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Anleitungen zum guten Regieren und kaiserlichen Entscheiden in
Byzanz von Michael Grünbart
1 Terminologie
Bevor auf Schriften zum guten Regieren oder vorbildhaften
Herrschen im ost römischen Reich eingegangen wird, soll der Begriff
»Fürstenspiegel« thematisiert und diskutiert werden. Diesen gibt es
in der mittelgriechischen Sprache eigentlich nicht, denn es
existiert kein speculum regis/regum. Trotzdem wurde der Terminus
seit den Arbeiten von Karl Krumbacher und Kurt Emminger stets zur
Klassifikation von Schriften oder Passagen verwendet, welche
Ratschläge und Ermahnungen für den byzantinischen Kaiser und
Reflexionen zum idealen Herrscher enthielten. Der von Karl
Praechter verwendete Begriff »Königsspiegel« setzte sich hingegen
nicht durch.1 Allerdings sind nur wenige selbstständige Werke
überliefert, die der westlichen und aus dem Hochmittelalter
stammenden Kategorie »Fürstenspiegel« Genüge leisten können.2 Es
kommen Texte in Frage, welche an den byzantinischen Kaiser oder
Angehörige seiner Familie gerichtet und meist
1 Karl Krumbacher, Geschichte der byzantini-schen Litteratur von
Justinian bis zum Ende des oströmischen Reiches (527-1453), München
1897, 456-457 (zu Agapetos); Kurt Emminger, Studien zu den
griechischen Fürstenspiegeln. I. Zum ἀνδριὰς βασιλικός des
Nikephoros Blemmy-des. II. Die spätmittelalterliche Übersetzung der
Demonicea. III. Βασιλείου κεφάλαια παραινετικά, München 1906-1913;
Karl Praechter, Der Roman Barlaam und Joasaph in seinem Verhältnis
zu Agapets Königsspiegel, in: Byzantinische Zeit-schrift 2 (1893)
444-460. Siehe auch die Überblicks - artikel von Pierre Hadot,
Fürstenspiegel, in: Reallexikon für Antike und Christentum 8 (1969)
555-632; Gudrun Schmalzbauer, Fürstenspiegel, in: Lexikon des
Mittelalters 4 (1989) 1053-1056; Elizabeth M. Jeffreys /Alexander
Kazhdan, Mirror of Princes, in: The Oxford Dictionary of Byzantium
II (1991) 1379-1380. Zur Umsetzung in kaiserlichen Beschreibungen
siehe Peter Schreiner, Das Herr-
scherbild in der byzantinischen Literatur des 9. bis 11.
Jahrhunderts, in: Saeculum 61 (1991) 132-151. Vgl. auch Josef
Engemann, Herrscherbild, in: Reallexikon für Antike und Christentum
14 (1988) 966-1047. 2 Hans H. Anton, Fürstenspiegel und
Herrschere-thos in der Karolingerzeit, Bonn 1968; Jan Manuel
Schulte, Speculum Regis. Studien zur Fürsten-spiegel-Literatur in
der griechisch-römischen Anti-ke, Münster /Hamburg /London 2001
sowie Hans H. Anton, Fürstenspiegel des frühen und hohen
Mittelalters, Darmstadt 2006.3 Herbert Hunger, Die hochsprachliche
profane Literatur der Byzantiner, München 1978, I 157-165.4 Ebd., I
159.5 Günter Prinzing, Beobachtungen zu »integrier-ten«
Fürstenspiegeln der Byzantiner, in: Jahrbuch der Österreichischen
Byzantinistik 38 (1988) 1-31; Prinzing listet 18 Fürstenspiegel
auf, von denen acht selbstständig sind; der Terminus wird
weiter-
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Anleitungen zum guten Regieren 63
paränetischer Natur sind. Herbert Hunger unterteilte in seiner
byzantinischen Literaturgeschichte die »Fürstenspiegel« in zwei
Gruppen:3 Die erste Gruppe bestehe aus kurzen Kapiteln (κεφάλαια),
die mitunter durch eine Akrostichis zusammengehalten würden. Die
zweite Gruppe enthalte jene, »die von ihren Autoren in
zusammenhängender Darstellung stilisiert wurden; eine Gliederung in
mehr oder weniger kleine Kapitel wäre bei diesen Texten, zumindest
teilweise, möglich«.4 Diese Einteilung erwies und erweist sich als
wenig zielführend, da von einer formalen Ausprägung ausgegangen
wird, ja diese sogar vorausgesetzt wird, ohne auf den Kontext oder
den Anlass derartiger Paränesen zu achten. Günter Prinzing erkannte
das Problem und versuchte mit dem Terminus »›integrierter‹
Fürstenspiegel« der Vielzahl an in unterschiedliche Schriften
eingebetteten Handreichungen zum guten Regieren Herr zu werden,
doch wirkt die Klassifikation konstruiert und letztendlich
willkürlich (etwa auch der Versuch, die byzantinische Brief
literatur nach »modernen« Gesichtspunkten zu organisieren, hat sich
nicht bewährt).5 Ein Problem jener Einteilung ist, dass in vielen
rhetorischen Kompositionen der Byzantiner Elemente von
»Fürstenspiegeln« eingestreut sein können. In den regelmäßig vor
dem Kaiser gehaltenen Reden (z. B. von Libanios, Themistios oder
Eustathios von Thessalonike) oder auch in den offiziellen Urkunden,
insbesondere in den Arengen der imperialen Schreiben, findet man
Elemente von Vorstellungen zur guten Herrschaft formuliert; diese
sind geradezu programmatisch.6 Regelmäßig wird auf die
Herrschertugenden verwiesen, die einen Kanon bilden, der sich schon
in der hellenistischen Typologie des idealen Machthabers
findet.
Seit einigen Jahren wird der Terminus Fürstenspiegel unter
Anführungszeichen gesetzt, insbesondere Paolo Odorico spricht sich
gegen seine Verwendung aus, findet aber (noch) keine neue begriff
liche Fassung.7 Diether Roderich Reinsch behandelte danach einige
Facetten der »Fürstenspiegel«
verwendet, siehe zuletzt Pantelis Carelos, Ein »integrierter«
Fürstenspiegel im Prooimion der Ἐπιτομὴ Λογικῆς des Nikephoros
Blemmydes, in: Byzantinische Zeitschrift 98 (2006) 399-402; vgl.
Michael Grünbart, Basileios II. und Bardas Skleros versöhnen sich,
in: Millennium. Jahrbuch zu Kultur und Geschichte des ersten
Jahrtausends n. Chr. 5 (2008) 213-224 mit einem weiteren Bei-spiel
(der Kaiser Basileios II. erhält Ratschläge nach der Beendigung des
Konflikts mit dem Usurpator Bardas Skleros).6 Für die Spätantike
siehe Johannes Straub, Vom Herrscherideal in der Spätantike,
Stuttgart 1939 (Unveränderter Nachdruck 1964); für die
mittel-byzantinische Periode: Otto Treitinger, Die ost-römische
Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestal-tung im höfischen
Zeremoniell. Vom oströmischen Staats- und Reichsgedanken, Darmstadt
²1956; für das späte Byzanz: Dimiter G. Angelov, Byzantine Imperial
Panegyric as Advice Literature
(1204- c.1350), in: Elizabeth Jeffreys (Hg.), Rhetoric in
Byzantium. Papers from the Thirty-fifth Spring Symposium of
Byzantine Studies, University of Oxford, March 2001, Aldershot
2003, 55-72; ders., Imperial ideology and political thought in
Byzanti-um, 1204-1330, Cambridge 2007; übergreifend: Ηerbert
Hunger, Φιλανθρωπία. Eine griechische Wortprägung auf ihrem Wege
von Aischylos bis Theodoros Metochites, in: Anzeiger der
phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der
Wissen-schaften 100 (1963) 1-20; Herbert Hunger, Pro-oimion,
Elemente der byzantinischen Kaiseridee in den Arengen der Urkunden,
Wien 1964.7 Paolo Odorico, Les miroirs des princes à Byzan-ce. Une
lecture horizontale, in: ders. (Hg.), L’Education au Gouvernement
et à la vie. La tradi-tion des »règles de vie« de l’Antiquité au
Moyen-Âge, Actes du colloque international de Pise, 18 et 19 mars
2005, Paris 2009, 223-246.
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Michael Grünbart64
literatur vornehmlich des 11. und 12. Jahrhunderts und wies auf
Besonderheiten bzw. Reflexionen des Kontextes hin.8 Die Arbeiten
von Konstantinos Paidas zu Fürstenspiegeln (κάτοπτρα ἡγεμόνος)
legen den Schwerpunkt auf die politische Theorie.9 In der
klassischen Philologie hingegen scheint der Terminus
»Fürstenspiegel« ein wenig diskutiertes Problem zu sein.10
Rechtshistoriker untersuchten die »Fürstenspiegel« ebenso, da
sie Material zum Verständnis von Herrschaft und ihrer legistischen
Konstruktion enthalten. Dieter Simon versuchte, den Unterschied
zwischen der enkomiastischen Rede und der Paränese so zu fassen:
»Was in den Fürstenspiegeln normativ als gesollt empfohlen wird,
stellt das Enkomion deskriptiv als erreicht dar«.11 Anders
gewichtete Herbert Hunger das Verhältnis zwischen den beiden, indem
er die Nähe und den Kontakt des Verfassers von Paränesen zum Kaiser
hervorhob.12
Sucht man nach Termini, die von den Byzantinern für diese Formen
der Schriftlichkeit verwendet werden, dann bietet sich folgendes
Bild: Oft wird einfach über das Kaisertum geschrieben oder geredet
(περὶ βασιλείας), Agapetos nennt seine Zusammenstellung ἔκθεσις
κεφαλαίων παραινετικῶν. Unter dem Namen des Kaisers Basileios
laufen ebenso parainetische Kapitel (κεφάλαια παραινετικά), also
Ermahnungsschriften, welche möglicherweise Photios verfasst hat.13
Kekaumenos schrieb in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ein
so genanntes Strategikon, das an seine Nachkommen gerichtet ist und
dem eine ihm zugeschriebene Mahnrede an den Kaiser beigegeben
ist.14 Paul Lemerle bezeichnete sie als Consilia et narrationes und
Charlotte Roueché unterzog jüngst die einzige Handschrift, in der
das Werk überliefert ist,
8 Diether R. Reinsch, Abweichungen vom traditio-nellen
byzantinischen Kaiserbild im 11. und 12. Jahr-hundert, in: Odorico,
L’Education (Anm. 7), 115-128; ders., Bemerkungen zu einigen
byzantinischen »Fürstenspiegeln« des 11. und 12. Jahrhunderts, in:
Helmut Seng / Lars M. Hoffmann (Hg.), Synesios von Kyrene. Politik
– Literatur – Philosophie, Turnhout 2012, 404-419.9 Konstantinos D.
S. Paidas, Η θεματική των βυζαντινών Κατόπτρων Ηγεμόνος της πρώιμης
και μέσης περιόδου (398-1085). Συμβολή στην πολιτική θεωρία των
Βυζαντινών, Athen 2005; ders., Τα βυζαντινά »Κάτοπτρα ηγεμόνος« της
ύστερης περιόδου (1254-1403). Εκφράσεις του βυζαντινού βασιλικού
ιδεώδους, Athen 2006. Vgl. auch Dimitra Karamboula, Staatsbegriffe
in der frühbyzantinischen Zeit, Wien 1993; dies., Soma Basileias.
Zur Staatsidee im spätantiken Byzanz, in: Jahrbuch der
österreichischen Byzantinistik 46 (1996) 1-24; Ioannis G.
Leontiadis, Untersuchun-gen zum Staatsverständnis der Byzantiner
auf-grund der Fürsten- und Untertanenspiegel (13. bis 15.
Jahrhundert), Diss. Wien 1997.
10 Vgl. etwa Christian Körner, Das Verständnis von Herrschaft in
der anonymen Rede Εἰς βασιλέα (Ps.-Aelius Aristides): Ein
Fürstenspiegel, in: Klio 93 (2011) 173-192 oder Oliver Schwazer,
Senecas Thyestes und der ›Fürstenspiegel‹ für Nero, in: Mnemosyne
69 (2016) 1008-1028; Michael Roberts, Fürstenspiegel, in: Der Neue
Pauly 4 (1998) 693-695.11 Dieter Simon, Princeps legibus solutus.
Die Stellung des byzantinischen Kaisers zum Gesetz, in: Dieter Nörr
/ Dieter Simon (Hg.), Gedächtnis-schrift für W. Kunkel, Frankfurt
am Main 1984, 449-492, hier 477.12 Hunger, Literatur (Anm. 3), I
157.13 Αthanase Markopoulos, Autour des Chapitres Parénétiques de
Basile Ier, in: ΕΥΨΥΧΙΑ. Mélanges offerts à Hélène Ahrweiler, Paris
1998, II 469-479.14 Maria Dora Spadaro (Hg.), Raccomandazioni e
consigli di un galantuomo, Alessandria 1998; B. Wassiliewsky /
Victor Jernstedt (Hg.), Cecaumeni strategicon et incerti scriptoris
de officiis regiis libellus, St. Peterburg 1896.15 Charlotte
Roueché, The Place of Kekaumenos in the Admonitory Tradition, in:
Odorico, L’Educa-tion (Anm. 7), 129-144; Paolo Odorico, Un
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Anleitungen zum guten Regieren 65
einer Analyse. Dabei fällt auf, dass die meisten Werke in der
Moskauer Handschrift (Codex K Mosquensis 436 [S. Synod. 298])
belehrenden Charakter haben (äsopische Fabeln, Gnomen, Alexander,
Syntipas …).15 Wegen seiner vielen Bezüge zum Alltag und der
offenkundigen Praxiserfahrung des Verfassers wird Kekaumenos gerne
als Quelle zur Mentalitätsgeschichte des griechischen Mittelalters
herangezogen.
Theophylaktos von Ochrid (ca. 1055 nach 1107) hinterließ ein
zweigeteiltes Werk (Παιδεία βασιλική), welches aus einem
panegyrikos (πανηγυρικός) und einem parainetikos (παραινετικός)
besteht.16 Um das Jahr 1088 entstanden wird damit sein Schüler
Konstantin (Sohn Michaels VII.) adressiert. Die Unterweisungen sind
länger als die Schriften des Agapetos oder des Basileios und »sie
weichen von der gnomologischen Tradition deutlich ab«.17
Die Musen, Kaiser Alexios I. (10811118) zugeschrieben, stellen
eine Besonderheit dar, da in einem Versgedicht Ioannes (II.), dem
Sohn Alexios’ Ermahnungen zukommen.18 Theognostos (13. Jh.) nennt
seine Sammlung an Ratschlägen thesauros (θησαυρός; »Schatz«).19
Nikephoros Blemmydes stellt das ideale Herrschertum in den
Vordergrund seines basilikos andrias (βασιλικὸς ἀνδριάς;
»kaiserliches Standbild«). Dabei ist anzumerken, dass seit der
Spätantike andrias auch »Vorbild« heißt und auch hier so zu
verstehen ist.20 Thomas Magistros (ca. 1277 nach 1347) gilt als ein
wichtiger Vertreter der spätbyzantinischen Rhetorik. Thomas
verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Thessalonike.21
Magistros reiste zweimal nach Konstantinopel und traf dort den
Kaiser Andronikos II. (12821328), dessen Sohn Konstantinos er
wahrscheinlich erzog.
di lunga durata della trasmissione del sapere: Cecaumeno,
Sinadinos, I’Antichità, I’età moderno, in: Maria Serena Funghi
(Hg.), Aspetti di lettera-tura Gnomica nel mondo antico, Florenz
2003, I 283-299. Deutsche Übersetzung: Hans-Georg Beck, Vademecum
des byzantinischen Aristokra-ten. Das sogenannte Strategikon des
Kekaumenos, Graz / Wien / Köln ²1964; französische Übersetzung
Paolo Odorico (Hg.), Kékauménos. Conseils et récits d’un
gentilhomme byzantin, Toulouse 2015.16 Patrologia Graeca 126,
253-285 (besteht in dieser alten Ausgabe aus zwei Teilen, einem
pane-gyrikos und einem parainetikos logos); Bernard Leib, La
παιδεία βασιλική de Théophylacte, arche-vêque de Bulgarie, et sa
contribution à l’histoire de la fin du XIe siècle, in: Revue des
Études Byzantines 11 (1953) 197-204. Das Werk lief unter
»Fürsten-spiegel«, wurde aber vom Herausgeber Paul Gautier,
Théophylacte d’Achrida: Discours, Traités, Poésies, introduction,
texte et notes, Thessalonike 1980, 48 und Margaret Mullett, The
Madness of Genre, in: Dumbarton Oaks Papers 46 (1992) 233-243, hier
239 als ein basilikos logos eingestuft. Dazu Prinzing,
Beobachtungen (Anm. 5), 4 (ohne Mullett zu zitieren). Der Text
wurde ohne die in der
PG angeführten Zwischentitel von Paul Gautier in der genannten
Edition als Rede 4 an Konstantinos Dukas herausgegeben (178-211).17
Hunger, Literatur (Anm. 3), 161; dazu zuletzt Roberto Romano,
Retorica e cultura a Bisanzio: due Fürstenspiegel a confronto, in:
Vichiana 14 (1985) 299-316.18 Paul Maas, Die Musen des Kaisers
Alexios I., in: Byzantinische Zeitschrift 22 (1913) 348-369, dazu
Reinsch, Abweichungen (Anm. 8). 19 Joseph A. Munitiz (Ed.),
Theognosti thesaurus, Turnhout / Leuven 1979; deutsche Übersetzung
des 19. Kapitels (»Ermahnung an den Kaiser«) bei Leontiadis,
Untersuchungen (Anm. 9), 43-49.20 Herbert Hunger / Ihor Ševčenko,
Des Nike-phoros Blemmydes Βασιλικὸς ἀνδριάς und dessen Metaphrase
von Georgios Galesiotes und Georgios Oinaiotes, Wien 1986; Roberto
Andrés Soto Ayala, Nicéforo Blemida y la estatua del soberano. O
Basilikos Andrias, in: Byzantion – Nea Hellás 29 (2010) 135-167.21
Zum Leben siehe Niels Gaul, Thomas Magis-tros und die
spätbyzantinische Sophistik. Studien zum Humanismus urbaner Eliten
der frühen Palaiologenzeit, Wiesbaden 2011.
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Michael Grünbart66
Thomas hinterließ wichtige philologische Schriften und auch
einige politische Traktate, deren Titel an spätantike Bezeichnungen
erinnern (Über das Kaisertum, Über das Staatswesen).22 Von
Magistros gibt es nicht nur Instruktionen für den Kaiser, sondern
auch eine Schrift über die Pflichten der Untergebenen.
Mittlerweile hat sich in der byzantinischen Literaturforschung
die Einsicht durchgesetzt, dass man nicht mehr von streng
trennbaren Genres ausgehen kann, sondern dass sich byzantinische
Autoren oft Mischformen bedienen und sich bewusst eklektizistisch
verhalten – gerade darin besteht der Reiz der byzantinischen
Literaturproduktion.23 Mit dieser Prämisse kann auch die
Problematik »Fürstenspiegel« entschärft werden. En passant soll
erwähnt werden, dass der Terminus »Spiegel« in der byzantinischen
rhetorischen Literatur zwar hin und wieder vorkommt, es aber nie zu
einem Klassifikationsbegriff schaff te.24 Bei Agapetos Diakonos
wird zweimal der Begriff »Spiegel« (katoptron; κάτοπτρον)
verwendet: »Seine Seele, die sich um vielerlei Sorgen macht, muss
der Kaiser wie einen Spiegel blankreiben, damit sie jederzeit von
göttlichem Glanz erstrahlt und von dorther die Unterscheidung der
Umstände lernt. Nichts nämlich befähigt so dazu, das Notwendige zu
erkennen, wie eine Seele, die ganz rein bewahrt wird.«25 Und: »Wie
blanke Spiegel die Bilder der Gesichter zeigen, wie diese sind –
heitere Spiegelbilder heiterer Menschen und mürrische von
mürrischen –, so gleicht sich auch das gerechte Gericht Gottes
unserem Handeln an: wie unsere Taten sind, vergilt er uns auf die
gleiche Weise.«26
Wie auch immer: In wohlklingende Perioden verpackt wurden dem
Monarchen Idealbilder des Herrschens vermittelt; Anleihen nahm man
dabei in der klassischen griechischen und hellenistischen
Literatur, aber auch im Alten Testament; der Ton kann auch mahnend
sein, allerdings wird darauf geachtet,
22 Toma Magistro, La regalità, ed. Paola Volpe Cacciatore,
Neapel 1997; Übersetzung in Wilhelm Blum, Byzantinische
Fürstenspiegel. Agapetos, Theophylakt von Ochrid, Thomas Magister,
Stutt-gart 1981, 99-145.23 Mullett, Madness (Anm. 16); Panagiotis
A. Agapitos, Mischung der Gattungen und Über-schreitung der
Gesetze: Die Grabrede des Eusta-thios von Thessalonike auf Nikolaos
Hagiotheodori-tes, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik
48 (1998) 119-146; Floris Bernard, Writing and Reading Byzantine
Secular Poetry, 1025-1081, Oxford 2014, 7; vgl. Foteini Kolovou,
Der gefangene Gelehrte und sein nächtlicher Gast.
Geschichtskon-zeption und Phantasie in Nikephoros Gregoras‘
Rhomaike Historia, Leipzig 2016, die auf die Beson-derheiten der
Darstellung des spätbyzantinischen Autors eingeht (funktionale
Fiktionalität).24 Stratis Papaioannou, Byzantine Mirrors.
Self-Reflection in Medieval Greek Writing, in: Dum-barton Oaks
Papers 64 (2010) 81-101.
25 Rudolf Riedinger, Agapetos, Der Fürsten-spiegel für Kaiser
Iustinianos. Capita admonitaria, Athen 1995, 30, 13-17 (cap. 9):
Τὴν πολυμέριμνον τοῦ βασιλέως ψυχὴν κατόπτρου δίκην ἀποσμήχεσθαι
χρή, ἵνα ταῖς θείαις αὐγαῖς ἀεὶ καταστράπτηται καὶ τῶν πραγμάτων
τὰς κρίσεις ἐκεῖθεν διδάσκηται. Οὐδὲν γὰρ οὕτω ποιεῖ τὰ δέοντα
καθορᾶν ὡς τὸ φυλάσσειν ἐκείνην διαπαντὸς καθαράν.26 Ebd., 40,
11-16 (cap. 24): Ὥσπερ τὰ ἀκριβῆ τῶν κατόπτρων τοιαύτας δείκνυσι
τὰς τῶν προσώπων ἐμφάσεις οἷάπερ ἐστὶ τὰ πρωτότυπα, φαιδρὰ μὲν τῶν
φαιδρυνομένων, σκυθρωπὰ δὲ τῶν σκυθρωπαζόντων, οὕτω καὶ ἡ δικαία
τοῦ θεοῦ κρίσις ταῖς ἡμετέραις πράξεσιν ἐξομοιοῦται· οἷάπερ ἂν ἦ τὰ
παρ’ ἡμῶν εἰργασμένα τοιαῦτα ἡμῖν ἐκ τῶν ὁμοίων ἀντιδιδοῦσα.
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Anleitungen zum guten Regieren 67
die Grenze zur Kaiserkritik und zum Kaisertadel nicht zu
überschreiten.27 Kaiserkritik wurde wenig geduldet und fand meist
nur in »Geheimschriften«, a posteriore oder in einem gesicherten
Umfeld statt.28 Eine Personengruppe, die im ausgehenden römischen
Reich zunehmend unter Beobachtung gestellt wurde, waren die
Prognostiker und Zukunftsdeuter. Denn Wahrsager konnten ein
schlechtes Klima für die Handlungsfähigkeit eines Kaisers und damit
seiner Außenwirkung erzeugen, in der Spätantike ging man gegen
diese »Berufsgruppe« systematisch vor.29 Die Verleumdung des
Kaisers und die Missachtung seiner monarchischen Autorität finden
in einer Tadelrede (ψόγος) statt. Das beste Beispiel eines solchen
Werkes, das schlechtes Regieren reflektiert, aber durch die
Negativschablone Rückschlüsse auf Herrschaftsvorstellungen zulässt,
ist Prokops vielgescholtene Geheimgeschichte, die nicht für eine
große Öffentlichkeit bestimmt war.30
Wie bereits erwähnt richten sich die aus dem byzantinischen Raum
erhalten gebliebenen Anleitungen zum guten Regieren meistens an den
byzantinischen Kaiser.31 Nur in wenigen Fällen werden auch
fremdländischen Herrschern derartige Ratschläge übermittelt. Dieter
Roderich Reinsch führt das bekannte Schreiben des Patriarchen
Photios an den bulgarischen Khan Boris (getauft Michael) an,
welches um das Jahr 865 datiert wird.32 Des Weiteren kann ein Brief
des Patriarchen Nikolaos Mystikos, der über einen kurzen Zeitraum
an Stelle des Kaisers (nach dem Tode Alexanders im Jahre 913) die
Regierungsgeschäfte leitete, ins Treffen geführt werden. Er
schreibt etwa an den Kalifen AlMuqtadir.33 Noch besser eignen sich
allerdings die Briefe an den bulgarischen Herrscher Simeon, die
durch und durch instruierenden und mahnenden Charakter haben.34
Diese Passagen dienen dazu, den ausländischen Herrschern ihre
Abhängigkeit von Byzanz suggestiv klar zu machen, sie gleich
27 Antonia Giannouli, Paränese zwischen Enkomion und Psogos. Zur
Gattungseinordnung byzantinischer Fürstenspiegel, in: Andreas Rhoby
/ Elisabeth Schiffer (Hg.), Imitatio – Aemulatio – Variatio. Akten
des internationalen wissenschaft-lichen Symposions zur
byzantinischen Sprache und Literatur (Wien, 22.-25. Oktober 2008),
Wien 2010, 119-128.28 Franz H. Tinnefeld, Kategorien der
Kaiserkritik in der byzantinischen Historiographie von Prokop bis
Niketas Choniates, München 1971; Paul Mag-dalino, Aspects of Twelf
th-Century Kaiserkritik, in: Speculum 58 (1983) 326-346.29 Marie
Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum
kaiserlichen Wissens-monopol in der Spätantike, Frankfurt a. M.
1993; Almuth Lotz, Der Magiekonflikt in der Spätantike, Bonn
2005.
30 Anthony Kaldellis, The Secret History. With Related Texts,
Indianapolis 2010; Averil Cameron, Procopius and the Sixth Century,
Berkeley CA u. a. 1985.31 Blum, Byzantinische Fürstenspiegel (Anm.
22).32 Reinsch, Abweichungen (Anm. 8), 404; Basilei-os Laourdas /
Leendert G. Westerink (Hg.), Photii epistulae et Amphilochia,
Leipzig 1983, ep. 1. Dazu Despina Stratoudaki-White / Joseph R.
Berrigan, The Patriarch and the Prince. The Letter of Patri-arch
Photios of Constantinople to Khan Boris of Bulgaria, Brookline
1982; Despina Stratoudaki-White, The Hellenistic Tradition as an
Influence on Ninth-Century Byzantium: Patriarch Photios’ Letter to
Boris-Michael, the Archon of Bulgaria, in: The Patristic and
Byzantine Review 6 (1987) 121-129.33 Romilly J. H. Jenkins /
Leendert G. Westerink (Hg.), Nicholas I Patriarch of
Constantinople. Let-ters. Greek Text and English Translation,
Washing-ton, D.C. 1973, 2-13 (ep. 1).34 Ebd., z. B. 172-181 (ep.
25).
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Michael Grünbart68
sam zu zivilisieren und sie an die byzantinische, christlich
dominierte Kultur heranzuführen und den rechten Platz
zuzuweisen.
Es lässt sich also festhalten: Wenn der Terminus
»Fürstenspiegel« verwendet wird, dann handelt es sich dabei nur in
Ausnahmefällen um eigenständige, paränetische Schriften. In vielen
Textzeugnissen aus dem byzantinischen Jahrtausend findet man
Vorstellungen vom idealen Herrscher und Herrschen, es ist erlaubt,
dem Kaiser Instruktionen zu geben. Auf fällig ist, dass es sich in
den meisten Fällen um Ratschläge handelt. Diese sind entweder
zeitloser, also allgemeingültiger Natur oder sie lassen einen
Kontext erkennen.
2 Tendenzen paränetischen Schrifttums
Im Folgenden wird ein knapper Durchgang durch die vorhandenen
Zeugnisse gemacht werden, dabei soll es nicht so sehr auf Formales
ankommen, sondern eher auf den ideologischen Inhalt und seinen
Kontext abgehoben werden.
Es handelt sich dabei um Texte bzw. Autoren, in und bei denen
besondere Elemente der paränetischen Literatur auf tauchen (in
chronologischer Reihenfolge):35 Synesios von Kyrene, Agapetos
Diakonos, Theophylaktos Simokates, Photios, Kaiser Basileios I.,
Nikolaos Mystikos, Konstantinos VII., Kekaumenos, Theophylaktos von
Ochrid, PseudoAntonios, Melissa, Alexios I., Digenis Akrites,36
Äsop-Roman,37 das Lehrgedicht Spaneas,38 Stephanos und
Ichnelates,39 Theognostos, Nikephoros Blemmydes, Maximos Planudes,
Thomas Magistros, Manuel II. Palaiologos und Georgios Gemistos
Plethon. Es fällt dabei auf, dass auch Kaiser als mögliche Autoren
fungieren; dies hat damit zu tun, dass ein Kaiser seinen
präsumptiven Nachfolgern Ratschläge mitgeben wollte. Wenn man den
Begriff Paränese noch weiter auf faltet, dann müssen die
Militärhandbücher mitberücksichtigt werden. Darin kommen auch
Mahnungen /Erfahrungen für kaiserliches Handeln vor.
35 Überblicke bei Blum, Byzantinische Fürsten-spiegel (Anm. 22);
Leontiadis, Untersuchungen (Anm. 9), 18-25.36 Erich Trapp, Digenis
Akrites. Synoptische Ausgabe der ältesten Versionen, Wien 1971,
232f. (G IV 1983-1992, Z V 2350-2358); in das Epos eingefügt ist
eine Rede des Helden Digenis an den Kaiser, den er am Euphrat
trifft.37 Hans Eideneier, Byzantinische Fürstenspiegelei im
neugriechischen Äsoproman, in: Lars Hoff-mann / Anuscha Monchizadeh
(Hg.), Zwischen Polis, Provinz und Peripherie. Beiträge zur
byzan-tinischen Geschichte und Kultur, Wiesbaden 2005, 719-748.38
Georg Danezis, Spaneas. Vorlage, Quellen, Versionen, München
1987.
39 Lars-Olof Sjöberg, Stephanites und Ichnelates.
Überlieferungsgeschichte und Text, Stockholm 1964.40 Vgl. auch
Johannes Irmscher, Das Bild des Untertanen im Fürstenspiegel des
Agapetos, in: Klio 60 (1978) 507-509, besonders die Kapitel 9 und
24 bei Agapetos.41 Riedinger, Agapetos (Anm. 25), Cap. 20: Σεπτὴ
δικαίως ἐστὶν ἡ ὑμῶν βασιλεία, ὅτι τοῖς πολεμίοις μὲν δεικνύει τὴν
ἐξουσίαν, τοῖς ὑπηκόοις δὲ νέμει φιλανθρωπίαν· καὶ νικῶσα ἐκείνους
τῇ δυνάμει τῶν ὅπλων, τῇ ἀόπλῳ ἀγάπῃ τῶν οἰκείων ἡττᾶται· ὅσον γὰρ
θηρίου καὶ προβάτου τὸ μέσον, τοσοῦτον ἀμφοτέρων ἡγεῖται τὸ
διάφορον. Über-setzung: Ebd., 39.
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Anleitungen zum guten Regieren 69
Der Kaiser muss nach außen hin Stärke, nach innen
philanthropia/humanitas beweisen und sich mildtätig erweisen; die
Untertanen sollen ein Gefühl der Freiwilligkeit ihres Status haben,
der Herrscher beeinflusst die Untertanen positiv durch Wohltaten.40
Agapetos schreibt:
»Die Art eurer Regierung wird zu Recht hochgeschätzt, denn den
Feinden zeigt sie ihre Macht, den Untertanen aber lässt sie
Menschenfreundlichkeit [besser: Wohltätigkeit] zuteil werden.
Siegreich gegen jene mit Waffengewalt, lässt sie sich von der
waffenlosen Liebe der eigenen Leute besiegen. Denn wie groß der
Unterschied zwischen einer Bestie und einem Lamm ist, so groß sieht
sie den Unterschied zwischen Feind und Freund«.41
Die Mahnung Waffengewalt einzusetzen, schimmert bei Agapetos nur
an wenigen Stellen durch und bleibt dabei wenig konkret. Blättert
man durch andere paränetische Schriften, so wird die Prominenz des
Themas »Militär« evident.42
Die Spruchsammlungen (Sieben Weise)43 und – was bisher kaum
mitberücksichtigt wurde – Traumbücher dürfen eigentlich auch nicht
fehlen.44
Vorbildhaft für die Schriften, die einen Herrscher instruieren
und zu gutem Regieren auf forderten, war Isokrates (436338 v.
Chr.). Viele der byzantinischen Rhetoren beziehen sich auf seinen
Euagoras, ein Enkomion bzw. epitaphios logos, in dem die zeitlosen
Ideale theophilia und philanthropia angesprochen werden.45 Dazu
tritt die pseudoisokratische Schrift pros Demonikon, die in der
paränetischen Tradition der Byzantiner reichen Nachhall gefunden
hat.46 Der Erfolg dieser Rede lag darin, dass sich die Motive und
Ratschläge problemlos christianisieren ließen. Dion von Prusa
(genannt Chrysostomos) wird explizit von Kaiser Manuel II.
(13911425) angeführt.47
Allerdings finden sich auch bei Themistios viele Elemente der
herrscherlichen Paränese;48 verwiesen werden soll bloß auf Rede 15
(»Welche ist die königlichste der Tugenden?«), die der begnadete
Rhetor im Januar 381 in Gegenwart des Kaisers Theodosius I. und des
Senates hielt. Themistios spricht sich darin für
42 Joseph A. Munitiz, War and Peace Reflected in Some Byzantine
Mirrors of Princes, in: Timothy S. Miller / John Nesbitt (Hg.), War
and Peace in Byzantium. Essays in Honor of George T. Dennis, SJ.,
Washington, D.C. 1995, 50-61.43 Maria Tziatzi-Papagianni, Die
Sprüche der sieben Weisen. Zwei byzantinische Sammlungen.
Einleitung, Text, Testimonien und Kommentar, Stuttgart / Leipzig
1994.44 Christine Angelidi / George T. Calofonos (Hg.), Dreaming in
Byzantium and Beyond, Farnham 2014; Traumbücher laufen auch unter
den Namen von Geistlichen vgl. Franz Drexl, Das Traumbuch des
Patriarchen Germanos, in: Laographia 7 (1923) 428-448; Karl
Brackertz, Die Volks-Traumbücher des byzantinischen Mittelalters,
München 1993.
45 Hunger, Literatur (Anm. 3), I 159; Evangelos Alexiou, Der
Euagoras des Isokrates. Ein Kommen-tar, Berlin 2010.46 Hunger,
Literatur (Anm. 3), I 159.47 Giannouli, Paränese (Anm. 27), 119. S.
auch Florin Leonte, Advice and Praise for the Ruler: Making
Political Strategies in Manuel II Palaio-logos’s Dialogue on
Marriage, in: Papers from the First and Second Postgraduate Forums
in Byzan-tine Studies: »Sailing to Byzantium«, Cambridge 2009,
163-183.48 Hartmut Leppin / Werner Portmann, Themis-tios:
Staatsreden, Stuttgart 1998.
-
Michael Grünbart70
eine Herrschaft aus, die von philanthropia geleitet sei. Dadurch
könne man als Herrscher, der eine sichere Politik im Inneren des
Reichs führe, auch äußeren Feinden besser gegenübertreten. Rede 19
handelt Über die Philanthropie des Kaisers Theodosius
(wahrscheinlich 383 oder 384, spätestens 387). Das Verhältnis
zwischen dem Herrscher und der göttlichen Sphäre wird in einer erst
1985 entdeckten Rede des Themistios ausgeleuchtet.49
Gemeinhin wird die Rede des Synesios, gerichtet an den jungen
Kaiser Arkadios, aus dem Jahre 399 als Auf takt zur byzantinischen
»Fürstenspiegelliteratur« verstanden.50 Der Titel εἰς τὸν
αὐτοκράτορα ἢ Περὶ βασιλείας zielt auf den Autokrator und seine
Herrschaft, ein Fürst (archon) wird hier nicht genannt.51
Die prägendste frühbyzantinische paränetische Schrift für das
Hochmittelalter und die Frühe Neuzeit stammt aus der Feder des
Agapetos, welcher aufgrund seiner Tätigkeit wohl an der Hagia
Sophia in Konstantinopel den Beinamen Diakonos trägt.52 Die Schrift
unterbreitet in 72 kurzen Absätzen Ratschläge an Kaiser
Justinian.53 Datiert wird das Werk auf die 530er Jahre. Die kurzen,
sentenzenhaften Kapitel – der Titel lautet ἔκθεσις κεφαλαίων
παραινετικῶν σχεδιασθεῖσα – sind durch eine Akrostichis
zusammengehalten (»Unserem göttlichsten und frömmsten Kaiser
Iustinian der niedrigste Diakon Agapetos«; Τῷ θειοτάτῳ καὶ
εὐσεβεστάτῳ βασιλεῖ ἡμῶν Ἰουστινιανῷ Ἀγαπητὸς ὁ ἐλάχιστος διάκονος;
dies weist darauf hin, dass die Autorschaft hier eine große Rolle
spielt). Agapetos bezog Material aus Isokrates und kirchlichen
Schriftstellern wie Basileios und Gregor von Nazianz. Interessant
sind die Beziehungen zum Barlaam und IoasaphRoman.54 Weitere
Beobachtungen machte jüngst Paolo Odorico, welcher auf die
Ähnlichkeiten zwischen der am 21. November 533 erlassenen
Constitutio Imperatoriam maiestatem und der Sammlung des Agapetos
hinwies.55 Es ist evident,
49 Eugenio Amato / Ilaria Ramelli, L’inedito Πρὸς βασιλέα di
Temistio, in: Byzantinische Zeitschrift 99 (2006) 1-67.50 Blum,
Byzantinische Fürstenspiegel (Anm. 22), 31 f. so auch Reinsch,
Abweichungen (Anm. 8), 404.51 Antonio Garzya, Sul regno. Trad. con
testo a fronte, Neapel 1973; Hartwin Brandt, Die Rede »peri
basileias« des Synesios von Kyrene – ein ungewöhnlicher
Fürstenspiegel, in: Consuetudinis amor. Fragments d’histoire
romaine (IIe - VIe siè-cles) offerts à Jean-Pierre Callu, Rom 2003,
57-70.52 Riedinger, Agapetos (Anm. 25); Antonio Bellomo, Agapeto
Diacono e la sua Scheda regia. Contributo alla storia dell‘
imperatore Giustiniano e die suoi tempi, Bari 1906 (alle
Handschriften stammen aus der Zeit nach 1300).
53 Patrick Henry, A Mirror for Justinian. The »Ecthesis« of
Agapetus Diaconus, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 8 (1967)
281-308; Renate Frohne, Agapetus Diaconus: Untersuchun-gen zu den
Quellen und zur Wirkungsgeschichte des ersten byzantinischen
Fürstenspiegels, Diss. Tübingen 1984; Johannes Irmscher, Das Bild
des Untertanen im Fürstenspiegel des Agapetos, in: Klio 60 (1978)
507-509; Stefano Rocca, Un tratta-tista di età Giustinianea:
Agapeto Diacono, in: Civiltà classica e cristiana 10 (1989)
303-328; Alexander Demandt, Der Fürstenspiegel des Aga-pet, in:
Mediterraneo antico 5 (2002) 573-584.54 Direktübernahmen sind im
Barlaamroman zu finden, so Ihor Ševčenko, Agapetus East and West:
The Fate of a Byzantine »Mirror of Princes«, in: Revue des Études
Sud-Est-Européennes 16 (1978) 3-44, hier 5. Der Barlaamroman stamme
nicht aus dem 8., sondern sei eine Metaphrase aus dem
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Anleitungen zum guten Regieren 71
dass sich inhaltliche Überschneidungen zwischen dem Gesetzestext
und Kapiteln des Agapetos ergeben, was zu Überlegungen führte, ob
der Kaiser vielleicht auf den Diakon hörte.56 Festzuhalten ist
auch, dass die Beziehung des irdischen Herrschers zum Recht einen
hervorragenden Rang einnimmt. Agapetos beginnt sogar damit: »Von
seinem (scil. Gottes) Gesetz laß dich beherrschen und herrsche über
deine Untertanen getreu dem Gesetz«.57 Unterbewertet werden darf
nicht, dass Agapetos aus dem kirchlichen Milieu stammte und sich an
den weltlichen Herrscher wandte – später werden Photios und
Nikolaos Mystikos aus diesem Kontext wirken. Auf fällig ist, dass
Verfasser von paränetischem Schrifttum – wie im Westen – eher einen
geistlichen Hintergrund hatten.
Das Werk des Agapetos entwickelte ein umfangreiches Nachleben,
mehr als 80 Handschriften sind bekannt;58 diese wurden im Zuge der
Überlieferung auch mit Scholien versehen.59 Durch die Übersetzung
ins Lateinische wurde die Schrift in allen Teilen Europas bekannt
und verbreitet.60
Die 72 Kapitel wurden systematisch auf Parallelen und Zitate
durchleuchtet, und es konnten einige frappierende Befunde gemacht
werden, die zeigen, wie Vorstellungen von gutem Herrschen in die
Gedankenwelt der Byzantiner verwoben waren. Renate Frohne zeigte
Verbindungen zu den Briefen des Isidor von Pelusium auf,61 und sie
lieferte auch Einblicke in die Arbeitsweise des frühbyzantinischen
Autors, welcher im besten Sinne mimetisch vorging. Die Briefe des
Isidor kann man auch als eine Sammlung von gnomologischen Passagen
betrachten, sie haben formal wenig mit Epistolographie zu tun.62
Agapetos war gebildet und mit den biblischen Schriften sowie
Florilegien wohlvertraut.63
Ein paar Streif lichter sollen hier angeführt werden, um im
Folgenden mittels anderer paränetischer Zeugnisse Tendenzen und
Gewichtungen festzumachen.
11. Jh.; Riedinger, Agapetos (Anm. 25), 11-15 stellt Passagen
zusammen; Karl Praechter, Der Roman Barlaam und Joasaph in seinem
Verhältnis zu Aga-pets Königsspiegel, in: Byzantinische Zeitschrift
2 (1893) 444-460.55 Odorico, Miroirs (Anm. 7), 229-230; Corpus
Iuris Civilis, Institutiones – Digesta, rec. Theodorus Mommsen.
Rectractavit Paulus Krueger, Berlin 1964, XXVII.56 So Odorico,
Miroirs (Anm. 7), 230. 57 Riedinger, Agapetos (Anm. 25), 26, 5-8
(cap. 1): »… ὑπὸ τῶν αὐτοῦ βασιλευόμενος νόμων καὶ τῶν ὑπὸ σὲ
βασιλεύων ἐννόμως«. Siehe Igor Čičurov, Gesetz und Gerechtigkeit in
den byzantinischen Fürstenspiegeln des 6.-9. Jahrhunderts, in:
Ludwig Burgmann / Marie Theres Fögen / Andreas Schminck (Hg.),
Cupido legum, Frankfurt a. M. 1985, 33-45, bes. 34-35.
58 Riedinger, Agapetos (Anm. 25), 5.59 Fusco F. Paciarelli, Per
l’edizione degli scoli alla Scheda regia di Agapeto Diacono, in:
Κοινωνία 2 (1978) 199-210 (Auswertung von 29 Handschriften).60
Ševčenko, Agapetus (Anm. 54), 3-44; Riedinger, Agapetos (Anm. 25),
17-19.61 Frohne, Agapetus (Anm. 53), 201-248.62 Manfred Kertsch,
Johannes Chrysostomos – Isidor von Pelusion – Agapetos Diakonos.
Zur Rezeption oder Tradition bildsprachlich (bildhaft) formulierter
Paränesen ethischen Vorwurfs in der griechischen Patristik, in: Mit
teilungen zur christ-lichen Archäologie 3 (1997) 66-73.63
Riedinger, Agapetos (Anm. 25), 6.
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Michael Grünbart72
Der Herrscher ist zwar wegen seiner Körperlichkeit keinem
anderen Menschen überlegen, aber kraft seines Amtes ist er dem
allherrschenden Gott gleich.64 Agapetos verwendet andererseits noch
keinen Gedanken auf den gesunden bzw. gut trainierten Körper des
Kaisers, wie dies Theophylaktos im 11. Jahrhundert extra
erwähnt.65
3 Beraten und Entscheiden im paränetischen Schrifttum
Einige Motive sind aus der byzantinischen Kaiserrede hinlänglich
bekannt und werden fast immer angeführt: Der Steuermann und die
Wachsamkeit des Herrschers sind triviale Bilder.66 So muss der
Kaiser auch klug, richtig und nachhaltig entscheiden, um nicht vom
Weg abzukommen. Entscheiden kommt aber in vielen Fällen nicht ohne
fachliche Unterstützung aus; darum ist es nicht verwunderlich, dass
Beraten und Entscheiden im paränetischen Schrifttum mannigfaltig
vorkommen. Eine Probe: »Empfange die, welche guten Rat geben
wollen, nicht die, welche immer darauf aus sind, dir zu
schmeicheln. Denn die einen sehen in Wahrheit das Nutzbringende,
während sich die anderen nach der Meinung der Herrscher richten. So
ahmen sie den Schatten der Körper nach, indem sie dem Beifall
zollen, was die Herrscher sagen.«67
Der Kaiser befindet sich kraft seiner Funktion in einem
permanenten Entscheidensnotstand. Zwar können Prozesse des
Entscheidens delegiert werden, doch bleiben für den byzantinischen
Herrscher noch genügend Fälle des Entscheidens übrig. Die Gefahr,
die dabei auftreten kann und als solche erkannt wird, kann
überstürztes Entscheiden sein. Darum warnt Agapetos in Kapitel 25
seiner Schrift an Kaiser Justinian: »Bedenke ohne Hast das, was zu
tun ist, und führe den Entschluss zügig aus, denn in
Staatsgeschäften ist unüberlegtes Handeln
64 Ebd., 38, 12-18 (cap. 21): »Τῇ μὲν οὐσίᾳ τοῦ σώματος ἴσος
παντὸς ἀνθρώπου ὁ βασιλεύς, τῇ ἐξουσίᾳ δὲ τοῦ ἀξιώματος ὅμοιός ἐστι
τῷ ἐπὶ πάντων θεῷ, οὐκ ἔχει γὰρ ἐπὶ γῆς τὸν αὐτοῦ ὑψηλότερον. Χρὴ
τοίνυν αὐτὸν καὶ ὡς θνητὸν μὴ ἐπαίρεσθαι καὶ ὡς θεὸν μὴ ὀργίζεσθαι.
Εἰ γὰρ καὶ εἰκόνι θεϊκῇ τετίμηται, ἀλλὰ καὶ κόνει χοϊκῇ
συμπέπληκται, δι’ ἧς ἐκδιδάσκεται τὴν πρὸς πάντας ἰσότητα.« – »In
seinem körperlichen Wesen gleicht der Kaiser einem jeden Menschen,
in der Vollmacht seiner Würde aber ähnelt er Gott, der über allen
steht, denn auf Erden gibt es nie-manden, der höher stünde. Er darf
sich gewiss nun nicht wie ein Sterblicher im Stolz erheben und wie
Gott darf er sich nicht zum Zorn hinreißen lassen. Denn wenn er
auch als göttliches Abbild geehrt wird, bleibt er doch mit
Erdenstaub ver-mengt, durch den er seine Gleichheit mit allen
Menschen vorgeführt bekommt« (nach Riedinger, Agapetos [Anm. 25],
39).
65 In der von Blum verwendeten Übersetzungs-vorlage ist der
Zusatz »Die Übung seines Leibes ist für den Kaiser gesund« (cap.
XXIV) zu finden, Gautier, Théophylacte d’Achrida (Anm. 16), 207,
27ff (ohne Überschrift).66 Riedinger, Agapetos (Anm. 25) Kapitel 2
und 10; vgl. Klaus R. Grinda, Enzyklopädie der literarischen
Vergleiche. Das Bildinventar von der römischen Antike bis zum Ende
des Frühmittel-alters, Paderborn 2002, 460-469 (f1-f5,
Steuer-mann); Hunger, Prooimion (Anm. 6), 94.67 Riedinger, Agapetos
(Anm. 25), 40, 1-5 (cap. 22): »Ἀποδέχου τοὺς τὰ χρηστὰ συμβουλεύειν
ἐθέλοντας, ἀλλὰ μὴ τοὺς κολακεύειν ἑκάστοτε σπεύδοντας· οἱ μὲν γὰρ
τὸ συμφέρον συνορῶσιν ἐν ἀληθείᾳ, οἱ δὲ πρὸς τὰ δοκοῦντα τοῖς
κρατοῦσιν ἀφορῶσι, καὶ τῶν σωμάτων τὰς σκιὰς μιμούμενοι τοῖς παρ’
αύτῶν λεγομένοις συνᾴδουσι.«
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Anleitungen zum guten Regieren 73
höchst gefährlich. Wer sich nämlich das Übel vor Augen hält, das
aus Unüberlegtheit entsteht, wird gut den Nutzen der
Wohlberatenheit erkennen, so wie man das Geschenk der Gesundheit
dann zu würdigen weiß, wenn man Krankheit erlebt hat. Man muss
also, allergnädigster Kaiser, mit wohldurchdachtem Rat und
inständigem Gebet sorgfältig ausfindig machen, was der Welt von
Nutzen ist.«68
Hierher passt eine Passage aus einem Militärhandbuch, das dem
Kaiser Maurikios zugeschrieben wurde (datiert Ende 6. Jh.):
»Langsam und sicher zu überlegen ist notwendig, und wenn der
Beschluss /Entschluss richtig scheint, den Zeitpunkt nicht durch
Verzögerung oder Angst verstreichen zu lassen«.69
Derartige Ratschläge durchziehen die byzantinischen Quellen,
eine systematische Durchsicht wird noch mehr Material zu Tage
fördern. Explizite Richtlinien, die das imperiale Entscheiden
betreffen, versammelte der spätbyzantinische Gelehrte Thomas
Magistros.
»Nun aber entscheiden Leute [wie Feldherren oder Steuermänner]
in vergleichsweise kleinen und unwichtigen Angelegenheiten, für
dich ist aber ein einziger Würfel gefallen, und zwar über die ganze
Welt«.70
»Deine Überlegungen und Entscheidungen sollen in jeder Hinsicht
richtig und unumstößlich sein (niemals dürf ten noch weitere
Entscheidungen möglich sein!); sei eifrig darauf bedacht, dass du
niemals auch nur einen einzigen Beschluss ohne diese Vorüberlegung
in die Wirklichkeit umsetzt.«71
Was der byzantinische Gelehrte zusätzlich betont ist die
Wichtigkeit, sich Zeit zu nehmen und eine Entscheidung mit Bedacht
zu fällen. Thomas Magistros setzt noch etwas darauf: »Es ist jedoch
keineswegs ausreichend, sich in wichtigen Dingen nur zu beraten, es
gilt noch eine weitere Forderung: die einmal getroffene
Entscheidung muß vor ihrer Umsetzung in die Tat den anderen
Menschen verborgen bleiben. Du mußt darauf achten, dass wirklich
eine Entscheidung gefällt wird – gewiß –, aber mehr noch, dass zur
Entscheidung
68 Ebd., 42, 1-7 (cap. 25): »Βουλεύου μὲν τὰ πρακτέα βραδέως,
ἐκτέλει δὲ τὰ κριθέντα σπουδαίως, ἐπειδὴ λίαν σφαλερώτατον τὸ ἐν
τοῖς πράγμασιν ἀπερίσκεπτον· εἰ γὰρ τὰ ἐξ ἀβουλίας τις ἐννοήσει
κακά, τότε γνώσεται καλῶς τῆς εὐβουλίας τὰ χρήσιμα, ὡς καὶ τῆς
ὑγείας τὴν χάριν μετὰ τὴν πεῖραν τῆς νόσου· δεῖ τοίνυν,
εὐφρονέστατε βασιλεῦ, καὶ βουλῇ, συνετωτέρᾳ καὶ εὐχῇ συντονωτέρᾳ
ἐξερευνᾶν ἀκριβῶς τὰ συνοίσοντα τῷ κόσμῳ.«69 Mauricii strategicon.
Einf., Ed. u. Indices von George T. Dennis. Übers. von Ernst
Gamillscheg, Wien 1980, 270 (VIII 1 [5]): »Τὸ βουλεύεσθαι βραδέως
καὶ ἀσφαλῶς τῶν ἀναγκαίων ἐστὶ καὶ δοκούσης τῆς γνώμης μὴ
ἀναβάλλεσθαι τοὺς καιροὺς δι΄ ὄκνον τινὰ ἢ δειλίαν· οὐδὲ γὰρ
ἀσφαλὲς ἡ δειλία, ἀλλὰ κακίας ἐπίνοια.«
70 Toma Magistro, La regalità (Anm. 22), 56 (Zeile 671-673):
»Καίτοι οἱ μὲν ὑπὲρ σμικρῶν δή τινων καὶ τῶν ἐν μέρει πραγμάτων,
σοὶ δὲ εἷς ὑπὲρ ἁπάσης τῆς οἰκουμένης ἔῤῥιπται κύβος«; Übersetzung
der Passage bei Blum, Byzantinische Fürstenspiegel (Anm. 22),
119.71 Toma Magistro, La regalità (Anm. 22), 55 (Zeile 648-653):
»Δεῖ καὶ σὲ περὶ πλείονος τοῦτο πάντων ποιεῖσθαι, καὶ ὅπως ἄν σοι
κάλλιστα καὶ ἀσφαλέστατα καὶ ὡς οὐκ ἂν ἄλλως εἰκὸς ἦν αἱ περὶ τῶν
ὅλων ἑκάστοτε γίγνοιντο βουλαί τε καὶ σκέψεις, καὶ μηδοτιοῦν τῶν
ἁπάντων ἄνευ ταυτησὶ τῆς προνοίας εἰς ἔργον ἐξάγοις διαφερόντως
φροντίζειν«. Übersetzung: Blum, Byzantinische Fürstenspiegel (Anm.
22), 118 (cap. 15).
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Michael Grünbart74
die absolute Verschwiegenheit kommt; denn unter dieser
Voraussetzung kannst du dann die eigentliche Entscheidung noch mehr
bedenken und deren Durchführung vorbereiten. Wenn nämlich die
Verschwiegenheit gegeben ist, wird auch die Entscheidung großen
Wert haben; fehlt aber die Verschwiegenheit, so ist die
Durchführung offenkundig gar nichts wert, mag auch die Beratung
tausendfach durchgeführt worden sein.«72
In seiner Not, richtige Entscheidungen zu fällen und die
passenden Befehle zu geben, ist der Kaiser auf Ratgeber
angewiesen,73 die Suche nach den besten Beratern und Experten zieht
sich durch die paränetische Literatur, denn »[v]on Gotte mit der
irdischen Herrschaft betraut, lass niemals charakterlos Beamte
Verwaltungsangelegenheiten entscheiden. Denn für alles Unheil, das
solche Leute anrichten, wird der vor Gott Rechenschaft ablegen, der
ihnen Macht gab. Daher sollen die Beförderungen maßgeblicher Leute
nur nach strenger Prüfung erfolgen.«74
Diese Aussage bezieht sich zwar auf kein konkretes Ereignis,
aber es wird deutlich, dass diese vor dem Hintergrund einer gut
entwickelten Administration formuliert ist.
Die Abhängigkeit vom Herrscher und die Vertretung klarer
Meinungen sind zwei Extreme, die sich bloß mit Fingerspitzengefühl
im Alltag verantwortlicher Funktionäre miteinander verbinden
lassen. Nähe zum Herrscher kann das Kriechertum befördern, die
Mahnung vor Schmeichlern ist ein Standardtopos in der paränetischen
Literatur seit der Antike. Schon Demosthenes warnte in seiner Rede
über die Hilfssendung an die Olynthier vor Schmeichelei
(κολακεία).75
Seit damals wird auch die negative Seite der Panegyrik
diskutiert, denn das Lob kann den Adressaten verderben, während
Mahnungen zu Besserungen anregen können. Die Mahnrede wird als
freimütige und wahre oratio charakterisiert.76
72 Toma Magistro, La regalità (Anm. 22), 56, 679-689: »Καὶ μὴν
οὐ τὸ βουλεύεσθαι μόνον περὶ τῶν μεγίστων ἀπόχρη, ἀλλὰ καὶ τὸ τὰ
βεβουλευμένα πρὶν ἢ πεπρᾶχθαι λανθάνειν τοὺς ἄλλους προσεῖναι δεῖ,
καὶ σκοπεῖν οὐχ ὅπως ἐκεῖνο μᾶλλον ἔσται, ἢ ὅπως ἐκείνῳ τοῦτο
προσέσται, κἀντεῦθεν τοῦτο μείζονος ἀξιοῦν τῆς προνοίας ὡς, ἐὰν μὲν
τοῦτο προσῇ, κἀκεῖνο πολλοῦ τινος ἄξιον ὄν· τούτου δ’ ἀπόντος, κἂν
μυριάκις ἐκεῖνο παρῇ, οὐδὲν μᾶλλόν γε ὂν μᾶλλον δ’οὐδενὸς ἄξιον ὄν·
εἰκότως. Πᾶσα γὰρ δήπου βουλή, κἂν ὡς ἄριστα ἔχῃ, κὰν ἐκ βαθείας
ἥκῃ φρενός, τοῖς μὲν πολλοῖς ἄγνωστος οὖσα, τὰ μέγιστ’ ὀνίνησι τοὺς
χρωμένους«. Über - setzung Blum, Byzantinische Fürstenspiegel (Anm.
22), 119 (cap. 15).73 Ulrike Graßnick, Ratgeber des Königs:
Fürsten-spiegel und Herrscherideal im spätmittelalterlichen
England, Köln / Wien 2004; Gerd Althoff, Kon - trolle der Macht.
Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter, Darmstadt
2016.
74 Riedinger, Agapetos (Anm. 25), 44, 11-15 (cap. 30):
»ἐγκόσμιον ὑπὸ θεοῦ πιστευθεὶς βασιλείαν μηδενὶ χρῶ τῶν πονηρῶν
πρὸς τὰς τῶν πραγμάτων διοικήσεις. ὧν γὰρ ἂν ἐκεῖνοι κακῶς
διαπράξωνται, λόγον ὑφέξει θεῷ ὁ τὴν ἰσχὺν αὐτοῖς δεδωκώς. Μετὰ
πολλῆς οὐν ἐξετάσεως αἱ τῶν ἀρχόντων προβολαὶ γινέσθωσαν«.
Über-setzung: Ebd., 45.75 Giannouli, Paränese (Anm. 27), 121.76
Ebd.77 Z. B. Riedinger, Agapetos (Anm. 25), cap.12. 78 Michael
Grünbart, Byzantinisches Redner-ideal? Anmerkungen zu einem kaum
beachteten Aspekt mittelgriechischer Beredsamkeit, in: Wolfgang Kof
ler / Karlheinz Töchterle (Hg.), Pontes III. Die antike Rhetorik in
der europäischen Geistesgeschichte, Innsbruck /Wien / Bozen 2005,
103-114 (Beispiele aus Michael Psellos und Niketas Choniates).
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Anleitungen zum guten Regieren 75
Die besondere Kritik an Schmeichlern gibt dem Schreibenden oder
Vortragenden die Möglichkeit, sich davon abzugrenzen und die
Ehrlichkeit seiner Ratschläge zu betonen.77 Das trifft das seit der
antiken Rhetorik gepflegte Ideal des vir bonus, der nicht nur
hervorragend gebildet, sondern auch ethisch unverwerf lich
auftreten und agieren soll. Kritik an Rhetorenkollegen, die sich
keiner eigenen Meinung befleißigen und nach dem Mund des Kaisers
reden, findet man des Öfteren.78
Es ist nicht verwunderlich, dass sich Reflexionen über den Wert
von Freundschaft in die Paränesen mischen. So geht Theophylaktos
von Ochrid in mehreren Kapiteln seiner kaiserlichen Unterweisung
auf das Thema Freundschaft ein.
Freundschaft stellt ein hohes Gut in der imperialen Sphäre dar:
»Viele Güter des Kaisertums gibt es, doch keines ist so
hervorragend wie der Name ›Freund‹«.79 Der Freund kümmere sich
ständig um den Kaiser, »sein ganzes Sinnen ist darauf gerichtet,
dass die politischen Verhältnisse für die Kaiserherrschaft fest und
gesichert sind«.80 Das erinnert an Aussagen Anna Komnenes, die in
ihrer Alexias ein Idealbild der Kaiserin entwirft. Eirene Dukaina,
die Mutter Annas, folgt ihrem Gemahl ins Feld, pflegt ihn und hält
ihm den Rücken frei.81
Und »der Kaiser soll in seinem Freund nicht einen unangenehmen
Aufseher, sondern einen willkommenen Mahner sehen; über die
Schmeichler aber soll er erbittert sein wie über Feinde«.82 Mit
solchen Freunden soll sich der Kaiser umgeben und ihrem Rat – wie
von Ärzten – folgen.83 Dazu passt die Aussage in der Kekaumenos
zugeschriebenen Mahnrede an den Kaiser: »Laß dir von niemandem
schmeicheln, suche deine Freunde vielmehr unter jenen, welche dir
Vorhaltungen machen.«84
79 Gautier, Théophylacte d’Achrida (Anm. 16), 201, 25-26:
»πολλῶν γὰρ ὄντων τῇ βασιλείᾳ καλῶν, οὐδὲν τοιοῦτον ὡς τὸ τοὺ φίλου
πρᾶγμα καὶ ὄνομαap XIV)«. Blum, Byzantinische Fürsten-spiegel (Anm.
22), 88.80 Gautier, Théophylacte d’Achrida (Anm. 16), 203, 12-13:
»ἀλλ’ ὅπως ἀραρότως ἕξει τῇ βασιλείᾳ τὰ πράγματα«; Blum,
Byzantinische Fürsten - spiegel (Anm. 22), 89.81 Diether R. Reinsch
/Athanasios Kambylis (Hg.), Annae Comnenae, Alexias, Berlin / New
York 2001, XII 3 § 4f. »Der zweite und wichtigste Grund da - für,
dass die Basilis (= Kaiserin) den Autokrator (= Kaiser) begleitete,
war der, dass er wegen der auf allen Seiten auf tauchenden
Verschwörer höchster Wachsamkeit bedurf te und wahrlich einer mit
vielen Augen sehenden Macht«; zuletzt Michael Grünbart, Typisch
Mann, typisch Frau? Zu geschlechtsspezifischen Konventionen in
Byzanz, in: Byzantinoslavica 74 (2016) 44-60.
82 Gautier, Théophylacte d’Achrida (Anm. 16), 203, 17-20: »Καὶ
μέντοι καὶ βασιλεὺς οὐ βαρὺν σωφρονιστήν, ἀλλὰ γλυκὺν νουθετητὴν
τὸν φίλον οἰήσεται, καὶ τοῖς μὲν κολακεύουσιν ὡς ἐχθραίνουσιν
ἐμπικρανεῖται καὶ βαρὺ συνάξει τὸ ἐπισκύνιον«; Blum, Byzantinische
Fürstenspiegel (Anm. 22), 89.83 Gautier, Théophylacte d’Achrida
(Anm. 16), 203, 26-28 (cap. XVII).84 Wassiliewsky / Jernstedt,
Cecaumeni strate-gicon (Anm. 14), 100, 24-25: »Μὴ καταδέξῃ
κολακεύεσθαι παρὰ τινος, κτῆσαι δὲ μᾶλλον φίλους τοὺς ἐλέγχοντάς
σε«; Übersetzung Beck, Vademecum (Anm. 15), 145.
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Michael Grünbart76
4 Schluss
Der Terminus »Fürstenspiegel« ist vorsichtig für den
byzantinischen Kosmos zu benutzen, da es kaum Werke gibt, die die
neuzeitlichen Anforderungen erfüllen. In das rhetorische Schrifttum
und die gnomologische Literatur sind oft Ratschläge für den
byzantinischen Kaiser eingebettet, man entdeckt solche auch in
historiographischen Werken; die Definition eines eigenen Genres
»Fürstenspiegel« stößt also rasch auf ihre Grenzen; am besten ist
es wohl, man wählt fluide Ausdrücke wie paränetische Literatur bzw.
Paränesen85 oder Herrschaftsdidaktik, welche mehr auf den Inhalt
als auf die Form zielen.86
Seit der Spätantike existieren zahlreiche paränetische
Schriften, in denen dem Kaiser ideales Verhalten mitgeteilt und
anempfohlen wird. Es wird dabei nur gelegentlich auf aktuelles
Handeln des Kaisers Bezug genommen, da dies leicht als Kaiserkritik
aufgefasst werden kann. Es heißt aber nicht, dass historische
Exempla, die den Kaiser anregen oder aufrütteln sollen, fehlen.
Ständig fließen Formulierungen ein, in denen sich die Verfasser von
Schmeichlern abgrenzen; damit versuchen sie, ihre Position
abzusichern und den Eindruck zu vermeiden, Kritik am Kaiser zu
üben.
In derartigen Schriften wird keine politische Theorie
entwickelt, die Mahnungen und Ratschläge zielen meistens auf einen
Autokrator und sein Verhalten. Dem Kaiser wird die Verantwortung
seines Handelns vor Augen geführt, da er – zumindest der
universalistischen Vorstellung des byzan tinischen Kaisertums nach
– für die gesamte Welt agiert.
In diesem Beitrag wurde vornehmlich auf das Entscheiden
fokussiert: Der Kaiser solle mit Bedacht entscheiden. Er entscheide
zwar als Solitär, er solle aber Experten konsultieren.
Wenn man die Texte zusammen betrachtet, dann fällt auf, dass sie
vom 6. bis zum 15. Jh. zunehmend christliche Elemente enthalten.
Der Kaiser möge durch das Spenden von Almosen die Tugend der
Wohltätigkeit erfüllen, doch soll er dabei mit Bedacht vorgehen
(besonders in der Spätzeit des Reiches).
Zuletzt noch die Frage: Wer ist zum Verfassen von Paränesen
prädestiniert? Die Nähe zum Machtzentrum und die Vertrautheit
kaiserlichen Agierens stellen Voraussetzungen dar. Mahnende
Anleitungen können von einem Elternteil an die nachfolgende
Generation weitergegeben werden (z. B. Konstantinos VII.,
Kekaumenos). Oft sind deren Urheber Ratgeber oder Erzieher von
Kaisersöhnen (z. B. Theophylaktos von Ochrid, Thomas Magistros);
auf fällig ist auch, dass Personen mit kirchlicher Affinität
Ratschläge verfassen.
85 Darauf hebt auch Mullett, Madness (Anm. 16), 239 ab.
86 Für den frühmittelalterlichen lateinischen Westen zuletzt
Monika Suchan, Mahnen und Regieren. Die Metapher des Hirten im
früheren Mittelalter, Berlin 2015.
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Anleitungen zum guten Regieren 77
ZusammenfassungAus der byzantinischen Epoche (5.15. Jh.) sind
zahlreiche Anleitungen zum guten Regieren (adressiert an den
byzantinischen Kaiser) erhalten geblieben, wobei der Terminus
paränetische Literatur dem Begriff Fürstenspiegel vorzuziehen ist.
Die Zeugnisse sind durchgehend mahnenden Charakters – es handelt
sich dabei aber nicht um Kaiserkritik – und zeichnen dem Herrscher
ideales Handeln vor. Betrachtet man die erhaltenen Zeugnisse von
Synesios bis Georgios Gemistos Plethon, dann wird deutlich, dass
diese zwar Standardthemen enthalten (z. B. Philanthropie), stets
aber auch den Kontext ihres Entstehens widerspiegeln (z. B.
Veränderung der Größe des Herrschaftsbereichs). Beraten (lassen)
und Entscheiden sind wesentliche Elemente herrscherlichen Handelns
und werden aus diesem Grund im paränetischen Schrifttum
differenziert behandelt.
AbstractThere are numerous guides for good government (addressed
to the Byzantine emperor) from the Byzantine era (5th 15th
centuries), although the term paraenetic literature is preferable
here to the term mirror of princes. The documentary evidence is
consistently admonitory, without being a criticism of the emperor,
and maps out ideal conduct for the ruler. If one looks at the
extant documents from Synesius to Georgius Gemistus Plethon, then
it becomes clear that, although these contain standard themes (e.g.
philanthropy), they also always reflect the context of their
origins (e.g. change in the size of the domain). Advising (taking
advice) and decisionmaking are essential elements of sovereign
action and for this reason they receive a differentiated treatment
in the paraenetic literature.