Arbeit zur Studienzeit vom 1. Juni bis 31. August 2017 Der moderne sakrale Raum Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, dargestellt an ausgewählten Kirchen vorgelegt von Sylvia v. Kekulé Pfarrerin der ev. Kirchengemeinde Hermsdorf Wachsmuthstrasse 25 13467 Berlin a
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Arbeit zur Studienzeit
vom 1. Juni bis 31. August 2017
Der moderne sakrale Raum
Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne,
dargestellt an ausgewählten Kirchen
vorgelegt von Sylvia v. Kekulé
Pfarrerin der ev. Kirchengemeinde Hermsdorf
Wachsmuthstrasse 25
13467 Berlin
a
Arbeit – Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne -- 2 --
Inhaltsverzeichnis
Vorwort …………………………………………………… 3
Begriffsklärung: Nachkriegsmoderne …………………… 4
Ronchamp ……………………………………………….. 5
Begriffsklärung: Arche und Zelt ………………………….. 7
Kirchenbautag 1951 und St. Canisius ……………………. 9
Architektur und Liturgie ………………………………….. 10
Grundrissformen und Wesensmerkmale …………………. 11
Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ……………………… 15
Das Gemeindezentrum …………………………………… 19
Kirche im Gemeinwesenzentrum Heerstrasse Nord .. 19
Eine Gegenüberstellung ……………………………. 21
Schlussbetrachtung ……………………………………….. 23
Literatur …………………………………………………… 24
Arbeit – Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne -- 3 --
Vorwort
Eusebius von Caesarea (3./4. Jh.) beschrieb in seiner Kirchweihpredigt in Tyrus die
Bedeutung des Kirchengebäudes als Abbild der Gemeinschaft der Gläubigen. Er war
es, der erstmals das Kirchengebäude ausdrücklich in allen Teilen als Bild der Ekkle-
sia begriff. Damit bezeichnete er den Ort und die gottesdienstliche Gemeinde mit
dem gleichen Wort.1 Dieser Gedanke wirkte wegweisend für den Kirchenbau der
Nachkriegsmoderne.
Bei einer Erörterung des Themas muss zwischen den Entwicklungen in Ost- und
Westdeutschland unterschieden werden. Ich habe mich auf den Westen beschränkt.
Weiterhin habe ich mich – bis auf wenige Ausnahmen – auf Kirchen in Berlin kon-
zentriert.
Zeitgleich zu den neuen Wegen, die die Architektur in dieser Zeit beschritt, wurde in
der evangelischen und in der katholischen Kirche über neue Formen der Gottes-
dienstgestaltung nachgedacht. In der katholischen Kirche hatte Johannes XXIII. das
2. Vatikanische Konzil einberufen. Dort wurde u.a. das Thema „Liturgie“ diskutiert.
So wurde z.B. mehr Einsatz der jeweiligen Landessprache im Gottesdienst gefordert,
die Gläubigen sollten als Gemeinde aktiv ins liturgische Geschehen einbezogen wer-
den und die Zentrierung auf den Priester sollte zurücktreten. Mit dem neuen römi-
schen Messbuch von 1969/70 wurde die alte Tridentinische Messe abgeschafft, bei
der die Priester das Messopfer mit dem Rücken zur Gemeinde feiern.2
In Berlin brachte der evangelische Pfarrer Ernst Lange zusammen mit Alfred Bute-
nuth das Experiment „Ladenkirche“ auf den Weg. Zu Pfingsten 1960 wurde die La-
denkirche eingeweiht. Ein ehemaliger Bäckerladen in Berlin-Spandau war zugleich
Gottesdienstraum und Gemeindezentrum. Im Mittelpunkt des Gemeindelebens stand
der Gottesdienst am Runden Tisch. Die Predigt bestand aus einem Impuls mit an-
schließendem Bibelgespräch.
Die Kirche sollte im Alltag der Menschen verankert werden - in Form eines Nachbar-
schaftszentrums mit Besuchsdiensten in Familien und bei Vereinen, gemeinsamen
Seminaren und Nachbarschaftssonntagen. Gemeinsam gestaltete die Gemeinde Kir-
che und Alltag: Nach dem Gottesdienst blieben die Gemeindemitglieder zum Kaffee-
trinken zusammen, es wurde ein Predigtvorbereitungskreis eingerichtet, bei dem die
Geistlichen zusammen mit den Laien den jeweiligen Predigttext besprachen.
Verantwortung und Wertschätzung der Gemeindemitglieder waren die tragenden
Säulen des Konzepts. So setzte die Gemeinde durch, dass im Kirchenkreis Spandau,
anders als in den anderen Berliner Kirchenkreisen, das Superintendenten-Amt abge-
schafft und durch ein Leitungsgremium ersetzt wurde.3
Die Ladenkirche existierte in dieser Form bis 2004, wurde aber als Mischung von
einladenden Angeboten, sozialem Engagement und Diskussionsforum zu einem der 1Miriam Czock: Gottes Haus: Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter.
S. 33 2 www.domradio.de
3 Ohne Namen: Es muß nicht wie immer sein. www.ev-akademiker.de
Arbeit – Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne -- 4 --
meistbeachteten Reformprojekte der evangelischen Kirche. Vieles, was damals als
neu und reformerisch erlebt wurde, ist heute im Alltag und Gottesdienst der Gemein-
den selbstverständlich. Und viele Ideen und Gedanken sind in die Architektur einge-
flossen.
Begriffsklärung: Nachkriegsmoderne4 5
Der Begriff „Nachkriegsmoderne“ ist im Rückblick formuliert worden. Er entstand
in den 1990er Jahren. Wie jede Zeitunterteilung in Phasen stößt auch diese Benen-
nung an ihre Grenze, weil die Übergänge oft nicht klar begrenzt sind und/oder be-
grenzt werden können. Bei der Differenzierung innerhalb dieser Periode wird in allen
Publikationen grundsätzlich von einer Unterteilung in zwei Phasen ausgegangen, die
meist ganz allgemein als „die fünfziger Jahre“ und „die sechziger Jahre“ angegeben
wird. Ihre Vorläufer waren die sog. Klassischen Moderne der 1920er und frühen 30er
Jahre des 20. Jahrhunderts.
So begrenzen die Herausgeber der „Baukunst der Nachkriegsmoderne“ den Zeitrah-
men von 1949 bis 1979. „Der Bearbeitungszeitraum endet also nicht mit der politi-
schen Wende von 1989 und dem Ende der Teilung, sondern bereits rund ein Jahr-
zehnt zuvor mit der architekturpolitischen Wende … . In Westberlin war es die seit
den späten 1970er Jahren vorbereitete Internationale Bau-Ausstellung (IBA) 1984,
die mit der „behutsame Stadterneuerung“ und „kritischen Rekonstruktion“ (Kleihues
1987) in Bestandsgebieten und mit einer durch eine Elite postmoderner und spätmo-
derner Architekten des In- und Auslandes umgesetzten Stadtreparatur die Rückkehr
zum Leitbild der europäischen Stadt der Vormoderne einleitete.“6
Ronchamp
In der Nachkriegsmoderne entstanden im Kirchenbau neue Gestalten und Formen, die
ebenso theologisch inspiriert waren wie jene des Mittelalters und der Neuzeit.
Einer der einflussreichsten und wegweisenden Architekten dieser Zeit war Charles-
Édouard Jeanneret-Gris, der unter dem Namen Le Corbusier bekannt wurde. Er, „der
große Planer und Vorreiter der Avantgarde, trat in den Jahren nach dem Weltkrieg …
mit Projekten an die Öffentlichkeit, die seine Bedeutung als wohl wichtigster Archi-
tekt des Jahrhunderts festigten.“7 Mit der Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut
setzte er die Gedanken des Dominikaners Alain Marie Courturier um.
Dieser leitete mit seiner Äußerung „Alles Ewige ist gleichzeitig modern" in der ersten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Notwendigkeit zu einem umfassenden Dialog
zwischen zeitgenössischer Kunst und der Theologie ab. So wurden Matisse, Picasso,
4 Baukunst der Nachkriegsmoderne, S. 24ff. Herausgegeben von Adrian von Buttlar, Kerstin Wittmann-Englert, Gabi
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Als Beispiel sei hierfür die Zehlendorfer Kirche Schönow (1960-61) mit ihrem stei-
len, tief heruntergezogenen Satteldach genannt. Die organische Form und zeltartige
Konstruktion ist ein wesentliches Merkmal der Architektur von Frei Otto. Für die
Kirche Schönow, die er zusammen mit Ewald Bubner entworfen hat, „wählte Frei
Otto eine auf Druck und Zug beanspruchte Tragkonstruktion aus Stahl, die die holz-
verschalte Decke aufnimmt und knapp zwei Meter oberhalb des Erdbodens endet.
Diese Dachkonstruktion ruht auf dreifüßigen Betonstützen. Stirn- und Seitenwände
sind klarsichtig verglast, so dass der Eindruck eines „schwebenden“ Daches ent-
steht.“15
Kirche Schönow
Kirche Schönow
15
Kerstin Englert, Vortrag. masch.schriftl. Manuskript, S. 8. Gehalten im Februar 1999 an der Freien Universität Berlin.
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Kirchenbautag 1951 und St. Canisius
Von den 342 Kirchen und Synagogen, die zu Beginn des Krieges in Berlin existier-
ten, wurden zwischen 1933 und 1945 309 entweder ganz zerstört oder zumindest
schwer beschädigt.
Die evangelische Kirche reagierte auf die veränderte Situation der Nachkriegszeit mit
der Organisation von „Kirchbautagen“. Seit 1946 finden sie auf Einladung der je-
weils gastgebenden Landeskirche an stets wechselnden Orten in Deutschland statt.
Anhand ihrer Themen lässt sich bundesrepublikanische Nachkriegskirchengeschichte
ablesen. So ging es zunächst vor allem um Wiederaufbau.16
Das Thema der 2. Tagung, sie fand 1951 in Rummelsberg statt, lautete „Grundsätze
für die Gestaltung des gottesdienstlichen Raumes der evangelischen Kirchen“. Damit
sollte all denen, die mit dieser Aufgabe befasst waren, eine Hilfe an die Hand gege-
ben werden. Damit wurde zugleich die Loslösung vom Historismus und die Offenheit
gegenüber dem Neuen propagiert.17
Dass das Konzept genauso in der Katholischen Kirche angewendet wurde, zeigt der
eigentliche Auftakt der modernen Berliner Sakralarchitektur: die katholische St. Ca-
nisius-Kirche, die von Reinhard Hofbauer entworfen, von 1954 bis 1957 gebaut und
1995 durch einen Brand zerstört wurde.
St. Canisius
16
Sonntagsblatt 19/2014 vom 11.05.2014 17
2. Evangelische Kirchbautagung Rummelsberg 1951. A. Einleitung.
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St. Canisius
Der Bau erhob sich über einem gestaffelten Grundriß, der sich nach Osten zum er-
höhten Chor hin verjüngte. „Zwischen dem massiven Ost-und Westwerk aus Mauer-
werk und Stahlbeton steht ein System von Stahl-Gitterbindern, die durch sichtbar ge-
lassene Stahlrohre in der Längsrichtung der Kirche gegeneinander abgesteift sind.“
Die Vorhalle wurde flankiert von Werktags- und Taufkapelle. Im Aufriß erschien die
Kirche als eine Folge von tonnengewölbten Raumabschnitten (Brückenbindern) un-
terschiedlicher Krümmung, deren westliche Wandabschnitte sich in Buntglas öffne-
ten.18
„Die plastische Raumidee wird unterstrichen durch den Wechsel zwischen den
Flächen der weißen Lichtkappen und der silbergrauen, niedrigeren Schattenkappen,
deren tragende Stahlkonstruktionen sichtbar als schmale gelbe Bänder erscheinen.
Der Kirchenboden ist mit schwarzem Gußasphalt belegt.“19
So wurde ein Gotteshaus aus dem Geist der Zeit mit den Mitteln der Zeit – Beton,
Stahl, Glas – gebaut.
Architektur und Liturgie
Im Mittelpunkt kirchlichen Bauens der ersten Nachkriegsjahrzehnte steht der liturgi-
sche Sinn des Gebäudes, das mehr als nur ein funktionaler Raum sein soll.
Schon 1921 hatte Cornelius Gurlitt in einem Handbuch für Pfarrer und Gemeinde als
Kriterium für die Gestaltung einer Kirche empfohlen: „Jedes dieser Gotteshäuser ist
18
Kerstin Englert. Vortrag. masch.schriftl. Manuskript, S. 4. Gehalten im Februar 1999 an der Freien Universität Berlin. 19
Franz Wagenhäuser: Vom inneren Baugesetz der Kirche in „Planen und Bauen im Neuen Deutschland“, S. 191
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nur dann in seiner Gestaltung vollkommen, wenn es dem Zwecke entspricht, dem es
dient.“20
Bartning, der „als Erneurer des evangelischen Kirchenbaus im 20. Jahr-
hundert aus dem Geist der Liturgie“21
verstanden wird, öffnete behutsam die Sicht
auf den Kirchenbau. „Der Gang in eine Kirche ist … bereits ein religiöser Inhalt. Der
Einzelne bindet sich freiwillig an die Gemeinschaft. Kirchengebäude sind nun dieser
öffentliche Ort, an dem die Gemeinschaft sichtbar wird, die durch ein gemeinsames
nicht egozentrisches Verhalten verbunden ist. Kirchenbau ist daher mehr als nur das „Gehäuse der Versammlung, er ist die sichtbare Form und Gestalt der Gemeinschaft“.
Damit ist aber die strenge Bindung an die liturgische Anordnung für den Kirchenbau
mindestens erweitert.“22
Ausdruck fand das in den 50er Jahren in der sich verändernden Strukturierung der
Innenräume: Die Kirche dient ebenso der Liturgie – umgreift und behaust sie
– wie die Liturgie der Kirche dient – von ihr empfängt sie ihre Gestalt.23
Es ging
Bartning um die „Wechselwirkung von architektonischer und liturgischer Span-
nung“24
Die Grenzen fand sein Konzept, wo „die Erneuerung des evangelischen Kir-
chenbaus im 20. Jahrhundert als eine Architektur von Sitzordnungen missverstanden
wurde. Weite Teile seiner Ausführungen zum Kirchenbau kreisen um die Frage, wie
Kanzel, Altar und Sitzordnung der Gemeinde in ein stimmiges Gesamtkonzept über-
führt werden konnen.25
Grundrissformen und Wesensmerkmale
Charakteristisch für den Kirchenbau der späten 50er und 60er Jahre sind polygonale
Grundrissformen, z. B.
Kirche am Lietzensee in Charlottenburg– fünfeckiger Grundriss,
Architekt Paul Baumgarten (1957-59);
Philippus-Kirche in Friedenau – sechseckiger Grundriss,
Architekt Hansrudolf Plarre (1959-60);
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg – achteckiger Grundriss
Architekt Egon Eiermann (1957-1961).
Vorherrschend blieb jedoch der rechteckige Grundriss, z.B. bei der
Michaels-Kirche in Schöneberg,
Architekten Günther Kohlhaus und F. O. Seeger (1955/56);
Kirche zur Heimat,
Architekt Peter Lehrecke (1955-1957)
20
Cornelius Gurlitt: Pflege der kirchlichen Kunstdenkmäler. 21
Grundwissen Christentum Band 4: Thomas Erne (Hg.) Kirchenbau. S.231 22
ebd, S. 229 23
ebd, S. 231 24
Otto Bartning: Vom Raum der Kirche, S. 114. 25
Grundwissen Christentum Band 4: Thomas Erne (Hg.) Kirchenbau. S.231
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Michaelskirche
Darüber hinaus fallen großflächige Verglasungen der Wandflächen auf. Diese sind
auch in der profanen Baukunst dieser Zeit zu finden. Einer der sehr bekannten Bauten
ist die Neue Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe.
Neue Nationalgalerie
Außergewöhnlich ist in der Sakralarchitektur indes die vollständige Verglasung der
Altarwand – zumindest dann, wenn sie farblos ist wie in der Kirche am Lietzensee,
der Kirche zur Heimat, Kirche Schönow Buschgraben.
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Kirche zur Heimat
Kirche am Lietzensee
Kirche Schönow Buschgraben
Damit weisen die Wände hinter dem Altar und damit der gesamte Kirchenraum auf
die Umgebung. In der Kirche zur Heimat steht das Kreuz in der Sichtachse zum Al-
tar, aber außerhalb des Kirchenraumes. Das spitz zulaufende Dach, gegeneinander
gestellte Pultdächer, lässt unschwer „Zelt“ assoziieren. So sind Form und Inhalt bib-
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lisch aufeinander bezogen: Das Gottesvolk, geborgen in der Wohnung Gottes, ist zu-
gleich mit seinem gelebten Glauben Teil der Welt.
Weitaus verbreiteter in der Sakralarchitektur ist die Gestaltung der Wandflächen
durch Farbverglasungen. Damit wurde ein Aspekt aus der Gotik weitergeführt: „Ziel
war eine lichtdurchflutete diaphane Struktur, die dem Gläubigen eine Ahnung von
der Schönheit und Stimmigkeit des Reiches Gottes vermittelte.“ 26
Chartres, Nordrose ab 1194
Die Himmelfahrtskirche von Otto Bartning im Wedding (1954-56) und die Philippus-
Kirche sind Beispiele dafür. Beide Bauten bilden in sich abgeschlossene Raumeinhei-
ten, deren Wirkung wesentlich von den intensiv leuchtenden Farbverglasungen be-
stimmt wird.
26
Stefan Breitling: Bauformen und Baustile. Vorlesung am 10.06.2003: Bauformen der Gotik
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Himmelfahrtskirche
Philippus-Kirche
Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Dies gilt insbesondere für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche (1957-63) von
Egon Eiermann. Sie ist nicht nur architektonisch, sondern auch städtebaulich von be-
sonderem Interesse, wie ein Blick auf die veränderte Platzsituation zeigt. Und auch
die Namen des Platzes in je unterschiedlicher Zeit sind Programm. Zuerst hieß der
Platz, auf dem die alte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stand Auguste-Viktoria-
Platz, benannt nach der Kaiserin Auguste Viktoria (1858 -1921), Ehefrau Wilhelm II.
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Nach dem Krieg wurde er umbenannt in Breitscheidplatz, benannt nach Rudolf Breit-
scheid (1874-1944), einem der führenden Köpfe der Sozialdemokratie in der Weima-
rer Republik. Er kam im KZ Buchenwald um.
Blick auf den Auguste-Viktoria-Platz
Blick auf den Breitscheidplatz
Die Entstehungsgeschichte der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche erstreckt
sich insgesamt über einen Zeitraum von sechszehn Jahren: Am 29. Januar 1947 wur-
de die erste Sitzung des Stiftungskuratoriums zum Thema „Wiederaufbau, Erhaltung
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und Verwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche“ einberufen. Am 14. De-
zember 1963 wurde das Foyer als letzter Bauteil des Gesamtensembles eingeweiht.
Die nach Ende des Krieges einsetzenden Verhandlungen zwischen dem Kuratorium
der Stiftung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und der städtischen Behörde über
die Sicherung der Ruine wurden begleitet von der kontroversen Diskussion um Ab-
riss, Standortverlegung und Wiederaufbau der Kirche.
So äußerte sich der Magistrat27
von Berlin 1949: „Ein Wiederaufbau der Kirche in
der alten, völlig insularen Stellung und in den bisherigen Architekturformen kommt
unter keinen Umständen in Betracht. Davon abgesehen dürfte nach Grundsätzen des
modernen Städtebaus die Kirche in einer so wichtigen Geschäftsgegend, wie sie das
Gebiet ‚Rund um den Zoo‘ darstellt, ohnedies nicht mehr den Mittelpunkt bilden. Es
würde sich vielmehr empfehlen, sie ganz am Rande eines solchen Gebietes aufzustel-
len.“28
Diese Debatte dauerte an bis zum Oktober 1953, als das Kuratorium schließlich einen
Wettbewerb zur Neugestaltung des Sakralbaus beschloss. Noch bevor dieser ausge-
schrieben wurde, wurde der Architekt Werner March mit einem Entwurf, der vorhan-
dene Bauteile einbeziehen sollte, beauftragt. Nach March „wird es sich darum han-
deln, die noch bestehenden Teile, soweit sie ohne wesentliche Eingriffe zu schützen
sind, nur im Notwendigsten zu ergänzen und in ihrer für das Stadtbild heute charakte-
ristischen, zum Teil ruinenhaften Erscheinung zu erhalten. An Stelle des völlig zer-
störten Mittelteils wäre jedoch ein schlichter Neubau in den Ausdrucksformen der
Gegenwart dem kirchlichen Bedürfnis entsprechend einzufügen“.29
Zu den führenden Kritikern von Marchs Entwurf zählte der Kulturkreis im Bundes-
verband der Deutschen Industrie, der die Konzeption als zu vergangenheitsorientiert
ablehnte: „Sie [die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche] steht im Mittelpunkt des heu-
tigen Zentrums der Stadt, und ihre künftige Gestalt wird damit zum Symbol für den
Geist, der bei dem Wiederaufbau Berlins waltet“.
Der Ablehnung von Werner Marchs Konzeption folgte dann im Frühjahr 1956 die
Ausschreibung eines begrenzten Wettbewerbes, zu dem 9 Architekten eingeladen
wurden.
Die in der Wettbewerbsausschreibung vom 13. März 1956 formulierte Bauaufgabe
läßt den Wunsch nach einem repräsentativen Kirchenbau erkennen: „Es soll ein
evangelisches Gotteshaus errichtet werden, das einen würdevollen und zur rechten
Andacht führenden Raum für den evangelischen Gottesdienst, also die Verkündigung
des Wortes und die Austeilung der Sakramente, bildet und der Bedeutung der Kaiser-
Wilhelm-Gedächtnis-Kirche entspricht, die in der Geschichte des evangelischen Ber-
lins immer eine besondere Bedeutung gehabt hat und auch in Zukunft über die ge-
27
bis 1950 in den westlichen Sektoren (dem späteren Senat mit einem Regierenden Bürgermeister) 28
Zitiert nach Gerhard Limpach: X. Der Neubeginn der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchengemeinde nach dem Zwei-ten Weltkrieg - „Auferstanden aus Ruinen“. Beitrag in „Alles hat seine Zeit“ - 300 Jahre evangelisches Charlottenburg 29
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nen Kirchenraum in Form eines Zentralbaus über quadratischem Grundriß ein, in der
auch kulturelle Veranstaltungen (Konzerte, Theaterstücke) stattfinden können.
Gemeindezentrums Plötzensee
Gemeindezentrum Plötzensee
Das Gemeindezentrum Am Germersheimer Platz35
wurde dagegen aus Fertigteilen
errichtet mit zwei, durch eine Faltwand getrennten, neutralen Mehrzweckräumen.
35
„Der Name der Ev. Kirchengemeinde Am Falkenhagener Feld und Am Germersheimer Platz, Kirchenkreis Spandau, wird geändert in „Evangelische Jeremia-Kirchengemeinde“. Kirchliches Amtsblatt Nr. 8 / 2003 - Urkunde über die
Arbeit – Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne -- 23 --
Gemeindezentrum Am Germersheimer Platz
Schlussbetrachtung am 31.08.2017
Es gäbe zum Thema „Sakralbauten der Nachkriegsmoderne“ noch unendlich viel zu
schreiben und zu zeigen. Es konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend aus-
geleuchtet werden. Ein Blättern in den in der Literaturliste angegebenen Büchern und
die Internetrecherche (bei dem Suchbegriff „Sakralbau der Nachkriegsmoderne“
werden 262.000 Artikel angezeigt) lassen die Breite und Tiefe des Themas erkennen.
Mir hat das Eintauchen in das Thema geholfen, die vielen kleinen Wissenssteinchen,
die ich hatte, zu einem stimmigen Bild zusammenfügen zu können.
Dass der Absatz über die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche länger geraten ist als
alle anderen, ist eine Reminiszenz an meine Tätigkeit dort.
Änderung des Namens der Ev. Kirchengemeinde Am Falkenhagener Feld und Am Germersheimer Platz, Kirchenkreis Spandau, §1
Arbeit – Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne -- 24 --