolgung der Armenier finden sich in der europäischen und nordamerikanischen Fotoberichterstattung seit dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78. 2 Dabei handelt es sich zunächst um illustrative Zeichnungen und Litho- grafien, deren Urheber in der Regel nicht vor Ort wirkten und entsprechend frei und fantasiereich vorgingen. Die Berichterstattung über die 1894 in Sassun (Süd- armenien), dann 1895/6 landesweit im Osmanischen Reich verübten Massaker stützt sich noch weitgehend auf derartige Illustrationen, vermerkt im Einzelfall be- reits ausdrücklich, ob Illustrationen nach einem „sketch of an eyewitness“ angefer- tigt wurden. 3 Die in Europa und den USA mit breitem Interesse wahrgenomme- nen „Armeniergräuel“ (engl. atrocities) führten zur „Armenierhilfe“ sowie zur Gründung karitativer Hilfsstationen europäischer und nord-amerikanischer Missi- 1 Christian Rödig, Die private Front. Fotografien deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, Hamburg 2012, S. 14. 2 Tessa Hofmann/Gerayer Koutcharian, Images That Horrify and Indict. Pictorial Documents on the Persecution and Extermination of the Armenians from 1877 to 1922, in: Armenian Review 45 (1992), No. 1, S. 277–278, No. 2, S. 53–184. 3 So z.B. in der britischen Illustrierten „The Graphic“ vom 26. Oktober 1895, S. 515, über das Mas- saker an Armeniern vom 30. September 1895 in Konstantinopel.
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"Bilder des Entsetzens und der Anklage": Fotografische Zeugnisse im Kontext von Weltkrieg, Völkermord und Hungersnot

May 01, 2023

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„Bilder des Entsetzens und der Anklage“

Fotografische Zeugnisse im Kontext von Weltkrieg, Völkermord und Hungersnot

Tessa Hofmann

Bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verbesserte sich die Technik der Fotografie wesentlich: Obwohl noch immer mit Stativ und Glasplatten foto-grafiert werden musste und Aufnahmen bewegter Objekte noch nicht möglich wa-ren, führte die steigende Produktion kleinerer, leichterer und preiswerterer Kame-ras mit geringerer Belichtungszeit zu einer größeren Flexibilität der Fotografen.1 Der Erste Weltkrieg bewirkte zudem die Einbeziehung der Fotografie in die Kriegspropaganda sämtlicher Krieg führenden Staaten und steigerte somit ihre öf-fentliche Bedeutung, während im Privatbereich Kameras bis Ende der 1920er Jahre weiterhin Luxusobjekte darstellten. Entscheidend für die rasante Entwicklung der Fotografie wurde die Erfindung des Zelluloidfilms vor der Jahrhundertwende, die die Verkleinerung und damit eine erhöhte Mobilität der Apparatur ermöglichte.

Genau in diesem zunehmend „veröffentlichten“ Bereich der Liebhaberfotogra-fie erfolgten die wenigen Beiträge zu einer fotografischen Dokumentation der Massenvernichtung von Zivilisten, wie sie der Genozid an den Armeniern des Osmanischen Reiches darstellte. In diesem Beitrag frage ich nach den Entste-hungsbedingungen der Privatfotografie unter den einschränkenden Verhältnissen von Weltkrieg und Militärzensur, nach ihrer Verwendung, den Bildinhalten und den methodischen Problemen, die mit ihrer Bestimmung verbunden sind, nach den Grenzen der Aussagekraft sowie nach den Fotografen selbst.

Bilddokumente zur Verfolgungsgeschichte der Armenier

Bilddokumente zur Verfolgung der Armenier finden sich in der europäischen und nordamerikanischen Fotoberichterstattung seit dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78.2 Dabei handelt es sich zunächst um illustrative Zeichnungen und Litho-grafien, deren Urheber in der Regel nicht vor Ort wirkten und entsprechend frei und fantasiereich vorgingen. Die Berichterstattung über die 1894 in Sassun (Süd-armenien), dann 1895/6 landesweit im Osmanischen Reich verübten Massaker stützt sich noch weitgehend auf derartige Illustrationen, vermerkt im Einzelfall be-reits ausdrücklich, ob Illustrationen nach einem „sketch of an eyewitness“ angefer-tigt wurden.3 Die in Europa und den USA mit breitem Interesse wahrgenomme-nen „Armeniergräuel“ (engl. atrocities) führten zur „Armenierhilfe“ sowie zur Gründung karitativer Hilfsstationen europäischer und nord-amerikanischer Missi-

1 Christian Rödig, Die private Front. Fotografien deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, Hamburg 2012, S. 14. 2 Tessa Hofmann/Gerayer Koutcharian, Images That Horrify and Indict. Pictorial Documents on the Persecution and Extermination of the Armenians from 1877 to 1922, in: Armenian Review 45 (1992), No. 1, S. 277–278, No. 2, S. 53–184. 3 So z.B. in der britischen Illustrierten „The Graphic“ vom 26. Oktober 1895, S. 515, über das Mas-saker an Armeniern vom 30. September 1895 in Konstantinopel.

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onsgesellschaften. Mit Blick auf die Spendenakquise im Herkunftsland wurden de-ren Mitarbeiter im Orient mit Kameras ausgestattet, nicht zuletzt, um die sinnvolle Verwendung der Spenden fotografisch zu dokumentieren. Das führte aber auch dazu, dass im Fall weiterer Massaker solche Missionsangehörigen in der Lage wa-ren, Opfer, Zerstörungen und dadurch erzeugtes Elend für Spendenaufrufe fest-halten zu können. So gründete der bis heute im Libanon und in Armenien tätige Deutsche Hilfsbund für Christliches Liebeswerk im Orient 1908 eine Mission in Maraş (Nordkilikien), deren Mitarbeiter das regionale Massaker in der Provinz Adana (April 1909) fotografisch ausführlich dokumentierten,4 freilich ohne diese Bilddo-kumente je zu veröffentlichen.

Publizierte und offenbar auf Schockwirkung angelegte Fotodokumente zum „armenischen Massaker“ enthält das zeitnah veröffentlichte Buch „Der aufsteigen-de Halbmond. Beiträge zur türkischen Renaissance“ (1909)5 des liberalen Journalis-ten Ernst Friedrich Wilhelm Jäckh (1875–1959), dem Zeitgenossen wegen seiner Turkophilie auch den Beinamen „Türken-Jäckh“ anhängten. Er hielt sich während des Versuchs einer Gegenrevolution der Anhänger des reaktionären, panislami-schen Sultans Abdülhamit II. im April 1909 erstmals in der Türkei auf, und sein in zahlreichen Auflagen veröffentlichter Reisebericht geriet zu einem leidenschaftli-chen Plädoyer für das regierende nationalistische Komitee Einheit und Fortschritt (türk. Ittihat ve Terakki Cemiyeti), in Europa als „Jungtürken“ bekannt. Der mit 70 Ab-bildungen (in der Ausgabe von 1911) illustrierte Band enthält in dem Kapitel „Ar-menische Massaker“ unter anderem das Foto einer Armenierin, deren nackter Oberkörper von zahlreichen Messerstichen ihrer Folterer entstellt wurde, sowie das Foto zweier halbnackter Kinder, denen mit Baumwollhacken ganze Fleischstü-cke aus den Oberschenkel gerissen sowie die Kniekehlen durchtrennt worden wa-ren.

Die Kontextualisierung des fraglichen Kapitels ist freilich rein propagandistisch: Jäckh lastet die Schuld an den antiarmenischen Ausschreitungen einzig den Kur-den bzw. dem ancien régime an und verklärt die de facto mitverantwortlichen Jung-türken als Vollstrecker der Gerechtigkeit, da sie die Kurden hart bestraft hätten. Im weiteren politischen Rahmen propagierte Jäckh einen kulturellen und wirtschaftli-chen Kulturimperialismus Deutschlands und „arbeitete wie Max von Oppenheim auf den Djihad zum Kriegsbeginn hin.“6 Derartigen Zielen diente auch die von Jäckh 1914 in Berlin ins Leben gerufene Deutsch-Türkische Vereinigung.

Während des Weltkrieges bestand eine gänzlich andere Situation. Ahmet Cemal, der Befehlshaber der 4. Osmanischen Armee in der damaligen Provinz Syrien, ver-hängte striktes Fotografierverbot. Die osmanische Provinz Syrien umfasste auch den Irak, Libanon, Jordanien sowie Palästina; das Zweistromland bildete das Hauptdeportationsgebiet für annähernd zwei Millionen Armenier, die seit dem Frühjahr 1915 hierher zwangsumgesiedelt worden waren – die meisten nach wo-

4 Vgl. Hofmann/Koutcharian, Images, S. 75f.80–86. 5 Ab der 5. Auflage 1915 lautete der Untertitel programmatisch „Auf dem Weg zum deutsch-türkischen Bündnis.“ 6 Wolfgang G. Schwanitz, Djihad „Made in Germany.“ Der Streit um den Heiligen Krieg, in: Sozi-al.Geschichte 18 (2003), S. 10, Anm. 14 [7–34].

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chenlangen strapaziösen Fußmärschen, bei denen sie nicht nur fortgesetzt Überfäl-len durch bewaffnete Totschlägerbanden ausgesetzt wurden, sondern auch Hunger und Seuchen. Die Überlebenden dieser Todesmärsche – immerhin noch 870.000 Menschen – wurden entlang der Bagdadbahn in Konzentrationslagern interniert, die ab Frühjahr 1916 sukzessive durch Massaker oder Massenverbrennungen auf-gelöst wurden; 630.000 Armenier starben bei dieser „Liquidation“ der Lager.7

Es ist nachvollziehbar, dass der verantwortliche militärische Oberbefehlshaber der Region weder für den massenhaften Seuchen- und Hungertod im Zeitraum Sommer 1915 bis Frühjahr 1916, noch für die anschließende sechsmonatige Liqui-dation der Lager Fotodokumentationen wünschte. Als potenzielle Fotografen standen damals in Region vor allem die schweizerischen, italienischen und deut-schen Ingenieure und sonstigen Angestellten der Bagdadbahn zur Verfügung. Ein Bericht des deutschen Konsuls zu Aleppo Walter Rössler an die Botschaft in Kon-stantinopel-Pera, schildert die Situation Ende September 1915: „Man wird daher verstehen, warum Djemal Pascha ein strenges Verbot erlassen hat, die Verbannten zu photographieren. Er hat den in anliegender Abschrift gehorsam beigefügten, mir zur streng vertraulichen Benutzung überlassenen Befehl gegeben, dass alle In-genieure der Bagdadbahn ihre Abzüge, ihre Platten und Filme, die sie etwa besä-ßen, bei Vermeidung von Strafen abzuliefern hätten. Die Aufnahme von Armeni-ern sei wie unerlaubtes Photographieren auf einem Kriegsschauplatz anzusehen.“8

Das genaue Datum des von Cemal verhängten Fotografierverbots ist unbe-kannt. Am 10. September (28. August alten Stils) 1915 forderte jedenfalls ein Kriegskommissar Nizami auf der Grundlage dieses Verbots den Oberingenieur der Bauabteilung III der Bagdadbahn auf, binnen 48 Stunden sämtliche Fotoplatten und Abzüge zu übergeben, die von Ingenieuren und Angestellten der Bagdadbahn getätigt worden waren.9 Ob jemals die Verletzung des Fotografierverbots mit Stra-fen geahndet wurde, ist unbekannt.

Die Einnahme der Provinz Syrien durch britische Streitkräfte 1917 bewirkte das Ende des Fotografierverbots. Von nun an dokumentieren zahlreiche Fotos von Mitarbeitern des US-Hilfswerks American Committee for Armenian and Syrian Relief (abgekürzt: NER; ab November 1919: Near East Relief) die Notlage überlebender armenischer und syrischer Christen nicht nur im Nahen Osten, sondern – bis zur Sowjetisierung Ende 1920 – auch im Südkaukasus, wo NER in der Stadt Alexand-ropol (heute Gjumri) in einstigen russischen Militärkasernen eine „Waisenstadt“

7 Raymond Kévorkian, Axes de déportation et camps de concentration de Syrie-Mésopotamie (1915–1916), in: L’extermination des déportés arméniens ottomans dans les camps de concentration de Syrie-Mésopotamie (1915–1916), Paris 1998; ders., La deuxième phase du génocide, in: Revue d’histoire arménienne contemporaire, Numéro spécial, Tome II, 1998, S. 60f.; ders., The Armenian Genocide. A Complete History, London-New York 2011, S. 693–696. 8 Der Konsul in Aleppo (Rößler) an den Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Hohenlohe-Langenburg), 27.09.1915, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Akte „Botschaft Konstantinopel,“ S. 170, www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$All Docs/1915-09-27-DE-014, Aufruf 28.11.2014 9 Johannes Lepsius (Hg.), Deutschland und Armenien. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Pots-dam 1919 (Reprint Bremen 1986), S. 151f.

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für etwa 30.000 Kinder und Jugendliche errichtet hatte und unterhielt.10 Zusam-men mit der so genannten Wegner-Sammlung bilden die NER-Fotografien, die sich seit 1987 in der Library of Congress befinden, die größte Sammlung von Foto-dokumenten zur Verfolgungsgeschichte der Armenier und damit zum fotografi-schen Erbe spätosmanischer Geschichte. Diplomaten als Fotografen von Völkermord

Die Anzahl von Fotografieren über die eigentliche Vernichtung armenischer Chris-ten während des Weltkriegs blieb infolge der Verringerung der Zahl jener ausländi-schen Augenzeugen gering, die nach Kriegsausbruch als Fotografen überhaupt in-frage kamen. Denn britische und französische Staatsbürger schieden mit dem os-manischen Kriegseintritt11 aus bzw. wurden des Landes verwiesen. Es blieben mit-hin Angehörige kriegsverbündeter und neutraler Staaten, in erster Linie Deutsche, Österreicher sowie – bis April 1917 – US-Amerikaner, ferner Angehörige der rus-sischen Streitkräfte, die ab Frühjahr 1915 in das Osmanische Reich vordrangen und bei ihrem Vormarsch auf Leichen erschossener armenischer Zwangsarbeiter sowie vergewaltigter und verstümmelter Frauen und Kinder stießen. Ein Teil die-ser fotografischen Zeugnisse erschien zeitnah in einem Album „Armenische Flüchtlinge,“ den das „Armenische Zentralkomitee“ nach dem Weltkrieg in Tiflis zur Flüchtlingshilfe in armenischer und russischer Sprache herausbrachte.12

Die ausländischen Fotografen der Massenvernichtung übten unterschiedliche, jedoch meist zivile Berufe aus. Außer den bereits erwähnten Ingenieuren und sons-tigen Mitarbeitern der Bagdadbahn sowie den Angehörigen von Missionsstationen handelte es sich auch um Diplomaten wie die Konsuln Leslie A. Davis (1876–1960; US-Konsul zu Harput, armen. Charberd, heute Elâzığ, von 1914–1917), Max Ernst von Scheubner-Richter (1884–1923; Vizekonsul zu Erzurum 1914–Sommer 1915) und Hermann Hoffmann-Fölkersamb (1875–1955; Geschäftsträger am deutschen Konsulat Alexandrette und Aleppo 1914–1918). Bei allen politischen und weltanschaulichen Unterschieden ist diesen drei Diplomaten gemeinsam, dass sie sich in einer politisch wie menschlich äußerst zugespitzten Lage befanden, be-ruflich fast auf sich allein gestellt waren und dennoch aus Betroffenheit den osma-nischen Armeniern halfen und ihre Fotografien als wichtige Zeugnisse der von ihnen verurteilten Vorgänge betrachteten.

Leslie A. Davis diente im entferntesten der 13 US-amerikanischen Konsulate im Osmanischen Reich und war 1915 der einzige neutrale Diplomat in Türkisch-Armenien.13 Sein summarischer diplomatischer Bericht vom 9. Februar 1918 um-

10 Vgl. die reich mit Fotos illustrierte Darstellung in James Levi Barton, The Story of Near East Relief (1915–1930), New York 1930. 11 De facto befand sich die osmanische Flotte unter deutscher Führung bereits seit Ende Oktober im Kriegszustand, de iure wurde die förmliche Kriegserklärung an Russland, Frankreich und Großbri-tannien am 12. November 1914 nachgeliefert. 12 Armjanskij Central’nyj Komitet (Izd.), ,Al’bom’’ armjan’-bežencev’, Tiflis (um 1922?), www.aga-online.org/genocide/armenians.php?locale=de, Aufruf 28.11.2014: Bild-Nr. 23–25: Zwangsarbeiter; Nr. 83–85: Überreste von Massakeropfern. 13 Susan K. Blair (Ed.), The Slaughterhouse Province. An American Diplomat’s Report on the Arme-

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fasst den Zeitraum seit Kriegsbeginn 1914 bis 1917 und bildet, zusammen mit Da-vis’ Depeschen an den US-Botschafter zu Konstantinopel, Henry Morgenthau sr., aus dem Jahr 1915 eine der bedeutendsten Quellen zur regionalen Dokumentation der Vernichtung der ortsansässigen armenischen Bevölkerung wie auch der Depor-tierten aus den nordöstlichem Landesteilen. 1915 unternahm Davis drei Mal, mit unterschiedlicher Begleitung, eine Reise zu dem fünf Reitstunden entfernt gelege-nen See Gölcuk (heute: Hazar Gölü), wo er die Leichen von schätzungsweise 10.000 Armeniern vorfand und bei der zweiten Reise – diesmal ohne türkische Be-gleitung – auch fotografierte. Zusammen mit den Aufnahmen von Deportierten aus bzw. nach Harput bilden sie einen Nachlass von 12 Fotografien, die Davis bei seiner Ausreise in einem Brunnen versteckte. Sie gelangten Jahre später in die USA und wurden 1989 erstmals veröffentlicht.14

Von Scheubner-Richter hatte sich Anfang August 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet und wurde nach verschiedenen Fronteinsätzen, Auszeichnungen und Be-förderungen in die Türkei abkommandiert, wo er 1915 erst als Verweser, dann als Vizekonsul am deutschen Konsulat zu Erzurum in zahlreichen Depeschen und Te-legrammen an die deutsche Botschaft Konstantinopel ausführlich über das Elend der armenischen Deportierten berichtete und der offiziellen jungtürkischen Be-hauptung von einem allgemein drohenden armenischen Aufstand widersprach, zumindest für seinen Amtsbereich, die große Provinz Erzurum unmittelbar an der damaligen Grenze zum Russischen Reich. Den Deportationsbefehl des osmani-schen Kriegsregimes bezeichnete er als „zwecklos“ und in der „Form der Ausfüh-rung unsinnig,“ da das Vieh der Deportierten die Aussaat abweidete bzw. die la-gernden Deportierten dieselbe zerstörten: „Ein großer Teil der Aussaat um Ersur-um ist damit vernichtet. Es leiden darunter nicht nur die Armenier, sondern auch die Türken.“15 Obwohl er sich an die Weisung der deutschen Regierung zur Nicht-einmischung hielt, nahm er persönlich zu den Deportierten Kontakt auf und initi-ierte eine Brotsammlung und -verteilung der örtlichen Armenier an die Bedürfti-gen, wie er am 20. Mai 1915 dem deutschen Botschafter von Wangenheim mitteil-te:

„Ich habe mich persönlich zu den um die Stadt lagernden Ausgesiedelten begeben. Das Elend, Verzweiflung und Erbitterung sind groß. Die Frauen warfen sich und ihre Kin-der vor mein Pferd und baten um Hilfe. Der Anblick dieser jammernden Armen war mitleiderregend und peinlich – noch peinlicher war aber für mich das Gefühl nicht hel-fen zu können.16 Die armenische Bevölkerung sieht im Vertreter des Deutschen Rei-ches zurzeit ihren einzigen Schutz und erwartet von ihm Hilfe.

nian Genocide, 1915–1917, New Rochelle-New York 1989, S. 4. 14 Ebd., Appendix E. 15 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland (PA/AA), Botschaft Konstantinopel, 169, http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-05-20-DE-001, Aufruf 27.11.2014 16

Diese Äußerung veranlasste den Chef des Generalstabs des osmanischen Feldheeres Generalfeld-marschall Friedrich (Fritz) Heinrich Bruno Julius Bronsart von Schellendorf (1864–1950) zu drei kri-tisch tadelnden Anmerkungen, die symptomatisch für die gegensätzliche Haltung deutscher Diploma-ten und Militärangehöriger im Osmanischen Reich sind: „Viel peinlicher ist das Morden von über 4000 Türken durch armenische Banden bei Wan!“ – „Wir können doch nicht einer im gefährlichen

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Das Einzige, was ich tun konnte, war – den Bischof und die Bewohner Erserums zu veranlassen für die Vertriebenen, welche ohne Nahrung sind, Brot zu sammeln. Das geschah und wird noch fortgesetzt. Es besteht jedoch das Verbot, dass Niemand ohne besondere Erlaubnis, die Armeniern nicht erteilt wird, die Stadt verlassen darf. Infolge-dessen lasse ich, da ich dieses Verbot für mich und meine Angestellten als nicht existie-rend betrachte, durch Wagen des Konsulats dieses Brot täglich bis zu 10 km weit hin-ausbringen und unter die Ärmsten der Vertriebenen verteilen.“17

Vier von Scheubner-Richter getätigte Fotografien belegen die Brotverteilung sowie die Fuhr- und Spanndienste, die das Konsulat Erzurum auf Anweisung seines Vi-zekonsuls für die Brotverteilung und die Speisung der Deportierten unternahm; die Aufnahmen befinden sich im Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Am-tes und wurden erstmals 1992 veröffentlicht.18

Am entgegengesetzten Ende des Osmanischen Reiches, in der nordsyrischen Provinz-Hauptstadt Aleppo, ermutigte der sonst für Alexandrette zuständige Kon-sul Hoffmann-Fölkersamb während einer Vertretungszeit den an der deutschen Realschule Aleppo tätigen deutschen Oberlehrer Dr. Martin Niepage-Malchin und dessen Kollegen,19 einen Ergänzungsbericht an die deutsche Botschaft Konstan-tinopel zu verfassen, dem Hoffmann eigene, Fotografien beigefügen wollte. Es handelt sich um drei im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes noch vorhan-dene Aufnahmen, die die unhygienischen Zustände in einer Aleppiner Karawanse-rei – im Text als Chan bezeichnet – darstellen, in der armenische Deportierte „un-tergebracht“ waren. Im Text des auf den 15. Oktober 1915 datierten Niepage-Berichts heißt es über den Inhalt und Kontext dieser Fotografien:

„Rings um die deutsche Realschule, an der ich als Oberlehrer tätig bin, befanden sich

vier solcher Chans mit sieben bis achthundert Deportierten, die am Verhungern waren. Wir Lehrer und unsere Schüler mussten täglich daran vorübergehen. Durch die offenen Fenster sahen wir bei jedem Ausgang die bedauernswerten, in Lumpen gehüllten ausgemergelten Gestalten. … Zurzeit, als ich diesen Bericht abfasste, wurde der deutsche Konsul in Aleppo durch seinen Kollegen aus Alexandrette, Konsul Hoffmann, vertreten. Konsul Hoffmann erklärte mir, die deutsche Botschaft sei durch wiederholte Berichte aus den Konsulaten in Alexandrette, Aleppo und Mossul eingehend über die Vorgänge im Lande unterrichtet. Als Ergänzung zu den Akten und als Detailschilderung sei aber ein Bericht über das, was ich

Aufruhr gegen die türkische Regierung stehenden Bevölkerung helfen.“ – „Das Brot sollte der Kon-sul lieber den türkischen Armen schicken!“ Die entgegengesetzten Einschätzungen und daraus abge-leiteten Verhaltensweisen des Vizekonsuls Scheubner-Richter und des Generalstabschefs Bronsart von Schellendorff zeigen sich auch im Telegramm Scheubner-Richters vom 26.06.1915, in dem er die Botschaft Konstantinopel darüber informiert, dass auf Weisung Bronsarts sämtliche Armenier Erzu-rums deportiert werden sollten: „Oberkommandierender hat neuerdings Befehl erteilt alle Armenier aus Erserum auszuweisen. Diese militärisch unbegründete meines Erachtens nur auf Rassenhass zu-rückzuführende Anordnung dürfte falls wirklich durchgeführt auch für Armee bedenkliche Folgen haben da alle Militärhandwerker Chauffeur etc. Armenier sind.“ – Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland (PA/AA), Akte Botschaft Konstantinopel, S. 169. 17 Der Verweser in Erzerum (Scheubner-Richter) an den Botschafter in Konstantinopel (Wangen-heim), 20.05.1915. PA/AA, Akte Botschaft Konstantinopel, S. 169, vgl. Fußnote 15 18 Vgl. Hofmann/Koutcharian, Images, S. 101–104, Abb. 38–41. 19 Der Schweizer Lehrer Dr. Eduard Graeter, die deutsche Lehrerin Marie Spiecker sowie Schuldirek-tor Huber.

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mit eignen Augen gesehen, willkommen. Er werde meinen Bericht auf sicherem Wege an die Botschaft Konstantinopel gelangen lassen. Ich arbeitete nun einen Bericht in der ge-wünschten Weise aus, indem ich eine genaue Schilderung von den Zuständen in dem Chan gegenüber unserer Schule gab. Herr Konsul Hoffmann wollte einige Photographien, die er selbst im Chan aufgenommen hatte, beifügen. Sie stellten Haufen von Leichen dar, zwi-schen denen noch lebende Kinder herumkrochen oder ihre Notdurft verrichteten.“20

Hoffmann war aufgrund eigener Anschauung überzeugt, dass die Deportation der Armenier auf deren Vernichtung abzielte; in einer Depesche schrieb er am 8. November 1916: „Die Verschickung der Armenier unterscheidet sich danach nicht viel von ihrer Ausrottung. Ihre eigenen Führer schätzen die Toten auf Grund der Einzelberichte der angekommenen Truppe bis Ende Oktober auf mindestens 600000.“21

Tatsächlich hat Konsul Hoffmann-Fölkersamb den Niepage-Bericht mit den

erwähnten Fotografien an die Botschaft Konstantinopel weitergeleitet, die ihn zu-sammen mit drei weiteren Eingaben „deutscher Kreise“ am 16.12.1915 dem os-manischen Kriegsminister Enver zukommen ließ. Botschafter Wolff-Metternich schrieb aus diesem Anlass: „Euere Exzellenz wollen daraus die weitgehende Erre-gung ersehen, die sich dieser Kreise über die Behandlung der Armenier bemächtigt hat.“22 Er löste damit vermutlich die strafrechtliche Verfolgung der Aleppiner Leh-rer aus, denn Konsul Walter Rössler (Aleppo) teilte am 11.11.1916 der Botschaft Konstantinopel mit, dass Ahmet Cemal im September 1916 erfolglos Niepage und Hoffmann in Aleppo habe verhaften lassen wollen, um sie vor ein Kriegsgericht zu stellen; beide waren jedoch nur bis Juni 1916 im dortigen Schuldienst geblieben.

Als Anfang 1916 der Niepage-Bericht in Berlin mit einer Auflage von 1.000 in Buchform erschien,23 fehlten allerdings Hoffmanns Fotografien, ebenso wie in der englischen Ausgabe (London 1917), die auch textlich – vermutlich aus Gründen der Prüderie – vom deutschen Original abwich: „The photographs displayed piles of corpses, among which children still alive were crawling about.“24 Dass eine der Hoffmann-Aufnahmen einen Knaben zeigt, der neben einem nackten Sterbenden seine Notdurft verrichtet, unterschlägt dieser Text. Tatsächlich handelte es sich bei

20 Martin Niepage, Ein Wort an die berufenen Vertreter des deutschen Volkes. Eindrücke eines deut-schen Oberlehrers aus der Türkei, Berlin 1916, S. 4.6. 21 PA/AA, www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1916-01-03-DE-001, Aufruf 27.11.2014. 22 PA/AA, http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-12-16-DE-001, Aufruf 27.11.2014 23 Von Niepage vorgesehen waren zunächst nur 500 Exemplare; auf Vorschlag von Johannes Lepsius wurde die Auflage erhöht. Bei einer polizeilichen Vernehmung am 17.1.1917 anlässlich der Verbrei-tung seiner Schrift schob Niepage die Verantwortung für den „Missbrauch“ seines Berichts durch die alliierte Propaganda weitgehend auf Lepsius, den er als seinen „bösen Engel“ bezeichnete. Vgl. www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1917-02-14-DE-002, Aufruf 27.11.2014 24 Martin Niepage, The Horrors of Aleppo, seen by a German eyewitness, London 1917 (Reprint 1975), S. 9. Es handelte sich nicht um die einzige Auslassung. Auf S. 7 des deutschen Originals heißt es: „Der eine berichtete (Herr Greif, Aleppo), wie am Bahndamm von Tell Abiad und Raz ul Ain ge-schändete Frauenleichen massenhaft nackt herumlagen. Vielen von ihnen hatte man Knüttel in dem After hineingetrieben.“ Der letzte Satz dieses Zitats fehlt in der englischen Ausgabe.

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dem fraglichen Foto um eines der aussagekräftigsten Bilddokumente über die Entwürdigung des Menschen. Auch unbebildert erzielte der Niepage-Bericht, nicht zuletzt dank einer frühen Übersetzung in die internationale Verkehrssprache Eng-lisch, eine große Wirkung, vor allem im Ausland. Sie ergab sich sowohl aus der schonungslosen Darstellung einer mit brutalsten Mitteln durchgeführten Kollek-tivvernichtung, als auch aus der rückhaltlosen Kritik des Autors an der Untätigkeit deutscher politischer Entscheidungsträger. In Deutschland hingegen herrschte während des Weltkrieges Vorzensur in der Berichterstattung zur „Armenischen Frage.“25 Hier gelangten im Allgemeinen nur apologetische bzw. den Niepage-Bericht sowie die armenischen Opfer schmähende Beiträge zur Veröffentlichung,26 doch erreichte Niepages Bericht immerhin die Reichstagsabgeordneten, darunter das Vorstandsmitglied der SPD-Fraktion, Philipp Scheidemann, der dem Reichs-kanzler von Bethmann-Hollweg am 2. August 1916 schrieb: „Neuerdings hat Herr Dr. Niepage empörende Einzelheiten über Gräuel, die an den Armeniern verübt werden, gemacht. Deutschland hat das größte Interesse daran, alles zu tun, was ge-schehen kann, um der Entente die Möglichkeit zu erschweren, das Deutsche Reich als den Bundesgenossen der Türkei mit verantwortlich zu machen für Handlungen, die in der Tat zum Himmel schreien.“27

Die Erstveröffentlichung der drei erhaltenen Aleppiner Aufnahmen von Her-mann Hoffmann-Fölkersamb, dem Begründer des Ur-„Wandervogels“, erfolgte jedoch erst 1992.28 Deutsche Militärangehörige als Fotografen vom Völkermord

Den Schriftsteller Dr. iur. Armin T. Wegner (1886–1978) verband mit seinen Landsleuten Walter König und Gustav Simonsohn nicht nur der gemeinsame Wohnsitz in Berlin, sondern vor allem die Erfahrung des „Nebenkriegsschauplat-zes“ Mesopotamien, ein gewisser Abenteuergeist sowie das Interesse am Fotogra-fieren. Als einziger der hier geschilderten Beispiele früher privater Kriegsfotografie gelang Wegner eine zeitnahe Veröffentlichung eigener und Fotografien Dritter.

Wegner hat sich nach eigenem Bekenntnis nach der Erfahrung des Winterfeld-zugs 1914/5 in Polen als einfaches Mitglied der Deutsch-Osmanischen Sanitäts-mission nach Konstantinopel versetzten lassen (Frühjahr bis Herbst 1915) und ge-

25 Heinz-Dietrich Fischer, Pressekonzentration und Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg, Berlin 1973, S. 199.266. Die Richtlinie gab zur Begründung an: „Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungs-angelegenheit nicht nur nicht gefährdet werden, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht, zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und stets hervorheben, dass die Türken schwer von den Ar-meniern gereizt wurden. – Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen. Besonders löb-lich ist das Verhalten der türkischen Machthaber in dieser Frage nicht.“ Zitiert nach Joseph Marquart, Die Entstehung und Wiederherstellung der armenischen Nation, Berlin 1920, S. 48. 26 Etwa der Beitrag „Widmungen für Herrn Wilson“ in der Kölnischen Zeitung vom 4.1.1917. 27 PA/AA, Akte Deutsche Botschaft Konstantinopel, 173, www.armenocide.net/armenocide/arm gende.nsf/$$AllDocs/1916-08-02-DE-002, Aufruf 27.11.2014 28 Hofmann/Koutcharian, Images, S. 106–108, Abb. 43–45.

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langte durch Beziehungen seiner Mutter in den Rang eines Sanitätsleutnants in die deutsche Sanitätsmission im Stab des Feldmarschalls Colmar von der Goltz, den er 1915 auf seiner Militär-Expedition nach Bagdad begleitete, von wo Wegner im Ok-tober 1916 nach Konstantinopel zurückkehrte, nicht ohne Zwischenstation in Al-eppo zu machen, von wo aus er die schweizerische Schwester Beatrice Rohner29 in diverse Konzentrationslager der Umgebung Aleppos (Maden, Tibini, Abu Herera) und Meskene begleitete.

Noch während des Weltkrieges, im Februar und März 1918, hielt Wegner im Auftrag der Deutsch-Türkischen Vereinigung, deren Mitglied er war, seinen Licht-bildvortrag „Mit dem Stabe des Feldmarschalls von der Goltz in Mesopotamien,” für den er eigenes und fremdes Bildmaterial verwandte; die Problematik dieser noch unter Zensurbedingungen gehaltenen Vorträge, in denen Wegner die „Aus-treibung“ der Armenier als kriegsbedingte Maßnahme verharmloste, hat als erster ausführlich und dankenswert kritisch der Göttinger Theologe und Orientalist Mar-tin Tamcke in seiner Habilitationsschrift sowie in nachfolgenden Schriften unter-sucht.30 Von einer staatlich gewollten und zu verantwortenden Vernichtungsab-sicht war in Wegners Kriegs-Vorträgen noch keine Rede. Nach Kriegsende publi-zierte Wegner im „Berliner Tageblatt“ am 23. Februar 1919 einen Offenen Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten Woodrow Wilson in dem Wegner, anläss-lich des Beginns der Pariser Friedenskonferenz, um internationale Zustimmung für einen armenischen Nationalstaat warb, der gleichsam als Wiedergutmachung für die armenischen Leiden die „armenischen Gebiete Russlands“ mit den „armeni-schen Provinzen Anatoliens und Ziliziens zu einem gemeinsamen Lande vereint […], das von jeder türkischen Herrschaft befreit, seinen Ausgang zum Meer hat.“31 Am 19. März desselben Jahres hielt Wegner an der Berliner „Urania“ seinen Vor-trag „Über die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste“, den er bis 1924 in mehreren Fassungen wiederholte.

Wegners Verwendung desselben Bildmaterials vor und nach dem Weltkrieg bie-tet ein anschauliches Beispiel dafür, dass die meisten Fotografien ohne Kontextua-lisierung keineswegs selbstevident sind. Zu dieser grundsätzlichen Problematik von Bildzeugnissen tritt erschwerend Wegners allzu freier Umgang nicht nur mit den Urheberrechten Dritter,32 sondern mehr noch mit den Bildinhalten, wie auch die

29 Tessa Hofmann, Armin Wegner (National Academy of Sciences of the Republic of Armenia, Insti-tute-Museum of Armenian Genocide), Yerevan 1996, S. 10f. 30 Martin Tamcke, Armin T. Wegner und die Armenier. Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeu-gen, Hamburg 1996; ders., A. T. Wegners erste Zeugnisse zum Völkermord an den Armeniern in sei-nem Vortrag (1918) „Mit dem Stabe des Feldmarschalls von der Goltz in Mesopotamien, in: Koexis-tenz und Konfrontation. Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage der orientalischen Christen, hrsg. von M. Tamcke, Münster-Hamburg-London 2003, S. 319–366. 31 Vgl. www.musenblaetter.de/artikel.php?aid=4256, 27.11.2014 32 In der zeitgenössischen Presseberichterstattung wurde sogar der Vorwurf erhoben, Wegner habe das Bildmaterial seines Vortrags gestohlen. Vgl. Dr. P., Wie gegen Deutschland gehetzt wird, in: Va-terländische Arbeit, 25.10.1919, Nachdruck in: Martin Rooney, Weg ohne Heimkehr. Armin T. Weg-ner zum 100. Geburtstag. Eine Gedenkschrift, Bremen 1986, S. 69.

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von Andreas Meier besorgte Edition von Wegners Vortrags-Typoskripts aus dem Jahr 1924 veranschaulicht.33

Als Beispiel möge Abb. 1 (Abb. 54 der Vortragsvariante von 1924) dienen; dort trägt es die Unterschrift „Leichen armenischer Kinder“, ohne genauere Orts- oder Zeitangabe.34 Schon in der zeitgenössischen Kritik an Wegners Vortrag wurde auch der Vorwurf der Fälschung laut: „Die Bilder sind nämlich gar nicht die Pho-tographien von Leichen verhungerter Armenier, sondern sie stellen Araber in Bag-dad dar, die in der großen Hungersnot Ende 1916 dort zugrunde gingen.“35 Tat-sächlich findet sich in einer Buchpublikation von 1924 diese Abbildung mit der Bildunterschrift „Hungertote in Mossul;“ als Urheber wird dort der Infanteriegene-ral und osmanische Marschall Erich von Falkenhayn (1861–1922) angegeben, ohne dass der Buchtext näheren Bezug auf die Hungersnot in Mossul nimmt.36

Abb. 1 existiert zudem in drei aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenom-menen Varianten, die sich allerdings mit Ausnahme von Abb. 1 nicht im fotografi-schen Nachlass Wegners befinden: Eine Variante (Abb. 2) wird im Heimatkundli-chen Museum von Gylling (Lokalhistorisk Arkiv fir Gylling og Omegn) aufbe-wahrt, dem Geburtsort der dänischen Missionarin und Sozialarbeiterin Karen Jep-

33 Armin T. Wegner, Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag, hrsg. von Andreas Meier, mit einem Essay von Wolfgang Gust, Göttingen 2011. 34 Ebd., S. 51. 35 Dr. P., Wie gegen Deutschland, a.a.O. (wie Fußnote 32) 36 Werner Steuber (Hg.), „Jildirim“: Deutsche Streiter auf heiligem Boden, Oldenburg-Berlin 1922, S. 49. Vgl. dazu auch Hofmann/Koutcharian, Images, S. 173, Abb. 107.

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pe (1876–1935), die als engagierte „Mutter der Armenier“ seit 1903 in Urfa und seit 1920 in Aleppo gewirkt hatte.37

Einer dänischen Publikation zufol-ge handelt es sich um „armenische Opfer von einem der zahlreichen Massaker.“38 Die fragliche Aufnah-me ist Bestandteil einer aus 102 Fotodokumenten bestehenden Sammlung des Heimatkundlichen Archivs von Gylling und Omegn, die als „Bilder Karen Jeppes“ be-zeichnet werden und laut Auskunft des Archivleiters von ihr zu Vor-

tragszwecken über ihre Flüchtlingshilfsarbeit in Aleppo benutzt wurden.39 Schließ-lich befindet sich eine dritte, ebenfalls aus der Aufsicht getätigte Variante in der Bildsammlung der Hulton Archives/ Getty Images (Seattle/Washington).40

Wegner stellte in seinem Vortrag Abb. 54 (= Abb. 1) in den denkbar spektaku-lärsten Kontext, nämlich den von am Wegesrand „verhungerten oder erschlagenen Kindern.“41 Tatsächlich aber zeigen Abb. 1 und ihre zwei Varianten die Leichen verhungerter Erwachsener, Jugendlicher und Kinder. Der historischen Wahrheit näher kommt vielleicht die 1986 in einer Publikation der Armin T. Wegner-Gesell-schaft42 verwendete und wegen ihres pathetisch-sentimentalen Duktus vermutlich auf Wegner selbst zurückgehende Bildunterschrift: „An Hunger und Krankheit zu-grunde gegangene armenische Knaben und Jünglinge an der Außenmauer eines arabischen Dorfes. Einige sind ihrer Kleider beraubt worden, andere liegen in De-cken gehüllt zwischen anderen Sterbenden und Toten vor der Nachtkälte aneinan-dergeschmiegt, unfähig, sich zu erheben, bis sich der Tod ihrer erbarmte.“43

Auch zahlreiche andere der insgesamt 97 für den Vortrag „Die Austreibung“ verwendeten Fotografien belegen Wegners ungenaue, von zwei gegensätzlichen Tendenzen gekennzeichnete Verwendung eigenen und vor allem fremden Bildma-

37

Vgl. den biographischen Artikel des dänischen Historikers Matthias Bjørnlund: Karen Jeppe – den glemte heltinde, www.gyllingarkiv.dk/KarenJeppe1/Karen%20Jeppe%20den%20glemte%20helt in-de.pdf, 27.11.2014 38 Eva Lous, Karen Jeppe. Danmarks første befrielsesfilosof, „Det Danske Fredsakademi“ 2003, www.fredsakademiet.dk/library/jeppe.htm, Aufruf 27.11.2014 39 Ein Teil der Fotos zeigt das zeitgenössische Aleppo, eine geringere Anzahl entstand in den Welt-kriegsjahren und trägt die lapidare Bildunterschrift „Vom Todesmarsch aus der Türkei in die syrische Wüste“ („Fra dødsmarchen fra Tyrkiet til den syriske ørken”). Acht dieser Fotodokumente sind iden-tisch mit solchen aus dem fotografischen Nachlass von Armin T. Wegner. 40 Hulton Archives/Getty Images bieten im Internet das fragliche Foto unter der Editorial-Nummer 2642150 mit folgender irreführenden bzw. reißerischen Bilderläuterung zum Kauf an: „The bodies of Armenians who were massacred in Turkey during the First World War. (Photo by Armin T. Weg-ner),“ www.gettyimages.de/detail/nachrichtenfoto/the-bodies-of-armenians-who-were-massa cred-in-turkey-nachrichtenfoto/ 2642150, Aufruf 27.11.2014 41

Wegner, Austreibung, S. 50 42 Nicht zu verwechseln mit der späteren bzw. heutigen Gesellschaft gleichen Namens. 43 Rooney, Weg, S. 70.

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terials: Bereits in seinem Vortrag „Mit dem Stabe des Feldmarschalls Goltz“ hatte Wegner wider besseres Wissen die Armenier nicht als Deportierte, sondern als Flüchtlinge bezeichnet. Diese verharmlosende Wortwahl behielt er ohne Not auch nach dem Weltkrieg bei, so etwa bei Abb. 20, 50 und 53 seines Vortrags („Armeni-sche Flüchtlinge an der Küste“, „Armenische Mutter auf der Flucht“, „Flüchtlinge auf dem Tauruspass“). Der von dem deutschen Pastor Hans Bauernfeind über-nommene Begriff „Austreibung“ anstelle des präziseren Terminus „Deportation“ ist ebenfalls kennzeichnend für Wegners gespreizten und zugleich ausweichenden Stil (wobei der Herausgeber A. Meier treffend auf den höchst ambivalenten Cha-rakter des heute fast nur im exorzistischen Kontext benutzten Begriffs „Austrei-bung“ hinweist).44 Gegenläufig dazu ist Wegners Bestreben, den größtmöglichen dramatischen Effekt zu erzielen.

Als Beispiel sei Abb. 3 (Abb. 23 im Vortrag) genannt, von Wegner lapidar und

unzutreffend „Nach einem Massaker“ untertitelt. Sie zeigt sechs erschöpfte sowie zerlumpte oder nackte Kinder am Rande einer Straße, eines von ihnen mög-licherweise tot.

Die fragliche Fotografie diente Wegner in seinem Vortrag als Illustration zur Schilderung vom Anblick von Gräueln an der armenischen Bevölkerung, wie er sich den heranrückenden russischen Einheiten geboten haben mag. Tatsächlich entstand das Foto jedoch in der nordirakischen Stadt Mossul und somit fern russi-scher Truppenbewegungen. Es befindet sich im fotografischen Nachlass gleich zweier Berliner: Gustav Simonsohns, dessen Vater in Berlin-Spandau ein Fuhrun-ternehmen betrieb, und Walter Königs, der diese Aufnahme in seinem privaten Foto-Kriegsalbum handschriftlich als „Bettelnde Kinder in der Stadt“ betitelte.

44 Vgl. Wegner, Austreibung, S. 189.

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Simonsohn hat in seinen Aufzeichnungen aus dem Weltkrieg den allgegenwär-tigen Hunger in Mesopotamien und besonders Mossul drastisch geschildert; in sei-nem Nachlass trägt das fragliche Fotodokument seinen handschriftlichen Vermerk: „Elend!! Hungrige und verhungerte Kinder auf einer Straße in Mossul.“ Einen Hinweis auf die Ethnizität der Kinder geben weder König noch Simonsohn, ob-wohl letzterer auf einem anderen Foto (Abb. 4) durchaus vermerkte, dass es sich bei einer von Schakalen angefressenen Hungertoten um eine Armenierin handelte.

„Verhungerte Armenierin von Schakalen angefressen Tel-el-Helif 1917–18 in Mesopotamien“

Königs Album enthält zwei weitere Fotodokumente, die Kinder als Opfer der Hungersnot zeigen (Abb. 5 und 6); das zweite davon (Abb. 6) wurde vom Armeni-an National Institute (ANI) fälschlich Armin T. Wegner zugeschrieben und trägt in der online-Veröffentlichung durch ANI die Bildunterschrift: „1915 –1916, corpse of young Armenian adult male killed and stripped naked lying along a dirt road. In-juries to the head and lower chest are visible. Location: Ottoman empire, region Syria.“45

König und Simonsohn (als Gefreiter) waren als Lastwagenfahrer in der deutschen Militärmissi-on tätig, zwei technisch aufgeschlossene, junge Berliner. Sie begegneten einander aber – wenn überhaupt – erst bei der Internierung und Aus-

45 www.armenian-genocide.org/photo_wegner_view.html?photo=stripped.jpg&collection=wegner& caption=Corpse+of+murdered+young+man, Aufruf 27.11.2014. Allerdings lag mir das Bild bereits 1992 vor. Vgl. Hofmann/Koutcharian, Images, S. 184, Abb. 118.

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schiffung aus Samsun am 27.12. bzw. 27.01.1919 auf dem Dampfer „Kerkyra“ der deutschen Levante-Linie, die Simonsohn in seinen erhaltenen Tagebuchaufzeich-nungen beschreibt.

Nach Berlin zurückgekehrt, arbeite-te König vermutlich als mittlerer Ange-stellter im Versicherungsgeschäft, Si-monsohn hingegen weiterhin als Last-wagenfahrer, freilich nur bis 1938, als man ihm als Juden den Führerschein entzog. Der weitere Lebensweg der beiden ehemaligen Angehörigen der deutschen „Orientmission“ verlief denkbar ungleich: Mit einer „Arierin“ verheiratet, wurde Simonsohn zur Zeit

der Naziherrschaft zwar zunächst nicht deportiert, musste aber Zwangsarbeit beim Gleisbau in Berlin leisten und wurde dort nach einer Auseinandersetzung mit ei-nem Vorgesetzten am 1. April 1941 festgenommen, im Berliner Polizeigefängnis inhaftiert, in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt und am 12. Septem-ber 1941 ermordet; ein Stolperstein46 an seinem ehemaligen Wohnort in der Breite Str. 10 in Berlin-Spandau erinnert seit 2012 an dieses Verbrechen. Walter König hingegen nahm auch am Zweiten Weltkrieg teil und fotografierte während des Po-lenfeldzugs, wie schon in Mesopotamien, öffentliche Hinrichtungen von Zivilisten.

Abb. 7 (Abb. 24 – „Erhängter“47, aus Wegners „Austreibung“) findet sich auch in Simonsohns Nachlass, dort mit der Notiz: „Vollzug des Todesurteils durch Er-hängen (übliche Sitte im Morgenlande).“ Ein ausdrücklicher Hinweis auf angebli-

46 Vgl. www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/4832. 47 Zur möglichen Identifizierung des Bildinhalts: In seinem Buch „Im Hause der Glückseligkeit: Auf-zeichnungen aus der Türkei“, Dresden 1920, berichtet Wegner auf S. 197 über die öffentliche Er-hängung eines Griechen in Tekirdag (Rodosto), der wegen angeblicher „Zusammenarbeit mit dem Feind“ hingerichtet worden war.

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che orientalische Gepflogenheiten findet sich, noch weiter ausholend, auch in Wegners Vortragstext: „Das Erhängen, das nicht nur gegen Armenier angewendet

wird, ist ja im Orient ein beliebtes Mittel der Hinrichtung, dem das Volk selbst in den Straßen Konstantinopels wie einem gewohnten Jahrmarktsfeste beiwohnt.“48

Dass diese Behauptung eher ethnischen Stereotypen bzw. der rechtsgeschichtlichen Unkenntnis der Orientreisenden Si-monsohn und Wegner entsprang, belegt eine militärhistorische Schrift von 1931 (vgl. Abb. 8):

„Meist waren diese Spione Griechen, Juden oder Armenier. Sehr selten befand sich ein Türke unter ihnen, niemals aber eine Frau.49 […] Die Strafen für überführte Spione waren von abschreckender Strenge. Das [osmanische; TH] Spionagegesetz war dem Entwurf entlehnt, der dem Deutschen Reichstage vorgelegen hatte, von diesem aber nicht angenommen worden war.“50

Die von dem populären Autor und vormaligen Befehlshaber der deutschen Kolonial-Schutztruppe in Ostafrika, Gene-ral Paul Emil von Lettow-Vorbeck (1870-1962), herausgegebene Schrift enthält zur Illustration ein Foto mit Erhängten, das mit „Spionentod nach türkischem Gesetz“ betitelt ist, in anderen Publikationen jedoch als Illustration der Hinrichtung von Arabern in Aleppo, Damaskus oder Jerusalem dient.

Sowohl in der Fotosammlung Armin T. Wegners, als auch in Walter Königs Kriegsfotoalbum 1914–1918 findet sich die Auf-nahme einer öffentlichen Hin-richtung in Mossul (Abb. 9), der das „Armenian National Institu-te“ (Washington) in seiner onli-ne-Präsentation von Armin T. Wegner zugeschriebenen Foto-

48 Wegner, Austreibung, S. 32. 49 Eine Aufnahme aus der Sammlung Armin T. Wegners belegt das Gegenteil; sie zeigt ein vermutlich wegen Spionage erhängtes Paar. Vgl. Hofmann/Koutcharian, Images, S. 96, Abb. 33. 50 Generalmajor Paul v. Lettow-Vorbeck (Hg.), Die Weltkriegsspionage. Authentische Enthüllungen über Entstehung, Art, Arbeit der Spionage vor, während und nach d. Kriege auf Grund amtlichen Materials […] Vom Leben u. Sterben, von d. Taten u. Abenteuern d. bedeutendsten Agenten bei Freund u. Feind, München 1931, S. 507.

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grafien die Deutung unterlegt: „Armenians hanged in the street in Constantinople before the deportation of the Armenians to the desert had begun. People are look-ing on, some frightened, others as if it were a performance.“51

König, der Urheber eines fast identischen Fotos derselben Episode, gibt eine völlig andere Erklärung: „Wegen Kindesmords in Mossul gehängte.“ Der Hinter-grund dürfte die Hungersnot und der dadurch ausgelöste Kannibalismus an Kin-dern und Alten in Mesopotamien gewesen sein, die die gleichzeitige Seeblockade der Entente – vor allem Großbritanniens – wie auch Restriktionen52 des osmani-schen Regimes hervorriefen und die schätzungsweise 300.000 bis 450.000 Opfer forderten.53

Die Hungersnot musste zwangsläufig besonders die armenischen Deportierten treffen. Schwester Beatrice Rohner erwähnt in ihrem Bericht vom 26. Juni 1916: „In Sepkha erzählte ein Prediger aus Aintab, dass Eltern ihr Kind schlachteten. Bei der Untersuchung durch die Regierung stritten sich die Leute darüber, wer mitge-gessen habe. Es kam vor, dass man Sterbenden den Garaus machte, um das Fleisch zu verzehren.“54 Aus einem etwa zeitgleichen Bericht aus Der-az Zor heißt

51 www.armenian-genocide.org/photo_wegner_view.html?photo=executed.jpg&collection=wegner& caption= Executed+in+public+square, Aufruf 27.11.2014. 52 Dazu gehörten nicht nur Verbote des Fischfangs und der Jagd, sondern auch die hartnäckige Wei-gerung der Behörden, die reichlich vorhandenen Getreidevorräte an die notleidende Bevölkerung des arabischen Raums auszugeben. Vgl. La Famine au Liban et l’assistance française aux libanais pendant la Grande Guerre (1915–1919), in: Documents économiques, politique et scientifiques, publiés par L’Asie française, Paris 1922, S. 6. 53 Der US-amerikanische Genozidforscher Rudolph Rummel erwähnt Syrien (zu dem damals verwal-tungsmäßig auch der Irak, Jordanien, Palästina sowie der Libanon gehörten) und den Libanon, ge-stützt auf arabische Opferschätzungen bis 350.000. Vgl. Rudolph J. Rummel, Statistics of Democide. Genocide and Mass Murder since 1900, Münster 1998, S. 82f.92; La Famine au Liban schätzte die Zahl der Hungertoten im Libanon auf 180.000. 54 Anlage zum Bericht von Konsul Rössler an den Reichskanzler, 29.06.1916, PA/AA, Zentraljour-nal, www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1916-06-29 - DE-001, Aufruf

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es: „Die Leute schlachten und essen die Straßenhunde. Kürzlich haben sie einen sterbenden Mann geschlachtet und gegessen, dies erzählte mir ein Augenzeuge.“55

Gustav Simonsohn notierte, mit deutlichen Anzeichen europäischen Kultur-schocks, in seinen Aufzeichnungen über die Zustände in Mossul:

„Durch die Straßen drängen sich gemeinsam mit den Menschen Kamele, Esel mit Was-serfässern beladen, Tragtiere, Maulesel, sowie Hunde und Katzen. Letztere sind, wenn sie nicht gerade selbst auf der Straße verenden, die eigentlichen Straßenreiniger. Jegli-cher Unrat wird auf die Straßen geworfen, und nur die Hunde vertilgen einen Teil da-von, alles andere bleibt liegen. Dazu kommt noch, dass die bettelnde Bevölkerung vor Hunger in den Straßen umfällt und ohne jegliche Hilfe dem Tode preisgegeben ist. Ist ein Mensch verendet, so wird er vor die Stadtmauer getragen und bleibt unter freiem Himmel liegen, bis sich die nachts herumschleichenden Schakale oder am Tage die Hunde und die riesigen Aasgeier darüber her machen und bis auf die Knochen alles verzehren. Allmählich bildet sich vor der Stadt ein ganzer Haufen dieser Menschenkno-chen und Schädel […]. Es herrscht ein Elend unter der Bevölkerung, von der ein kulti-vierter Mensch keine Ahnung hat. Die Menschen kommen zu uns und betteln so lange, bis wir sie mit Schlägen vertrieben haben, um nicht selbst zu sehr zu verlausen oder von den den Menschen anhaftenden Krankheiten infiziert zu werden. Sie kommen in die von uns errichteten Müllgruben, verjagten die dort suchenden Hunde und freuten sich, wenn sie einen Knochen fanden, der schon 14 Tage darin lag. Von uns fortgewor-fenes Mittagessen suchten sie im Sande heraus mit den Fingern, an denen der Schmutz schon klebte.“56

Notizen zur Auffindung und zu den Inhalten der Bilder

Da Simonsohn und König bisher als Fotografen des osmanisch-mesopotamischen „Nebenkriegs-schauplatzes“ gänzlich unbekannt waren, erschei-nen einige Ausführungen zur ihrer Authentisierung erforderlich.

Auf Simonsohn wurde ich 2006 aufmerksam, als das Stadtgeschichtliche Museum Spandau in der Zitadelle Spandau eine kleine Fotoausstellung un-ter dem Titel „Von Spandau nach Mesopotamien. Momentaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg“ or-ganisierte, in der erstmalig der fotografische Nach-lass Simonsohns aus der Weltkriegszeit der Öffent-lichkeit vorgestellt wurde. Genau wie König inte-ressierte sich Simonsohn für zahlreiche Sujets, de-ren Bandbreite der damalige Einführungstext des Museums widerspiegelt: „Seine Fotografien zeigen Melonenverkäuferinnen, tanzende Kurden, türki-

27.11.2014 55 Anlage 2 zum Bericht von Konsul Rössler an den Reichskanzler, 29.06.1916. Vgl. ebd. 1916-07-29-DE-001, Aufruf 27.11.2014 56 Gustav Simonsohn, Bericht (Typoskript) o. J., S. 11.

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sche Gendarmen, Araber auf ihren Kamelen, Beduinenzelte, Moscheen oder ar-menische Kirchen. Auch die Armut der Bevölkerung hat er dokumentiert, betteln-de Kinder und verhungerte Menschen auf der Straße.“57 Dank der Vermittlung des Museums konnte ich den Sohn Simonsohns kennenlernen, Prof. em. Dr. Gerhard Gustavsohn, der an der Freien Universität Berlin Physik gelehrt und eine Autobio-graphie58 veröffentlicht hatte, die auch wichtige Informationen über seinen Vater und dessen Familie enthält. Gerhard Simonsohn übergab mir freundlicherweise Fotokopien des tagebuchartigen Reiseberichts seines Vaters sowie einiger Auf-nahmen aus dessen Sammlung; die Originale verblieben im Archiv des Stadtge-schichtlichen Museums Spandau.

König hingegen hinterließ keine Aufzeichnungen, die eine Kontextualisierung seiner Aufnahmen erleichtert hätten. Die Bewahrung seines chronologisch angeleg-ten, mit knappen Notizen versehenen Kriegsfotoalbums ist meinem ehemaligen Kommilitonen Ulf Milde zu verdanken, der in seiner Studienzeit in Berlin-Kreuzberg (Waldemarstraße) Nachbar von Königs Witwe wurde. Als sie um das Jahr 1967 das Album ihres verstorbenen Mannes in der Mülltonne entsorgen woll-te, war Milde zum Glück zur Stelle sowie geschichtsbewusst und vom Fotografie-ren begeistert genug, um sich das Album zu erbitten und somit zu retten.

Walter König (im Vor-dergrund) im Zweiten Weltkrieg in Polen, mit osmanischer Medaille unterhalb der Brustta-sche

Aber erst 2011

nahm er Kontakt mit mir als „Fach-frau“ auf, nachdem er im Internet auf Aufnahmen aus Königs Album ge-stoßen war, die Ar-

min T. Wegner zugeschrieben wurden. Milde übergab inzwischen das Originalal-bum dem Bildarchiv des Bundesarchivs zu Koblenz,59 nicht ohne mir zuvor eine DVD mit dem kompletten Inhalt des Albums sowie seinen Erläuterungen dazu überlassen zu haben. Darin heißt es über Königs Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg:

57 www.mdf-berlin.de/archives/www.mdf-berlin.de/2006/aus_zitadelle.html, Aufruf 27.11.2014. 58 Gerhard Simonsohn, Leben im Schatten wachsenden Unheils: Kindheit und Jugend in Spandau 1925–1945, Kreis der Freunde und Förderer des Heimatmuseums Spandau – Heimatkundliche Ver-einigung, Berlin 1998. 59 Das Copyright für den Walter-König-Bestand liegt bei Ulf Milde und dem Bundesarchiv zu glei-chen Teilen und unabhängig voneinander. Ich danke Herrn Milde für die freundliche Genehmigung zur Erstveröffentlichung.

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„Der erste Teil des Albums […] verdient unsere Aufmerksamkeit. 142 Fotos dokumen-tieren im Wesentlichen chronologisch den Weg eines Fahrers der Sanitätstruppe von der Ausbildung in Breslau, der Bereitstellung in Berlin Schöneberg, über einen Einsatz in Polen, die Reise mit der Bahn nach Konstantinopel, den Irak, Syrien, Palästina und zurück per Schiff über Wilhelmshaven nach Berlin. […] Die Bilddokumente zeugen von dieser ,Reise‘, und er hat seinen Militärdienst ersichtlich als Reise aufgefasst. Wenn auch vom Titel des Albums und auch von den Sujets her immer wieder klar wird, dass es sich um einen militärischen Anlass handelt, so finden wir außer ein paar konventionellen Renommierbildern örtlicher Standortphotographen und Postkarten aus der kaiserlichen Propagandaabteilung nichts sonderlich Martiali-sches. W. König ist aufgeschlossener Dokumentarist. Er will uns mitnehmen auf seine Aben-teuertour, achtet daher auf Chronologie (die meisten Fotos sind im Negativ numme-riert), auf Topo- und Geographie, ja sogar Himmelsrichtungen sind ihm zuweilen er-wähnenswert. Architektur, Straßenszenen, die fremde Kultur, wie sie im Alltagsbild erscheint. Dann wieder militärische Bewegung – zuweilen mit Pannen. Auch diplomatische Höhepunk-te, wenn hoher Besuch kommt oder ein hoher Kommandeur Geburtstag hat. König ist immer vorn mit seiner Kamera. Alles spannend: W. König der Teilnehmer der Weltge-schichte, wenn auch auf etwas abseitigem, dafür aber außerordentlich exotischem Schauplatz. Er hat keinen schlechten Blick. Manche seiner Fotos sind schön kompo-niert, zurückhaltend, sachlich beschriftet, allerdings zuweilen mit zweifelhafter Ortho-graphie. Aber nicht nur das Exotische interessiert ihn. Sein Blick ist auch überraschend kultur-historisch geschärft. Seine „Reise“ führt ihn zu den bedeutendsten Denkmälern der Menschheitsgeschichte, wie sie im Zweistromland zu finden sind und zu den jüdisch-christlichen Gedenkorten. König nimmt sie wichtig und dokumentiert sie aus verschie-denen Ansichten. Der mittlere Angestellte aus Berlin, wahrscheinlich bei einer Versi-cherung tätig, weiß um den genius loci seiner Aufenthaltsorte, und sie sind ihm deswe-gen einiges Negativmaterial wert. Das ist nicht selbstverständlich. Hier will einer Wich-tiges zeigen. Es war ihm ja nicht an der Wiege gesungen, dass er das einmal würde se-hen dürfen. Und zu Hause soll man das ja dann auch sehen. Dann schließlich, zurück in Berlin, hat er irgendwann, wahrscheinlich in seiner abge-dunkelten Küche, begonnen sein Material zu verarbeiten. Zuerst Filmentwicklung – Planfilm 9x12. Dann Kontaktabzüge auf Weltpostkarte, die er merkwürdiger Weise nie auf Format beschnitten hat. Zuweilen benutzte er einen professionellen Klapprahmen mit gerundeten Ecken zur Fixierung der Negative auf dem Positivmaterial. Der scheint ihm aber nicht gehört zu haben, denn vielen Blättern sieht man an, dass die Maske von Hand aus Karton geschnitten worden ist, nicht immer ganz sorgfältig. So liegt uns das Album heute vor, eine zweckentfremdete Mappe einer Versicherungs-gesellschaft, die Fotos in schönem Braunton der alten ,Gaslichtpapiere‘.“60

Bedeutung und Wirkung

Mit Ausnahme der Fotografien aus der Sammlung Armin T. Wegners war es das Schicksal der hier vorgestellten Fotodokumente, dass sie – aus unterschiedlichen

60 Ulf Milde, Vorwort zu Walter Königs Kriegsalbum. Unveröffentlichtes Typoskript, Berlin Juli 2011.

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Gründen – erst mit einem enormen Zeitabstand von 74 (im Fall Leslie Davis) bis 91 Jahren (G. Simonsohn) publiziert bzw. öffentlich ausgestellt und archiviert wer-den konnten. Im Falle von Hermann Hoffmann-Fölkersamb und Max Erwin von Scheubner-Richter erfolgte eine Veröffentlichung erstmals nach 77 Jahren, im Fall von König sogar erst nach 98 Jahre.

Dieser Umstand mag dazu beigetragen haben, dass Armin T. Wegner trotz frü-her Hinweise auf weitere Kriegsfotografen in Mesopotamien als einziger galt, der 1915 und 1916 in Mesopotamien fotografierte. Wegner, der lebenslang um Selbst-stilisierung und Selbstpropagierung bemüht war, hat diese Einzigartigkeit nach Kräften betont. In einem Interview, das Martin Rooney 1972 mit Wegner in Rom führte, hob er hervor, dass er der einzige gewesen sei, der die „Todeslager“ der Armenier aufzusuchen gewagt habe:

„Die Türken mieden und leugneten diese Todeslager. Die Deutschen gingen nicht hin und taten, als wenn sie sie gar nicht sähen. Ich war der einzige, der sich allerdings auch auf die Gefahr seiner Gesundheit dorthin begab, denn es herrschten viele Krankheiten unter den Flüchtlingen, und deswegen gingen die Deutschen auch nicht mit hinein. […] Ich bin aber in diese Lager hineingegangen – immer wieder – und habe Dutzende von Photographien von den Verfolgten aufgenommen, und die Armenier haben mir eine dauernde Freundschaft geschenkt, dass ich mich ihrer angenommen habe, denn ich bin damals auch in einem Urlaub nach Berlin gefahren, ging in das Auswärtige Amt, wo man alles wusste, aber sagte, dass man nichts tun könne. Ich versuchte, mehrere be-rühmte Leute aufzusuchen, die mich zum Teil nicht empfingen, nachdem ich ihnen ge-schrieben hatte, weswegen ich käme. […] Ich wurde nach meiner Rückkehr [nach Kon-stantinopel; Autorin] verhaftet, und zwar von den Deutschen, weil die Türken gemerkt hatten, dass ich mich der Armenier annahm. So hatte ich unter anderem Briefe von Flüchtlingen [sic! Wegner meint Deportierte; Autorin] in der Wüste mitgenommen und heimlich – hinter meiner Bauchbinde versteckt – nach Konstantinopel gebracht, die ich dann durch die amerikanische Botschaft nach Amerika leiten ließ […].“61

Das Beispiel der Diplomaten Hoffmann-Fölkersamb und v. Scheubner-Richter zeigt aber, dass auch andere Deutsche nicht den Kontakt mit armenischen Depor-tierten scheuten, ganz zu schweigen vom Opfermut jener Frauen, die wie Beatrice Rohner oder Karen Jeppe – und im Unterschied zu Wegner – in ständigem Kon-takt mit armenischen Deportierten standen. Gleichwohl stellen die aller Wahr-scheinlichkeit nach von Wegner getätigten Aufnahmen der Konzentrationslager den authentischsten Teil seiner Sammlung dar, während zumindest eine Reihe an-derer Aufnahmen in dieser Sammlung von Dritten stammt. Vom Urheberrecht einmal ganz abgesehen, wirft diese Feststellung zwei wichtige Fragen auf: zum ei-nen die nach der Aussagekraft von Bildinhalten, die von den unterschiedlichen Ur-hebern bzw. Bildbesitzern teilweise sehr abweichend interpretiert wurden – wie etwa die hier erörterten Beispiele der Abb. 4 und 9. Nur der Vergleich aller vor-handenen Bildvarianten sowie der Varianten von Bildunterschriften in den unter-schiedlichen Publikationen sowie Nachlässen kann hier weiterführen, weil anderen-falls die Gefahr einer einseitigen Zuschreibung von Fotodokumenten zum Völ-kermord an den Armeniern besteht. Diese Gefahr belegt sehr deutlich die einseiti-

61 Rooney, Weg, S. 24f.

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ge Verwendung von Bilddokumenten zum Hungertod in Mesopotamien, die dem Bildband „La Famine au Liban“62 entnommen wurden: Während die mutmaßliche Erstveröffentlichung 1922 die Aufnahmen verhungernder Frauen und Kinder in den größeren Zusammenhang der mesopotamischen Hungersnot während der Weltkriegszeit stellt, suggeriert ihr Nachdruck in dem Gedenkband „The First Ge-nocide of the Twentieth Century“ (1970) einen auf den Genozid an den Armeniern eingeengten Kontext.

Die zweite Frage betrifft die Deutung des Phänomens, dass die in Mesopotami-en, vor allem in Mossul oder Urfa entstandenen Aufnahmen bzw. deren Abzüge gleichzeitig im Nachlass Wegners, Simonsohns, Königs, Jeppes auftauchen oder, wie im Fall von Abb. 1, Erich von Falkenhayn zugeschrieben wurden. Es ist zu vermuten, dass die 1915 und 1916 in Mesopotamien tätigen Missions- und Militär-angehörigen Fotografien makabren Inhalts – öffentliche Exekutionen, massenhaf-ten Hungertod – miteinander teilten. Aber warum?

Das schließt auch die Frage nach den Motiven der Fotografen ein. Die deut-schen Diplomaten von Scheubner-Richter und mehr noch Hoffmann-Fölkersamb sowie ihren US-amerikanischen Kollegen Davis trieb offenbar das Bedürfnis nach Dokumentation und Anklage. Eine breite Wirkung konnte keiner von ihnen erzie-len, bedingt durch die ungünstigen Zeitumstände einschließlich der Rücksichtnah-me auf ihren diplomatischen Status.

Die Berliner Militärangehörigen König und Simonsohn hingegen fotografierten aus Liebhaberei. Kontakte zu dem umtriebigen und auf öffentliche Wirkung be-dachten Wegner erscheinen grundsätzlich nicht ausgeschlossen; sie hätten ihm so-

62 La Famine au Liban, in: L’Asie Française. Supplément (Documents économiques, politiques et sci-entifiques), Paris 1922.

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wohl in Mesopotamien, als auch in Berlin und, im Falle Königs, auch in Breslau bzw. während des Polenfeldzugs begegnen können. In kurzem Zeitabstand kon-textualisierte Wegner bei öffentlichen Vorträgen 1918 und 1919 Aufnahmen aus seiner Sammlung beinahe entgegengesetzt und behauptete bei seinem Vortrag vom 26. Januar 1918 in Breslau, dass die Armenier wegen ihres Verrats in den Provin-zen Van und Erzurum nach Mesopotamien umgesiedelt worden seien, dass aber die osmanische Regierung alles daran gesetzt habe, um ihr Elend zu lindern. Weg-ners Biographin und einstiger Sekretärin in Rom, Johanne Wernicke-Rothmayer, zufolge, wurden diese Äußerungen sowohl durch die obwaltende Zensur als auch durch Wegners Geltungsbedürfnis hervorgerufen.63

Wegner durchlief, wie viele Intellektuelle seiner Generation in der Zwischen-kriegszeit einer relativ schnelle Abfolge weltanschaulicher Moden: Unmittelbar nach dem Weltkrieg ergriff ihn der Pazifismus, später der Anarchismus, Kommu-nismus und Anfang der 1930er Jahre ein völkischer Nationalismus, der ihn sogar ins Fahrwasser des Nationalsozialismus geraten ließ. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der von Andreas Meier publizierte Brief Wegners vom 15. Au-gust 1933 an seine erste Frau Lola Landau, in dem er ihr von seinem Romanvor-haben „Die Austreibung“ berichtet; zum Glück für die deutsche Literaturgeschich-te kam es nicht zur Verwirklichung:

„Zwischen der jungtürkischen Bewegung von 1908 und der nationalsozialistischen Volksbewegung von 1933 ergeben sich so viele Ähnlichkeiten, damals nannten die jungtürkischen Verschwörer sich Sozialpatrioten, ist nicht schon der Ausdruck sehr ähnlich und überaus treffend? […] Indem ich beide vergleiche, vertieft sich mir der Eindruck in beide Strömungen, ich lerne sowohl die nationalsozialistische wie die jung-türkische besser verstehen und begreife aus den schicksalhaften Bluttrieben eines Vol-kes heraus sogar das Verhalten der Jungtürken gegen die Armenier, was mir früher nur schwer gelang. Du weißt ja, dass es mein Fehler und meine Stärke ist, alles im Leben auf mein künstlerisches Werk zu beziehen, und so begrüße ich aus diesem Gesichts-punkt auch die nationalsozialistische Bewegung, die mir manches klärende Licht auch auf die früheren jungtürkischen Verhältnisse wirft. Hier wie da das erwachende Selbst-gefühl eines mit Unrecht zurückgesetzten Volkes, hier wie da die erbitterte Feindschaft gegen den Fremdkörper im eigenen Volkstum (Armenier, Juden).“64

Noch während seiner pazifistischen Nachkriegsphase hat Wegner seine im Welt-krieg in Mesopotamien getätigten bzw. anderweitig erworbenen Fotografien nicht nur in seinem Vortrag „Die Austreibung“ 1919–1924 verwendet, sondern auch für zwei international höchst wirkungsvolle Bücher als Illustrationsmaterial zur Verfü-gung gestellt, nämlich für das Armenien-Buch (1925)65 des dänischen Armenier-freundes Dr. Åge Meyer-Benedictsens (1866–1927), der auch mit seinem deut-schen Kollegen Dr. Johannes Lepsius in Kontakt stand, sowie Ernst Friedrichs Anti-Kriegsbuch „Krieg dem Kriege!“ (Berlin, 1924). Der Pazifist Friedrich setzte

63 Johanna Wernicke-Rothmayer, Armin T. Wegner. Gesellschaftserfahrung und literarisches Werk, Frankfurt am Main-Berlin 1982, S. 145, Anm. 70. 64 Wegner, Austreibung, S. 184. 65 Åge Meyer-Benedictsen, Armenien. Et folks liv og kamp gennnem to aartusinder, Kopenhagen 1925.

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in seinem antimilitaristischen Werk auf die Schockwirkung von Fotografien, die die Realität des Weltkrieges in ihrer ganzen Brutalität und brutalisierenden Wirkung zeigen sollten – am drastischsten wohl bei der umfangreichen Verwendung von Porträtaufnahmen schwerstverletzter Soldaten aus der Berliner Charité (S. 194–217). Die sechs Aufnahmen aus Wegners Sammlung zeigen einerseits Erhängte als Beispiele öffentlicher Hinrichtungen von „Kriegsdienstverweigerern“ (S. 139–141), darunter die hier bereits besprochenen Abbildungen Nr. 7 und 8, sowie die Auf-nahmen von Hungertoten in Mesopotamien (S. 152–154), darunter Abb. 1, die bei Friedrich die Bildunterschrift trägt: „Armenier, die aus ihrer Heimat verschleppt wurden und unterwegs vor Hunger und Erschöpfung liegen geblieben sind. Auf diese Weise sind Hunderttausende verreckt. (Hört es wohl: Hunderttausende).“66 Das ursprünglich viersprachig – Deutsch, Englisch, Französisch und Niederlän-disch – publizierte Buch erschien insgesamt in 50 Sprachen und erzielte ab 1980 zahlreiche Neuauflagen.

Das dort auf S. 140 wiedergegebene Foto von fünf erhängten Männern (= Abb. 8) zeigt besonders anschaulich die Bandbreite unterschiedlicher Bilddeutungen: Während Friedrich es als hingerichtete osmanische „Kriegsdienstverweigerer“ prä-sentiert, verwendet es Generalmajor Paul v. Lettow-Vorbeck sechs Jahre später als Illustration für die angeblich hohe Spionagetätigkeit von Nichtmuslimen im Os-manischen Reich. Denkbar ist vor allem ein arabischer Kontext, wenn man fol-gende Erwähnung durch den deutschen Zeit- und Augenzeugen Heinrich Vierbü-cher berücksichtigt, der während des Weltkriegs als Dolmetscher im Osmanischen Reich tätig war: „Im Jahr 1917 sah ich auf dem Marktplatz von Damaskus an ei-nem frühen Sommermorgen sieben Galgen. Daran hingen die Oberhäupter der vornehmsten und reichsten syrischen Familien. Zur selben Stunde wurden in Beirut fünfund-zwanzig, in Aleppo sieben, in Homs vier Per-sönlichkeiten gehängt. Djemal Pascha ließ der staunenden Öffentlichkeit mitteilen, dass die Hingerichteten Hochverräter gewesen seien. Ihre großen Vermögen wurden vom Staat ein-gezogen. Und das ist wahrscheinlich der Hauptzweck der schaurigen Übung gewesen.“67

Eine besonders interessante Entwicklung hat das bizarre Bildmotiv von Schädelpyrami-den genommen. In der osmanischen Realität des Weltkriegs und Völkermords taucht es häu-figer in Fotografien auf. Für Zeitgenossen ver-banden sich, wie ein Vergleich des deutschen Konsuls Walter Rössler belegt, die Grausam-keiten an armenischen Deportierten und deren

66

Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege, München 2004, S. 152 67 Heinrich Vierbücher, Was die Kaiserliche Regierung den deutschen Untertanen verschwiegen hat: Armenien 1915: die Abschlachtung eines Kulturvolkes durch die Türken, Hamburg-Bergedorf 1930 (3. erw. Auflage Bremen 1987), S. 23.

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Massenvernichtung mit einem allegorischen Werk Wassilij W. Wereschtschagins (1842–1904). Rössler erwähnte diesen russischen Maler des 19. Jh.s in seinem Be-richt vom 27. September 1915:

„Am 10. und am 12. d. M. kamen je ein Zug von etwa 2000 verbannten Frauen und Kindern über Ras ul Ain zu Fuß in völlig erschöpftem Zustande hier an, ein Zug der nur durch den Pinsel eines Wereschtschagin in seiner Grauenhaftigkeit hätte wiederge-geben werden können. Die Gendarmen trieben die elenden abgemagerten Geschöpfe, denen vielfach der Tod auf dem Gesicht geschrieben stand, mit Peitschenhieben vor sich her durch die Straßen Aleppos zum Bahnhof, ohne dass sie hier in der Stadt einen Schluck Wasser hätten trinken dürfen oder ein Stück Brot erhalten hätten. Die Ein-wohner der Stadt die Wasser und Brot verteilen wollten, wurden daran verhindert. Zwei Frauen fielen zu ihrer Niederkunft nieder und wurden nur durch hinzueilende Stadtbe-wohner davor bewahrt, von den Gendarmen mit der Peitsche bearbeitet zu werden. Zwei deutsche Borromäusschwestern waren Zeuge, wie eine erschöpfte Frau von ei-nem Gendarmen an den Haaren weitergezogen wurde.“68

„Die Schädel lebendig im Dorf Ali-Srnan verbrannter Armenier“; aus: Armjanskij Central’njy Komi-tet: Al’bom Armjan-bežencev; Tiflis (1922)

Als Kriegsmaler hatte Wereschtschagin an der Eroberung Mittelasiens („Tur-

kestans“) sowie am russisch-türkischen Krieg von 1877/8 teilgenommen. Seine da-raus gewonnene pazifistische Einstellung widerspiegelt sein Ölgemälde „Apotheo-se des Krieges“ (1871), das vor einer mittelasiatischen Stadtsilhouette die histori-

68 Der Konsul in Aleppo (Rößler) an den Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Hohenlohe-Langenburg). PA/AA, Akte Botschaft Konstantinopel, 170, www.armenocide.net/ar menocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-09-27-DE-014, Aufruf 27.11.2014.

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schen Schädelpyramiden zitiert, wie sie einst der Eroberer Tamerlan vor Sa-markand aufgerichtet haben soll. Wereschtschagin widmete seine Anklage gegen die russische Imperialexpansion „allen großen Eroberern: den vergangenen, den gegenwärtigen und den zukünftigen.“69

Im armenischen Kontext taucht das Gemälde vermutlich erstmals 1921 in dem Buch des griechischen Kriegsberichterstatters Kostas Faltaits auf, der ab März 1921 über die griechisch-türkischen Kämpfe in der Region Nikomedien (türk. Iz-mit) und vor allem über die schweren Verbrechen berichtete, die an der dortigen griechisch-orthodoxen Bevölkerung sowie anderen Volksgruppen von türkischen

paramilitärischen Einheiten 1920/1 begangen wurden. Seine auf die Berichte Überlebender ge-stützte Darstellung erschien 1921 in Athen in grie-chischer Sprache unter dem anklagenden, mit blut-triefenden Lettern komponierten Titel „So sind die Türken!“ (ΑΥΤΟΙ ΕΙΝΑΙ ΟΙ ΤΟΥΡΚΟΙ). Diese Ausgabe zeigt auf dem Cover Wer-eschtschagins „Apotheose“ mit einer auf die Buchseite 54 verweisenden Bilderläuterung, die sich auf die Aussage des armenisch-apostolischen Bischofs von Nikomedien bezieht; dieser Geistli-che erwähnte Faltaits gegenüber, dass die türki-schen Offiziere und Soldaten während der De-portationen von 1915 sich „die Zeit damit vertrie-ben, Pyramiden aus den Köpfen der abgeschlach-teten Christen zu errichten.“70

Während die griechische Publikation den alle-gorischen Charakter des Wereschtschagin-Bildes wahrt, ist er in Veröffentlichun-gen nach dem 2. Weltkrieg anscheinend verloren gegangen. In Schwarz-Weiß-Reproduktionen des Gemäldes wird dieses jetzt als Fotografie missdeutet und Wereschtschagins allegorische Schädelpyramide aus Mittelasien nach Mesopotami-en verlagert, wie in dem 1970 von James Nazer in New York veröffentlichten Ge-denkalbum „The First Genocide of the Twentieth Century“ und nachfolgenden, darauf gestützten Publikationen. Türkischerseits diente diese Mutation des russi-schen Anti-Kriegsgemäldes zum Foto„dokument“ seit der 2. Hälfte der 1980er Jahre pars pro toto als Standardeinwand gegen die Aussagekraft von Fotografien im Kontext des Genozids an den Armeniern schlechthin. Die typischeren Aspekte und wichtigeren Fragen bei der inhaltlichen bzw. historischen Bestimmung von Weltkriegsfotografien aus dem osmanischen Herrschaftsgebiet traten infolge dieser politisch aufgeladenen Polemik leider in den Hintergrund.

69 http://www.tretyakovgallery.ru/en/collection/_show/image/_id/183, Aufruf 27.11.2014 70 K. Faltaits: Aytoi einai oi tourkoi. Athenai 1921, S. 54