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„Ideokratie“ – eine begriffsgeschichtliche Skizze Uwe Backes I. Einleitung Wer sich um eine wort - und begriffsgeschichtliche Erhellung der im Umfeld geis- tes - und humanwissenschaftlicher Debatten über „Totalitarismus“ und „politi- sche Religionen“ häufig anzutreffenden „Ideokratie“ - Vokabel bemüht, wird rasch feststellen, wie viele Autoren auf sie ohne nähere Kenntnisse ihrer Her- kunft und mannigfaltigen Verwendungsweisen zurückgreifen. Eine detaillierte Abhandlung dazu fehlt bislang, und auch die besten Kompositionen des aktuel- len Wissensstandes 1 zeigen bei näherer Prüfung große Lücken, sind ungenau und enthalten Annahmen und Feststellungen, die sich als fehlerhaft erweisen. Jaroslaw Piekalkiewicz und Alfred Wayne Penn, die mit ihrer Monographie aus dem Jahr 1995 erheblich zur Verbreitung des Ideokratiebegriffs in der angel- sächsischen Welt beitrugen, haben sich mit der Wort - und Begriffsgeschichte des von ihnen favorisierten Terminus offenkundig wenig beschäftigt. Sie hielten den konservativen russischen Philosophen und Kommunismuskritiker Nikolaj Berd- jaev für den Urheber des Begriffs, 2 bezogen sich auf die englische Ausgabe sei- nes Werkes „Die russische Idee“ aus dem Jahr 1947, erwähnten aber – dazu im Widerspruch – zugleich die englischen Sozialisten und Sozialwissenschaftler Beatrice und Sidney Webb, die in ihrem Buch über den Sowjetkommunismus Mitte der 1930er Jahre den Begriff „ideocracy“ 3 als eine Staatsformenbezeich- 1 Vgl. zuletzt Manuel Becker, Die Ideokratie als Herrschaftsform – Potentiale eines ver- gessenen Begriffs in der aktuellen Autokratieforschung. In : Zeitschrift für Politik, 58 (2011), S. 148–169. Der Verfasser nimmt sich von dieser Kritik selbst nicht aus. Siehe nur die knappen Angaben in : Uwe Backes, Was heißt Totalitarismus ? Zur Herrschafts- charakteristik eines extremen Autokratie - Typs. In : Katarzyna Stokłosa / Andrea Strü- bind ( Hg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Ger- hard Besier zum 60. Geburtstag, Göttingen 2007, S. 609–625. 2 Vgl. Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred Wayne Penn, Politics of Ideocracy, Albany, N.Y. 1995, S. 20. Die konzeptionelle Grundlage für den Band hatte Jaroslaw Piekalkiewicz viele Jahre zuvor in einem Beitrag zur Entwicklung des politischen Systems der Volks- republik Polen gelegt : ders., Polish Politics since the 1960’s. In : George W. Simmonds ( Hg.), Nationalism in the USSR and Eastern Europe in the Era of Breshnev and Kosygin, Detroit 1977, S. 364–373. 3 Sidney Webb / Beatrice Webb, Soviet Communism: A New Civilisation?, Band I, London 1935, S. 450.
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Backes Ideokratie

May 16, 2023

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„Ideokratie“ – eine begriffsgeschichtliche Skizze

Uwe Backes

I. Einleitung

Wer sich um eine wort - und begriffsgeschichtliche Erhellung der im Umfeld geis-tes - und humanwissenschaftlicher Debatten über „Totalitarismus“ und „politi-sche Religionen“ häufig anzutreffenden „Ideokratie“ - Vokabel bemüht, wirdrasch feststellen, wie viele Autoren auf sie ohne nähere Kenntnisse ihrer Her -kunft und mannigfaltigen Verwendungsweisen zurückgreifen. Eine detaillierteAbhandlung dazu fehlt bislang, und auch die besten Kompositionen des aktuel-len Wissensstandes1 zeigen bei näherer Prüfung große Lücken, sind ungenauund enthalten Annahmen und Feststellungen, die sich als fehlerhaft erweisen.

Jaroslaw Piekalkiewicz und Alfred Wayne Penn, die mit ihrer Monographieaus dem Jahr 1995 erheblich zur Verbreitung des Ideokratiebegriffs in der angel-sächsischen Welt beitrugen, haben sich mit der Wort - und Begriffsgeschichte desvon ihnen favorisierten Terminus offenkundig wenig beschäftigt. Sie hielten denkonservativen russischen Philosophen und Kommunismuskritiker Nikolaj Berd -jaev für den Urheber des Begriffs,2 bezogen sich auf die englische Ausgabe sei-nes Werkes „Die russische Idee“ aus dem Jahr 1947, erwähnten aber – dazu imWiderspruch – zugleich die englischen Sozialisten und SozialwissenschaftlerBeatrice und Sidney Webb, die in ihrem Buch über den SowjetkommunismusMitte der 1930er Jahre den Begriff „ideocracy“3 als eine Staatsformenbezeich -

1 Vgl. zuletzt Manuel Becker, Die Ideokratie als Herrschaftsform – Potentiale eines ver-gessenen Begriffs in der aktuellen Autokratieforschung. In : Zeitschrift für Politik, 58(2011), S. 148–169. Der Verfasser nimmt sich von dieser Kritik selbst nicht aus. Siehenur die knappen Angaben in : Uwe Backes, Was heißt Totalitarismus ? Zur Herrschafts -charakteristik eines extremen Autokratie - Typs. In : Katarzyna Stokłosa / Andrea Strü -bind ( Hg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Ger -hard Besier zum 60. Geburtstag, Göttingen 2007, S. 609–625.

2 Vgl. Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred Wayne Penn, Politics of Ideocracy, Albany, N.Y.1995, S. 20. Die konzeptionelle Grundlage für den Band hatte Jaroslaw Piekalkiewiczviele Jahre zuvor in einem Beitrag zur Entwicklung des politischen Systems der Volks -republik Polen gelegt : ders., Polish Politics since the 1960’s. In : George W. Simmonds( Hg.), Nationalism in the USSR and Eastern Europe in the Era of Breshnev andKosygin, Detroit 1977, S. 364–373.

3 Sidney Webb / Beatrice Webb, Soviet Communism : A New Civilisation ?, Band I, London1935, S. 450.

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nung neben anderen ins Spiel brachten, ohne ihn jedoch auf die – von ihnenmit einiger Sympathie beschriebene – Herrschaft der Bolschewiki anzuwenden.Zudem verwiesen sie auf Waldemar Gurians bekannten Vortrag über „Totali -tarianism as Political Religion“ aus dem Jahr 1953. In der Tat war der Begriffin der Kommunismusliteratur der Zwischenkriegszeit verbreitet. Aber seineUrsprünge führen viel weiter zurück : in die erste Hälfte des 19. Jahr hun derts,eine Epoche, die von den tektonischen Verschiebungen der politischen Morpho -logie Europas infolge der Französischen Revolution geprägt war und in welcherder revolutionäre Sozialismus als intellektuelle Strömung internationale Bedeu -tung zu erlangen begann.

Die begriffsgeschichtliche „Vorgeschichte“ der „Ideokratie“ im 19. Jahr hun -dert, die im ersten Abschnitt dieses Beitrags nachgezeichnet wird, ist für dasVerständnis des Totalitarismus im 20. Jahrhundert von einiger Bedeutung, bein-haltet sie doch die Auseinandersetzung mit „totalitären“ Ideologien und Bewe -gungen avant la lettre. Ohne Wissen um die eminente Rolle, die von ihnen aus-gehende Regimebildungen im 20. Jahrhundert spielen sollten, stellten dieAutoren historische Bezüge her, unternahmen Vergleiche mit mehr oder weni-ger kurzlebigen Herrschaftsformen der Vergangenheit und erkundeten geistigeDispositionen, die ihre Machtübernahme begünstigten. Die bei den Klassikernder Totalitarismusforschung vorherrschende Überzeugung von der Neuartigkeitder totalitären Regime wird auf diese Weise stark relativiert.4

Im 20. Jahrhundert reißt die Rezeption der ( überwiegend ) konservativen /liberalen Staatslehre eine Zeit lang ab. Wie im zweiten Abschnitt gezeigt wird,war die Ideokratiediskussion von den frühen 1920er Jahren an stark vom pro-grammatischen Ideokratiebegriff einer russischen Exilströmung, der Eurasier,geprägt, der anscheinend unabhängig von der Begriffsbildung der deutschenStaatslehrtradition entstand. Allerdings ist der „eurasische“ Terminus schonbald zu einer analytischen Kategorie „umgeschmiedet“ worden und hat so Ein -gang vor allem in die internationale Kommunismus - und Totalitarismusfor -schung gefunden.

Der dritte Abschnitt zeichnet die Verflechtungen von Ideokratie - , Totalitaris -mus - und Politischer - Religionen - Debatte für ihre Frühphase nach. Der sich ver-breitende Rezeptionsfluss seit Mitte der 1950er Jahre wird nur mit wenigenStrichen skizziert. Eine detaillierte Auseinandersetzung hätte den Rahmen desBeitrags gesprengt. Seine Befunde werden abschließend im vierten Abschnittzusammengetragen. Dies geschieht auch in der Hoffnung, dass sie zur Schär -fung der analytischen Potenzen des Ideokratiebegriffs beizutragen vermögen.

4 Vgl. Uwe Backes, Totalitarismus.Ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ? In : Eckhard Jesse( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung,2. Auflage Baden - Baden 1999, S. 341–353.

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II. Begriffsprägung und - verbreitung in der konservativen und liberalen Staatslehre des 19. Jahrhunderts

Das Wort „Ideokratie“ ist nicht als Selbstbezeichnung einer Bewegung odereines Regimes entstanden, sondern als normativ aufgeladene analytischeKategorie im Rahmen der Staatsformenlehre, die nicht zuletzt aufgrund eineroft turbulenten Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert en vogue war. DerBegriff transportierte die konservative und liberale Skepsis gegenüber großan-gelegten Staatsentwürfen und gleichsam auf dem Reißbrett entworfenen „Ideo -logien“, deren Realitätsferne als Bedrohung für das historisch Gewachsene undBewährte wahrgenommen wurde.5 Mit ihren abstrakten Prinzipien schienen siesich über wesentliche „Naturtatsachen“ hinwegzusetzen, Luftschlösser zu ent-werfen und die Menschen nicht zu den verheißenen Höhen zu führen, sondernim Gegenteil : in tiefstes Unglück zu stürzen.

Es war ein konservativer Historiker, Heinrich Leo, der die Bezeichnung„Ideokratie“ 1833 für solche Staaten einführte, in denen ein „Fanatismus“6 herr-sche. Leo gehörte zu jenen Intellektuellen seiner Generation, die den Weg vonder äußersten Linken zur Rechten gingen. Der Student hatte als Mitglied der„Unbedingten“ am radikal - aktivistischen Flügel der Burschenschaft begonnenund sich nach zeitweiliger Annäherung an Hegel ( dessen Fürsprache er seinenLehrstuhl in Halle verdankte ) auch unter dem Einfluss Ernst Ludwig vonGerlachs zum strenggläubigen Pietisten und Konservativen gewandelt,7 der den„künstlichen“ Theorien der Aufklärung die allein „naturgemäßen und gottgefäl-ligen“ Formen der christlich - abendländischen Tradition entgegensetzte. DieStaatslehre Leos lehnte sich kritisch an die Werke des Berner Patriziers CarlLudwig von Haller an, dessen „Restauration der Staatswissenschaft“ aus der„Opposition gegen die von Frankreich ausgehenden ideokratischen Lehren“8

erwachsen war und der Epoche ihren Namen geben sollte. Leo schätzte beson-ders Hallers frühes „Handbuch der allgemeinen Staatenkunde“ und übte Kritikan der später erschienenen „Restauration“ mit ihren verschwörungstheoreti-schen Verstiegenheiten, die er auf die klerikalen Kampfschriften des konserva-

5 Vgl. Ulrich Dierse, Ideologie. In : Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck(Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch - sozialen Spra -che in Deutschland, Band 3, Stuttgart 1982, S. 131–169, hier 143.

6 Vgl. Heinrich Leo, Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates, Halle 1833,S. 172.

7 Vgl. Carolyn Rebecca Henderson, Heinrich Leo. A Study in German Conservatism,Ph.D., The University of Wisconsin - Madison, 1977, S. 73–106; Paul Krägelin, HeinrichLeo. Teil I : Sein Leben und die Entwickelung seiner religiösen, politischen und histo ri -schen Anschauungen bis zur Höhe seines Mannesalters (1799–1844), Leipzig 1908, S.68–122; Hans - Christoph Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken undHandeln eines preußischen Altkonservativen, Erster Teilband, Göttingen 1994, S.138 f.; Christoph Freiherr von Maltzahn, Heinrich Leo (1799–1878). Ein politischesGelehrten leben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik, Göttingen1979, S. 65–68.

8 Leo, Studien und Skizzen, S. 45.

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tiven Jesuiten ( Abbé ) Augustin Barruel über den Jakobinismus und den radikal-egalitären Illuminatenorden ( des Kirchenrechtlers Adam Weishaupt in Ingol -stadt ) zurückführte. Zudem lehnte er Hallers implizite Gleichsetzung von his-torisch gewachsenem Sein und politischem Sollen entschieden ab.9 Dennochgriff sein Ideokratiekonzept wesentliche Elemente von Hallers „Priesterstaaten“auf, wie sie im „Handbuch“ entworfen und in der „Restauration“ breiter be -schrieben worden waren.10

Haller hatte kategorisch zwischen „Monarchien“ und „Republiken“ unter-schieden und die Monarchien wiederum – nach den Prinzipien / Kräften, die der„Oberherrschaft“ zugrunde lägen – in „patriarchalische“ („Ueberlegenheit anEigenthum oder äußern Glüksgütern“), „militärische“ ( Überlegenheit an„Tapferkeit oder Geschiklichkeit“) und „geistliche“ ( Überlegenheit an „Geistoder Wissenschaft“11) eingeteilt. Die „geistlichen Herrschaften“ oder „Priester -staaten“ beruhten auf „überlegener Weisheit, auf höherer Geisteskraft“ und ent-sprächen einem „Bedürfnis der meisten Menschen, wenigstens in den wichtigs-ten Dingen unterrichtet“ und „geleitet“12 zu werden. Von Dauer seien allerdingsnur jene Formen geistlicher Herrschaft, die auf einem „wahren“ Glauben unddem „Gehorsam gegen Gott“ beruhten, also eine „Theokratie“13 begründeten.Davon unterscheiden müsse man die – meist kurzlebige – „Herrschaft desIrrtums“ in der Gestalt religiöser oder antireligiöser Irrlehren, wie sie diverse„Sekten“ verföchten. Gelangten sie – wie während der Französischen Revolu -tion – an die Macht, entstehe eine „Satanokratie, eine Herrschaft des Teufels,ein Reich der Hölle“.14

Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den „rechtmäßigen“ geistlichenHerrschaften, den mosaischen wie den aus ihr hervorgehenden christlich - katho-lischen Staatsbildungen mit ihren diversen „weltlichen“ Verbindungen. Sie istaber von kritisch - polemischer Abgrenzung gegenüber religiösen Irrwegen(sowohl dem „Mahometanismus“ als auch der protestantischen Kirche ) wienoch „verwerflicheren“ antireligiösen „Orden“ und „Sekten“ durchzogen. Allegeistlichen Herrschaften haben etwas gemeinsam : Ihre Existenz hängt davonab, wie erfolgreich die „Einheit der Lehre“ erhalten und das Auftreten von „Sek -

9 Vgl. ebd., S. 46 f.10 Vgl. Carl Ludwig von Haller, Handbuch der allgemeinen Staatenkunde, Winterthur

1808, S. 159–202 („Von den unabhängigen geistlichen Herren oder den Priesterstaaten[ Theokratien ]“). Siehe zur Bedeutung von Hallers Staatslehre nur : Michael Stolleis,Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Band : Staatslehre und Verwal -tungswissenschaft, 1800–1914, München 1992, S. 144 f.

11 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natür-lich- geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich - bürgerlichen entgegengesetzt,Band 4 : Makrobiotik der Patrimonialstaaten. 3. Hauptstück : Von den unabhängigengeistlichen Herren oder den Priesterstaaten, Neudruck der 2. Auflage Winterthur 1822,Aalen 1964, S. 2.

12 Ebd., S. 3.13 Ebd., S. 16.14 Ebd., S. 18.

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ten und Glaubensspaltungen“15 verhindert wird. Daher sei es unerlässlich,„1) Der Entstehung einer neuen Lehre möglichst zuvorzukommen. 2) Wenn sieentstanden ist, ihre Verbreitung zu erschweren. 3) Sie zu bestreiten und 4) ihreBefestigung und Fortpflanzung durch eine äußere Gesellschaft zu hindern.“16

Dabei sei größte Entschlossenheit vonnöten, denn die „Sekten“ selbst ( beson-ders die „französischen Philosophen“ und „deutschen Illuminaten“) ihrerseitsunternähmen alles in ihrer Macht Stehende, um :

„alle Schriften ihrer Gegner zu unterdrücken, mittelst ihres Einflußes auf mitver-schworne Buchhandlungen oder auf die Regierungen selbst, nirgends ankünden, nir-gends zu Verkauf anbieten, und durch die unter ihrer Gewalt stehenden Recensirungs -Institute planmäßig verschreyen zu lassen. Sobald auch diese Herren irgendwo zurhöchsten Gewalt gelanget waren, so sind sie, der gepriesenen und zum Fundamental -gesetz erhobenen Preßfreyheit ungeachtet, gegen alle Schriftsteller, die ihrer Sekte ent-gegen arbeiteten, mit Deportationen, Einkerkerungen und Hinrichtungen zu Werkgegangen, ja sie haben sogar die unschuldigen Druckerpressen und die todten Schrift -zeichen vernichten lassen.“17

Diese Art von „Fanatismus“ und Bilderstürmerei bildet auch den semantischenKern jener Art von Staaten, die Leo mit dem „schiefen Namen Ideokratie“18

bezeichnet hat – „schief“, weil die Bedeutung der ersten Silbe nicht der grie-chischen, sondern der französischen Sprache entnommen sei. „Ideokratien“sind „geistliche“ Staaten ( im Sinne Hallers ), die sich über alles historischGewachsene und „natürlich“ Gegebene vollkommen hinwegsetzen und eineIdee zur Grundlage der Herrschaft machen, die „nicht unmittelbar mit einemvon der Natur gegebenen Bedürfnis zusammenhängt“, aber mit solcher Rigo -rosität für richtig und unbedingt beachtenswert gehalten wird, „dass sie andere,die sich gegen diese Ansicht gleichgültig verhalten oder gar ihrer Geltend -machung Hindernisse entgegensetzen, für des Lebens gar nicht würdig“ erach-ten, „ihre Ausrottung oder Unterdrückung für ein löbliches Werk halten“. Das„Characteristische des Fanatismus“ besteht eben darin, dass „das ganze Leben,alle seine Forderungen, Bedürfnisse und Einrichtungen durch denselben Einerdominirenden Ansicht zum Opfer gebracht wird. Einseitigkeit, Conse quenz inder Ableitung der Folgerungen aus dem Hauptsatz und Härte, Rücksichtslosig -keit bei der Durchführung dieser Consequenzen im Leben, dies sind allezeit dieAttribute eines fanatischen Zustandes.“19

Die Ideokratie ist nirgends „naturwüchsig“20 ( eine Wortschöpfung Leos21),zählt mithin nicht zu den „organischen“, sondern – wie die Priesterherrschaft

15 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Band 5 : Makrobiotik dergeistlichen Herrschaften oder Priesterstaaten, Neudruck der 2. Auflage Winterthur1834, Aalen 1964, S. 32.

16 Ebd., S. 58.17 Ebd., S. 75.18 Leo, Studien und Skizzen, S. 12.19 Ebd., S. 171.20 Ebd., S. 1.21 Vgl. Hans - Joachim Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Proble -

me im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., 3. Auflage Berlin ( West ) 1964, S. 180.

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– zu den „mechanischen“ Staatsbildungen. Sie entstehen in der Regel aus einerZwangslage, in der die Menschen nicht anders zu handeln können glauben, als„Regeln für gesellschaftliche Verhältnisse ohne Rücksicht auf Hergebrachtes auf-zustellen, und diese mit äußeren Mitteln zu den allein geltenden, zum Staate,zu machen.“22 Die Ideokratie ist nirgends, wo sie auftritt, von sehr langer Dauer– sofern sie sich nicht vor ihrem Untergang wandelt, ihr Hang zum Fanatismusund zum „Hinarbeiten in der Verfassung auf eine abstracte Spitze“23 gebrochenwird und „die natürlichen Bedürfnisse, Rücksichten und Elemente des Le -bens“24 wieder Oberhand gewinnen.

Ein frühes Beispiel dafür sieht Leo in der Transformation des altisraelitischenKönigtums in eine Priesterherrschaft, die sich von älteren Formen der Theokra -tie – wie in Altägypten und dem nubischen Reich Meroe – durch den abstrak-ten Charakter ihrer Gottesidee und der daraus abgeleiteten radikalen Konse -quenzen ( etwa bei der Neuverteilung von Grund und Boden ) unterscheidet :

„Als im jüdischen Reiche die Macht der grossen Grundbesitzer und Hofleute alles inVerwirrung gesetzt hatte, wurde von der Priesterschaft des Tempels zu Jerusalem ausvorhandenen Elementen der mosaischen Gesetzgebung eine Ideokratie ausgebildet undnach dem Exil weiter ausgebaut, welche als Grundlage im Gegensatz eben der Machtjener reichen Grundherren und des Hofes den Gedanken enthielt, dass Gott, also des-sen Repräsentant, der Tempel, Herr des Volkes und alles Landes sei. Die Benutzung derPerson und des Grundes und Bodens ward zu einem Niessbrauch limitirt; Ruhezeitenund der Zehnte wurden als Urkunden dieser Tempellehnbarkeit eingeführt, so wie ausdiesem Grunde und zugleich, um die Anhäufung des Grundes und Bodens in wenigenHänden zu verhindern, die Rückfall - oder Jobeljahre.“25

Den historischen Vorgang der Transformation des jüdischen Königtums zu einerspezifischen Form der Priesterherrschaft in den Jahren vor dem ( babylonischen)Exil und danach hat Leo in seinen „Vorlesungen über die Geschichte des jüdi-schen Staates“ (1828) detailliert beschrieben, aber noch nicht als „Ideokratie“,sondern als Folge einer künstlich geschaffenen „Hierarchie“ gedeutet.26 Aberauch hier bildet bereits die historisch wurzellose Abstraktheit des ( theologi-schen) Staatsgedankens das zentrale Kriterium, das zum einen die Abgrenzunggegenüber „naturwüchsigen“ Formen der Priesterherrschaft und zum anderendie Analogie zu neueren Formen abstrakt - rationalistischer Staatsauffassungbegründet. Während der Tugendherrschaft Robespierres führt die aus einemabstrakten Staatsgedanken abgeleitete „fanatische Consequenz“27 auf dieGuillotine, bei den Hohepriestern der Israeliten wurde „die Entheiligung desSabbaths und das Essen des Opferfettes mit dem Tode“28 bestraft. Auch zeigte

22 Leo, Studien und Skizzen, S. 3.23 Ebd., S. 176.24 Ebd., S. 172.25 Ebd., S. 13.26 Vgl. Heinrich Leo, Vorlesungen über die Geschichte des Jüdischen Staates, gehalten an

der Universität zu Berlin, Berlin 1828, S. 57–60, 86 f.27 Ebd., S. 57.28 Ebd., S. 58.

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bereits die israelitische Ideokratie die in den neuzeitlichen Fällen zu beobach-tende Tendenz zur Radikalisierung, wobei die „Schärfe“ und „Einseitigkeit derAnsicht“ weiter zunimmt und schließlich „auf einen Punct“ treibt, „wo sie in ihrGegentheil umschlägt“. Dies kann für die „jüdische Verfassung nach der erstenUnterdrückung durch die Römer“ gezeigt werden, wo „der dominirende politi-sche Gedanke der politischen Einheit des von Gott auserwählten Volkes“ dazuführt, „dass immer wenigere sich als die ächten Repräsentanten dieses EinenVolkes ansehen konnten, dass ein Theil desselben nach dem andern als unreinund unwürdig ausgestossen oder gleichgültig abgetrennt wurde, bis zuletzt derkleine fanatisch übrig bleibende Rest in Jerusalem und Masada von den Römernim eigentlichsten Sinne ausgerottet wurde, oder sich selbst ausrottete.“29

Die unterscheidenden Merkmale der Ideokratie werden noch deutlicher,wenn man das weitere historische Material betrachtet, auch wenn Leo dieseFälle weit weniger ausführlich beschreibt als die Entstehung der altisraelitischenPriesterherrschaft. Im Altertum trägt der Staat Lykurgs in Sparta ideokratischeZüge. Der große Gesetzgeber zieht aus der von Horaz beschriebenen Dürftig -keit der Einrichtungen des Stadtstaates eine radikale Konsequenz : „Von allenSeiten von Feinden umgeben, in sich durch rohe Kraft zerrissen, kann denSpartiaten Rettung nur dadurch kommen, dass die rohe Kraft erzogen und ingeistige Fesseln gelegt, und dass dem Einzelnen die Pflicht, für alle zu leben undzu sterben, zu der heiligsten und unverbrüchlichsten gemacht wird. Nur durchdie entschiedenste Energie konnte der kleine Dorerhaufe in Sparta sich als Herrbehaupten“.30

Dazu gehört auch, dass die Gemeinschaft den Einzelnen umfassend inAnspruch nimmt, ja nicht einmal vor seiner Intimsphäre Halt macht. So istSparta ein Beispiel für streng reglementierte Eheschließungen nach politischerZweckmäßigkeit, die „fast kein Hauswesen“ begründen und wo „die Frau beiihren Eltern blieb und heimlich besucht werden musste.“31

Die Beispiele des Altertums können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen,dass die Ideokratie erst in der Neuzeit häufiger in Erscheinung tritt. Seit „demStaate Savanarola’s [ !] und seit dem der münsterischen Schwärmer in der Refor -mationszeit“ habe es „fast unzählige“32 Beispiele gegeben. Leo nennt von die-sen aber nur die Quäker beiläufig, weil sie sich wie die „St. Simonisten“ jederHeeresbildung verweigerten und daher im Konfliktfall dem Untergang geweihtseien, sofern sie nicht „von einem kriegerischen Volke geschützt“33 würden.

Ausführlicher behandelt Leo nur den Staat Robespierres, der auf die „Spitze“trieb, was in der Revolution von Anbeginn vorgebildet war. Mit der „Annahmegewisser unveräußerlicher Rechte des Menschen“ war die Feststellung der „Un -heilbarkeit“ des Bestehenden eng verbunden. Daher entbrannte ein „fanatischer

29 Ebd., S. 173.30 Leo, Studien und Skizzen, S. 14.31 Ebd., S. 73.32 Ebd., S. 14.33 Ebd., S. 150.

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Kampf“,34 der auch durch das partielle Einlenken des Königs nicht mehr infriedliche Bahnen überführt werden konnte, denn die propagierten Ideen wur-den inzwischen „von dem eifrigsten Theile der revolutionären Partei“ in einernoch „abstracteren Weise“35 vorgetragen, so dass der Weg über Kompro misseund graduelle Verbesserungen versperrt war : „Die neue, abstractere Ansichtschuf sich ein Organ an dem Jacobinerbund, und entwickelte nun einen solchenEinfluss, dass das Königtum und Alles, was irgend als Modification derGleichheit erscheinen konnte, vor ihr zu Boden sanken. Die Vertheidiger desvorher herrschenden, noch nicht so abstracten Zustandes, wurden eben so, wiedie Vertheidiger des ganz alten Zustandes, mit Feuer und Schwert verfolgt.“36

Eine Grundidee der Jakobinerherrschaft bestand in der Forderung nach„Aufopferung aller Einzelrücksichten“, und die Fähigkeit zu dieser Aufopferungwurde „die Tugend“37 genannt. Das „Sichfügen in den alten Zustand heißt dannSünde, Feigheit, Servilismus, und die ihm Anhängenden gelten nicht mehr alswürdig, vom Erdboden getragen zu werden; das Sich auflehnen [ !] gegen denalten Zustand wird religiöse und Ehrenpflicht.“38 Auch wenn der „Kriegs -zustand“ aufhört, behält der Staat das Recht, „zur Insurrection aufzubietenjeden, den die Idee zu ihrer weiteren Vertheidigung bedarf, und dieses darf sichgar nicht gegen dies Aufgebot wehren, weil sich bei einer Ideokratie alles aufdie schroffste Spitze stellt, und ein Mensch entweder den Bedürfnissen der sie-genden oder siegenwollenden Idee leben muss oder nicht mehr würdig ist,Bürger, ja, unter Umständen nicht einmal Mensch zu sein.“39

Nachdem am Ende des Radikalisierungsprozesses Robespierre als das ein-zige Organ des einheitlichen Mehrheitswillens erschienen und „alle freie Discus -sion“ verstummt war, sahen sich diejenigen in ihrer nackten Existenz gefährdet,die „an Energie Robespierre am nächsten kamen“, aber „nun fürchteten, nichtmehr als Vertueux zu gelten“. Dies hatte den Sturz des „Unbestechlichen“ undsein Ende auf der Guillotine zur Folge : „So hatte die erste dialectische Reiheder französischen Staatsformen in der Revolution gerade zu dem Entgegen -gesetzten von dem geführt, was man gewollt hatte, statt der Herrschaft mensch-lich wohlwollender, Freiheit gewährender Theorie hatte man Tyrannei der phy-sischen Kraft gewonnen gehabt.“40

Seither waren fast vierzig Jahre vergangen, aber die Ideokratie schien inFrankreich bereits wieder einen neuen Anlauf zu nehmen. Ihre Grundidee seidie „ungehemmte Entwickelung“, eine „Religion du progrès“, die eine ähnlicheAbfolge sich überschlagender Stadien zur Folge haben würde, sofern es ihrgelänge, „je irgend wo zu unabhängiger Existenz zu gedeihen“. Gemeint war der

34 Ebd., S. 173.35 Ebd., S. 174.36 Ebd., S. 174 f.37 Ebd., S. 14.38 Ebd., S. 150.39 Ebd., S. 151.40 Ebd., S. 176.

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„nouveau Christianisme des Hrn. von St. Simon“,41 wie er im „Organisateur“vom 14. März 1830 propagiert worden sei. Doch schon wegen dessen pazifisti-scher Orientierung maß Leo dieser Form des christlich inspirierten utopischenSozialismus nur geringe Entfaltungschancen bei.42

Leos neuer Staatsformbegriff fand schon im 19. Jahrhundert in der deutschenpolitischen, philosophischen, theologischen und staatsrechtlichen Literaturweite Verbreitung. Der Leipziger Philosoph und Liberale Wilhelm TraugottKrug nahm den Eintrag „Ideokratie oder Ideokratismus“ bereits ein Jahr nachdem Erscheinen von Leos Werk in das Supplement der 2. Auflage seines weit-verbreiteten „Allgemeinen Handwörterbuchs der philosophischen Wissenschaf -ten“ auf.43 Und in einem weiteren Supplement aus dem Jahr 1838 wurde die„Ideokratie“ ( abgeleitet allerdings anders als bei Leo vom griechischem ιδεα,Vernunftbegriff ) von der „Idiokratie“ als der Selbstregierung des Volks ( vonιδιος, eigen ) unterschieden.44 Frühe Kritiker des Konzepts übten teils Kritik ander Bezeichnung, teils an den mit ihr verknüpften Inhalten. Der LeipzigerPhilosophiedozent und Hegelianer Gotthard Oswald Marbach, von 1845 bis1848 sächsischer Zensor für politische und belletristische Literatur,45 umriss inAbgrenzung zur Ideokratie den von ihm propagierten Staat der „wahren Intelli -genz“, deren Aufgabe darin bestehe, „die Bedürfnisse nach ihren unmittelbarenAeußerungen zu beobachten und zu befriedigen.“46 Dagegen knüpfte der Frei -burger Staatsrechtler Franz Josef Buß, später ultramontan - großdeutsches Mit -glied der Paulskirche, an den Begriff in seiner Charakteristik der Jakobiner -herrschaft inhaltlich an, zog aber die Bezeichnung „abstrakter“ oder „logischer“Staat vor, weil dieser ein „bloß regulatives Prinzip“ als „Obersatz“ aufstelle unddann „mit syllogistischer Folgerichtigkeit“ weiterschließe, „ohne den Erweis,dass der Obersatz eine ideenhafte Wahrheit ist.“47 Für den Schulpädagogen Karl

41 Ebd., S. 15.42 Vgl. ebd., S. 150.43 Wilhelm Traugott Krug, Ideokratie oder Ideokratismus. In : ders., Allgemeines Hand -

wörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte,des fünften oder Supplement - Bandes zweite Abtheilung, 2. Auflage Leipzig 1834, S.75.

44 Wilhelm Traugott Krug, Ideokratie oder Ideokratismus. In : ders., Allgemeines Hand -wörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte,fünfter Band als Supplement zur 2., vermehrten und verbesserten Auflage, Erste Abthei -lung. A bis L, Leipzig 1838, S. 551. Siehe für weitere lexikographische Einträge vorallem auch: Scheidler, Ideologie. In : Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber(Hg.), All gemeine Enzyclopädie der Wissenschaften und Künste, 2. Sektion, Band 15,Leipzig 1838, S. 127 f., hier 128 („Auch uns Teutschen hat sich etwas Ähnliches gezeigt,indem Prof. Leo in seiner Physiologie des Staats gegen alle Anwendung der Ideenlehreauf das Staatleben auf das Entschiedenste streitet, und in der Ideokratie, wie er es nennt,die Wurzel alles Verderbens unserer Staaten sucht und findet“).

45 Vgl. Franz Brümmer, Marbach, Gotthard Oswald. In : Allgemeine Deutsche Biographie,52 (1906), S. 187–189.

46 Gotthard Oswald Marbach, Universitäten und Hochschulen im auf Intelligenz sich grün-denden Staate. Eine wissenschaftliche Abhandlung, Leipzig 1834, S. 8.

47 Franz Josef Buss, Geschichte der Staatswissenschaft, Band 1 von „Geschichte undSystem der Staatswissenschaft in drei Theilen“ ( von Franz Josef Buss und Georg Philipp

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Mager eignete sich der Ideokratiebegriff hingegen gut, um die Besonderheit des„Fanatismus in Frankreich“ zu erfassen, nämlich die „Herrschaft des reflekti-renden, äußerlichen, abstrakten Verstandes, der das ganze achtzehnte Jahrhun -dert charakterisiert“.48 In diesem Punkt stimmte der konservative Mitgründerder „Historisch - politischen Blätter für das katholische Deutschland“, Carl ErnstJarcke, mit Mager überein. Doch gab er gegen Leo zu bedenken, dass dieHerrschaft einer „falschen Religion“ und eines „Unglaubens“ im Rahmen einer„Naturlehre“ des Staates nicht „in einer Physiologie, sondern in der Pathologiedes Staats ihren Platz“49 habe. Außerdem fand er es problematisch, dass derBegriff so weit entfernte Phänomene wie das altisraelitische Priestertum und dieTerrorherrschaft Robespierres zusammenzwinge.50 In diesem Punkt traf er sichmit dem in Berlin lehrenden Hegelianer Eduard Gans, der eine idealistischeFundamentalkritik an Leos Naturlehre übte.51

Wie die Beispiele zeigen, fand der Ideokratiebegriff schon vor 1848 inDeutschland weite Verbreitung. Dazu trug auch Friedrich Rohmers viel rezi-pierte Parteiendoktrin bei, die den Terminus im Rahmen der Staatsformenlehreals Ergänzung der verbreiteten Typologie des Aristoteles positiv aufgriff.52

Weitaus folgenreicher waren jedoch die zahlreichen gelehrten Abhandlungen,Handbücher und Kompendien des deutsch - schweizerische Staatsrechtlers undPolitikers Johann Caspar Bluntschli, die vielfach zu Standardwerken wurdenund teilweise internationale Geltung erlangten. Bereits in seinen von derPolitikauffassung der Gebrüder Rohmer in Zürich beeinflussten „Psycholo gi -schen Studien über Staat und Kirche“ (1844) nahm er Leos Ideokratiebegriffauf, ordnete ihn jedoch in eine andere typologische Systematik ein, die bei der„Natur des Herrschenden“ aus der Perspektive der Herrschaftsunterworfenenansetzte und die bekannte aristotelische Systematik auf diese Weise erweiterte( beziehungsweise auf eine neue Grundlage stellte ). Die „Theokratie“ war näm-lich weder Monarchie noch Aristokratie oder Demokratie, sondern gehörte„einem andern Grundtypus der Staatsformen an“, der Ideokratie. Sie war

Hepp ), Freiburg 1839, S. 409; Zur Biographie vgl. http ://biosop.zhsf.uni - koeln.de /ParlamentarierPortal / fnv_db / fnv_db.php; 13.5.2013.

48 Karl Mager, Versuch einer Geschichte und Charakteristik der französischen National -literatur, nebst zahlreichen Schriftproben, Band 2, Berlin 1837, S. 79. Siehe mit ähnli-chem Tenor : Georg Ludwig Wilhelm Funke, Geschichtliche Entwickelung der geistigenRichtungen in Staat, Kirche, Kunst und Wissenschaft seit der Mitte des vorigen Jahrhun -derts, Osnabrück 1835, S. 222 f.

49 Carl Ernst Jarcke, Ueber die Entstehung des Staats durch die Natur. In : ders., Ver -mischte Schriften, 3. Band, München 1839, S. 32–64, hier 55. Siehe ähnlich auch :Ohne Verfasserangabe, Ueber die Entstehung des Staats durch die Natur. In : Außer -ordentliche Beilage zum Berliner politischen Wochenblatt, Nr. 31 vom 30.7.1836, S.182–187.

50 Carl Ernst Jarcke, Die Naturlehre des Staates. In : ebd., S. 20–31, hier 30.51 Eduard Gans, Besprechung der Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates

(1833). In : ders., Schriften juristischen, historischen, staatswissenschaftlichen undästhetischen Inhalts, 2. Band, Berlin 1834, S. 203–223, hier 210.

52 Vgl. Friedrich Rohmer, Die vier Parteien, Zürich 1844, S. 237 f.

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dadurch gekennzeichnet, „daß nicht Menschen als menschliche Herrscher, son-dern daß ein geistiges, oder als geistig gedachtes Wesen, das nicht bloßerMensch ist, daß Gott oder eine göttliche Idee, daß ein Dämon oder ein dämo-nisches Idol als der wahre, wirkliche Herrscher gedacht wird.“53

Bluntschli hat diese Gedanken in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ (1851)weiter ausgeführt. Das aristotelische Sechserschema erweiterte er um zweiTypen : die „Ideokratie“ für jene Staaten, in denen ein Gott oder eine Idee ver-ehrt wird und die Herrschenden „zur Wohlfahrt der Regierten dienen“, und die„Idolokratie“54 als deren Entartungsform. Anders als Leo, an den er sich ansons-ten weithin anlehnte, lokalisierte er die Ideokratie historisch vor allem im Alter -tum ( vorwiegend Theokratien ), während die „moderne Zeit endlich [...] eineoffenbare Abneigung gegen die ideokratische Staatsform“55 zeige. In seinerDarstellung blieb Bluntschli insofern inkonsequent, als er die Entartungsformder „Idolokratie“ im Laufe seiner Darstellung gleichsam „vergaß“ und statt -dessen auf die Mängel der Ideokratie einging, die hauptsächlich infolge derDehumanisierung des Staates und der damit verbundenen Aushöhlung indivi-dueller und politischer Freiheiten entstünden. Für die Gegenwart sah er dieseGefahr ( neben Entartungen monarchischer, despotischer und auch gesetzes-staatlicher Gewalt ) wie Leo mit dem Beispiel der Jakobinerherrschaft verknüpft,wo „der abstracten Vorstellung der Gleichheit, welche als oberstes Staatsprincipverehrt wurde, eine Menge vorzüglicher Menschen wie einem erzürnten Götzenhingeopfert wurden. Wer durch Gesinnung, oder Geburt, oder Vermögen sichüber das Niveau der Mittelmäßigkeit emporhob, der wurde wie ein Majestätsver -brecher gegen die Herrschaft der Gleichheit verurtheilt und hingerichtet.“56

Die „Allgemeine Staatslehre“ erlebte zahlreiche Auflagen und fand interna-tionale Anerkennung. Darüber hinaus trug Bluntschli ( neben Karl Brater ) miteinem entsprechenden Eintrag im „Deutschen Staats - Wörterbuch“, dem Nach -folger des Rotteck / Welcker’schen „Staats - Lexikons“,57 durch einen entspre-chenden Eintrag zur Verbreitung des Ideokratiebegriffs wesentlich bei.58 Er fand

53 Johann Caspar Bluntschli, Psychologische Studien über Staat und Kirche, Zürich 1844,S. 238.

54 Johann Caspar Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, geschichtlich begründet, München1851, S. 240.

55 Ebd., S. 260.56 Ebd., S. 263.57 Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001,

S. 145.58 Vgl. Johann Caspar Bluntschli, Ideokratie und Theokratie. In : ders./ Karl Brater ( Hg.),

Deutsches Staats - Wörterbuch, 5. Band, Stuttgart 1860, S. 279–290. Siehe zur Rezep -tion in der zweiten Jahrhunderthälfte nur : Friedrich Harms, Abhandlungen zur systema -tischen Philosophie, Berlin 1868, S. 42; Eugen H. Th. Huhn, Politik. Grundzüge derpraktischen Staatskunst, Leipzig 1865, S. 163 f.; Johann Peter Lange, Christliche Dog -matik, 3. Teil : Angewandte Dogmatik oder Polemik und Irenik, Heidelberg 1862, S. 37;Friedrich Adolf Schilling, Lehrbuch des Naturrechts oder der philosophischen Rechts -wissenschaft, Zweite Abtheilung, Leipzig 1863, S. 26; Franz Vorländer, Die Staatsfor -men in ihrem Verhältniss zur Entwicklung der Gesellschaft. In : Zeitschrift für die

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auf diese Weise auch Eingang in die angelsächsische Welt, wo die deutscheStaatslehre vor allem in den USA lebhaft rezipiert wurde. So hat der in LosAngeles praktizierende Rechtsanwalt und Rechtsgelehrte George H. Smith ineinem Beitrag für die „Proceedings“ der American Philosophical Society überBluntschlis Beitrag zur Weiterführung der aristotelischen Staatsformentypologieberichtet : „a fourth form of the State should be added, the normal form of whichhe calls ‚ideocracy‘, and the perverted form, ‚idolocracy‘; and which is definedby him as the State ‚in which the supreme power has been attributed either toGod, or some other [...] superhuman being, or an Idea.“59

III. Bolschewismuskritik und Staatslehre der Eurasier

Im 20. Jahrhundert fand der Begriff zunächst vor allem in einem politisch - beken-nerischen und - kämpferischen Umfeld Verbreitung. Im russischen Exil for -mierten sich wenige Jahre nach dem bolschewistischen Umsturz die Zirkel der„Eurasier“, die mit dem Begriff der Ideokratie eine ganz eigene politischeZukunftsvision verbanden. Im Unterschied zu anderen Strömungen der Emi gra -tion strebten sie weder nach einer konstitutionellen Demokratisierung Russ -lands nach westlichem Vorbild noch nach der Wiederherstellung der Monarchieabsolutistischer oder „dualistischer“ Prägung. Nach ihrem deterministischenGeschichtsverständnis musste die Revolution nach einer Abfolge von Phasen ineine politische Verfassung neuer Qualität münden, die Russland zu seinen vonder Revolution gekappten Ursprüngen zurückführen würde.

Die „früheste Version der Lehre von der Ideokratie“ stammt von demGeographen Pëtr N. Savickij, der die russischen Emigranten 1923 dazu aufrief,eine „Staatsbürgerschaft der Idee“ anzunehmen und sich mit ganzer Kraft der„idejapravitel’nica“ ( der herrschenden Idee ) zu widmen.60 Zu einem Konzeptausgearbeitet wurde der Ideologiebegriff von dem als Urheber der eurasischenStrömung geltenden Fürsten Nikolaj Sergeevič Trubeckoj, dessen in Sofia 1920erschienene Schrift „Europa und die Menschheit“ den Anstoß für die Gründungeurasischer Exilzirkel in den wichtigsten Emigrationszentren wie Sofia, Prag,Berlin, Paris, London, Brüssel gab.61

gesammte Staatswissenschaft, 14 (1858) 2, S. 293–347, hier 309 f. Keinen Herkunfts -nachweis erbringt : Constantin Frantz, Die Naturlehre des Staates als Grundlage allerStaatswissenschaft, Leipzig 1870, S. 197.

59 George H. Smith, The Theory of the State. In : Proceedings of the American Philo -sophical Society, 34 (1895) 148, S. 182–334, hier 316. Siehe zur Person : John G. Tom -linson, Intellectual Adventures. In : USC Law. The University of Southern California,Spring 2000, Los Angeles 2000, S. 4–9, hier 5.

60 Zitiert nach Stefan Wiederkehr, Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik inder russischen Emigration der Zwischenkreigszeit und im postsowjetischen Russland,Köln 2007, S. 136.

61 Vgl. Otto Böss, Die Lehre der Eurasier. Ein Beitrag zur russischen Ideengeschichte des20. Jahrhunderts, Wiesbaden 1961, S. 7–17; Leonid Luks, Anmerkungen zum „revolu-tionär - traditionalistischen“ Kulturmodell der Eurasier und Neoeurasier. In : ders., Zeit -

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Der Sprachwissenschaftler Trubeckoj entwickelte die eurasische Doktrinwährend seiner Wiener Lehrjahre als Professor für slawische Philologie undbeschrieb eingehend den ideokratischen Staat der Zukunft. Am Beginn seinerAusführungen stand eine eigene Staatsformenlehre nach der Art der „Selektion“politischer Führungsgruppen. In der „europäischen Zivilisation“ seien bislanglediglich „zwei Typen von Selektionsmerkmalen der führenden Schicht“62 vor-gekommen : der „aristokratische“ und der „demokratische“ Typus. In der Aristo -kratie erfolge die Auswahl der führenden Schicht nach „genealogischen“ Krite -rien, in der Demokratie richte sie sich nach der Fähigkeit zur erfolgreichen„Bearbeitung der öffentlichen Meinung“. Hier komme es darauf an, den „Wäh -lern gewisse Ansichten“ aufzudrängen, „die sie dann als ihre eigenen betrach-ten und mit deren Verteidigung sie die Volksvertreter betrauen“.63 Das demo-kratische Selektionsprinzip mit der ihm gemäßen Staatsform der Republik habefast überall in Europa das aristokratische ( mit den ihm entsprechenden monar-chischen Formen ) verdrängt, zeige aber selbst unübersehbare „Kennzeichen desVerfalls und Absterbens“. Unterdessen bilde sich ein „neues Selektionsmerkmalder führenden Schicht“ ( und „mit ihm ein neuer Typus des Staates, der Wirt -schaft, der Kultur, des sozialen und privaten Lebens“64) heraus. Die entstehende„neue Art der Selektion“, die dazu berufen sei, „an die Stelle“ von Aristokratieund Demokratie zu treten, könne „als Ideokratie bezeichnet werden“. Dieseneue Staats - und Gesellschaftsform zeichne sich dadurch aus, dass die „Mitglie -der der führenden Schicht durch eine gemeinsame Weltanschauung, einegemeinsame Gesinnung miteinander verbunden“65 seien.

Trubeckojs Überzeugung, der Ideokratie gehöre die Zukunft, stützt sich aufdie „ganze Entwicklung des politischen Lebens“ der Nachkriegszeit, insbeson-dere die „Revolutionen“66 in Russland und Italien ( später auch Deutschland ).67

In den Regimebildungen der Bolschewiki und Faschisten ( später der National -sozialisten ) träten die ideokratischen Züge deutlich hervor. Diese Regime seienvon einer „regierenden Idee“ bestimmt und von einer „einzigen Partei“ be -herrscht, die als Trägerin der Idee zu einer „staatlichen Einrichtung wird“. Ohne

historische Streitfragen. Essays und Repliken, Münster 2012, S. 51–80. Zur russischenEmigration siehe : Karl Schlögel ( Hg.), Der große Exodus. Die russische Emigra tion undihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994.

62 Nikolaj S. Trubetzkoy, Die Ideokratie als Gesellschaftsordnung der nächsten Zukunftnach der Lehre der Eurasier (1927/1934). In : ders., Russland – Europa – Eurasien.Aus gewählte Schriften zur Kulturwissenschaft. Hg. von Fedor B. Poljakov, Wien 2005,S. 275–284, hier 276. Der Beitrag erschien erstmals auf Russisch in Heft VIII /1927 derZeitschrift „Jevrazijskaja Chronika“ ( S. 3–9). Eine sparsam aktualisierte und ergänzteFassung erschien in : Orient und Occident. Staat – Gesellschaft – Kirche, (1934) 17(Dezember ), S. 6–13. Vgl. den Kommentar von Fedor B. Poljakov in : Trubetzkoy,Russland, S. 312.

63 Ebd., S. 277.64 Ebd., S. 279.65 Ebd., S. 280.66 Ebd.67 Vgl. ebd. ( Zusatz aus dem Jahr 1934 in eckigen Klammern ).

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sie könne „der Staatsapparat nicht mehr funktionieren“.68 Allerdings bleibenbeide Regime von einer „echten Ideokratie“ noch weit entfernt. In Italien wirddie Ideokratie durch „den Personenkult des Führers und den nackten Orga ni -sationstrieb verschleiert“. Auch bleibe die „Grundidee des Faschismus inhalts-arm“,69 wenn man sie ohne ihre negierenden Elemente ( wie Antiparla -mentarismus und Antikommunismus ) betrachte. Die führende Schicht derBol schewiki verfüge im Gegensatz dazu über eine „gemeinsame Weltan schau -ung“,70 aber sie leugne die ideokratische Natur des Regimes aus marxistisch -dogmatischen Gründen und tue so, als regiere das Proletariat.

Trotz dieser Unzulänglichkeiten komme Bolschewismus und Faschismusjedoch das Verdienst zu, den Weg zu einer echten Ideokratie gebahnt zu haben.Deren Theorie lasse sich allerdings nicht aus der Verfasstheit dieser Regimeinduktiv gewinnen, sondern nur aus allgemeinen Grundbegriffen deduzieren.Die „Hauptzüge“ des ideokratischen Staates der Zukunft seien sein „staatlicherMaximalismus“ ( also das „aktive Eingreifen des Staates in das Wirtschaftslebenund in die Kulturentwicklung“) und seine „außerordentlich starke Staats ge -walt“, die eine enge Verbindung mit der Bevölkerung vor allem durch gewählte„Organisationen, Körperschaften und Berufsvertretungen“71 herstellt. Diese gin-gen allerdings nicht aus Wahlen mit konkurrierenden Parteien hervor, da dieIdeokratie mit dem Grundsatz der Parteienvielfalt unvereinbar sei. Die Trägerinder Ideokratie sei „die einzige Partei“, die zugleich als „Organisation der Staats -ideologie“ wie als „Körperschaft der führenden Schicht“72 fungiere. Die Machtim ideokratischen Staat liegt beim „Führer der ‚einzigen Partei‘“, der nicht ausallgemeinen Volkswahlen hervorgeht, sondern seine Stellung ausschließlich dem„Ansehen“ verdankt, das er „bei den Mitgliedern der ‚einzigen Partei‘ genießt“,und den „persönlichen Beziehungen, die zwischen ihm und anderen prominen-ten Parteigenossen bestehen“.73 Der ideokratische Staat befinde sich in Italienund Russland noch in seinen Anfängen. „Vor den Russen steht die Aufgabe, diePseudoideokratie des Kommunismus durch eine echte Ideokratie zu ersetzen.“74

Der Beitrag Trubeckojs begründete „die eurasische Lehre über die Ideokra -tie“.75 Der programmatische Ideokratiebegriff fand in den Theorie zirkeln derEurasier internationale Verbreitung. So propagierte der Eurasier Pëtr NikolaevičMalevsky - Malevitč in seinem Buch „The New Party in Russia“ eine „Ideokratie“der Sowjets statt des bolschewistischen Materialismus.76 Auch nach der Spal -

68 Ebd.69 Ebd., S. 281.70 Ebd.71 Ebd., S. 282.72 Ebd., S. 282 f.73 Ebd., S. 283.74 Ebd., S. 284.75 So Fedor B. Poljakov ( Trubetzkoj, Russland, S. 312) mit Berufung auf Pëtr Savickij.76 Vgl. Pyotr Nikolaevich Malevsky - Malevitch, A New Party in Russia, London 1928 und

die Rezension von M. Philips Price. In : Journal of the Royal Institute of International

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tung der – politisch weit gefächerten – Eurasierbewegung Ende der 1920er Jahrewurden Kontroversen um die „perfekte Ideokratie“77 fortgeführt, doch bliebensie meist auf die Exilzirkel und ihr russischsprachiges Umfeld beschränkt.

Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr seit Mitte der 1920er Jahre vermehrt vondieser neuen Strömung.78 Heinrich Block machte 1926 auf drei russischspra-chige Sammelbände der Eurasier aufmerksam, die in deutsch - bulgarischerKoproduktion in den Jahren 1921 bis 1923 erschienen waren. Fürst Trubeckojgalt als Vordenker der Bewegung.79 Der exilierte russische Soziologe Nikolaj S.Timašev stellte die Lehre der Eurasier 1928 in der Zeitschrift für Politik vor undging auf das Ideokratiekonzept Trubeckojs kritisch ein.80 Dessen Ausführungen( und die anderer Eurasier ) zur Rekrutierung und Zusammensetzung der Füh -rungsschicht einer Ideokratie erschienen ihm zu vage und ungenau. Klar seiaber, dass nur Personen in Frage kämen, die „Träger einer bestimmten Welt -anschauung, im gegebenen Falle der eurasischen, sind“. Um diese auszuwählen,komme in einer Ideokratie weder „die freie Willensbestätigung des einzelnen“noch eine Wahl in Frage, da „in beiden Fällen sich Leute einschleichen könn-ten, die die Weltanschauung der Eurasier nicht teilen.“ Mithin sei der Ideokratie„nur die Kooptierung adäquat, bei welcher alte, bewährte Mitglieder der Organi -sation souverän entscheiden, wer als neues Mitglied aufzunehmen ist.“81 DieseForm der Selektion sei sowohl im bolschewistischen Russland als auch imfaschistischen Italien entscheidend. Darüber hinaus bedürfe es einer Form der„Organisation der herrschenden Schicht“, die deren „Führer“ mit der „höchs-ten Gewalt“ ausstatte. Diese beruhe nicht „auf Wahlen oder Vererbung“, son-dern „auf seiner tatsächlichen Autorität und auf seinen Beziehungen zu denFührern zweiten Ranges“. Gelte er nur als „primus inter pares“, so sei ein Füh -rerrat angemessen. Wenn aber „einer der Führer bedeutend“ hervorrage, „soist er tatsächlich Staatsoberhaupt“.82 Er beruft sich auf den Volkswillen, aberanders als „in der demokratischen Lehre“ bedarf „die Einheit der Ideologie derherrschenden Gruppe mit dem Volkswillen [...] keines Beweises und gestattetkeine Prüfung. Die innere Einheit darf selbst dann nicht angezweifelt werden,

Affairs, 7 (1928) 5, S. 358. Siehe auch Gerald Stanton Smith, D. S. Mirsky. A Russian-English Life, 1880–1939, Oxford 2000, S. 173.

77 Konstantin A. Čcheidzes verband mit diesem Begriff eine Art diesseitiger christlicherEschatologie. Siehe dazu und zu den damit verbundenen Kontroversen : A. G. Gacheva,Unknown Pages from Late 1920s and 1930s Eurasianism. K. A. Chkheidze and HisConception of „Perfect Ideocracy“. In : Russian Studies in Philosophy, 47 (2008) 1, S.9–39; Wiederkehr, Die eurasische Bewegung, S. 58–67, 134–140.

78 Vgl. Artasches Abeghian, Eurasien und die Eurasier. In : Deutsche Rundschau, 209(1926), S. 86–90.

79 Vgl. Heinrich Block, Eurasien. In : Zeitschrift für Geopolitik, 3 (1926) 1, S. 8–16.80 Vgl. Nicolaus S. Timaschew, Die politische Lehre der Eurasier. In : Zeitschrift für Politik,

18 (1928), S. 598–612, hier 601. Siehe zur Person : Roman Goul, N. S. Timasheff,1886–1970. In : Russian Review, 29 (1970) 3, S. 363–365.

81 Timaschew, Die politische Lehre, S. 602.82 Ebd.

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wenn die Mehrheit der frei befragten Bürger einer anderen Meinung ist, als dieherrschende Schicht.“83 Denn nur diese Schicht vertrete die Nation.

Michael Gorlin hob in einem Beitrag für die Zeitschrift „Osteuropa“ hervor,die Eurasier hätten das Prinzip „der Parteidiktatur der ‚einen und einheitlichen‘Partei“ von den Kommunisten übernommen. Der von ihnen propagierte Weltan -schauungsstaat führe „notwendig zum staatlichen Maximalismus“.84 DessenWirkung auf das Wirtschaftsleben beschrieb ein anderer Exilrusse, der Wirt -schaftshistoriker Boris Išboldin. Den ideokratischen Wirtschaftssystemen desBolschwismus und seiner „Gegenspieler“, der Eurasier ebenso wie der „anti-marxistischen Ideokratie“ des Faschismus und des Nationalsozialismus, seigemeinsam, dass sie auf einer „sozialökonomischen Totalidee“ aufbauten, „dieman um jeden Preis in Bausch und Bogen annimmt und durchführt. Als solcheIdeen gelten zur Zeit z. B. : Sowjetrußlands ‚bolschewistischer‘ Drang nach pro-letarischer Weltrevolution, Italiens ‚faschistischer‘ Glaube an den Mythos derNation, Deutschlands ‚nationalsozialistisches‘ Streben nach der Heraufführungeiner neuen Sozial - und Raumordnung, Rußlands ‚eurasischer Glaube an diegeopolitisch bedingte Weltmacht Eurasiens.“85 Sie alle sind durch eine gemein-same „Mentalität“ geprägt, die durch unbedingten Machtwillen und das Strebengekennzeichnet sei, „sich die Menschen als Wirtschaftsobjekte dienstbar zumachen oder Raum zu gewinnen.“86 Allerdings sei dieses Streben in Italien undRussland unterschiedlich weit gediehen : Bei der Wirtschaftsordnung Italienshandele es sich um einen „revolutionär gebrochenen Kapitalismus am Vorabendseiner endgültigen Umwandlung in eine antibolschewistische Form desIdeokratismus, während in Rußland der ‚ideokratische‘ Bolschewismus seinevolle Blüte erreicht hat.“87

In einem Themenheft „Die Eurasische Frage“ der von Fritz Lieb herausgege-benen Zeitschrift „Orient und Occident“ erschien Ende 1934 die erste deutscheÜbersetzung des Ideokratieaufsatzes Trubeckojs – mit Beiträgen anderer Eura -sier wie Alexejev und Savickij. Dass nicht etwa Nikolaj Berdjaev den Begriff indie Debatte eingeführt hatte, erfuhr der Leser aus dessen scharfer „Kritik desEurasiertums“. „Die gefährliche Seite der eurasischen Ideologie“ sei „ihr utopi-scher Staatsabsolutismus“. Sie beruhe auf einem „falschen Monismus, wie erdem ganzen modernen Faschismus eigen“ sei. Neben dem „Antipersonalismus“nahm Berdjaev die Verwischung des „Dualismus“ von „Kirche Gottes“ und„Kirche Caesars“ aufs Korn. Sie sei auch in der Geschichte des Christentums

83 Ebd., S. 603.84 Michael Gorlin, Die philosophisch - politischen Strömungen in der russischen Emigra -

tion. In : Osteuropa, 8 (1932/33), S. 279–294, hier 285.85 Boris Ischboldin, Der Bolschewismus als ideokratisches Wirtschaftssystem und seine

ideokratischen Gegenspieler. In : Die Tat, 23 (1931/32) 11, S. 907–921, hier 913 f. Sieheauch ders., Die russische Handelspolitik der Gegenwart. Ein kritischer Beitrag zum bol-schewistischen Wirtschaftssystem, Jena 1930; ders., Das neue Sibirien als panasiatischesProblem. In : Weltwirtschaftliches Archiv, 40 (1934), S. 353 f.

86 Ischboldin, Der Bolschewismus, S. 914.87 Ebd., S. 921.

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immer wieder aufgetreten. Insofern reiche das Spektrum der die christliche Weltbedrohenden „Versuchungen“

„von der papistischen und caesaristischen Theokratie bis zur eurasischen Ideokratiesowie bis zum Kommunismus auf der anderen Seite. Der Staat umfasst darnach alleSphären des Lebens, und der vollkommene Staat muss daher nicht nur das politischeund wirtschaftliche, sondern auch das geistige und intellektuelle Leben restlos ergreifenund organisieren. Das aber läuft auf einen prinzipiellen Monismus hinaus, der den Staatals die irdische Verkörperung der Gerechtigkeit ansieht. Die Eurasier nennen dasIdeokratie. Es ist genau dasselbe, was man heute den totalen Staat nennt. Im italieni-schen Faschismus, im deutschen Nationalsozialismus sowie im russischen Kommunis -mus umfasst der Staat in totaler Weise die ganze Fülle des Lebens. Ich nenne das dieDiktatur der Weltanschauung. Solche eine Weltanschauung ist auch die Ideokratie. Nachdieser hat der Staat seine eigene Weltanschauung und seine Ideologie, die die absoluteWahrheit für sich in Anspruch nehmen.“88

IV. „Ideokratie“ in der publizistischen und wissenschaftlich - akademischen Totalitarismusdebatte

Berdjaev gehört wie Išboldin und Timašev zu jenen exilrussischen Autoren, diein ihren Betrachtungen und Analysen implizit die analytischen Potenzen des pro-grammatischen Ideokratiebegriffs der Eurasier erschlossen und eine interpreta-torische Brücke zum Totalitarismuskonzept schlugen. Während Berdjaev abernur gelegentlich auf den Ideokratiebegriff rekurrierte89 und Timašev in seinentotalitarismuskritischen Arbeiten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nurnoch beiläufig auf den Ideokratiebegriff verwies,90 stellte Išboldin in einemBeitrag für die „Russian Review“ explizit eine enge Verbindung zwischen Ideo -kratie - und Totalitarismuskonzept her. Selbst wenn zuträfe, was WaldemarGurian in seinem Buch über den „Bolschewismus als Weltgefahr“ angedeutethabe : dass nämlich der Sowjetkommunismus mehr und mehr auf „nationale“Legitimationselemente rekurriere, so sei es doch unwahrscheinlich, dass dersowjetische Staat seinen „totalitären Charakter“ einbüße :

„The principal features of the Soviet totalitarian state, such as the one party system,which represents a distinctive ‚ideocracy‘ since its power rests on adhering to the uni-que ‚total idea‘ working as an active ‚social myth‘, the strenuous efforts to correct andmodify every sphere of live according to that ruling idea, the development of a radical

88 Nicolai Berdjajew, Zur Kritik des Eurasiertums. In : Orient und Occident. Staat,Gesellschaft, Kirche, (1934) 17 ( Dezember ), S. 34–38, hier 36.

89 So taucht der Begriff in Bedjaevs Schrift „Sinn und Schicksal des russischen Kommu -nismus“ aus dem Jahr 1937 auf, wo von der „umgekehrten Theokratie“ ( S. 150), derVerschmelzung von Staat und Kirche und der echten „Ideokratie“ die Rede ist, „wel-che die Leugnung der Gewissensfreiheit und die religiöse Verfolgung voraussetzt“ ( S.174); ders., Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus, Luzern 1937.

90 Vgl. etwa N. S. Timasheff, Totalitarismus, Despotie, Diktatur (1954). In : Bruno Seidel/Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 168–178, hier 168.

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economic collectivism, the use of methods of terrorism and of skillful mass propaganda– do not permit us to expect that the present growth of the nationalistic spirit in Russiawould lead to an even partial liberalization of the régime.“91

Der in der Auseinandersetzung mit den Eurasiern gewonnene analytische Ideo -kratiebegriff floss auf diese Weise in die Totalitarismusdebatte ein. Spuren der„eurasischen“ Terminologie finden sich auch innerhalb der mit dem Totalitaris -muskonzept vielfältig verflochtenen, vorwiegend von Theologen und kirchen -nahen Autoren geführten, Diskussionen um die „säkularen“ oder „politischenReligionen“. Bezeichnenderweise griff ein Vertreter der Russisch - orthodoxenExilkirche auf einer Tagung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christen -tum 1934 in seinen Thesen zum Verhältnis von Kirche und Staat auf den Ideo -kratiebegriff zurück. Die Ideokratie als „die Diktatur einer vom Staat zur Pflichtgemachten Weltanschauung ( der totale Staat )“92 bedeute entweder „Abtrünnig -keit ( Rückfall ins Heidentum ) oder Irrlehre, mitunter beides.“ Daher sei „Ideo -kratie als Pseudokirche“ mit der „wahren Kirche unvereinbar“.93

Mit großer Wahrscheinlichkeit hat auch der protestantische Theologe PaulSchütz den in seiner frühen, erst vor wenigen Jahren bekannt gewordenenStudie „Die politische Religion“ verwendeten Ideokratiebegriff „eurasischen“Diskussionszusammenhängen entnommen. Schütz war in den Jahren 1929 bis1934 mit Nikolaj Berdjaev Herausgeber der Zeitschrift „Orient und Occident“,in deren Dezemberheft 1934 die aktualisierte Ideokratie - Beitrag Trubeckojserschien. Er deutete die Ideokratie zutiefst kulturpessimistisch als Produkt einesdurch Säkularisierung und Massengesellschaft verursachten Entartungsprozes -ses : „Der Ideokratie der politischen Religion verfallen, sind wir dabei, die Ideenvon 1789 – um nur ein Beispiel zu nennen – zur Theologie zu erheben : ImErsten Artikel setzen wir uns Gott gleich, indem wir uns als Ursprung undSchöpfer preisen. Im Zweiten Artikel tilgen wir den Gottes - Sohn im Wahne ver-messener Gottesbruderschaft. Im Dritten Artikel aber halten wir uns die Freiheitzu, selber Heiliger Geist zu sein und die verheißene Gemeinschaft des Gottes -reiches auf Erden zu bringen. Nichts anderes als der Menschenbrei des kollek-

91 Boris Ischboldin, The Eurasian Movement. In : Russian Review, 5 (1946) 2, S. 64–73,hier 64 f.

92 J. Fedotoff, Die Kirche und der Staat. Kirche und Welt. Studien und Dokumente,3. Band : Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart. Hg. von der Forschungs -abteilung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1934, S. 35–44,hier 39.

93 Ebd., S. 40. Siehe zu diesem Beitrag auch : Heinz Hürten, Waldemar Gurian. Ein Zeugeder Krise unserer Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Mainz 1972, S. 158;Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen. Die Anfänge der Totalitaris -musdiskussion in England. In : Günther Heydemann / Eckhard Jesse ( Hg.), Diktaturver -gleich als Herausforderung. Theorie und Praxis, Berlin 1998, S. 41–73, hier 64; ders.,Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischerBegriffs - und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn 1999, S. 282. Zum historischenHintergrund : Armin Boyens, Die ökumenische Bewegung und die totalitären Ideologiendes 20. Jahrhunderts. In : Martin Greschat / Jochen - Christoph Kaiser ( Hg.), Christentumund Demokratie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 19–44.

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tiven Zeitalters ist es, der sich hinter dieser pfäffischen Philosophie des Massen -menschen verbirgt.“94 In seinem mehrere Jahrzehnte später erschienenenMessianismus - Traktat hat Schütz sich auf Ischboldins Charakteristik des ideo-kratischen Wirtschaftssystems („Die Ideokratie als mammonistischer Messias“)berufen.95

Eine Verbindung von Christentum, Sozialstaat und liberaler Demokratiestellte der seit 1926 in Dresden Soziologie lehrende Exilrusse Fedor Stepun, einehemaliger Mitarbeiter in der Regierung Kerenskijs, den ideokratischen Lehrenunterschiedlicher Observanz entgegen. Bereits in seiner ersten Vorlesung imSommersemester 1926 („Soziologische Grundprobleme der Revolution“)bekannte sich Stepun als „überzeugter und wohl auch konsequenter Demokrat“,der „vollkommen jede Ideokratie kommunistischer, faschistischer, rassistischerund eurasischer Ordnung“96 ablehne. In seiner deutschsprachigen Schrift „DasAntlitz Russlands und das Gesicht der Revolution“ (1934) beschrieb er denBolschewismus als ein an den Propheten Marx, Engels und Lenin ausgerichte-tes „ideokratisch - hierarchisch - bürokratisches System“,97 das die Hierarchie derorthodoxen Kirche mit ihren Riten nachahme. Zwei Jahre später – und nachmancherlei ( vergeblichen ) Versuchen, sich mit den neuen nationalsozialistischenMachthabern irgendwie zu arrangieren98 – konfrontierte er ( kurz vor seinerEntlassung als „politisch unzuverlässiger“ Hochschullehrer in Dresden ) in derPariser Exilzeitschrift „Novyj Grad“ den „liberalen Staat“ mit seinen autoritä-ren wie „ideokratischen“ Gegenspielern :

94 Paul Schütz, Die politische Religion. Eine Untersuchung über den Ursprung des Verfallsin der Geschichte (1935). Hg. von Rainer Hering, Hamburg 2009, S. 67. Siehe zuPerson und Werk die Einleitung von Rainer Hering, S. 9–48.

95 Paul Schütz, Das Mysterium der Geschichte. Von der Anwesenheit des Heilenden in derZeit, Hamburg 1963, S. 235, Išboldin - Verweis S. 234.

96 Christian Hufen, Fedor Stepun. Ein politischer Intellektueller aus Russland in Europa.Die Jahre 1884 bis 1945, Berlin 2001, S. 231. Die Vorlesungsniederschrift erschien aller-dings zunächst nur in russischer Sprache. Vgl. ebd., S. 220.

97 Fedor Stepun, Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution, Bern 1934, S. 59.Siehe hierzu auch : Klaus - Georg Riegel, Der revolutionäre Orden der russischen Intelli -genz aus der Sicht Fedor Stepuns. In : Karl - Siegbert Rehberg ( Hg.), Differenz und Inte -gration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses derDeutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 1996 in Dresden, Band II : Sektionen,Arbeitsgruppen, Foren, Fedor - Stepun - Tagung, Opladen 1997, S. 871–875, hier 872.

98 Vgl. Alf Christophersen, Paul Tillich im Dialog mit dem Kultur - und Religionsphilo -sophen Fedor Stepun. Eine Korrespondenz im Zeichen von Bolschewismus und Natio -nalsozialismus. In : Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the Historyof Modern Theology, 18 (2011), S. 102–172, hier 115–118; Karl - Siegbert Rehberg,„Seelentum und Technik“ in zerrissener Zeit. Der Exilrusse Fedor Stepun als Schrift -steller, „Theologe“ und früher Fachvertreter der Soziologie in Dresden. In : JohannesRohbeck / Hans - Ulrich Wöhler ( Hg.), Auf dem Weg zur Universität. Kulturwissenschaf -ten in Dresden 1871–1945, Dresden 2001, S. 330–356, hier 335–339; Hubert Treiber,Fedor Steppuhn in Heidelberg (1903–1955). Über Freundschafts - und Spätbürger -treffen in einer deutschen Kleinstadt. In : ders./ Karol Sauerland ( Hg.), Heidelberg imSchnitt punkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines„Welt dorfes“ : 1850–1950, Opladen 1995, S. 70–118, hier 97 f.

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„Während der liberale Staat bestrebt ist, die einander widerstrebenden Meinungen,Absichten und Interessen der Bürger auszugleichen und zu versöhnen, tendiert die dage-gen ankämpfende neue Form demokratisch - ideokratischer Diktatur gerade zum Gegen -teil : zur Vernichtung aller Unterschiede durch die Gleichsetzung von allem und jedem.Wenn in der autoritären Hierarchie die Wahrheit in der Einheit, im liberalen Parlamenta -rismus im Gleichgewicht und in der antiliberalen sozialistischen Demokratie in derGleichheit besteht, dann ist das im System der ideokratischen Diktatur die Identität, dieIdentität von Führer, Partei und geführten Massen.“99

Jahre später hat Stepun diese Gegensätze in Beziehung zu unterschiedlichenWahrheitsbegriffen gesetzt und das „relationistische“ Wahrheitsverständnis desLiberalismus mit den „absolutistischen“ Wahrheiten der „ideokratischen“100

Bewegungen konfrontiert.Die deutsche Rezeption der Schriften Stepuns wurde dadurch erschwert,

dass sie meist in russischer Sprache und oft erst Jahre später auf Deutscherschienen. Wie die inzwischen veröffentlichten Briefe zeigen, die Stepun mitseinem Dresdner Kollegen und Freund Paul Tillich während der 1930er und1940er Jahre wechselte, bildete die „Ideokratie“ eine Schlüsselkategorie seinespolitisch - philosophischen Denkens.101 Möglicherweise stand der 1933 in dieUS- amerikanische Emigration getriebene religiöse Sozialist und NS - GegnerTillich unter dem Einfluss Stepuns, als er während einer kurzen Deutschland -reise im Mai / Juni 1951102 in seinen Vorlesungen an der Berliner Hochschulefür Politik auf den Ideokratiebegriff zurückgriff :

„Unter gewissen Bedingungen entsteht oft ein Fanatismus, der götzendienerisch etwasEndliches absolut setzt; diese Möglichkeit ist immer gegeben, weil die Menschen um derSicherung ihrer Existenz willen nichts mehr lieben, als sich einem Endlichen ganz hin-geben zu können, und wenn sie es tun, dann entwickelt sich aus dieser vollkommenenHingabe eine Fülle kämpferischer Kräfte – der Willen zum Märtyrertum, die Bereitschaftzur völligen Unterordnung, vor allem aber das, was man Ideokratie nennen kann : dieHerrschaft einer Idee, die göttliche Kraft bekommen hat, die einen Gott ersetzt unddaher nicht mehr angezweifelt werden darf und daher Unbedingtheit fordert.“103

Interessanterweise fehlt der Ideokratiebegriff in den Kontroversen, die Stepunin den frühen 1930er Jahren mit Waldemar Gurian um die Deutung des Bolsche -

99 Fedor Stepun, Rußland. Eine Erwartung (1936). In : ders., Russische Demokratie alsProjekt. Schriften im Exil 1924–1936. Hg. von Christian Hufen, Berlin 2004, S. 232–267, hier 239. Erstveröffentlichung : ders., Čaemaja Rossija. In : Novyj Grad, (1936) 11,S. 11–40.

100 Fedor Stepun, Der Bolschewismus und die christliche Existenz, München 1959, S. 19(„Der Kampf der liberalen und der totalitären Demokratie um den Begriff der Wahr -heit“).

101 Siehe nur die aus dem Ausland versandten ( ohne Rücksicht auf mögliche Überwacherder politischen Polizei ) verfassten Briefe an Tillich vom August 1934 ( aus Schweden )und vom März 1935 ( aus Luzern ), abgedruckt bei : Christophersen, Paul Tillich, S. 125–134 und 134–142, hier 126, 137, 139 f.

102 Vgl. Wilhelm und Marion Pauck, Paul Tillich, sein Leben und Denken, Band I : Leben,Stuttgart 1978, S. 247.

103 Paul Tillich, Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker. In : ders., Gesam -melte Werke, Band VI : Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichts -

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wismus geführt hat.104 Auch in Gurians Bolschwismus - Büchern aus den Jahren1931 und 1935 kommt er nicht vor.105 Dass der 1902 in St. Petersburg alsSpross einer jüdisch - armenischen Familie geborene, 1911 mit den Eltern nachDeutschland gekommene und zum Katholizismus konvertierte RusslandkennerGurian die Arbeiten Stepuns ebenso kannte wie die der Eurasier, darf zumin-dest für die Zeit ab 1932 vermutet werden, da sich die heftig Streitenden imJanuar zu einem klärenden Gespräch getroffen hatten.106 In dem für die Totalita -rismusdiskussion höchst bedeutsamen Vortrag, den Gurian im März 1952 aufder von Carl J. Friedrich organisierten Konferenz der American Academy ofArts and Sciences hielt, berief er sich nicht auf das Ideokratiekonzept seinessowjetologischen Konkurrenten Stepun, sondern auf den Ideokratiebegriff der„Russian Eurasian school“,107 um ihn zugleich in einer Weise zu gebrauchen,die der Begriffsverwendung Stepuns nahe stand. Im Unterschied zu seinen frü-heren Beiträgen108 wurde hier der Bogen vom Konzept der „politischen Religio -nen“ zu dem der „Ideokratie“ geschlagen : „The ideocratic and pseudo - religiouscharacter of totalitarianism must obviously result in conflict with traditional reli-gious groups.“109 Dies war eine Konsequenz der „formal structure of the tota-litarian ideocracy“, zu deren Elementen Gurian den Glauben an Gesetze „of

philosophie, Stuttgart 1963, S. 157–210, hier 208 ( Vier Vorträge, gehalten an derDeutschen Hochschule für Politik, Berlin, im Sommer 1951). Der Ideokratiebegriff fehltin den früheren Schriften zum „totalitären Staat“ und Kommunismus. Vgl. ders., Dertotalitäre Staat und die Forderungen der Kirche (1934); Die Kirche und der Kommunis -mus (1937). In : ders., Gesammelte Werke, Band X : Die religiöse Deutung der Gegen -wart. Schriften zur Zeitkritik, Stuttgart 1968, S. 121–145, 146–158. In den späterenWerken taucht der Begriff hingegen mehrfach auf. Vgl. ders., Das Christentum und dieBegegnung der Weltreligionen (1964). In : ders., Gesammelte Werke, Band V : Die Fragenach dem Unbedingten, Stuttgart 1964, S. 51–98, hier 54 : „Der quasi - religiöse Charak -ter jeder Herrschaft einer Ideologie – oder ‚Ideokratie‘, wie man sie auch nennenkönnte – führt unvermeidlich zu diesen Folgen“ –„die Lüge und der Massenmord“ wur-den „gerechtfertigt und organisiert, in Italien und Deutschland ebenso wie in Rußland“.

104 Vgl. Fedor Stepun, Christlich - faschistischer Probolschewismus ? Zu Waldemar Gurians:„Der Bolschwismus“. In : Religiöse Besinnung, 4 (1931/32) 2, S. 88–93; WaldemarGurian, Erwiderung. In : Religiöse Besinnung, 4 (1931/32) 2, S. 93–96; Fedor Stepun,Schlusswort zu „Christlich - faschistischer Probolschewismus ?“. In : Religiöse Besinnung,4 (1931/32) 3, S. 148–152.

105 Vgl. Waldemar Gurian, Der Bolschewismus. Einführung in Geschichte und Lehre,Freiburg i. Brsg. 1931; ders., Bolschewismus als Weltgefahr, Luzern 1935.

106 Vgl. Hürten, Waldemar Gurian. Ein Zeuge, S. 4. Zur Kontroverse dort auch S. 67. Siehezur Totalitarismuskonzeption Gurians auch : Heinz Hürten, Waldemar Gurian und dieEntfaltung des Totalitarismusbegriffs. In : Hans Maier ( Hg.), Totalitarismus und Politi -sche Religionen, Band 1, Paderborn 1996, S. 59–73.

107 Waldemar Gurian, Totalitarianism as Political Religion. In : Carl J. Friedrich ( Hg.),Proceedings of the Conference held at the Academy of Arts and Sciences, March 1953,Cambridge, MA 1954, S. 119–129, hier 123.

108 Siehe nur Waldemar Gurian, The Totalitarian State. In : Proceedings of the AmericanCatholic Philosophical Society, 15 (1939), S. 50–66; ders., Trends in Modern Politics.In : Review of Politics, 2 (1940), S. 318–336; ders., Totalitarian Religions. In : Reviewof Politics, 14 (1952) 1, S. 3–14.

109 Gurian, Totalitarianism as Political Religion, S. 123 f.

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necessary social development“,110 das Streben nach „the world’s salvation“, dieNichtrespektierung der Privatsphäre und die Forderung nach aktiver Unterstüt -zung, den Kampf gegen „even potential enemies“111 rechnete : „The ideocracy isthe ideology for the continuation of the present rule by a group which has estab-lished a system of absolute domination by terror, organization, manipulation,and propaganda.“112

In der Diskussion nach Gurians Vortrag war es Hannah Arendt, die sich derArgumentation des langjährigen Freundes und Diskussionspartners113 in weitenTeilen anschloss, ohne sich dessen Terminologie zu eigen zu machen. Denn ihrschien der Terminus „Logokratie“ angemessener, da die aus dem 19. Jahrhun -dert bekannten Ideologien durch ihren totalitären Gebrauch eine spezifischeZurichtung erhalten hätten. Hannah Arendt entwickelte einen Gedanken, derin ihrem wenige Monate nach der Konferenz erschienenen Aufsatz „Ideologyand Terror“ breiter ausgeführt wurde :114 eine absolut gesetzten Idee werde zurPrämisse, von der in einem logischen Prozess auf starre Weise Schlussfolgerun -gen gezogen würden, ohne die der Idee zugrunde liegende Realität ausreichendzu beachten. Dieser logische Prozesse passe sehr gut zu dem pseudowissen-schaftlichen Glauben an Gesetze der Geschichte oder der Natur : „For these rea-sons, I think that if we have to rename totalitarianism, the word ‚logocracy‘would be better than ‚ideocracy‘.“115

Statt „Logokratie“ verankerte sich „Ideokratie“ im Totalitarismusdiskurs,ohne sich indes zu einer Schlüsselkategorie bei der Analyse totalitärerHerrschaft zu entwickeln. Auch in den folgenden Jahrzehnten gelangte er weithäufiger in wissenschaftlichen Studien zum Bolschewismus / Kommunismus alszum Faschismus / Nationalsozialismus zur Anwendung. Ernst Fraenkel hatte die-sem Muster vorwegnehmend auf besondere Art entsprochen, als er in seinemwegweisenden Beitrag „‚Rule of Law‘ in einer sich wandelnden Welt“ (1943/44)zwei Typen des „totalitären Staates“ unterschied. Nur den ersten Typ bezeich-nete er als „Ideokratie“ und rekurrierte dabei anders als die meisten seiner(rechtshistorisch weit weniger gebildeten ) Zeitgenossen auf die Staatsfor -menlehre des 19. Jahrhunderts, namentlich auf Bluntschlis Typologie. Der Sow -jetkommunismus stand hier Pate : „Ein Staat ist eine Ideokratie, wenn er sichdurch das Bemühen legitimiert, außerhalb seiner eigenen Sphäre ein Ideal zuverwirklichen.“ Die Ideokratie gerate in Widerspruch zu Demokratie wieRechtsstaatlichkeit, weil sie zum einen die „wahre Lehre“ nicht zur Disposition

110 Ebd., S. 125.111 Ebd., S. 126.112 Ebd., S. 129.113 Vgl. nur Arendts freundschaftliches Gurian - Porträt in : dies., Menschen in finsteren

Zeiten. Hg. von Ursula Ludz, 2. Auflage München 1989, S. 310–323. Es handelt sichum die überarbeitete Fassung des Nekrologs aus : The Review of Politics, 17 (1955) 1,S. 33–42.

114 Vgl. Hannah Arendt, Ideology and Terror. A Novel Form of Government. In : TheReview of Politics, 15 (1953), S. 303–327.

115 Hannah Arendt, Diskussionsbeitrag. In : Friedrich ( Hg.), Proceedings, S. 134.

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von Mehrheitsentscheidungen stelle. Zum anderen sehe sie davon ab, das staat-liche Handeln strikt an Recht und Gesetz zu binden, da dies „zu Resultaten füh-ren könnte, die nicht der geheiligten Idee entsprechen, deren Schutz dem ideo-kratischen Staat anvertraut ist.“116 Beim zweiten Typus des totalitären Staateshingegen stehen Nationalsozialismus und Faschismus Pate : dem „Solipsismus“.Fraenkel hielt die ideologische Herrschaftslegitimation dieser Regime für eineFassade, denn die Herrscher des solipsistischen Staates glaubten „weder an Gottnoch an eine Idee; sie glauben ausschließlich an sich selbst. Ihre Religion ist derZynismus.“ Der Staat sei hier Selbstzweck, das Recht eine Frage politischerZweckmäßigkeit. Der Rechtsstaat werde deshalb verworfen, weil er „als eineHerrschaft absoluter Prinzipien betrachtet werden kann“.117

So stark Fraenkels Arbeiten über den Nationalsozialismus ( insbesondere der„Doppelstaat“) die NS - Forschung inspiriert haben, so wenig hat seine Deutungdes Nationalsozialismus als „Solipsismus“ Schule gemacht. Dagegen ist die Zahlder Autoren zahlreich, die den Bolschewismus aus „ideokratischer“ Perspektiveanalysiert haben und damit zugleich eine Vergleichsperspektive zum Faschis -mus/ Nationalsozialismus eröffneten. Dies gilt etwa für den liberalen französi-schen Soziologen Raymond Aron, der Nationalsozialismus und Bolschewismusals Formen einer „religion séculière“ deutete und dabei den macht - instrumen-tellen Charakter der „Ideokratie“ hervorhob, die „sich auf eine Ideologie“ beruft„und behauptet, ihr zu entsprechen“.118 Diese Interpretation steht – anders alsTzvetan Todorov meint – keineswegs in notwendigem Gegensatz zur Interpreta -tion von Cornelius Castoriadis, für den die Ideologie im „real existierendenSozialismus“ zu einer Fassade herabgesunken sei, sich die „idéocratie“ folglichin eine Art „stratocratie“119 verwandelt habe, in eine Macht, der Macht willen.Doch ist das Ideokratiekonzept anscheinend vor allem von solchen Autoren auf-gegriffen worden ( wie etwa dem Aron - Schüler Alain Besançon120), die der Ideo -logie im Sowjetkommunismus eine wichtige herrschaftslegitimierende und dasSelbstverständnis zumindest von Teilen der politischen Elite prägende Bedeu -tung beimaßen.121 Freilich hängt die Einordnung des Regimes entscheidenddavon ab, welche Phase seiner Entwicklung beschrieben wird. So betonen – folgtman einem weithin anerkannten Forschungsabriss – vor allem Experten derSowjetherrschaft ( wie Stéphane Courtois, François Furet, Martin Malia oder

116 Ernst Fraenkel, „Rule of Law“ in einer sich wandelnden Welt (1943/44). In : ders.,Gesammelte Schriften. Hg. von Alexander von Brünneck, Hubertus Buchstein undGerhard Göhler, Baden - Baden 1999, S. 58–73, hier 71.

117 Ebd.118 Raymond Aron, Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970, S. 173. Das französi-

sche Original : Aron, Démocratie et totalitarisme, Paris 1965, S. 275. Vgl. zu AronsAnsatz vor allem : Jean - Pierre Sironneau, Sécularisation et religions politiques, DenHaag 1980, S. 405.

119 Tzvetan Todorov, Le Siècle des totalitarismes, Paris 2010, S. 576.120 Vgl. Alain Besançon, Présent soviétique et passé russe, Paris 1980, S. 146.121 Siehe etwa : Carl A. Linden, The Soviet Party - State. The Politics of Ideocratic Despotism,

New York 1983.

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Nicolas Werth, allesamt von Kritikern eines „neuen Antikommunismus“122 hef-tig befehdet ) in den ersten drei Jahrzehnten ihrer Existenz die Verbindung von„Ideokratie“ und „Partokratie“, während die „institutionell domestizierteIdeokratie“123 der folgenden Jahrzehnte als Modell eine wesentlich beschei -denere Rolle spiele. Dagegen hat Ernest Gellner einen weiten Bogen in dieZukunft geschlagen, indem er den verblichenen Sowjetkommunismus mit derIdeokratie der islamistischen „Umma“ auf eine Vergleichsebene stellte und esablehnte, zwischen einer „Ideokratie alten oder neuen Stils“124 zu wählen.

V. Konzeptionelle Folgerungen aus begriffsgeschichtlichenBefunden

Das Wort „Ideokratie“ ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer vonder Französischen Revolution und ihren „Nachbeben“ aufgewühlten und tiefumgepflügten europäischen politischen Geographie im Rahmen einer Staatsfor -men - Typologie geprägt und begrifflich eingeführt worden. Sein Schöpfer sah inden so benannten politischen Systemen, Ideen und Bewegungen keine historischgänzlich neuartigen Phänomene, sondern schlug mit dem Neologismus einenuniversalhistorischen Bogen von den theokratischen „Priesterstaaten“ der AltenWelt bis in die neueste Zeit. Den „ideokratischen“ Staaten gemeinsam war dieLegitimierung der Herrschaft durch eine absolut gesetzte, Exklusivität beanspru-chende „Idee“ oder „Ansicht“, die als geistige Grundlage der Staatsgewalt allegesellschaftlichen Sphären durchdringe, gläubigen Gehorsam verlange und alleNichtgläubigen zu kollektiven Feinden und potentiell zu vernichtenden Schäd -lingen erkläre. Abweichend vom Wortschöpfer Heinrich Leo hat der einfluss -reiche Staatsrechtslehrer Johann Caspar Bluntschli den Begriff in eine konzep-tionell veränderte aristotelische Staatsformentypologie eingefügt, welche diequantitative Dimension ( nach der Zahl der Herrschenden ) durch die Frage nachder Herrschaftslegitimität ( aus der Perspektive der Beherrschten ) ersetzt unddie primär ideengeleiteten Herrschaftsformen nach ihrer Gemeinwohlorientie -rung in „Ideokratien“ und „Idolokratien“ unterteilt.

In dieser Differenzierung, die sich begriffsgeschichtlich nicht etablierenkonnte, kommt die normative Komponente des Ideokratiebegriffs klar zum Aus -druck. Allerdings war Bluntschli hierin inkonsequent. Denn in seiner Allgemei -

122 Enzo Traverso, Der neue Antikommunismus. Nolte, Furet und Courtois interpretierendie Geschichte des 20. Jahrhunderts. In : Volker Kronenberg ( Hg.), Zeitgeschichte,Wissenschaft und Politik. Der „Historikerstreit“ – 20 Jahre danach, Wiesbaden 2008,siehe hier vor allem zur Deutung des Kommunismus als „Ideokratie“ S. 78 f.

123 So die Zusammenfassung des Forschungsstandes bei : Manfred Hildermeier, Die Sowjet -union 1917–1991, München 2001, S. 160.

124 Vgl. Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen,Stuttgart 1995, S. 224; ders., Islam and Marxism : some comparisons. In : InternationalAffairs, 67 (1991) 1, S. 1–6. Vgl. dazu auch den Beitrag von Jerzy Maćków in diesemBand.

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nen Staatslehre ging er auf die „Idolokratie“ nicht näher ein und behandeltestattdessen die ( wenigen ) Vorzüge ( die „erhabene Autorität“ der im „Volksglau -ben“125 verwurzelten Ideokratien ) neben den ( zahlreichen ) Mängeln – nichtzuletzt der Vernichtung der individuellen Freiheiten. Dennoch hat Bluntschli mitder Thematisierung der Wirkung der Herrschaftslegitimation auf den Grad per-sönlicher Freiheitsrechte eine normative Komponente eingeführt, die eine Ver -bindungslinie zum kritisch - analytischen Ideokratiekonzept herstellt, wie es sichin den 1930er Jahren in osmotischem Austausch mit wissenschaftlichen Diskur -sen um „Totalitarismus“ und „politische Religionen“ unter dem Eindruck „ideo-kratischer“ oder „totalitärer“ Regimebildungen in Europa auszubreiten begann.Allerdings ist der „Gesprächsfaden“ zur Staatslehre des 19. Jahrhunderts viel-fach abgerissen. Ernst Fraenkel hat als einer der wenigen bei seiner Differen zie -rung zwischen „ideokratischem“ und „solipsistischem“ Totalitarismus aufBluntschli verwiesen126 – und mit dieser Unterscheidung keine Traditionbegründet.

Zwischen der konservativen / liberalen Staatslehre des 19. Jahrhunderts unddem analytischen Ideokratiekonzept von Segmenten der frühen Totalitarismus -forschung liegen die „Eurasier“, die wesentlich zur Verbreitung des Ideokratie -begriffs beigetragen haben, auch wenn anscheinend keine Verbindung zurBegriffstradition des 19. Jahrhunderts zurückreich. Dies ist nicht so erstaunlich,da die russischen Exilanten den Ideokratiebegriff normativ ganz anders als Leound Bluntschli füllten, propagierten sie mit ihm doch eine Art Philosophen herr -schaft, die das von den Bolschewisten und Faschisten entwickelte, jedoch nachihrer Auffassung nur unzureichend durchdachte und praktizierte Konzept voll-enden und zumindest auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe alleanderen Staatsformen ( auch die „dekadente“ liberale Parlamentsherrschaft )ablösen sollte. Das eurasische Ideokratiekonzept verhält sich zum analytischenIdeokratiebegriff wie Mussolinis Totalitarismusbegriff zum analytischen Tota -litarismusansatz.127 Von Exilrussen entwickelt, waren es nicht zuletzt auch exil-russische Autoren ( wie Berdjaev, Išboldin, Stepun, Timašev ), die das Ideo -kratiekonzept der Eurasier kritisierten und die analytischen Potenzen derPro grammformel zumindest ansatzweise in ein wissenschaftliches Kategorien -sys tem überführten. Die Einführung des Ideokratiebegriffs in den Hauptstromder seinerzeitigen Totalitarismusforschung leistete nicht zufällig der in St. Peters -burg geborene Russland - und Bolschewismuskenner Waldemar Gurian.

125 Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, S. 260.126 Siehe zur staatsrechtlichen Rezeption des Ideokratiebegriffs noch : Gerhart Schramm,

Das Problem der Staatsform in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts.Zugleich ein Beitrag zur Deutung der Staatsphilosophie des deutschen Idealismus,Berlin 1938, S. 263.

127 Die von Mussolini propagierte „feroce volonta totalitaria“ seiner Bewegung bedeutetedie Umwertung des kritischen Totalitarismusbegriffs des frühen Antifaschismus zu einerpositiven Selbstcharakterisierung. Vgl. Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitaris -musbegriffs in Italien. In : Jesse ( Hg.), Totalitarismus, S. 95–117.

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Der radikal - freiheitszerstörende Charakter der Ideokratie, wie er von denVertretern eines analytischen Begriffsverständnisses implizit oder explizit betontwurde, beruht auf einer Reihe von Besonderheiten, welche die entsprechendenRegime von allen anderen Formen der Autokratie unterscheiden : Ideokratenherrschen weder aus reinem Eigeninteresse, noch berufen sie sich in erster Linieauf ererbte Autorität und Tradition. Vielmehr sehen sie sich im Besitz einerunanfechtbaren Lehre, die Antworten auf alle Lebensfragen verspricht, diezuverlässige Deutung und Erklärung von Vergangenheit, Gegenwart und Zu -kunft erlaubt und einen Schlüssel für die Lösung aller politischen Problemebereitstellt. Sie dulden neben sich keine anderen Sichtweisen, treten in Kon -kurrenz sogar zu den Weltreligionen und zeichnen sich durch mangelndenRespekt gegenüber den individuellen Glaubensüberzeugungen des Einzelnenaus. Gleichzeitig sind sie daran interessiert, „Ungläubige“ zu bekehren undbegeisterte Anhänger für die Realisierung großer Ziele zu mobilisieren.Ideokratische Politikentwürfe enthalten wenig Raum für schrittweise Verände -rung, vorsichtiges Vorantasten, Versuch und Irrtum, Kompromissbildung undKonsenssuche. Sie leben vom großen Wurf und von Heilsversprechungen, pro-pagieren die Tabula rasa, wollen die bisherigen Geschichte zugunsten zwischen-menschlicher Beziehungen und Ordnungsformen „neuer Qualität“ hinter sichlassen und ihre Grundideen „mit letzter Konsequenz“ umsetzen.

Die ideokratische Elite stützt ihren Herrschaftsanspruch auf den Besitz unan-fechtbarer Wahrheiten. Diese begründen auch den Schlüsselmechanismus fürKooptation und soziale Integration. „Fanatische“ Hingabe ist das wichtigsteSelektionskriterium für den Aufstieg in Führungspositionen. Wer es an ideolo-gischer Zuverlässigkeit fehlen lässt, ist für wichtige Funktionsbereiche disquali-fiziert. Meist entscheiden „alte, bewährte Mitglieder“, wer „als neues Mitgliedaufzunehmen ist“.128 Die Elite beruft sich auf den theoretischen Volkswillen,nicht auf den empirischen. Wo Wahlen stattfinden, entscheidet die Gläubigkeitüber die Kandidatenzulassung. Soziale Integration erfolgt über die Organisatio -nen glühender Gläubiger und durch die Bewährung in ihnen. Anders als auto-ritäre Regime sind ideokratische nicht nur bestrebt, Menschen zum Gehorsamund zur Unterlassung illoyaler Handlungen zu veranlassen : Diese werden viel-mehr genötigt, als „aktive und enthusiastische Unterstützer“129 zu fungieren.

Ideokratien lassen besondere Formen von Gewaltherrschaft und Unter -drückung erkennen. Die Erhabenheit der ideologischen Ziele rechtfertigt jedesMittel. Wer sich der rechten Sache widersetzt oder ihr im Wege steht, gilt „nichtmehr als würdig, vom Erdboden getragen zu werden“.130 Wer durch „Gesin -nung“, „Geburt“ oder „Vermögen“131 herausragt, fällt der Vernichtung anheim.Vor allem die Jakobinerherrschaft bildet das Anschauungsmaterial, das der

128 Timaschew, Die politische Lehre, S. 602.129 „Men and groups [...] are forced to be active and enthusiastic supporters.“ Gurian,

Totalitarianism as Religion, S. 8.130 Leo, Studien und Skizzen, S. 150.131 Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, S. 263.

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Beschreibung ideokratischer Gewaltherrschaft von Seiten der konservativenund liberalen Staatslehre des 19. Jahrhunderts zugrunde liegt. Das Ideokratie -konzept des 20. Jahrhunderts fügt dieser Quellenbasis einen erschreckend rei-chen Belegfundus aus der Herrschaftspraxis totalitärer Regime hinzu.

Die Verfolgung „objektiver Feinde“ ist bereits den Ideokratietheoretikern des19. Jahrhunderts dem Sinn nach bekannt. Denn die Vorläufer der modernentotalitären Bewegungen unterscheiden sich von diesen keineswegs durch einhöheres Maß an Toleranz oder ein weniger hartnäckiges Bestreben, alle abwei-chenden Denk - und Lebensformen auszumerzen, sondern durch den Nicht -besitz der neuen Techniken der Massenlenkung und - beherrschung, die es über-haupt erst erlauben, den ideokratischen Anspruch über lokale Zentren hinausgroßräumig in die Tat umzusetzen : die pseudodemokratischen Plebiszite undVolkswahlen, die akklamierenden Parlamente, die modernen Massenkommuni -kationsmittel, die nach militärischen Vorbildern organisierten Monopolparteienmit ihnen angeschlossenen Massenorganisationen, die wuchernden Verfolgungs -apparate der Geheimpolizeien etc. Robespierre hätte – weit mehr noch als derrussische Zar, Ludwig XIV. oder Alexander der Große – „allen Grund, dieGeschwindigkeit und Wirksamkeit zu beneiden, mit der Andersdenkende liqui-diert, Zweifler durch Säuberungen beseitigt und Verdächtige in Konzentrations -lager gesammelt werden.“132 Der ideokratische Antriebsmechanismus jedoch istin seinen wesentlichen Elementen der gleiche geblieben.

132 Carlton J. H. Hayes, Der Totalitarismus als etwas Neues in der Geschichte der west -lichen Kultur (1939). In : Seidel / Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, S.86–100, hier 98.

„Ideokratie“ – eine begriffsgeschichtliche Skizze 27

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