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D as Meer bedeckt circa 70 Prozent der Oberfläche un- seres Planeten und stellt damit seinen größten Le- bensraum dar. Von jeher spielen die Weltmeere eine wich- tige Rolle für die menschliche Ernährung. Die immense Artenvielfalt an Makro- und Mikroorganismen, die das Öko- system „Meer“ beinhaltet, ist jedoch mit Ausnahme relativ weniger, kommerziell genutzter Tiere (meist Fische als Pro- teinquelle) sowie Großalgen (für die Produktion von Agar und Alginaten) in weiten Teilen noch unerforscht und für den Menschen ungenutzt. Neueren Datums ist die Erkennt- nis, dass das Meer eine Fülle an zumeist biologisch aktiven Naturstoffen (auch Sekundärstoffe genannt) bereithält, die als Leitstrukturen für die Suche nach neuen Arzneistoffen interessant sind. Bis heute wurden über 10.000 verschiedene Natur- stoffe zumeist aus marinen Invertebraten isoliert; unter die- sen Verbindungen befinden sich Vertreter von ganz unter- schiedlichen biogenetischen Stoffgruppen wie Alkaloide, (Depsi-)Peptide, Acetogenine, Terpenoide und andere [1]. Viele der bislang gefundenen Inhaltsstoffe mariner Orga- nismen weichen dabei strukturell von Sekundärstoffen ter- restrischer Organismen ab, wobei im Meer die Invertebra- ten vor den Pflanzen (Algen) die strukturell vielfältigere und damit interessantere Substanzquelle bilden. Dies ist im deutlichen Gegensatz zum terrestrischen Lebensraum zu sehen, wo Pflanzen tierische Organismen in Hinblick auf die Produktivität des Sekundärstoffwechsels bei weitem übertreffen. Naturstoffe mariner Invertebraten werden zum Teil in erstaunlich hohen Konzentrationen (fünf bis zehn Prozent Bioaktive Naturstoffe schüt- zen sessile und morpholo- gisch wehrlose Invertebraten vor ihren Fressfeinden. Schwämme sind zwar die „Stars“ unter den marinen Naturstoffquellen, aber nicht immer die Produzenten der aus ihnen isolierten In- haltsstoffe, wie aktuelle Forschungsergebnisse zeigen. Naturstoffe aus marinen Invertebraten geraten zuneh- mend auch in den Fokus der Pharmaindustrie, die nach Quellen für neue Arzneimittel sucht. DOI:10.1002/biuz.200610309 150 | Biol. Unserer Zeit | 3/2006 (36) © 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim a) b) c) d) e) f) g) h) Bioaktive Naturstoffe aus marinen Schwämmen: Apotheke am Meeresgrund P ETER P ROKSCH | RUA NGELIE E DRADA -E BEL | R AINER E BEL
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Apotheke am Meeresgrund: Bioaktive Naturstoffe aus marinen Schwämmen

May 07, 2023

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Das Meer bedeckt circa 70 Prozent der Oberfläche un-seres Planeten und stellt damit seinen größten Le-

bensraum dar. Von jeher spielen die Weltmeere eine wich-tige Rolle für die menschliche Ernährung. Die immense Artenvielfalt an Makro- und Mikroorganismen, die das Öko-system „Meer“ beinhaltet, ist jedoch mit Ausnahme relativweniger, kommerziell genutzter Tiere (meist Fische als Pro-teinquelle) sowie Großalgen (für die Produktion von Agarund Alginaten) in weiten Teilen noch unerforscht und fürden Menschen ungenutzt. Neueren Datums ist die Erkennt-nis, dass das Meer eine Fülle an zumeist biologisch aktivenNaturstoffen (auch Sekundärstoffe genannt) bereithält, dieals Leitstrukturen für die Suche nach neuen Arzneistoffeninteressant sind.

Bis heute wurden über 10.000 verschiedene Natur-stoffe zumeist aus marinen Invertebraten isoliert; unter die-sen Verbindungen befinden sich Vertreter von ganz unter-schiedlichen biogenetischen Stoffgruppen wie Alkaloide,(Depsi-)Peptide, Acetogenine, Terpenoide und andere [1].Viele der bislang gefundenen Inhaltsstoffe mariner Orga-nismen weichen dabei strukturell von Sekundärstoffen ter-restrischer Organismen ab, wobei im Meer die Invertebra-ten vor den Pflanzen (Algen) die strukturell vielfältigereund damit interessantere Substanzquelle bilden. Dies ist imdeutlichen Gegensatz zum terrestrischen Lebensraum zusehen, wo Pflanzen tierische Organismen in Hinblick aufdie Produktivität des Sekundärstoffwechsels bei weitemübertreffen.

Naturstoffe mariner Invertebraten werden zum Teil inerstaunlich hohen Konzentrationen (fünf bis zehn Prozent

Bioaktive Naturstoffe schüt-zen sessile und morpholo-gisch wehrlose Invertebratenvor ihren Fressfeinden.Schwämme sind zwar die„Stars“ unter den marinenNaturstoffquellen, aber nichtimmer die Produzenten der aus ihnen isolierten In-haltsstoffe, wie aktuelle Forschungsergebnisse zeigen.Naturstoffe aus marinen Invertebraten geraten zuneh-mend auch in den Fokus derPharmaindustrie, die nachQuellen für neue Arzneimittelsucht.

DOI:10.1002/biuz.200610309

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Bioaktive Naturstoffe aus marinen Schwämmen:

Apotheke am MeeresgrundPETER PROKSCH | RUANGELIE EDRADA-EBEL | RAINER EBEL

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der Trockenmasse) akkumuliert und repräsentieren damiteinen signifikanten Teil der Stoffwechselleistung ihrer Pro-duzenten. Viele Interaktionen im marinen Habitat wie dieAbwehr von Räubern, das Verdrängen von Konkurrentenoder das Verhindern einer Epibiosis (auch „fouling“ ge-nannt) sind chemisch moduliert und beruhen auf der Ak-kumulation und Abgabe strukturell komplexer und biolo-gisch hochaktiver Verbindungen, die ihren Produzenten,die in der Regel sessil sind und über keine morphologi-schen Abwehrmechanismen wie Panzer oder Stacheln ver-fügen, einen Selektionsvorteil bieten [10]. Die Erforschungder ökologischen Funktionen mariner Naturstoffe stellt da-her ein besonders faszinierendes Arbeitsgebiet der so ge-nannten „chemischen Ökologie“ dar. Zunehmend setzt sichdabei die Erkenntnis durch, dass viele aus marinen Inverte-braten isolierte Naturstoffe ursächlich auf Mikroorganis-men (Bakterien, Cyanobakterien, Pilze, Mikroalgen) als Pro-duzenten zurückzuführen sind, die entweder im Rahmender Nahrungskette eingestrudelt und verdaut werden oderin einer stabilen Assoziation (als Endosymbionten?) mitihren Wirten leben [11]. Die Identifizierung dieser mit ma-rinen Invertebraten assoziierten und häufig nicht – odernoch nicht – kultivierbaren Mikroorganismen und die Fragenach ihrem Beitrag zum Naturstoffarsenal ihrer Wirte be-schäftigen die marine Naturstoff-Forschung zur Zeit.

Beide Aspekte, die ökologische Funktion mariner Na-turstoffe in Invertebraten sowie die Frage nach einer Betei-ligung von Mikrooganismen an der Biosynthese dieser Ver-bindungen, sollen in diesem Artikel exemplarisch für dieGruppe der Schwämme behandelt werden. Schließlich sollauch der Frage nachgegangen werden, inwieweit marineNaturstoffe aus Schwämmen und anderen marinen Inverte-braten als Ideengeber für die Arzneistoff-Forschung fungie-ren können.

Schwämme sind seit circa 500 Millionen Jahren auf derErde nachweisbar und gehören damit zu den ältesten undnaturstoffchemisch interessantesten marinen Invertebra-ten [8]. Etwa 5000 bis 7000 Schwammarten sind derzeit ta-xonomisch beschrieben, die tatsächliche Artenzahl dürftejedoch noch weit höher sein, da sich bisherige Untersu-chungen zur Biodiversität von Schwämmen hauptsächlichauf diejenigen Arten konzentrierten, die in flacheren Ge-wässern (bis circa 40 Meter Tiefe) vorkommen und daher

relativ leicht zugänglich sind (Abbildung 1). Schwämmeaus größeren Tiefen, die durch Taucher nicht erreicht wer-den können, oder Schwämme aus schwer zugänglichen Ha-bitaten (beispielsweise aus der Antarktis) sind kaum unter-sucht. Gerade in tropischen Meeren wie in der Karibik oderim Indopazifik, die sich durch einen besonders starkenFraßdruck durch Fische auszeichnen, gehören Schwämmeoft zu den prominenten Riffbewohnern, die sich trotz desFehlens von morphologischen Abwehrmechanismen Fraß-feinde auf Grund ihrer vielfältigen toxischen Inhaltsstoffevom Leib halten.

Die chemische Verteidigung tropischer Oceanapia-Schwämme

Bei unseren Untersuchungen zur chemischen Ökologie tro-pischer Schwämme fiel ein taxonomisch bisher nicht be-schriebener Vertreter der Gattung Oceanapia (Oceanapiasp.) auf, der vor der Insel Truk (Mikronesien) in wenigenMetern Tiefe auf sandigem Untergrund vorkommt (Abbil-dung 2). Der Schwamm wurde trotz seines exponierten Ha-bitus von Fischen offensichtlich gemieden. Biotests amnatürlichen Standort, bei denen durch Lösungsmittel ge-wonnene Extrakte der Schwämme in physiologischer Kon-zentration einem Kunstfutter beigegeben und den mit denSchwämmen gemeinsam vorkommenden Fischen im Ver-gleich zu unbehandeltem Kunstfutter angeboten wurden,belegten die Anwesenheit von fraßhemmenden Schwamm-verbindungen. Die Aufarbeitung der Schwammextrakte lie-ferte schließlich die beiden strukturell ungewöhnlichen Py-ridoacridinalkaloide Kuanoniamin C (1) und D (2, beideAbbildung 5) als aktive Verbindungen [15].

Als nächstes gingen wir der Verteilung der beiden Alka-loide in den Schwämmen nach. Nur ein relativ kleiner Teildes Schwammkörpers von Oceanapia sp. ragt in das See-wasser: der Schlot, der zum Einstrudeln der Nahrung dient,sowie ein als Capitum bezeichneter, kugeliger terminalerAbschnitt des Schlotes, der für die vegetative Verbreitungder Schwämme sorgt. Der größere Teil des Schwammesbleibt im sandigen Substrat verborgen und ist damit auchvor der Entdeckung durch Fische geschützt. Die in das Was-ser ragenden exponierten Teile des Schwammes laufen alsoviel eher Gefahr, gefressen zu werden als der im Sedimentverborgene Teil.

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A B B . 1 Formen- und Farbenvielfalt marinerSchwämme aus dem Mittelmeer um Elba. a) Aplysina cavernicola, b) Chondrosia reniformis, c) Axinella damicornis, d) Petrosia ficiformis, e) Ircinia spinosula, f) Agelas oroides, g) Acanthella acuta, h) Hamigera hamigera, i) Spongia officinalis,j) Ircinia fasciculata. Bilder: C. Thoms.

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Die beiden ursprünglich für die Verteilung von Abwehr-stoffen in höheren Pflanzen aufgestellten Modelle „OptimalDefense Theory“ beziehungsweise „Plant Apparency Mo-del“ postulieren eine positive Korrelation zwischen der Ak-kumulation von Abwehrstoffen in Pflanzen und der Gefahr,von Fressfeinden gefunden zu werden. Die Modelle legen

demnach eine möglichst kosteneffiziente Biosynthese vonAbwehrverbindungen zu Grunde [3, 13]. Die besagtenTheorien gehen ferner davon aus, dass für die sexuelle be-ziehungsweise vegetative Vermehrung wichtige Organe(beispielsweise Samen) durch Akkumulation hoher Kon-zentrationen von Abwehrstoffen einen besonderen Schutzerhalten, um den Genpool der Pflanzen zu sichern. Inter-essanterweise folgt die Verteilung der Abwehrstoffe Kua-noniamin C (1) und D (2, beide Abbildung 5) in Oceanapiasp. den beiden vorgestellten Theorien. Die höchsten Alkaloidkonzentrationen finden sich in den exponiertenSchwammteilen (dem Schlot und dem Capitum). Hier wer-den Gesamtalkaloidkonzentrationen erreicht, die bis zufünf Prozent der Schwammtrockenmasse betragen können.In dem im Sand verborgenen Teil des Schwammkörperssind die Alkaloidkonzentrationen dagegen deutlich gerin-ger und betragen weniger als circa ein Prozent desSchwammtrockengewichtes [15].

Induzierter Wundschutz in Aplysina-Schwämmen

Beispiele für eine effiziente chemische Verteidigung mari-ner Schwämme gegenüber Fischen finden sich jedochnicht nur in den Tropen, sondern auch in gemäßigten Kli-maten. Ein gutes Beispiel hierfür liefern die beiden im Mit-telmeer vorkommenden Arten der Schwammgattung Aply-sina. A. aerophoba gehört zu den häufig vorkommendenMittelmeerschwämmen und wird in Wassertiefen ab circaeinem Meter bis etwa 30 – 40 Meter angetroffen (Abbildung3). Das Epitheton „aerophoba“ (auf deutsch „luftfürch-tend“) bezieht sich auf das Phänomen, dass sich frisch ge-sammelte Exemplare des goldgelben Schwammes an derLuft binnen kurzer Zeit blauschwarz verfärben, was durchoxidative Polymerisation des chemisch instabilen Pigmen-tes Uranidin (3, Abbildung 5) zustande kommt.

Die zweite im Mittelmeer vorkommende Aplysina-Artist A. cavernicola. Im Gegensatz zu A. aerophoba lebt A.cavernicola nur in Tiefen ab circa 30 Meter oder in Höhlenbeziehungsweise unter felsigen Überhängen, also deutlichweniger exponiert als erstere. Beide Aplysina-Arten akku-mulieren ungewöhnliche bromierte Isoxazolinalkaloide,die biogenetisch gesehen Abkömmlinge des 3,5-Dibromty-rosins darstellen. Die Alkaloid-Konzentration kann bis zuzehn Prozent des Schwammtrockengewichtes betragen.Hauptkomponenten der Alkaloide sind in der Regel Isofis-tularin-3 (4), Aerophobin-2 (5) oder im Fall von A. caver-nicola Aerothionin (6, alle Abbildung 6) [17]. Sowohl A.aerophoba als auch A. cavernicola verfügen über einen effizienten chemischen Fraßschutz, wie durch Biotests mit dem mediterranen polyphagen Fisch Blennius sphinxnachgewiesen werden konnte [18]. Kunstfutter, das mit Ex-trakten aus beiden Aplysina-Arten in jeweils natürlichenKonzentrationen (also entsprechend den Mengen, in denendie Inhaltsstoffe auch in den Schwämmen auftreten) be-handelt und den Fischen in Aquarienversuchen im Ver-gleich zu unbehandeltem Kontrollfutter offeriert wurde,

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A B B . 2 Der vor der Insel Truk (Mikronesien) vorkommendeSchwamm Oceanapia sp. Bild: © Peter Schupp/MarineCD.

A B B . 3 Kolonien des Mittelmeerschwammes Aplysina aerophoba. Bild: M. Pfannkuchen.

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verschmähten die Fische, während sie die unbehandeltenFutterstücke konsumierten. Ähnliche Ergebnisse wurdenmit Extrakten des mediterranen Schwammes Agelas oro-ides erzielt, die das als fraßhemmend bekannte AlkaloidOroidin akkumulieren, während beispielsweise Extrakteder ebenfalls im Mittelmeer vorkommenden SchwämmeChondrosia reniformis, Ircinia spinosula oder Petrosia fi-ciformis wesentlich schwächer wirkten beziehungsweisekeine signifikante fraßhemmende Wirkung auf B. sphinxzeigten.

Die deutliche fraßhemmende Wirkung von Aplysina-Extrakten konnte auch für karibische Aplysina-Schwämmebestätigt werden, die ähnliche oder identische In-haltsstoffe wie ihre mediterranen Verwandtenbesitzen.

Interessanterweise reagieren Aplysi-na-Schwämme wie A. aerophoba undA. cavernicola, aber auch die karibi-schen Aplysina-Arten auf Gewebeverlet-zungen durch rasche Änderungen ihrerAlkaloidmuster (Abbildung 6). In ver-letztem Schwammgewebe unterliegendie normalerweise vorherrschendenIsoxazolinalkaloide wie Isofistularin-3(4) und Aerophobin-2 (5) einer ra-schen, enzymkatalysierten Metabolisie-rung, bei der Aeroplysinin-1 (7) sowie(im Fall des Isofistularin-3) ein stabilesBisoxazolidinon-Derivat (8a) als Pro-dukte gebildet werden.

Dienen andere Isoxazolinalkaloidewie Aerothionin als Substrate für die Bio-transformationsreaktion, werden nebendem Aeroplysinin-1 instabile Carbaminsäu-rederivate gebildet, die durch spontan verlau-fende Decarboxylierung zu den korrespondie-renden Aminen (im Fall des Aerothionins (6) ent-steht Putrescin (8b)) reagieren. Im Rahmen einerzweiten ebenfalls enzymkatalysierten Reaktion ent-steht aus Aeroplysinin-1 (7) durch Demethylierung und Hydrolyse ein Dienonderivat (9). Die beschriebenen Reak-tionen laufen innerhalb von Sekunden im verletztenSchwammgewebe ab, sind jedoch ausschließlich auf ver-letzte Zellen beschränkt und erfassen nicht das gesunde Ge-webe [17].

Sowohl Aeroplysinin-1 (7) wie auch das Dienon (9) wei-sen zwar eine deutlich geringere fraßhemmende Wirkunggegenüber Fischen auf als ihre Isoxazolinvorstufen, wirkenaber antibiotisch gegen marine gram-negative und -posi-tive Bakterien, während sich ihre Isoxazolinvorstufen alspraktisch unwirksam erwiesen. Wir vermuten daher, dass die verwundungsinduzierte Biotransformation derSchwammalkaloide in Aplysina-Schwämmen einen anti-biotischen Wundschutz generiert, der eine Infektion derSchwämme durch eindringende Mikroorganismen verhin-dern soll [17].

Im Gegensatz zu den üblicherweise vorkommenden Fällenchemischer Verteidigung von Pflanze oder Tier, die auf kon-stitutiv vorhandenen Abwehrstoffen beruhen (siehe hierzuauch das vorige Beispiel Oceanapia sp.) ist die verwun-dungsinduzierte Biotransformation der Schwammalkaloidein Aplysina-Arten als ein dynamischerer Typ der Abwehr zuverstehen, der auf einer Änderung in der Qualität der Stoff-muster verbunden mit einer Erhöhung der biologischen Ak-tivität (in diesem Fall der antibiotischen Wirkung) beruht.Ähnliche Beispiele wurden bereits für Höhere Pflanzen be-schrieben [4]. Im marinen Habitat ist die Biotransformationvon Isoxazolinalkaloiden in Aplysina-Schwämmen dagegen

einer der ersten bekannten Fälle des verwundungsin-duzierten Typs einer chemischen Verteidi-

gung.

Ein Spezialist überwindet die chemische Verteidigung von Aplysina-SchwämmenJede zunächst erfolgreiche Abwehrstrate-

gie in der Natur (und nicht nur dort) wirdfrüher oder später durch Anpassungüberwunden. Die im Vergleich zur ma-rinen chemischen Ökologie bereits vielintensiver untersuchten und besserverstandenen Beziehungen zwischenterrestrischen Pflanzen und herbi-

voren Insekten bieten eine Fülle vonanschaulichen Beispielen hierfür [4].So schützen sich viele Pflanzen vorFressfeinden durch die Akkumulation

cyanogener Glykoside, aus denen beiGewebsverletzung Blausäure freigesetztwird. Bestimmte herbivore Schmetter-

linge aus der Gruppe der Zygaenen (Wid-derchen, Blutströpfchen) haben sich je-

doch an diese pflanzlichen Abwehrstoffe an-gepasst, indem sie die pflanzlichen Gifte nicht

nur tolerieren, sondern sogar speichern und zu ihremeigenen Schutz gegenüber Räubern einsetzen. Im Fall derBeziehung von Bärenspinnern (Arctiiden) zu ihren Pyrroli-zidinalkaloid(PA)-haltigen Wirtspflanzen geht die Anpas-sung sogar so weit, dass die pflanzlichen PAs als Vorstufenfür die Biosynthese der Insektenpheromone verwendetwerden [4].

Auch im marinen Habitat gibt es Beispiele für Anpas-sungen spezialisierter Räuber an das toxische Naturstoff-arsenal ihrer Beuteorganismen. Besonders bekannt sind indiesem Zusammenhang die Interaktionen von zumeistschalenlosen Meeresschnecken (Hinterkiemern bezie-hungsweise Opisthobranchiern) an Schwämme. Die Meeres-schnecke Tylodina perversa (Abbildung 4) ist beispiels-weise ein spezialisierter Fressfeind des Schwammes A. aerophoba, frisst aber auch die verwandte Art A. caver-nicola. Tylodina-Schnecken, die in Aquarien gehalten wer-den, können Aplysina-Schwämme im Vergleich zu anderen

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A B B . 4 Dieschwamm-fressende Meeres-schnecke Tylodinaperversa. Bild: A. Putz.

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Schwämmen, die am gleichen Standort gesammelt wurden,zielsicher erkennen [16]. Der Reiz, der von den Aplysina-Schwämmen dabei ausgesandt wird und den Schneckendas Finden ihrer Beute ermöglicht, ist bisher unbekannt.Eventuell handelt es sich hierbei um die bromiertenSchwammalkaloide, die charakteristisch für Aplysina-Schwämme sind.

Die Tylodina-Schnecken sind bei Tauchgängen auf Aplysina-Schwämmen nur schwer auszumachen, da sie dieSchwammpigmente – beispielsweise das Uranidin (3) ausA. aerophoba – aufnehmen und in ihren eigenen Weich-körpern speichern. Sie weisen somit praktisch dieselbe

Farbe wie ihre Wirtsschwämme auf und sind damit perfektgetarnt. Zusätzlich zu den Pigmenten ihrer Beutetiere spei-chern sie deren bromierte Isoxazolinalkaloide. Die Alka-loide sowie die Pigmente des Schwammes werden überden gesamten Weichkörper inklusive den Schleim, den die Schnecken bei einer Störung absondern, verteilt. Diehöchsten Alkaloidkonzentrationen finden sich jedoch imMantelgewebe der Schnecken. Dabei kommt es durchauszu Verschiebungen im Alkaloidmuster zwischen Beute undRäuber. Während in A. arophoba beispielsweise das Isofis-tularin-3 (4) meist die Hauptkomponente der Alkaloidfrak-tion bildet, tritt im Mantelgewebe der Schnecken in der Re-gel das Aerophobin-2 (5) als dominierendes Alkaloid auf.Dies spricht gegen eine rein passive Anreicherung derSchwammalkaloide in den Schnecken.

Interessant ist auch der Befund, dass weder das Aero-plysinin-1 (7) noch das aus dem Aeroplysinin-1 entstehendeDienon (9) in den Schnecken nachgewiesen werden. Mög-licherweise verhindern die Schnecken die Bildung dieserMetabolite durch Inhibierung der entsprechenden Enzymein den Schwämmen. Der Umstand, dass die Schwammalka-loide auch im Schleim auftreten und bevorzugt im Mantelgespeichert werden, der bei Angriff eines Räubers zuerstverletzt wird, deutet darauf hin, dass T. perversa die ge-

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1: Kuanoniamin C 2: Kuanoniamin D 3: Uranidin

4: Isofistularin-3

5: Aerophobin-2

6: Aerothionin

7: Aeroplysinin-1 9: Dienonderivat

8 a: Bisoxazolidinon-Derivat

8 b: Putrescin

A B B . 6 Verwundungsinduzierte Biotransformation von bromierten Alkaloiden in Aplysina-Schwämmen.

A B B . 5

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speicherten Schwammalkaloide zum eigenen Schutz ein-setzt [16]. In Fütterungsversuchen mit mediterranen Fi-schen konnte gezeigt werden, dass T. perversa-Extraktefraßhemmende Eigenschaften besitzen, was vermutlich aufdie aufgenommenen Schwammalkaloide zurückzuführenist. Interessant ist auch die Beobachtung, dass die gespei-cherten Alkaloide in den Eiern von T. perversa akkumulie-ren. Noch ist jedoch unklar, ob die Alkaloide auch auf dieVeligerlarven weitergegeben werden oder ob sie in denEihüllen verbleiben.

Naturstoffe aus marinen Schwämmen – wer sind die Produzenten?

Die meisten, wenn nicht alle, marinen Schwämme lebenvergesellschaftet mit diversen Mikroorganismen, wobeiBakterien sicher die wichtigsten Partner darstellen. In ex-tremen Fällen wie im Schwamm Aplysina aerophoba kön-nen Bakterien, die sich bevorzugt im Interzellularraum derSchwämme, aber auch in den Schwammzellen aufhalten,bis zu 40 Prozent der Schwammbiomasse ausmachen.Außerdem ernähren sich Schwämme als Nahrungsstrudlervon Bakterien und anderen Mikroorganismen des umge-benden Seewassers. Die Interaktionen von Schwämmenmit Bakterien und anderen Mikroorganismen sind daherkomplex und können von rein trophischen Beziehungenbis hin zu stabilen Lebensgemeinschaften reichen.

Schon seit längerem war vermutet worden, dass inSchwämmen gefundene Naturstoffe auf die Biosynthese-leistung von Bakterien oder anderen Mikroorganismenzurückgeführt werden können. Im Fall des Proteinphos-phatase-Hemmstoffes Okadainsäure (10, Abbildung 7), dererstmals aus Schwämmen der Gattung Halichondria iso-liert wurde, konnte gezeigt werden, dass Dinoflagellatender Gattung Prorocentrum die eigentliche Substanzquelledarstellen und die Substanz erst im Rahmen der Nahrungs-kette in die Schwämme gelangt [9]. Die Okadainsäure (10), die als so genanntes „molecular tool“ für zellphysio-logische Untersuchungen wichtig ist, weist deutliche struk-turelle Analogien zu anderen zyklischen Polyetherverbin-dungen aus Dinoflagellaten auf, beispielsweise zu dem Brevetoxin A.

Andere in Schwämmen gefundene Naturstoffe werdennicht im Rahmen der Nahrungskette akquiriert, sonderngehen auf Mikroorganismen zurück, die in den Schwäm-men leben. Ein Beispiel hierfür liefert der im Großen Bar-riereriff vor Australien vorkommende Schwamm Dysideaherbacea. Der Schwamm akkumuliert sowohl die Sesqui-terpenderivate Spirodysin (11) und Herbadysidolid (12) alsauch das ungewöhnliche chlorierte Aminosäurederivat 13-Demethylisodysidenin (13, alle Abbildung 8). Ferner be-herbergt D. herbacea neben anderen Prokaryoten das Cya-nobakterium Oscillatoria spongeliae, das bis zu 50 Prozentder Schwammbiomasse ausmacht. Durch mechanischenAufschluss des Schwammgewebes und Einsatz eines Durch-flusszytometers konnten die Cyanobakterien aufgrund derEigenfluoreszenz ihres Photosynthesepigments Chloro-

phyll von den nicht fluoreszierenden Schwamm-zellen sowie anderen Prokaryoten getrennt undauf ihre Inhaltsstoffe untersucht werden. Eszeigte sich, dass 13-Demethylisodysidenin (13)den dominierenden Naturstoff in den Cyanobak-terien stellte, während die beiden Sesquiterpene(11) und (12) in den Schwammzellen bezie-hungsweise Bakterien enthalten waren [19].

Während bei solchen Zellfraktionierungennie ausgeschlossen werden kann, dass es inner-halb der Schwämme durch Transportprozesse zueinem Austausch von Naturstoffen zwischenSchwammzellen und assoziierten Mikroorganis-men kommt und mithin akkumulierende Zellennicht notwendigerweise auch die Orte der Bio-

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10: Okadainsäure

11: Spirodysin 12: Herbadysidolid 13: 13-Demethylisodysidenin

14: Manzamin A

15: Kahalalid F

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der klinischen Prüfung. Gefunden wurde die Substanz aus-nahmsweise nicht in einem marinen Schwamm, sondern inder zur Gruppe der algenbeweidenden Sacoglossa gehören-den marinen Schnecke Elysia rufescens. Die Schnecken ak-kumulieren dieses Depsipeptid aus marinen Grünalgen derGattung Bryopsis. Die eigentliche Quelle für die Verbin-dung sind nach neuesten Erkenntnissen vermutlich marineBakterien der Gattung Vibrio, die auf der Oberfläche derAlgen leben [5].

Viele (vielleicht sogar die meisten) mit Schwämmenvergesellschaftet lebende Bakterien sind jedoch außerhalbihrer Wirte nicht oder zumindest noch nicht kultivierbar.Untersuchungen am Schwamm Aplysina aerophoba zei-gen, dass sich über 99 Prozent der Bakterien, die auf 16SrDNA-Ebene in den Schwämmen nachweisbar sind, der Kul-tivierung in den üblichen marinen Medien entziehen. Un-ter den schwammassoziierten Bakterien aus A. aerophobabefinden sich Gruppen wie die Chloroflexi, Acidobacteriaoder Gemmatimonadetes, von denen bislang nur wenigeoder keine Vertreter isoliert werden konnten, sowie einegänzlich neue Bakteriengruppe, für die der Status eines ei-genen Phylums „Poribacteria“ vorgeschlagen wurde [14].

In solchen Fällen ist der Nachweis einer Beteiligungbakterieller Symbionten an der Naturstoff-Biosynthese vonSchwämmen naturgemäß besonders schwierig. Einen Aus-weg bieten molekularbiologische Methoden, die zur Cha-rakterisierung von Biosynthese-Genclustern für einigeGruppen von strukturell komplexen Naturstoffen, bei-spielsweise Polyketiden oder zyklischen Peptiden, heran-gezogen werden können, wie Untersuchungen amSchwamm Theonella swinhoei zeigen. T. swinhoei akku-muliert die ungewöhnlichen Naturstoffe Theopederin A(17) und Onnamid A (18), die erstaunlicherweise einegroße strukturelle Ähnlichkeit zum Polyketidamid Pederin(16, alle Abbildung 11) zeigen – einem Inhaltsstoff des inAfrika vorkommenden Blasenkäfers Paederus sabaeus.Lichtmikroskopisch konnte die Existenz eines bakteriellenSymbionten in den Käfern nachgewiesen werden; mittels16S rDNA-Analyse wurde dieser als ein gramnegatives Bak-terium identifiziert, das eng mit Pseudomonas aeruginosaverwandt ist. Die vermuteten Biosynthesegene für das Pe-derin (16) wurden ausgehend von einem Gesamt-DNA-Ex-trakt der Käfer kloniert. Die Sequenzierung ergab, dass derBiosynthesegencluster eine gemischte, modular aufgebautePolyketidsynthase mit einem zusätzlichen nichtribosoma-len Peptidsynthase-Modul beinhaltet, die einen typisch pro-karyotischen Aufbau zeigt und damit den Beweis für denbereits vermuteten, bakteriellen Ursprung des Pederins(16) lieferte [2]. Durch ähnliche experimentelle Methodenkonnten verwandte Gencluster auch aus dem Schwamm T.swinhoei kloniert werden. Auch hier ergab die Analyse der zugehörigen DNA-Sequenzen, dass es sich um Genevon bislang unkultivierten bakteriellen Symbionten desSchwammes handelt und dass damit auch Theopederin A(17) und Onnamid A (18) offensichtlich bakteriellen Ur-sprungs sind [2].

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16: Pederin 17: Theopederin A

18: Onnamid A

19: Ziconotid 20: Ecteinascidin 743

synthese darstellen, wurde durch jüngste Untersuchungenzur Herkunft des „Schwammalkaloids“ Manzamin A (14,Abbildung 9) ein überzeugender Beweis für die prokaryoti-sche Herkunft dieses Naturstoffs geliefert.

Manzamin A (14) wurde in der Vergangenheit wieder-holt aus marinen Schwämmen, insbesondere aus Vertre-tern der Gattung Xestospongia, isoliert. Derzeit ist die Sub-stanz unter anderem wegen ihrer Wirkung gegen die Erre-ger der Malaria von Interesse für die Arzneimittelforschung.Der Arbeitsgruppe um Hill und Hamann gelang ausgehendvon einem indonesischen Xestospongia-Schwamm die Iso-lierung und Kultivierung eines bislang unbekannten Bakte-riums der Gattung Micromonospora, das Manzamin A (14)produziert [6].

Dieselbe Gruppe war vor kurzem auch in der Lage, dieHerkunft des Depsipeptids Kahalalid F (15, Abbildung 10)zu entschlüsseln. Kahalalid F (15) befindet sich derzeit alsmöglicher neuer Wirkstoff gegen Krebserkrankungen in

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Marine Naturstoffe und Arzneimittelforschung – ein Ausblick

Marine Invertebraten und ihre Naturstoffe sind jedochnicht nur für die Symbioseforschung oder für die Untersu-chung ökologischer Fragestellungen interessant, sondernstellen aussichtsreiche Quellen beziehungsweise Kandida-ten für neue Arzneistoffe dar. Der Beginn einer zielgerich-teten Erforschung des pharmakologischen Potenzials mari-ner Verbindungen lässt sich recht genau auf das Jahr 1969datieren, in dem erstmals Prostaglandinderivate in der kari-bischen Weichkoralle Plexaura homomalla entdeckt wur-den [20]. Dies geschah zu einer Zeit, als die Bedeutung vonProstaglandinen als Mediatorstoffe beispielsweise für dieEntstehung von Fieber und Entzündungen gerade erkanntworden war. Diese Entdeckung regte Forschergruppen inUniversitäten sowie Pharmafirmen dazu an, erstmals auchmarine Naturstoffe als Kandidaten für die Wirkstoffsuchezu berücksichtigen.

Den bisherigen Höhepunkt erreichten diese Bestrebun-gen im vergangenen Jahr mit der in den USA erfolgten Zulassung des neuen Schmerzmittels Ziconotid (19, Abbil-dung 12, Handelsname „Prialt“). Beim Ziconotid (19) han-delt es sich um ein neues Peptid aus dem Gift mariner Kegelschnecken (Conus-Arten), das von den fischjagendenSchnecken zur raschen Lähmung ihrer Beute eingesetztwird. Im Menschen blockiert diese Verbindung dieSchmerzempfindung durch selektive Inhibierung neurona-ler N-Typ-Calciumkanäle und wird zur Behandlung chroni-scher Schmerzen beispielsweise im Endstadium von Krebs-erkrankungen oder bei AIDS-Patienten verwendet, wo bis-her das Morphin als Mittel der Wahl diente [12].

Derzeit befinden sich etwa 15 weitere marine Natur-stoffe beziehungsweise Naturstoffderivate in verschie-denen Phasen der klinischen Prüfung (Tabelle) [12]. MitAusnahme des aus Haien gewonnenen Squalaminlactatshandelt es sich bei allen anderen Verbindungen um In-haltsstoffe von Invertebraten (beziehungsweise um davonabgeleitete Derivate), was die Bedeutung wirbelloser Orga-nismen als Naturstoffquelle für das marine Habitat be-stätigt.

Am weitesten fortgeschritten in der klinischen Prüfungist derzeit das aus Seescheiden gewonnene Ecteinascidin743 (ET 743, 20, Abbildung 13), das ein potenzielles neuesKrebsmedikament darstellt und in der EU den Orphan-Drug-Status (= bis zu zehn Jahre Marktexklusivität als An-reiz für die Entwicklung von Medikamenten zur Therapieseltener Krankheiten) zur Behandlung von Weichteilsarko-men besitzt. Dieses strukturell komplexe Alkaloid beleuch-tet ein generelles Problem der marinen Wirkstoff-For-schung: Die Substanzausbeute ist häufig gering und es gibtdaher Schwierigkeiten im Substanznachschub. Um einGramm ET 743 (20) zu isolieren, müssten circa eine Tonne(Frischgewicht) der Seescheide gesammelt werden. Beidem aus Schwämmen gewonnenen potenziellen Antitu-morwirkstoff Halichondrin B (21, Abbildung 14) ist das Ver-hältnis noch ungünstiger: hier würden aus einer Tonne Bio-

masse lediglich circa 300 Milligramm des Wirkstoffs ge-wonnen [7].

Es ist klar, dass die Wildbestände an Schwämmen, See-scheiden oder anderen marinen Invertebraten diese Men-gen nicht liefern können, zumal sich der Substanzbedarfnach Zulassung als Arzneimittel noch drastisch erhöhenwird. Schon die für die klinischen Prüfungen benötigtenSubstanzmengen können häufig nur unter großen Schwie-rigkeiten beschafft werden, was die Prüfverfahren unnötigin die Länge zieht. Totalsynthesen der Naturstoffe sind zwarprinzipiell möglich, angesichts der komplexen Strukturenwie beim ET-743 (20) oder beim Halichondrin B (21) öko-nomisch aber nicht vertretbar – die Arzneimittel würdenunerschwinglich. Nach alternativen Strategien zur Siche-rung des Substanznachschubs wird daher intensiv gesucht.

Eine Möglichkeit, die derzeit erprobt wird, ist die Mari-kultur, d.h. die Kultivierung wirkstoffproduzierender In-vertebraten auf künstlichen Substraten im Meer bezie-hungsweise in großen Anlagen an Land [7]. Hierdurchkonnte beispielsweise vom ET 743 (20) eine Gesamtmengevon etwa 200 Gramm (aus über 250 Tonnen Ecteinascidiaturbinata) produziert werden, was aber nach einer Mark-teinführung der Substanz immer noch viel zu wenig wäre.Glücklicherweise steht in diesem speziellen Fall mit demaus Bakterien gewonnenen Analogon Safracin B (22, Abbil-dung 15) eine Vorstufe zur Verfügung, die mittels Fermen-tation in praktisch unbegrenzten Mengen gewonnen undüber relativ wenige synthetische Schritte zum ET 743 (20)umgewandelt werden kann.

Eine weitere Strategie zielt auf dieIsolierung der vermuteten mikrobiel-len Substanzproduzenten aus Schwäm-men und anderen Invertebraten ab.Für den weiter oben diskutierten po-tenziellen Antimalaria-Wirkstoff Manz-amin A (14) ist dies bereits geglückt, inder Mehrzahl der Fälle wirft die Kulti-vierung von Symbionten aus Schwäm-men und anderen Invertebraten abernoch unüberbrückbare Probleme auf,da es nicht gelingt, geeignete Medienund Kultivierungsstechniken zu fin-den. Hier könnte die Klonierung vonBiosynthesegenclustern aus Symbion-

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21: Halichondrin B

22: Safracin B

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ten – wie für die Verbindungen Theopederin A (17) undOnnamid A (18) aus dem Schwamm Theonella swinhoeibeschrieben – Erfolg versprechen. Wenn ihre Expression inheterologen Systemen gelingt, könnte so das Nadelöhr desNachschubs an marinen Wirkstoffen überwunden werden.Für die Suche nach Arzneistoffen aus dem Meer wäre dasein entscheidender Durchbruch.

ZusammenfassungMarine Schwämme gehören im Meer zu den produktivstenund interessantesten Naturstoffquellen. Viele dieser Inhalts-stoffe sind biologisch aktiv und schützen Schwämme vor Gefahren aus ihrer Umwelt wie Fressfeinden, pathogenen Mikroorganismen oder dem Bewuchs durch Epibionten. Untersuchungen zur Herkunft von Schwamm-Metaboliten zeigen, dass Mikroorganismen, die im Rahmen der Nah-rungskette eingestrudelt werden oder als Symbionten in den

Schwämmen leben, oftmals die eigentlichen Produzentendieser Schutzstoffe darstellen. Naturstoffe aus Schwämmenund aus anderen Invertebraten sind nicht zuletzt auch für diePharmaforschung interessant, wie das neu zugelasseneSchmerzmittel Prialt sowie andere, derzeit in klinischer Prü-fung befindliche Substanzen beweisen. Ein Nadelöhr bei derSuche nach Arzneistoffen aus dem Meer stellt der Nachschuban Substanzen dar. Lösungsversuche zur Überwindung die-ses Problems wie Marikultur beziehungsweise Klonierungund heterologe Expression von Biosynthesegenclustern wer-den vorgestellt.

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Conus magnus Ziconotid (Prialt®) Schmerzmittel III(Kegelschnecke)Ecteinascidia turbinata Ecteinascidin 743 Krebs III(Tunikate) (Yondelis®)Bugula neritina (Bryozoe) Bryostatin 1 Krebs IIEylsia rufescens Kahalalid F Krebs II(Schnecke)/Bryopsis sp. (Alge)Discodermia dissolute Discodermolid Krebs I(Schwamm) (XAA296A)Cymbastella sp. HTI-286 Krebs II(Schwamm)Squalus acanthias (Hai) Squalaminlactat Krebs II

Æ-941 (Neovastat®)Aplidium albicans Aplidin Krebs II(Tunikate)Agelas mauritianus KRN7000 Krebs I(Schwamm)Petrosia contignata IPL 576,092 Entzündung/ II(Schwamm) (HMR-4011A) Asthma Petrosia contignata IPL-512,602 Asthma II(Schwamm)Petrosia contignata IPL-550,260 Asthma I(Schwamm)Pseudopterogorgia Methopterosin Entzündung/ I/IIelisabethae (Weichkoralle) (OAS-100) Wundheilung Amphiporus lactifloreus GTS-21 Alzheimer/ I(mariner Wurm) Schizophrenie Jorunna funebris Zalypsis® Krebs I(Schnecke)/ (PM00104/50)Reniera sp. (Schwamm)Mactromeris polynyma/ ES-285 Krebs I(Muschel)/ (Spisolin-285)Spisula polynyma(Schnecke)Nach [12].

Herkunft Verbindung Indikation Phase derklinischen Prüfung

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[18] C. Thoms, M. Wolff, K. Padmakumar, R. Ebel, P. Proksch, Chemicaldefense of Mediterranean sponges Aplysina cavernicola and Aply-sina aerophoba, Z. Naturforsch. C 2004, 59, 113–122.

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DanksagungWir bedanken uns bei Prof. F. Brümmer und M. Pfannkuchen (UniversitätStuttgart), Prof. P. Schupp und Dr. C. Thoms (University of Guam) sowie A. Putz für die Überlassung von Bildmaterial. Weiterhin danken wir allenMitgliedern des vom BMBF geförderten „Kompetenz-Zentrums BIOTEC-marin“ für die fruchtbare Zusammenarbeit.

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Die AutorenPeter Proksch (Bildmitte), geb. 1953, Biologiestudium an der Universität zuKöln, 1980 Promotion, 1980-82 Postdoktorand an der University of Califonia,Irvine, 1982 – 85 wiss. Mitarbeiter im Botanischen Institut der Universität zuKöln, 1986 – 90 Hochschulassistent im Institut für Pharmazeutische Biologieder TU Braunschweig, 1988 Habilitation im Fach Pharmazeutische Biologie,1990 – 99 Professor für Pharmazeutische Biologie an der Universität Würz-burg, seit 1999 Leiter des Instituts für Pharmazeutische Biologie und Biotech-nologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsgebiete: Bioaktivemarine Naturstoffe, chemische Ökologie, pflanzliche Insektizide.

RuAngelie Edrada-Ebel (rechts), geb. 1963, Pharmaziestudium an der Univer-sity of the Philippines in Manila, 1998 Promotion, 1998-2000 Postdoktorandinan der University of Oklahoma sowie der University of California, Santa Cruz,seit 2001 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Pharmazeutische Biologie und Bio-technologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsgebiete: Struk-turaufklärung und chemische Ökologie von (marinen) Naturstoffen.

Rainer Ebel (links), geb. 1967, Pharmaziestudium an der Universität Düssel-dorf, 1998 Promotion, 1998-1999 Postdoktorand an der University of Califor-nia, Santa Cruz, seit 2000 Hochschulassistent und seit 2002 Juniorprofessoram Institut für Pharmazeutische Biologie und Biotechnologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsgebiete: Biotechnologische Produktionvon biologisch aktiven Naturstoffen aus marinen sowie endophytischen Pilzen,molekulare Taxonomie und Charakterisierung pilzlicher Lebengemeinschaften.

Korrespondenz: Prof. Dr. Peter Proksch Institut für Pharmazeutische Biologie und Biotechnologie Universitätsstr. 1, Gebäude 26.23 40225 DüsseldorfEmail: [email protected]