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Preußische Monatsbriefe
1
Berichte, Kommentare, Glossen und Despektierliches für
aufgeklärte, mündige Schichten
Wort des Monats Mit Russland habe er gute Freundschaft und
Harmonie zu halten jederzeit gesucht. Er empfehle diese auch dem
Kron-prinzen, da in einem Krieg mit Russland sehr viel zu
riskieren, aber nichts von ihm zu gewin-nen wäre…
Rat von Friedrich Wilhelm I. an seinen Nachfolger Friedrich
II.
Inhalt Seite 2: Rapport zur Lage: Cowboy-Diplomatie Seite 3:
Erinnerungen an die Heimat: Crossen a. d. Oder Seite 5: Klabunds
bewegende Ode an Crossen Seite 6: Patrioten-Passagen Seite 7:
Preußen anekdotisch und witzig Seite..8: Preußische Daten
–Beinahe-Duell Bismarcks Seite 11: Beilage: Tagebuch eines
Weltkrieg-Musketiers (Folge XVI) Seite 22: Impressum
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Vorweg… …zunächst zwei Bitten: Haben Sie Anregungen, Wünsche,
Kritiken oder gar Lobe für die Preußischen Monatsbriefe, dann
teilen Sie uns diese doch bitte mit. Wir stellen uns gern auf Sie
ein. Und: Die Ihnen per Mail zugesandten KOSTENLOSEN Monatsbriefe
lassen sich im Internet aufrufen:
www.Preussische-Monatsbriefe.de Bitte geben Sie diese Adresse an
wache Geister weiter. Sie und wir danken es Ihnen.
▼▲▼ Frisch, froh, fröhlich, frei und fromm brachte Johann
Gottfried Seume Anno Domini 1804 die Zeile „Wo man singet, wird
kein Mensch beraubt“ für sein Gedicht „Die Gesänge“ zu Papier.
Gottlob konnte er nicht ahnen, daß sie 211 Jahre nach dem Trocknen
der Tinte nicht mehr galt. Das er-lebte ausgerechnet ein trautes
Damenkränzchen im edlen Dahrendorf an der Schlei , das nach dem
deutsch-dänischen Krieg als Teil des Herzog-tums Schleswigs zu
Preußen kam. Die sangesfreudigen Damen pflegen bei ihren
regelmäßigen Stelldicheins das, was die anglo-amerikanischen
deutschen Medien und sich kaum noch in deutscher Sprache
artikulie-rende Brüll- und Hüpfdohlen deutscher Zunge angeödet
links liegen las-sen: deutsche Volkslieder anheimelnden Klanges und
ansprechender Texte. Eine Ausnahme bildet der ewig blonde Liebhaber
von schwarz-braunen Haselnüssen. Er genießt sein Monopol.
Schlimmes wird dem Kränzchen von der Institution mit dem
eingängigen Familiennamen „Gesellschaft für musikalische
Aufführungs- und mecha-nische Vervielfältigungsrechte“ vorgeworfen,
von der man nur den Kose-namen GEMA kennt. In intensiver
Ausspähaktion brachte sie heraus, daß die Damen singen, ohne an die
Eintreib-Institution zu löhnen. Die Straf-Rechnung folgte auf dem
Fuße. Keine der Sängerinnen fiel in Ohnmacht, weil sich ein Sturm
der Solidarität mit ihnen erhob, dem sich Wolfgang Börnsen der
ehemalige langjährige kulturpolitische Sprecher der CDU-Fraktion
des Bundestages anschloss. Er sprach von einer „kulturellen
Sozialleistung“, wie „es in der Gesellschaft sonst niemand
tue“.-Die GE-MA zog die Rechnung zurück, das Kränzchen singt weiter
alte Volkslieder. Wer aber noch? Die Schriftleitung
No. 45 / Juni 2015
zuzzzzzzzz
mailto:[email protected]?subject=Kontakt%20Preussische%20Monatsbriefehttp://www.preussische-monatsbriefe.de/archivhttp://www.preussische-monatsbriefe.de/anmeldunghttp://www.preussische-monatsbriefe.de/abmeldunghttp://www.preussische-monatsbriefe.de/
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Preußische Monatsbriefe
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Von „Diplomatie“ nach Cowboy-Art
Merkel: Neben einem Verbrecher? Obama: US-Soldaten retteten 1945
die Welt
Vor genau 200 Jahren tagte der Wiener Kongreß, um Europa neu zu
ordnen. Dabei begegneten einander etwa 200 Vertreter von
europäischen Staaten, Herrschaften, Körperschaften und Städten.
Darunter befanden sich das Königreich Preußen, das Russisches
Kaiserreich, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland,
das Kaisertum Österreich und die wiederhergestellte französische
Monarchie. Keiner der Teilnehmer wäre auch nur auf die Idee
gekommen, dabei die ungeschriebenen Gesetze der Diplomatie zu
verletzen. Sie bestanden u. a. darin, die Kunst und Praxis des
Verhandelns auszuüben, ohne andere bloßzustellen oder in die Enge
zu treiben, sowie mit Kompromissbereitschaft die Absichten und die
Wünsche jedes Beteiligten mit dem Ziel zu erkennen und zu
berücksichtigen, dass alle Beteiligten und Betroffenen einen Nutzen
erzielen. Gleiche Prinzipen galten 63 Jahre später auf dem Berliner
Kongress, zu dem Reichskanzler Otto von Bismarck die Vertreter der
europäischen Großmächte Russland, Österreich-Ungarn, Frankreich,
Vereinigtes Königreich, Italien und sowie vom Osmanischen Reiches
eingeladen hatte. Man begegnete einander in Würde, mit Anstand und
(wenn auch unterschiedlicher) Klugheit, um eine neue
Friedensordnung für Südosteuropa auszuhandeln. Man hatte halt
Format.
Solche Haltungen muten angesichts heutiger
Hauklotz-Cowboy-„Diplomatie“ wie ein Märchen aus Tausendundeiner
Nacht an. National wie international. Da wird aus der Hüfte
geschossen, daß es nur so kracht. Verbalinjurien in Parlamenten und
zwischen Regierungen sind an der schlechten Tagesordnung,
öffentliche Verurteilungen anderer – wer hätte schon mal ehrliche
Selbstkritik vernommen! – gehören zum fast täglichen Ritual.
Jüngst lieferte der 70. Jahrestag des Endes vom Zweiten
Weltkrieg unfaßbare Beispiele heutiger „Diplomatie“: Der sich als
Herr der Welt dünkende und wie ein solcher agierende US-Präsident
erklärte laut Berliner Morgenpost vom 9.Mai 2015 im Röhren-Blick
auf die US-Soldaten, die in Europa ihr Leben gelassen haben: ‚Das
war die Generation, die ganz wörtlich die Welt gerettet hat.‘“ .
Putin dagegen brachte auch „gegenüber den Völkern von
Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika“
Dankbarkeit zum Ausdruck dafür, „wie sie zu dem Sieg beigetragen
haben“.
Im Zusammenhang mit einer Kranzniederlegung am Grab des
unbekannten Soldaten in Moskau sprach die deutsche Bundeskanzlerin
im Stil dieses Herrn und Meisters von einer verbrecherischen
Annexion der Krim. Der „Verbrecher“ und Staatspräsident stand neben
ihr. Ob sie anschließend mit Washington telefonierte, um auch den
Befehlsgeber von mehr als 3 000 verbrecherischen Drohnen-Morde
anzuklagen, darf bezweifelt werden. In dieser Richtung funktioniert
wohl alte Diplomatie – oder ist es doch nur Feigheit vor dem Feund?
Gustav von Trump
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Preußische Monatsbriefe
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Erinnerungen an die Heimat – Crossen a. d. Oder
Kirchen in Crossen: Mit ihrem eisernen Turm erregt die ehemalige
Marien- und jetzige St.-Hedwigskirche (links) in der Altstadt große
Aufmerksamkeit. Sie erlebte erstaunliche Wandlungen: War sie
zunächst ein von den Zünften finanziertes katholisches Gotteshaus,
wurde sie unter Branden-burgs Herrschaft nach Luthers
Thesenanschlag von Protestanten übernommen. Bischof Wilhelm Pluta
weihte sie nach dem Zweiten Weltkrieg katholisch der Heiligen
Hedwig von Schlesien. Das rechte Bild zeigt die von Baumeister Karl
Friedrich Schinkel im 19. Jahrhundert errichtete neugotische
St.-Andreas-Kirche
Crossen an der Bober-Einmündung in die Oder gehörte als
Kreisstadt zum Regierungsbezirk Frankfurt in der Provinz
Brandenburg, dem Kernland Preußens. Nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges kam sie auf Beschluss der Siegermächte unter polnische
Verwaltung. Die deutschen Einwohner flohen oder wurden vertrieben.
Seitdem nennt sie sich Krosno Odrzańskie in der Woiwodschaft
Lebus.
Obwohl sie vor 70 Jahren bei den Kämpfen an der Oder schwere
Zerstörungen hinnehmen musste, blieben Zeugnisse deutscher
Baukultur erhalten. Darunter die oben genannten Kirchen und einige
ansehnliche Bürgerhäuser und Prachtvillen einstiger Unternehmer.
Die Stadt mit ihren knapp 19 000 Einwohnern (1900: ca. 8 000, 1939:
etwa 10 800) unternimmt Anstrengungen, die historische Alt-stadt zu
restaurieren, muss aber beklagen, dass dafür ausreichend Geld
fehlt.
Ein Blick in die bis zum Jahr 1005 zurückreichende Geschichte –
Crossen erhielt von Herzog Heinrich dem Bärtigen um 1200 deutsches
Stadtrecht verliehen – macht deutlich, dass sie nicht immer rosig
verlief. Gewaltige Hochwasser in den Jahren 1306, 1311 und 1317
sowie Brände Anno 1481, 1631 und 1641 führten zu schweren Schäden.
1886 wütete ein Wirbelsturm über der Stadt, dem der Turm der
Marienkirche zum Opfer fiel. Daraufhin erhielt sie den erwähnten
eisernen Turm.
Was die Natur nicht schaffte, erreichten kriegerische
Auseinandersetzungen jeglicher Art. So belager-te Herzog Johann II.
von Sagan 1477 die Stadt und zerstörte sie. Im Dreißigjährigen
Krieg wurde Cros-sen von den Schweden in Brand gesetzt und
einschließlich Schloss und Marienkirche vernichtet. 1945 verlor
Crossen mit 499 geborstenen Häusern ungefähr zwei Drittel jeglicher
Bausubstanz. Beschä-mend ist, dass der sowjetische Soldatenfriedhof
mit 50 Massengräbern zum 70. Jahrestag des Kriegs-endes mit keiner
Aufmerksamkeit bedacht wurde. Die ihnen ihr Dasein dort verdanken,
ließen das kleine Areal erinnerungs-, pfleg- und blumenlos links
liegen. Polnische Russenphobie wirkt über Grä-ber hinweg.
Zu Crossens berühmten Töchtern und Söhnen gehören Baumeister
Georg Wenzeslaus von Knobels-dorff (1699–1753), die von Goethe
ausgebildete Schauspielerin Christiane Becker-Neumann (1778–1797),
der ehemalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Hans Egidi
(1890–1970) und der Dichter und Kabarettist Alfred Henschke,
bekannt unter dem Künstlernamen Klabund (1890–1928).
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Preußische Monatsbriefe
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Crossen (Krosno Odrzańskie) gedenkt des großen Sohnes der Stadt,
der seinen Künstler-
Namen aus Silben der Wörter Klabautermann und Vagabund zu
Klabund zusammenstellte
Erstaunte und dankbare Freude löst beim Besuch Cros-sens die
Begegnung mit Klabund aus. Das heißt, mit seinem Denkmal in der
Posener (Poznanska) Straße. Dort sitzt und schreibt er bescheiden
und unauffällig wie in seinem Leben an seiner „Ode an Crossen“, mit
der wir diesen Beitrag beschließen werden. Alfred Hen-schke alias
Klabund wurde am 4. November 1890 in eine ehrbare Apotheker-Familie
hineingeboren, sein Vater gleichen Namens war Stadtrat. Der Junior
verleb-te seine Kindheit in der kleinen Stadt an Oder und Bober,
ging in der großen Stadt Frankfurt an der Oder zur Schule. Dort
befreundete er sich mit Gottfried Benn, der in Zellin (seit 1945:
Czelin) seine glückliche Kindheit erlebte (siehe Preußischer
Monatsbrief vom September 2014).
Trotz seiner literarischen Erfolge als Lyriker, Erzähler und
Bühnenautor – manche seiner oft kritisch-frechen Werke stießen bei
der Obrigkeit auf harsche Ablehnung - stand sein Leben unter einem
dunklen Stern: Seit dem sechzehnten Lebensjahr litt er unter einer
tückischen Lungenkrankheit, die ihn am 14. August 1928 in Davos
endgültig besiegte. Seine sterblichen Überreste wurden nach
Cros-sen überführt und dort zur letzten (endlichen) Ruhe gebettet.
Die Totenrede hielt Gottfried Benn:
„Bei dieser Feier, die die Stadt Crossen ihrem verstorbenen
Sohne weiht, habe ich als des
Toten ältester Freund und märkischer Landsmann unter den
schriftstellernden Kollegen die
Aufgabe und die Ehre, einige Worte zu sprechen.
Da habe ich zunächst das Bedürfnis, der Stadt Crossen einen Dank
abzustatten. Es ist schön,
dass sie es ermöglichte, dass der Dichter auf diesem Friedhof
ruht. In Norddeutschland, von
wo er hergekommen ist, in dieser Stadt, die er oft besungen hat,
am bewegensten heute für uns
in jener ‚Ode an Crossen‘, deren Schlussversen er diese jetzige
Stunde beschreibt und sieht,
die Stunde, ‚in der auf seinen kleinen, kindlichkümmerlichen
Leib die Erde fällt, die ihn ge-
bar, an der Grenze Schlesiens und der Mark, wo der Bober in die
Oder, wo die Zeit mündet in
die Ewigkeit‘ – ich sage, ich möchte mir die Freiheit erlauben,
der Stadt zu danken, dass sie
es sich nicht hat nehmen lassen, ihren Sohn, diesen unseren
Kameraden, der nur ein Künstler
war – nur Narr, nur Dichter, wie es im ‚Zarathustra‘ heißt – mit
allen Ehren des Lebens und
der Öffentlichkeit zu sich zurückzuholen.“ Text und Fotos (3):
Peter Mugay
Klabunds Elternhaus in Crossen
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Preußische Monatsbriefe
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Klabunds
Ode an Crossen Oft
Gedenk ich deiner Kleine Stadt am blauen
Rauhen Oderstrom, Nebelhaft in Tau und Au gebettet
An der Grenze Schlesiens und der Mark, Wo der Bober in die
Oder,
Wo die Zeit Mündet in die Ewigkeit -
Denk ich deiner, wenn ein Mond am Himmel Mir wie dir erglänzt
Und mir am Lid die
Goldne Träne eines Steines hängt. Ach
Da ich jung war Wie voll Träumens Falterübertaumelt
Engerlingdurchwühlt War die Erde! Wie erschien
So Sonnentag wie Regentag Gesegnet
Und von zweien Göttern Vater Mutter.
Ward die wilde Welt so mild regiert. Stand am Weg vorm
Warenhause ein hölzern
Hündchen, Bellt es freudig, wenn ich kam, und maulte,
Dass es mir nicht folgen durft. Große Männer auch in schweren
Tressen,
Hehre Helden, die von Haus zu Haus Das Geheimnis ihrer Sendung
trugen,
Neigten freundlich oft den mähnigen Kopf, Schenkten dem
Erschauernden
Bunte Marken fremder Palmenländer Und mich grüßte hold
Liberia,
Senkte selbst Korea die Standarten. Grell
Gewaltig Führte Phöbus stets von Urbeginn die Zeiten
Führte mir die schnobenden die wütig stolzen Sonnenrösser übern
Heidehibbel hell hinauf. An den Oderhügeln reifte Wein mit
kleinen
Roten zottigen Trauben Aus den Dörfern
Scholl Gebell Geboll der Hunde
Und es meldete ein Dorf dem andern So den Wanderer weiter
Der durch Sand und Kiefern Immerdar ins ewige Zion zog.
Hör ich nicht an meines Bodenzimmers Fens-ter
Fern den Regen klopfen, wie ein guter Freund um Einlass bittet?
Ja ich biete
Regensturm dir stürmisch meine offne Heiße Brust, dass du die
wilde
Lust des Lebens Süß mir kühlst!
Immer waren Blitz und Donner schon dem Kinde
Seine liebsten Freunde. Auf dem sorglich durch ein gläsern Dach
vor Unbill Regens oder Sonnenstich geschätzten
Weinumsponnenen Balkon Sitzt in seinem weißen Leinenkittel
Seinem weißen Haar Gütiger weiser Mann
Mein Vater Hat die goldne Brille abgelegt, damit er
Besser so das Crossner Tagblatt lese, Neben ihm die zarte
zärtliche, die lächelnde
Mutter hegt im Schoße einen Korb Und emsig
Steint sie Zwetschgen oder Kirschen aus. Hoch im Himmel
Schwirrt ein Häher, Der den Regenbogen dort im Westen
Wie ein grauer Blitz durchzuckt. Vom Marienkirchturm
Fällt ein Schwarm von Nachtigallen Mit den Abendglocken
In die Dämmerung. Dir auch dir
Wanderer zwischen tausend Städten Herzen
Seen War auch einmal Heimat
Wird Heimat wieder sein, wenn Dumpf die Schollen kollern auf den
Sarg, der
Deinen Kleinen kindlich kümmerlichen
Leib der Erde wiedergibt, die ihn gebar An der Grenze Schlesiens
und der Mark, Wo der Bober in die Oder, wo die Zeit
Mündet in die Ewigkeit
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Preußische Monatsbriefe
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Patrioten-Passagen zur Presse HORST KÖHLER
Wer Bücher, wer Filme, wer Theateraufführungen, wer Karikaturen
verbieten will, der ist auf dem falschen Weg. Jeder kann sich in
Wort und Schrift gegen das wehren, was ihm nicht passt oder was ihn
möglicherweise verletzt. Verbot und Unterdrückung aber zerstören
Frei-heit und Humanität. (Aus seiner Rede "Die Freiheit des Wortes
- ein Fundament unserer Kultur" am 9. Mai 2008)
OSWALD SPENGLER
Der Pressefeldzug entsteht als die Fortsetzung – oder
Vorbereitung – des Krieges mit andern Mitteln, und seine Strategie
der Vorpostengefechte, Scheinmanöver, Überfälle, Sturmangrif-fe
wird während des 19. Jahrhunderts bis zu dem Grade durchgebildet,
dass ein Krieg schon verloren sein kann, bevor der erste Schuss
fällt – weil die Presse ihn inzwischen gewonnen hat. Heute leben
wir so widerstandslos unter der Wirkung dieser geistigen
Artillerie, dass kaum jemand den inneren Abstand gewinnt, um sich
das Ungeheuerliche dieses Schauspiels klar-zumachen. Der Wille zur
Macht in rein demokratischer Verkleidung hat sein Meisterstück
damit vollendet, dass dem Freiheitsgefühl der Objekte mit der
vollkommensten Knechtung, die es je gegeben hat, sogar noch
geschmeichelt wird. Der liberale Bürgersinn ist stolz auf die
Abschaffung der Zensur, der letzten Schranke, während der Diktator
der Presse – Northclif-fe! – die Sklavenschar seiner Leser unter
der Peitsche seiner Leitartikel, Telegramme und Illustrationen
hält. Die Demokratie hat das Buch aus dem Geistesleben der
Volksmassen voll-ständig durch die Zeitung verdrängt. Die
Bücherwelt mit ihrem Reichtum an Gesichtspunk-ten, die das Denken
zur Auswahl und Kritik nötigte, ist nur noch für enge Kreise ein
wirkli-cher Besitz. Das Volk liest die eine, „seine“ Zeitung, die
in Millionen Exemplaren täglich in alle Häuser dringt, die Geister
vom frühen Morgen an in ihren Bann zieht, durch ihre Anlage die
Bücher in Vergessenheit bringt, und, wenn eins oder das andre doch
einmal in den Ge-sichtskreis tritt, seine Wirkung durch eine
vorweggenommene Kritik ausschaltet.
Was ist Wahrheit? Für die Menge das, was man ständig liest und
hört. Mag ein armer Tropf irgendwo sitzen und Gründe sammeln, um
„die Wahrheit“ festzustellen – es bleibt seine Wahrheit. Die andre,
die öffentliche des Augenblicks, auf die es in der Tatsachenwelt
der Wirkungen und Erfolge allein ankommt, ist heute ein Produkt der
Presse. Was sie will, ist wahr. Ihre Befehlshaber erzeugen,
verwandeln, vertauschen Wahrheiten. Drei Wochen Pres-searbeit, und
alle Welt hat die Wahrheit erkannt. Ihre Gründe sind so lange
unwiderleglich, als Geld vorhanden ist, um sie ununterbrochen zu
wiederholen. Auch die antike Rhetorik war auf den Eindruck und
nicht den Inhalt berechnet – Shakespeare hat in der Leichenrede des
Antonius glänzend gezeigt, worauf es ankam – aber sie beschränkte
sich auf die Anwesenden und den Augenblick. Die Dynamik der Presse
will dauernde Wirkungen. Sie muss die Geister dauernd unter Druck
halten. Ihre Gründe sind widerlegt, sobald die größere Geldmacht
sich bei den Gegengründen befindet und sie noch häufiger vor aller
Ohren und Augen bringt. In demselben Augenblick dreht sich die
Magnetnadel der öffentlichen Meinung nach dem stär-keren Pol.
Jedermann überzeugt sich sofort von der neuen Wahrheit. Man ist
plötzlich aus einem Irrtum erwacht.
(In „Welthistorische Perspektiven“)
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Preußische Monatsbriefe
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Preußen anekdotisch und witzig
Politische Witze kommen kaum noch auf, historische Anekdoten
sind beinahe vergessen. Da-bei können die beiden Genres etwa
Menschlich-Allzumenschliches in Gesellschaft und Politik pointiert
auf den Punkt bringen. Wir eröffnen heute den Reigen
nachdenklich-heiterer Klein-kunst und laden unsere Leser zum Lachen
und Schmunzeln wie zum Staunen darüber ein, dass Preußen zwar nicht
rheinländisch frohgemut, so doch heiter und possenreißerisch sein
konnte. Wer in seiner Schublade Witziges und Anekdotisches aus
Preußen entdeckt, schicke es uns bitte zu - es kann auch gern eine
Kopie sein. Wir drucken das Fundstück ab.
Ω In der Schlacht von Zorndorf (1758) stand die Entscheidung auf
des Schwertes Spitze. Fried-rich II. war ärgerlich, dass General
Seydlitz trotz ausdrücklichen Befehls noch immer nicht mit der
Kavallerie eingriff. Er schickte einen Adjutanten, der Seydlitz
wortgetreu ausrichtete: „Herr General, der König lässt sagen, falls
die Schlacht verlorengeht, stehen Sie mit ihrem Kopf dafür!"
Seydlitz übersah das Schlachtfeld und entgegnete: „Sagen Sie dem
König, nach der Schlacht stehe ihm mein Kopf zur Verfügung. Bis
dahin aber möchte ich ihn zu seinem Vorteil noch selbst verwenden
können!" Die Schlacht wurde gewonnen.
Ω General Wrangel, der wie kein Zweiter berlinerte, geht mit
seinem Adjutanten die Straße Unter den Linden entlang. Ein Posten
präsentiert vor dem General. Wrangel: „Der hat mir jejrüßt.“ Der
Adjutant verbessert ihn: „Nein, mich.“ Verwundert fragt Wrangel
zurück: „Wat denn, der hat Ihnen jejrüßt?“ Der Offizier berichtigt
erneut: „Nein, Sie.“ Wrangel erleichtert: „Na saje ick doch, der
hat mir jejrüßt.“
Ω Festungsgeneral von Petery gab bei einer Tischunterhaltung ein
Familiengeheimnis preis. Man disputierte darüber, ob es nicht
besser sei, die Diners in die späten Nachmittagsstunden zu
verlegen. Petery: „Im Hause meiner Eltern ging es so vornehm zu,
dass wir immer erst am anderen Tage aßen.“
Ω Lessing unterhielt sich einst mit seinen Freunden in der
Baumannshöhle, einem Weinkeller in der Brüderstraße, über die
Unsterblichkeit. Ein alter Berliner, der sich auch in dem
Wein-keller befand, hörte aufmerksam zu und trat nach dem Gespräch
zu den Herren. „Ick jloobe nich an ihr", meinte er. „Woran glauben
Sie nicht?" fragte Lessing. „Nu, an de Unsterblichkeit." „Warum
denn nicht?" „Ja, sehn Se, wenn ick dran jloobte un se kommt nich,
dann ärgerte ick mir. Wenn ick dran jloobe und se kommt, so finde
ick weita nischt dabei. Wenn ick aber nich dran jloobe und se
kommt, so freue ick mir. Merken Se wat? Drum jloobe ick nich an de
Unsterblichkeit."
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Preußische Monatsbriefe
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Preußische Daten
1.Juni 1790 (vor 225 Jahren): Die Tierarzneischule vor dem
Oranienburger Tor in Berlin öffnet unter Leitung von
Oberstallmeister Karl Graf von Lindenau mit 46 Eleven. Die Gebäude
entstanden 1788 nach Plänen von Oberbaudirektor Carl Gotthard
Langhans.
1.Juni 1840 (175): Hundert Jahre nach dem Regierungsantritt
Friedrichs II. am 31. Mai 1740 wird für das Reiterstandbild
Friedrichs des Großen nach dem Entwurf von Christian Daniel Rauch
Unter den Linden (Mitte) der Grundstein gelegt. Am 31. Mai 1851
wird es enthüllt.
Friedrich der Große Unter den Linden, Goethe im Tiergarten
1.Juni 1850 (165): Die ersten vier städtischen Volksbibliotheken
in Berlin werden für das Publikum geöffnet: im
Friedrichs-Werderschen Gymnasium, in der Königsstädtischen
Realschule, der Dorotheenstädtischen Realschule und der
Luisenstädtischen Realschule.
1.Juni 1860 (155): Theodor Fontane übernimmt an der Neuen
Preußischen Zeitung - nach dem Eiser-nen Kreuz im Titel allgemein
Kreuzzeitung genannt - die Redaktion des „englischen Artikels“. Er
schil-dert die Redaktion so: „In das Sofakissen war das Eiserne
Kreuz eingestickt, während aus dem schwarzen Bilderrahmen ein mit
der Dornenkrone geschmückter Christus auf mich niederblickte“
2.Juni 1605 (410): Im Bericht über einen „großen und
schrecklichen Sturmwind“ in Berlin heißt es u. a.: Er „richtete an
den „Heusern, Techern, Scheunen und Gerten“ großen Schaden an.
Außerdem wurden „7 Scheunen vor Coln uber einen Hauffen
geworffen“.
2.Juni 1880 (135): Am Ostrand des Tiergartens wird das
Goethedenkmal von Fritz Schaper enthüllt. Das Ensemble erreicht
eine Gesamthöhe von sechs Metern, das Standbild des Dichters auf
rundem Sockel ist 2,72 Meter hoch. Ihn umgeben drei allegorische
Figurengruppen: für die lyrische Dicht-kunst eine Muse mit Leier
und der Figur des Eros; für die dramatische Dichtkunst eine
sitzende Frau-engestalt mit Schreibwerkzeug, neben ihr ein Genius;
für die Forschung eine lesende weibliche Ge-stalt.
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Preußische Monatsbriefe
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3.Juni 1700 (315): Im Königlichen Hetzgarten in der Neuen
Friedrichstraße findet aus Anlass der Fei-erlichkeiten zur Hochzeit
der Prinzessin Luise Dorothea Sophia mit dem Erbprinzen Friedrich
von Hessen-Kassel eine große Bärenhatz statt.
3.Juni 1710 (305): König Friedrich I. gibt die „Endliche
Einrichtung der Königl. Preußischen Societät der Wissenschaften in
Berlin“ bekannt. Sie war am 11. Juli 1700 als
Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften gegründet
worden, als Friedrich noch Kurfürst war.
3. Juni 1740 (275): Um den durch den katastrophalen Winter
1739/40 eingetretenen Brot- und Fleischmangel und der damit
verbundenen Teuerung zu begegnen, werden in Berlin die Königlichen
Getreidemagazine geöffnet.
Beinahe Duellanten: Otto von Bismarck und Rudolf Virchow
3.Juni 1865 (150): Der preußische Ministerpräsident Otto von
Bismarck fordert den Abgeordneten der Deutschen Fortschrittspartei
und Professor für Pathologie Rudolf Virchow wegen eines
stürmi-schen Wortwechsels, der tags zuvor zwischen ihnen im
Preußischen Landtag stattgefunden hatte, zum Duell auf. Virchow
lehnt die Duellforderung mit dem Hinweis darauf ab, dies sei keine
zeitgemä-ße Art der Diskussion.
4.Juni 1740 (275): Eine durch Missernten verursachte Hungersnot,
die in Berlin zu Hungertyphus führte, zwingt König Friedrich II.,
die Einfuhr von Getreide aus Mecklenburg zu genehmigen. Die Fir-ma
Splitgerber & Daum importierte auch polnisches und russisches
Getreide.
4.Juni 1875 (140): Ein vom Preußische Abgeordnetenhaus
genehmigter Gesetzentwurf ermächtigt die preußische Regierung, für
sechs Millionen Mark die Nordbahn (Berlin - Neubrandenburg -
Stralsund) zu kaufen.
5.Juni 1815 (200): Die „Berlinische Gesellschaft für deutsche
Sprache“ wird in Berlin gegründet. Friedrich Ludwig Jahn gehört zu
den Gründern.
5.Juni 1890 (125): Ein Fesselballon wird in Berlin aufgelassen.
Selbstregistrierende Instrumente er-möglichen genaue
meteorologische Beobachtungen in den oberen Luftschichten.
6.Juni 1795 (220): Generalarzt Johann Goercke schlägt angesichts
der Vergrößerung des Heeres mit einer Denkschrift die Gründung
einer Ausbildungsstätte für Militärärzte vor.
7.Juni 1840 (175): König Friedrich Wilhelm III. stirbt im
Kronprinzenpalais Unter den Linden, und Friedrich Wilhelm IV.
besteigt den preußischen Königsthron. Die Trauerfeier für Friedrich
Wilhelm III. findet am 11. Juni im Berliner Dom statt. Anschließend
wird die sterbliche Hülle in das Mausoleum im Park des Schlosses zu
Charlottenburg überführt. Dort befinden sich die sterblichen
Überreste seiner am 19. Juli 1810 verstorbenen Gattin Luise (von
Mecklenburg-Strelitz).
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Preußische Monatsbriefe
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12.Juni 1435 (580): Auf einer Synode mit der gesamten
Geistlichkeit des Brandenburger Bistums kritisiert der
Brandenburger Bischof Stephan Bodeker deutlich den Lebenswandel von
Geistlichen und gibt Anordnung zur Abstellung.
13.Juni 1370 (645): Eine Festlegung vom Rat zu Berlin und Cölln
legt fest: 1. nur Bürger der Stadt haben das Recht, Bier zu brauen;
2. im Heiliggeisthospital darf in geringen Mengen Bier gebraut
wer-den; 3. fremde Biere dürfen nur mit Genehmigung des Rates
ausgeschenkt werden.
15.Juni 1880 (135): Das neue Empfangsgebäude des Anhalter
Bahnhofs, erbaut durch den Architek-ten Franz Heinrich Schwechten,
wird seiner Bestimmung übergeben. Im Zweiten Weltkrieg wird der
Bahnhof bis auf den Portikus zerstört.
16.Juni 1805 (210): Musikpädagoge, Komponist, Dirigent,
Goethe-Freund und Maurer Karl Friedrich Zelter holt den 13jährigen
Meyer Beer (Vorname Meyer, später Giacomo Meyerbeer) in die
Singaka-demie.
17.Juni 1765 (250): Gegründet wird die Königlich Preußische Bank
(„Königliche Giro- und Leih- Banco“) mit 400 000 Ta-lern. Ziel ist,
die kriegsgeschädigte Wirt-schaft Preußens zu beleben.
18.Juni 1675 (340): Sieg der brandenbur-gisch-preußischen Armee
unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm und
Generalfeldmarschall Georg von Derffling in der Schlacht bei
Fehrbellin über die Schweden unter Generalleutnant Wolmar von
Wrangel. Zur Feier des Sie-ges werden am 21. Juni und am 8. Juli
Freudenfeste mit großem Feuerwerk veranstaltet.
24.Juni 1835 (180): Die von Karl Friedrich Schinkel in den
Jahren 1834 und 1835 errichtete Moabiter Johanniskirche wird am
Tage Johannes des Täufers vom Pre-diger Seidig geweiht. Nur vier
Tage später erfolgt die Weihe der Schinkel-Kirche vor dem
Rosenthaler Tor, die den Namen St. Elisabeth erhält.
30.Juni 1740 (275): Im Verlag des Buch-händlers Ambrosius Haude
erscheint die erste Nummer der „Berlinischen Nach-
richten von Staats- und gelehrten Sa-chen“. Das Blatt erhielt
später den Na-men „Spenersche Zeitung“. In dieser
Preußischen Tradition gibt die Preußische Gesellschaft
Berlin-Brandenburg ab Juni 1997 die Publi-kation „Preußische
Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen“ heraus, die jetzt als
monatli-cher Rundbrief erscheint.
In preußischer Tradition - das Monatsblatt der Preußischen
Gesellschaft Berlin-Brandenburg
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Preußische Monatsbriefe
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Beilage „100 Jahre Erster Weltkrieg“ (Teil XVI)
„Ein Soldat muss mit dem Leben nach außen abgeschlossen
haben“
Aus dem einzigartigen Tagebuch eines jungen Musketiers im Ersten
Weltkrieg Robert Johnscher ist einer von 70 Millionen junger
Männer, die zwischen 1914 und 1918 in Europa, dem Nahen Osten, in
Afrika, Ostasien und auf den Weltmeeren unter Waffen standen, einer
von etwa 20 Millionen, die den Ersten Welt-krieg verwundet
überlebten – etwa zehn Millionen blieben „im Felde“. Er hatte sich
in Berlin als 18-jähriger zu Beginn des zweiten Kriegsjahres
freiwillig gemeldet. Der junge Mann ging gesund als Musketier in
den Krieg für Gott, Kai-ser und Vaterland und beendete ihn mit
einer Kopfschuss-Verletzung als Zugführer im Range eines
Vizefeldwebels mit Leutnantsbefugnissen. Auskunft über sein
Schicksal in den Jahren des Weltbrandes gibt sein erhalten
gebliebenes Ta-gebuch. Er führte es vom ersten bis zum letzten Tag
seines Soldatenlebens. Wir setzen heute den Abdruck von Passa-gen
aus dem Tagebuch von Robert Johnscher fort. (Teil 1 finden Sie in
der Märzausgabe 2014 der Preußischen Monatsbriefe – siehe Seite 1
unter Archiv!)
۩ 16. September 1917
Außer den üblichen Appells auch sonstige Beschäftigungen wie
z.B. Quartierausbau. Vor den sonsti-gen Beschäftigungen drücke ich
mich so gut es geht und benutze die dadurch gewonnene Zeit, Post zu
schreiben, Bohnen zu sammeln und für sonstige „Privatvergnügen“. So
sandte ich im Laufe dieser Tage an Fritz zwei Pfund Bohnen, an
Mutter vier Pfund Bohnen und Nüsse und noch ein Pfund große Bohnen.
Post erhalte ich sehr wenig. – Mutter warnt mich immer vor dem
vielen Obstgenuss: Wenn sie wüss-te, was wir hier an Pflaumen,
Weintrauben, Nüssen, Tomaten, Gurken und wieder Pflaumen verzeh-ren
- enorme Mengen, mit deren Vertilgung man gewöhnlich in aller
Herrgottsfrühe mit nüchternem Magen beginnt – , dann würde sie wohl
erschreckt die Hände zusammenschlagen. Aber es ist dem so, wir
essen unheimlich viel Obst. Trotzdem fühle ich mich gottlob wohl:
Stuhlgang und Verdauung normal und Appetit enorm – also beste
Gesundheit. Allerdings, das gebe ich gern zu: Früher hätte ich
derartige Mengen an Obst nicht vertilgen dürfen. Aber heute als
Soldat…Ich sehe nur dies: Ein Solda-tenmagen verträgt kolossal
viel.
Robert Johnscher
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Preußische Monatsbriefe
12
Ein praktisches Beispiel: In 24 Stunden verschmieren wir zu drei
Mann einen Zwei-Liter-Topf Pflau-menmus! Pflaumenmus ist leicht
herzustellen, und infolge des großen Zuckergehaltes bedürfen wir
keines Zuckers. Seit langer Zeit hatten wir heute ein gutes
Mittagessen: Ein Pfund Kartoffeln, dazu Kraftbrühe mit Rindfleisch,
Tomaten und Zwiebeln. Als Nachtisch – Pflaumenmus! Heia, wie gut
doch so eine Kartof-fel schmeckt. Das war endlich mal ein gutes
Sonntagsessen, zumal wir es uns selbst zubereitet hat-ten. Mit dem
guten Wetter ist es vorbei. – Die Hitze am Tage erreicht nur noch
in den Mittagsstunden ihre alte Höhe, sonst ist sie erträglich.
Nachts ist es jetzt ungemein kalt. So ist denn der rumänische
Herbst plötzlich am 1. September eingezogen. Noch zeigt die
Vegetation keinerlei Veränderung, überall ein tiefes Grün, aber
lange wird es nicht mehr anhalten. Ende Oktober / Anfang November
zieht wohl auch hier die Natur ihr Herbstkleid an. Wie in allen
heißen Gegenden so auch hier der krasse Unterschied: heißer Tag –
kalte Nacht! Fritz musste sich am 15.September bei 32ern
(Meiningen) stellen. Nun sind wir wieder alle drei Brü-der Soldat.
Obwohl er krank und schwach geworden ist, zum Soldatenberuf hat man
ihn nun doch wieder geholt. Ein Jammer mit diesem nicht enden
wollenden Krieg. Natürlich haben nun meine El-tern wieder eine
Sorge mehr.
17. September 1917 Nachts um ½ 12 Uhr wurden wir hochgeholt, wir
(d.h. nur 28 Mann) kamen zu den 7ern in Reserve. So zogen wir denn
abermals um. Jetzt liegen wir wieder in Erdlöchern, die allerdings
ca. vier Meter tief in die Erde hinein getrieben sind. Die
restlichen drei Gruppen liegen in Häusern. Wir zogen jedoch nur ca.
300 Meter weiter nach links, befinden uns also immer noch in
Stroani. So hat man uns um die restlichen Ruhetage endgültig
betrogen.
Generalfeldmarschall Mackensen (2.v.r.) bei deutschen
Truppen
Wieder einmal spukt das viel gerügte Besichtigungsunwesen bei
uns. Generalfeldmarschall Macken-sen wird in den nächsten Tagen
Abordnungen der Truppen besichtigen, die an den letzten hiesigen
Kämpfen teilgenommen haben. Deshalb finden überall Verschiebungen
statt. Ausgerechnet die müssen zur Besichtigung, deren Mannschaften
(Leute) das Eiserne Kreuz haben! Na, ich könnte da noch mehr Humbug
erzählen.
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Preußische Monatsbriefe
13
19. September 1917 „Die Bewegungen sind hier zum Stehen
gekommen, es wird Winterstellung bezogen!“ so lautet der heutige
O.K.M.-Befehl. Damit wird uns auch amtlich, dass es vorläufig von
hier nicht mehr weiter geht. Am 17. und 18. September hatten wir
heftiges Artilleriefeuer bei Muncelul. Einmal wurden wir be-reits
alarmiert. Gottlob blinder Alarm Russki hat links bei den 7ern
angegriffen. Truppenansammlun-gen sind in unserem Abschnitt
vorgetäuscht worden. Heute wurde ich mit verschiedenen Kameraden
endlich zum überzähligen Gefreiten ernannt. Beson-dere Freude
empfinde ich nicht, denn seit März 1916 Soldat, seit Juli 1916 im
Felde ist es wohl nicht zu früh, wenn ich endlich Gefreiter
geworden bin. Na, das ist ein Kapitel für sich. Oberjäger Eggers
ist Vizefeldwebel geworden. Verschiedene „Eiserne“ gab’s auch. Na,
die übliche Schiebung auch hier deutlich erkennbar. Bisher sind wir
jede Nacht von 12 bis 4 Uhr zum Drahtziehen vorn gewesen. Bei
dieser nicht unge-fährlichen Arbeit leiden die „Lumpen“ furchtbar.
Überhaupt ist Drahtziehen wenig angenehm und vor allem sehr
aufregend. Am Tage haben wir Ruhe, nur 50 Drahtverhaupfähle müssen
wir machen. Also haben wir im Allgemeinen hier in Reserve mehr Ruhe
als in „Ruhe!“ O Ironie! Wie bereits gesagt, liegen wir in Bunkern.
Wenn nur die verdammten Flöhe nicht wären. Die lassen einen
überhaupt nicht schlafen. Ich fing gestern z.B. über 20 Stück.
Alles Erdflöhe! Schreckliche Plage. Der ganze Körper ist zerbissen
und zerkratzt. Heute ist wieder eine Urlaubsliste aufgenommen
worden, und zwar kommen alle die Leute in Be-tracht, die über ein
Jahr ohne Urlaub im Felde sind! Na, 15 Monate ohne Urlaub, 14
Monate im Fel-de, hätte ich ja auch Anspruch auf die Liste zu
kommen. Ich bedaure wirklich, dass ich die bereits aufgestellten
Listen nicht gezählt habe, auf die ich nicht gekommen bin.
21. September 1917 In der Nacht vom 20. zum 21.September lösten
wir die 7er ab und liegen nun gleich rechts von Muncelul in
Stellung. Außer Drahtverhau ist in der Stellung noch nichts
gemacht, so dass wir aller-hand zu arbeiten haben. Merkwürdig, dass
wir 9er stets in schlecht ausgebaute Stellungen kommen. Auf Höhe
332 hatten wir den Graben fertig ausgehoben, bereits Stollen
angefangen und kommen nun weiter nach links. Diese verdammte hin-
und her Schieberei! Nun hockt man wieder den ganzen lieben Tag in
seinem engen Erdloch. Übrigens ist gestern Ersatz aus Ratzeburg
gekommen. Viele bekannte Gesichter sind dabei. Wir sind mit 86
Gewehren in Stellung. Morgen sollen fürs Bataillon nochmals 150
Mann Ersatz kommen. Alles wundert sich, dass wir noch nicht auf
Urlaub gewesen sind. S.M. der Kaiser ist am 21.September in
Rumänien eingetroffen. Nachdem er in Curtea de Arges einen Kranz am
Sarge des rumänischen Königspaares Carol I. niedergelegt hatte,
fuhr S.M. noch am Abend an die Front. Seine Majestät erscheint zum
ersten Mal auf dem Balkankriegsschauplatz! Da wird’s auch
verschie-dene „Eiserne“ geben. Oberlt. Dan das E.K. I. Klasse. Das
hätte unser Oberleutnant ehrlich verdient. Aber sonst wird wieder
viel „geschoben“. Ich rede nicht gern davon, heißt es dann doch
gewöhnlich, man ist neidisch. Aber tolle Schiebung wird dabei
gemacht, namentlich werden stets die Burschen-
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Preußische Monatsbriefe
14
herrlichkeit und sonstige Drückeberger vorgezogen. Das ist ein
hässlicher Zug, der wohl im ganzen deutschen Heere zu finden ist.
Der Heeresbericht vom 18. und 19.September bestätigt meine Notizen
vollauf mit den lakonischen Worten: „Bei der Heeresgruppe v.
Mackensen blieben rumänische Angriffe bei Muncelul erfolglos“.
Wieder sind zwei Mann auf Urlaub gefahren. Nun sind noch höchstens
12 bis 15 Mann fällig, darun-ter auch ich. Verdammt, das wäre eine
Freude!
Kaiser Wilhelm II. (auf dem Podest 2.v.l.) und
Generalfeldmarschall Mackensen
(oben rechts) besichtigen eroberte Erdölfelder in Rumänien
22. September 1917 Die Nachrichten aus der Heimat treffen seit 1
½ Monaten spärlich ein. Drei bis vier Tage bin ich jetzt gewöhnlich
ohne Post und komme so um die einzige Freude, auf die man
tatsächlich wartet, täglich hofft! Ich gebe gern zu, dass auch ich
mit dem Schreiben nachgelassen habe, aber mir fehlt es tat-sächlich
oft an Zeit und Gelegenheit. Man darf doch nicht vergessen, dass
bei uns der Dienst alles andere rücksichtslos beiseiteschiebt.
Vergesse man auch nie, dass die Heimat mehr und mehr fremd wird,
Angehörige hat man lange, lan-ge nicht mehr gesehen, man entfremdet
sich! Umso lebhafter muss also der schriftliche Gedanken-austausch
sein. Worte wie Elternhaus, Tisch, Stuhl, Bett, Gabel und hundert
andere Dinge kennt man nur noch der Erinnerung nach, und kommt man
einst heim, so wird man diese Dinge erst mit einer gewissen Scheu
betrachten und betasten. Heute sind vier Mann auf Urlaub gefahren.
Hurra! Meine Hoffnung steigt. Ich rechne mit Monat November. Der
zweite Ersatz ist auch angekommen. Stammt zum größten Teil aus
Baden und ist meist Jahrgang 98. Was man jetzt zusammenschläft, das
ist enorm, das ist schon anormal, das ist ungesund.
Durch-schnittlich schlafe ich jetzt Tags von ½ 6 Uhr bis ½ 3 Uhr
also rund 9 Stunden, oft noch mehr. – Von Erquickung kann natürlich
nicht die Rede sein, im Gegenteil, wacht man auf, dann ist einem
zumute, als hätte man eben ein böses Fieber überstanden: schlapp
und Schädelweh! Die Verpflegung ist zurzeit schlechter denn je. Den
Kaffee und gar erst den Tee kann man von ge-kochtem Wasser nicht
unterscheiden. Im Essen fehlt das einfachste Gewürz nämlich:
Salz.
27. September 1917 Unser Dienst ist jetzt nachts: 2 ½ Stunde
Posten stehen und 6 Stunden Arbeit! - Heute wird Rudolf Lorenzen
eingesegnet. Ich glaube gerade ihm die Worte zurufen zu müssen, in
denen es heißt: „Willst
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Preußische Monatsbriefe
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Gutes du und Schönes schaffen, musst du dich ernst
zusammenraffen und darfst nicht scheuen der Arbeit Schwere, da
hilft kein Schwärmen bloß und hoffen, kein Traum von künftiger
Entfaltung, nein, ringen musst du mit den Stoffen und stark sie
zwingen zur Entfaltung!“ Möge Rudolf diese Worte beherzigen und
möge ihm ein glückliches Dasein beschieden sein. Schon den ganzen
Tag „stänkert“ unsere Artillerie. Die Antwort bleibt auch nicht
aus. So schlug eben eine Granate ca. drei bis vier Meter hinter
meinem Loch ein. Staub und Dreck habe ich da geschluckt, das
Trommelfell tat weh. Aber – ich habe gottlob weiter keinen Schaden
genommen. Aber unser Zorn auf unsere Artillerie steigt, die gar
keine Ruhe geben kann! Der Russe ist hier anständig, nur unsere
Artillerie muss dauernd schießen!
28. September 1917 Gestern Abend ½ 8 Uhr zog ich mit fünf Mann
auf Feldwache. 24 Stunden auf Feldwache! Als Gefrei-ter muss ich
den Wachthabenden markieren. Dazu sind die Gefreiten gerade gut.
Die Löcher der Feldwache sind furchtbar eng und niedrig – überhaupt
schlecht ausgebaut. Ich sitze am Telephon und kritzele meine
Tagebuch-Notizen. Noch vier Stunden, dann kommt die Ablösung.
Robert Johnscher beklagt, dass viele getötete
Soldaten nicht bestattet werden – wie diese gefallenen
russischen Soldaten
Gleich fünf Schritte links von uns kommt ein alter russischer
Graben hoch. Dieser liegt voll russischer Toten, halb mit Erde
zugedeckt, stellenweise ganz bloß, bietet sich hier ein grässliches
Bild. Zu dreien, vieren übereinander, hier ein Fuß, dort Kopf und
Hand, da ein blutig zerrissener Rumpf, einer in lie-gender, ein
anderer in gebückter Stellung. Furchtbar und entsetzlich anzusehen.
Bis ins Innere er-schauernd, wende ich mich bestürzt und erschreckt
ab, kehre eiligst zu meinen Leuten zurück. Im rechten
Nachbargelände - keine zehn Schritte von unseren Löchern entfernt -
läuft eine Kette russisch-spanischer Reiter parallel dem Graben.
Auch hier und dahinter Tote. Schrecklich anzusehen im Mondenschein
– aber doch nicht gar so erschreckend wie in dem Graben. Der
Gestank dieser To-ten ist grässlich. Namentlich am Tage, wenn die
Sonne auf die armen Kerls scheint, kann man es vor lauter
Leichengeruch kaum aushalten. Den ganzen Tag vermag ich nichts zu
essen – der Gestank – das blutige Bild – es ekelt mich an. Hier ist
die Stelle, wo die Russen so furchtbare Verluste erlitten, als
unsere Truppen Muncelul nachhart-näckigem Kampfe nahmen. Zwölf
russisch-rumänische Sturmkolonnen standen in der vor uns liegen-den
Schlucht. Die Unsrigen überraschten sie dabei und setzten 1 000
Minen dazwischen. Die Wirkung war ungeheuer. Nur wenige von diesen
Sturmkolonnen sind mit dem Leben davongekommen. Wei-nend und
zerstört kamen sie die Schlucht heraufgestürzt, um sich den
Deutschen zu ergeben. – Furchtbar!
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In der Schlucht soll das Bild noch entsetzlicher. Auch dort
liegen entsetzlich verstümmelte Leichen unbestattet und geben ein
grässliches Bild jener blutigen Tage bei Muncelul wieder! Zum Teil
tragen die Toten auch Gasmasken. Sie sind die Opfer unseres
Gasangriffes vom 28./29.September. Unsere Artillerie hatte außer
Gas auch mit Blausäure geschossen. Gegen Blausäure schützt keine
Gasmaske, daher die vielen Toten mit Gasmasken. Ich kann nur immer
wiederholen, das gemeinste – das un-menschlichste ist ein Angriff
mit Gas und Flammenwerfern!
30. September 1917 Am 22.September war Besichtigung bei Focsani
durch S.M. Oberlt. Dan hat das E.K.I. Klasse leider nicht erhalten.
Jede Nacht haben wir sechs Stunden Arbeitszeit (außer 2 ½ Stunden
Postenstehen) und müssen in dieser Zeit pro Mann 3 mal 2 Meter, 30
Zentimeter tief, Erde ausheben, also rund 1,8 cbm. In diesem harten
Boden allerhand Arbeit.
2. Oktober 1917 Hauptmann Schneider hat sich beim Regiment über
die schlechte Stimmung im Batl. beschwert, die namentlich auf wenig
Urlaub und schlechte Verpflegung zurückzuführen sei. Auch im
Hintergelände liegen noch viele Leichen. – Ein furchtbarer Anblick!
Das ist das Schicksal „Vermisst“. Wieder ein Beweis, wie wenig
unsere sanitären Mittel ausreichen, denn warum werden die armen
Kerle nicht begraben? Wozu ist die Sanitätskompanie da? Schlimmer
als ein Hund, das ist das Los dieser armen Gefallenen!
Heiß ersehnt, lang drauf gewartet – Robert Johnschers
Urlaubsschein
Oberjäger Kegelmann und Walter Rössner sind nach Ploesti
abkommandiert! (Dreyser Gewehr) Infol-gedessen übernahm ich die
Gruppe. Gegen 8 Uhr trafen wir in der Stellung ein. „Gefreiter
Johnscher“ – „Hier“ „Sie fahren nach Deutschland“ so sagt mir
Feldwebel Damman . „Deutschland, ja, was soll ich denn da?“ –
„Urlaub“ lautete die lakonische Antwort, die mich ganz aus dem
Häuschen bringt. Hurra – endlich – nach 15 Monaten auf nach
Deutschland! Urlaub vom 5. Oktober bis 27. Oktober einschließlich!
(14 Tage ohne Fahrt)
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Preußische Monatsbriefe
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3. Oktober 1917 Entlausung in Valeni, abends 8 Uhr Geld und
Papiere empfangen!
4. Oktober 1917 5 Uhr los nach Savi 10 Uhr dort ab mit Wagen
nach Bolotesti (alte Erinnerungen) Wieder Zivil in Bo-lotesti, mit
Motorbahn nach Odobesti gefahren. 50 Pfund Mehl a 10 Pfennig.
Hurra! Mit Güterzug ab Odobesti nach Focsani ½ 7 Uhr dort selbst
Ankunft. Nettes sauberes Städtchen.
5. Oktober 1917 Abenteuerliche Fahrt nach Hause. Einige
Stationen: Craiova (dort Eier für Tabak eingeschachert), Ploesti,
Craiova, Lugos, Steinburg bei Budapest, Liptowar, Oppeln, Oderberg,
Berlin Ankunft abends ½ 10 Uhr Schlesischer Bahnhof. 50 Pfund Mehl
5,- M, 2 Kilo Kaffee 11,20 M, 1 Kilo Seife 8,96 M = 25,16 M. Höre
plötzlich: Urlaub bis April 1918 gesperrt. – War also höchste
Eisenbahn!
10. November 1917 Erst heute komme ich dazu, wieder einiges in
meinem Tagebüchlein zu vermerken, zu schreiben wie es mir seit dem
3. Oktober ergangen ist. Ein voller Monat ist vorüber, und doch
vergingen gerade diese Tage, die schönsten meines bisherigen
Soldatenlebens, wie im Fluge. Schön war der Urlaub, unbeschreibbar
schön. Mir erscheint alles wie ein Traum. Und das Erwachen, als ich
wieder an die Front fahren musste, als ich wieder bei der Kompanie
an-langte, wieder im Graben stand, Wind und Wetter, Granat- und
Gewehrfeuer ausgesetzt war. Da – o da kam eine heiße Sehnsucht über
mich: „Könnte ich doch daheim bei meinen lieben Eltern sein!“ Erst
jetzt wurde es mir so recht bewusst, wie ungemein krass doch der
Unterschied zwischen dem Leben daheim und dem hiesigen Hundeleben
ist! Während des Urlaubes und auch noch nicht bei dem Abschied
erkannte ich dies klar – aber jetzt! Meine „Sauerbierstimmung“ kann
sich wohl jeder leicht vorstellen. „Heimat, o Heimat du des Lebens
Wurzelgrund, dies selige an dich gebunden sein. Und locke tausend
Wege in die Welt, der hellste lenkt doch in die Heimat ein. Ach,
hätten wir es gut im fremden Land und blinkte Gold es viel aus
Schrank und Truh, wir wünschten nur den einen Weg zu gehen wär’s
auch als Bettler im zerrissenen Schuh“.
Links: Fronturlauber staunen über die neue Mode in Berlin
Rechts: Feldgraue müssten auch im Urlaub vom Tod „Männchen“
machen
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Preußische Monatsbriefe
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Und doch muss es sein, nicht sentimental werden, nein, hart und
fest bleiben, fest ausharren muss ich jetzt – aber es ist so
schwer, sehr schwer! So will ich es denn auch weiter versuchen, und
reißen alle Stränge, dann muss ich mir nach dem Re-zept unserer
„Einjährigen-Zeitung“ eine Schachtel „Humor“ kaufen. So, so ist’s
recht, nur nicht klagen, immer Humor, mutig aushalten und auf ein
glückliches Ende fest vertrauen. Über die einzelnen Urlaubstage
selbst möchte ich mich hier nicht auslassen, viel habe ich erlebt,
ken-nen gelernt. Von meinen lieben Eltern mehr als herzlich
aufgenommen, überreichlich bewirtet (na-türlich über dem Etat), hat
es mir daheim sehr gut gefallen, habe ich mich dort wohl gefühlt
und be-sitze auch heute nur noch den einzigen Wunsch, recht bald
für immer gesund daheim weilen und mit meinen lieben Eltern noch
recht glückliche Jahre verleben zu dürfen. Nur der Gedanke, es
könnte anders kommen, vergällte mir öfter die Freude – aber Kopf
hoch und das Beste hoffen! Auch von allen Bekannten wurde ich sehr
nett aufgenommen. Für später ist es schließlich ganz interessant,
einiges über die Berliner Verhältnisse zu erzählen. Ich bediene
mich am besten eines Briefes, in dem mein lieber Vater ganz
treffend folgendes schreibt:
Die Heimat hungerte und hoffte, daß ihre Frontsoldaten (wie der
rechts abgebildete) üppig was zum Essen mitbringen werden. Doch die
Feldgrauen darbten auch. Fette Beute machten andere… „Wir sind
froh, dass Du uns etwas schickst, damit wir im Winter etwas Vorrat
haben, da es jedenfalls mit Gemüseversorgung sehr schlecht
ausfallen wird, denn so gut die Beschlagnahme und die Ratio-nierung
sich auf dem Papier macht, so schlecht wird sie in der Tat
ausgeführt. Die Ehrlichkeit geht
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Preußische Monatsbriefe
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dabei in die Brüche. Fleisch bekommen wir 250 Gramm wöchentlich,
Butter, welche meistens ranzig ist, 30 Gramm die Woche, 1 Ei alle
14 Tage. Fett überhaupt nicht, Wurst ½ Pfund alle 14 Tage, Mehl gar
nicht, da das Brot sonst nicht reichen würde, und Milch bekommen
wir überhaupt nicht, außer es gibt uns aus Gefälligkeit und nur
verstohlen einmal der Milchhändler ½ Quart ab. Kaffee aus Rüben
oder etwas Gerste, keine Graupen, kein Reis, kein Gries – Weißbrot
gibt’s schon längst nicht mehr – ebenso wenig Kuchen, Brot schmeckt
dumpfig. – höchstens also: Kartoffeln, Marmelade, gelbe Rü-ben,
etwas Weiß- oder Rotkohl – aber zu welchem Preise! Kurz – wir
müssen hungern und darben, dass man sich nicht mehr des Lebens
freuen kann, weil man andererseits wieder sehen muss, wie Leute,
die genug Geld haben, noch manches „hintenrum“ erhal-ten, was zur
besseren Lebensweise gehört. Die Stimmung im Volke (nicht in den
oberen Klassen!) ist daher schwer gereizt und für die Regierung
nicht sehr günstig, während das größte Bedauern mit unseren lieben
Feldgrauen auch durchbricht, welche sich ebenso durch Not und
Gefahr ihr Dasein vergällen müssen. Aber einmal muss diese
wahnsinnige Raserei doch ein Ende nehmen, und wir dürfen darum die
Hoffnung nicht sinken lassen, dass wir unsere Lieben doch noch im
Frieden sehen werden, um ein lebenswertes Dasein zu suchen. Du
wirst auch dann die Annehmlichkeiten eines Haushaltes, sei er noch
so bescheiden, wieder schät-zen lernen und manches gern entbehren,
was früher so nötig zum Leben schien. Wir werden hoffent-lich
wieder einfacher zu leben nicht als minderwertige unanständige
Lebensart betrachten, wie vor dem Kriege. Dennoch gibt es hier
immer noch genug Menschen (namentlich im Westen Berlins), wel-che
eine Nagelbürste und ein Polierholz für Fußnägel noch nötiger
finden als ein kräftiges Butterbrot, weil sie die Not nicht kennen
lernten.“ Auch einiges aus dem Brief von meinem Leidensgenossen
Nauke. Er schreibt mir u.a.: „Nun werde ich Dir mal ein bisschen
die Verhältnisse in Berlin schildern. Wenn man denkt, sich ein
bisschen unterhal-ten zu können und man geht irgendwohin, bums,
kann man sicher sein, wenn man sich verspätet, per Beene nach Hause
zu loofen. Ich musste zweimal von Neukölln nach Steglitz zu Fuß
walzen. Auch sonst kaum was los. Überall wo man hinschaut, stößt
man auf Kriegsanleihe-Reklame. Die Ohren werden dauernd mit der
Frage bestürmt: „Wann geht der Krieg zu Ende?“ Geht man in Zivil,
folgen einem alle Augen, als wenn sie sagen wollten: Warum ist der
nicht Soldat? Na, ich kann dir sagen, eine Aufmachung zum
Besch...“
24. Oktober 1917 6 Uhr früh fuhr ich vom Görlitzer Bahnhof ab.
Meine Eltern und Frl. Marga Lorenzen gaben wir das Abschiedsgeleit.
Lasst mich über den Abschied schweigen. Viel könnte ich auch über
die Fahrt berich-ten, über die schönen Länder und Städte, aber es
müssen Stichwörter genügen Berlin, Görlitz, Bres-lau, Oderberg,
Liptowar, Temesvar, Pitesteti, Bukarest und schließlich am
28.Oktober 1917um ½ 5 Uhr früh an in Focsani.
Der Bahnhof von Focsani – Postkarte von Robert Johnscher
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Preußische Monatsbriefe
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Herrliche landschaftliche Gegenden habe ich durchfahren, am
„Eisernen Tor“ unbeschreiblich schön und eindrucksvoll. Gerade in
der Walachei (kleine Walachei) reiht sich ein prächtiges Bild an
das an-dere. Die herbstliche Jahreszeit hat hier die schönsten und
angenehmsten Farben gezeitigt. Die herr-lichen Laubwälder, die sich
unterhalb der Alpinen-Region der Transsilvanischen Alpen an die
Berg-halden und weiter unten an die Abhänge des Hügellandes
anschmiegen, stehen in leuchtender Pracht unter den dunklen Tannen-
und Fichtenwäldern. Ist doch gerade der rumänische Laubwald
bemerkenswert durch die Mannigfaltigkeit der Baumgattungen. Und in
dem Dickicht dorniger Sträu-cher und armseligen Knieholzes, das
Schaf- und Ziegenherden am Fuße des Hügellandes eine Weide bietet,
schimmern die herrlichen Früchte des Sanddorns neben den roten
Hagebutten und den tief-schwarzen Fruchtständen des Ligusters. Der
Pflug hat den fetten Boden aufgerissen – ein dunkler grauer Ton
drängt sich so in dieselbe Landschaft ein. Die Karpatenflüsse, die
sich in den Bergen durch Felsenschluchten und Felsentrümmer
brausend im weiten Bett einen Weg suchen, fließen nun in der Ebene
langsam und sittsam dahin, und ihr niederer Wasserstand lässt große
Lössbänke und Geröll-schichten zu Tage treten. Grünumsäumte
Bauernsiedlungen sonnen sich im milden Herbststrahl. Auf der
staubbedeckten Landstraße führen die Bauern in ihrer kleidsamen
Tracht auf Ochsen- und Pfer-degespannen in malerischem Zug die
Ernte nach der Stadt. Doch halt, ich wollte ja hierüber keine Worte
verlieren. – Also in Focsani angekommen, hätten wir um 8 Uhr gleich
nach Odobesti weiterfahren können, doch zogen wir es vor, uns erst
Focsani näher anzusehen, uns an „Schmalzkuchen“ zu laben usw. kurz
noch einen vergnügten Sonntag zu machen. Ich kaufte noch 5
Kilogramm Kaffee (a 5,60 M) ein und schickte selbigen in der extra
von daheim mitgebrachten Kiste heim. Focsani ist ein nettes –
teilweise ganz sauberes Städtchen. Um ½ 4 Uhr fuhren wir endlich
mit einem Güterzug nach Odobesti, Höhe 1001 (= Magnara-Odobesti)
kam bald in Sicht, wir waren angelangt zu unserem größten
Missvergnügen. Unsere Stimmung unbe-schreiblich schlecht. Heute vor
acht Tagen noch daheim und jetzt… In der Versprengten-Sammelstelle
fanden wir Quartier und Verpflegung. Am Abend gingen wir ins Kino.
Die lustigen Stücke und der nachher zu Gemüte geführte gute Wein
heiterten uns gottlob wie-der auf. – Wir tauschten
Urlaubserinnerungen aus und glaubten uns fast daheim. – „Tanze –
tanze, du grüner Tor“.
29. Oktober 1917 Wir fuhren mit einem hochbeladenen „Mehlauto“
bis nach Sarvi. Nachmittags machten wir uns nach Stroani auf,
mussten aber in Veleni Halt machen, weil uns die Dunkelheit
überrascht hatte. Rasch ein gutes Abendbrot – das wir Dank der
elterlichen Fürsorge bei uns hatten – und dann aber geschlafen.
Heute vor 8 – vor 14 Tagen – o ja!
30. Oktober 1917 In aller Frühe langten wir in unserem alten
wohlbekannten Stroani an, empfingen Gewehr, Gasmaske und Patronen
und stiefelten zwei Stunden später nach Iresti weiter, wo wir am
Abend todmüde an-langten. Ein anständiger Marsch über Berg und Tal
– 30 km – na ich danke. „Tanze, tanze, du armer Tor.” Am nächsten
Morgen des 31. Oktober gingen wir mit der Küche in Stellung – unser
Ziel war erreicht!
3. November 1917 Plötzlich wurde unser Regiment in Stroani
abgelöst und musste den schwierigen Gebirgsmarsch nach Iresti
antreten. Unser Batl. kam hier in Stellung und sollte stürmen!
Schon während der Rückfahrt erfuhren wir diese wenig angenehme
Nachricht. – „Höhe stürmen“ - - schlechte Aussichten. Der Sturm war
bereits mehrere Male angesetzt gewesen, aber wieder verschoben
worden. Dann wurde er schließlich ganz aufgegeben, da der Plan
durch Überläufer unsererseits verraten worden war! So
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Preußische Monatsbriefe
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kamen meine Kameraden gottlob um den Sturm. Unser Oberleutnant
soll sich allerdings darüber geärgert haben. Na, da kann man denken
was man will – ich danke jedenfalls.
6. November 1917 Wir hatten Kirchgang und empfingen die Heilige
Kommunion. Wollsachen, d.h. Unterjacke, Knie- und Pulswärmer,
Handschuhe, Strümpfe und Kopfschoner hat es gegeben. Infolge
Kerenski’s Sturz schwirren hier die tollsten
„Latrinen“-Friedensgerüchte herum. – Abwarten!
Alexander Fjodorowitsch Kerenski 1917 vor russischen
Frontsoldaten. Er war
zeitweise Chef der Übergangsregierung zwischen Februar- und
Oktoberrevolution im Jahr 1917 in Russland. Sein Sturz löste
Gerüchte über einen bevorstehenden Frieden aus. Er starb 1970 in
New York. Die dortige russisch-orthodoxe Kirche
verweigerte ihm ein christliches Begräbnis, da sie ihn dafür
verantwortlich machte, dass sich in Russland der Kommunismus
etablierte. Der Leichnam Kerenskis wurde daraufhin nach London
überführt, wo er auf dem Friedhof Putney Vale Cemetery
beerdigt wurde.
10. November 1917 Ich wurde in die Küchenkommission gewählt.
Somit habe ich sämtliche Beschwerden über Verpfle-gung entgegen zu
nehmen und weiterzuleiten. Na, hinter die Kulissen lassen sich die
„Küchenhengs-te“ doch nicht sehen. Abends ging es in die hiesige
Stellung, die wir bereits im September innehatten. Der Graben ist
inzwi-schen fertig geworden, nur an den Unterständen muss noch
gearbeitet werden. So hockt denn die halbe Kompanie teilweise in
noch recht bösen Löchern, Kälte und Wetter preisgegeben. Na,
hoffent-lich hat der ganze Schwindel bald ein Ende. In letzten
Tagen hat sich das Essen etwas gebessert. Aber es ist alles zu
wenig, namentlich Brot ist arg knapp. Ich helfe mir mit Mutters
vorzüglicher Maggi-Suppenwürfel aus.
16. November 1917 Ich hocke bereits seit gestern Abend auf
Feldwache als Wachthabender. Na, diese kalten Beine und dazu der
Schnupfen. Trotzdem bin ich wohlauf und denke heimwärts. – Halt
lieber Junge, du willst schon wieder klagen? Gibt’s nicht! Dienst
wie üblich, sogar exerziert haben wir. Der reinste Hohn, drei
Kilometer hinter der Front! Stroani liegt täglich unter
„Strichfeuer“. Am 7. November beklagten wir zwei Tote, zwei Schwer-
und einen Leichtverwundeten. – Ruhequartier! „Tanze, tanze, du
armer Tor”.
(Wird fortgesetzt)
-
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Impressum:
CHEFREFDAKTEUR (V.I.S.D.P.): PETER MUGAY; ( 0173 7089448 );
[email protected];
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