Analyse von Arnold Schönbergs Orchesterstück „Farben“, Opus 16 / 3 Arnold Schönberg: ‚Vision’, Öl auf Karton, 25 x 16 cm Hausarbeit von Burkhard Schlothauer 6.Semester Matrikelnummer 217484 der Technischen Universität Berlin eingereicht bei Prof. Dr. Christian Martin Schmidt im Wintersemester 2005/06
41
Embed
Analyse von Arnold Schönbergs Orchesterstück „Farben ... · PDF fileAnalyse von Arnold Schönbergs Orchesterstück „Farben“, Opus 16 / 3 Arnold...
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Analyse von Arnold Schönbergs Orchesterstück „Farben“, Opus 16 / 3
Arnold Schönberg: ‚Vision’, Öl auf Karton, 25 x 16 cm
Hausarbeit von Burkhard Schlothauer 6.Semester
Matrikelnummer 217484 der Technischen Universität Berlin
eingereicht bei Prof. Dr. Christian Martin Schmidt
im Wintersemester 2005/06
2
Gliederung
0. Einleitendes zur Analyse – Zielsetzung 1. Geschichtliches und Kontext 2. Ablauf und Form im Überblick
2.1 Teil A – ‚Exposition’
2.2 Teil B – ‚Durchführung’ 2.2.1 Ebenen der Steigerung 2.2.2 Entwicklung des Grundgedankens im B-Teil
2.3 Teil A’ – ‚Reprise’
2.4 Zusammenfassende Bemerkungen 3. Zum Grundgedanken 4. Zur Harmonik
4.1 Grundsätzliches zur Harmonik – aufgehobene Tonalität
4.2 Polyphone Stimmführung und Harmonik
4.3 Bezug zum Tonvorrat der Ganztonleitern
4.4 Orgeltöne
4.5 Zu den Additionsklängen 5. Instrumentierung und Klangfarbenmelodie
5.1 Prinzipien der Instrumentierung 6. Zur Dynamik
7. Einige Überlegungen zur Dirigieranweisung 8. Schlußbemerkung 9. Literaturverzeichnis
Anlagen:
Tabelle1: Instrumentierung der fünfstimmigen Akkorde (ohne Takt 29)
- In der dritten Ebene (kenntlich durch die spitze Verklammerung <) wird die Größe des
Intervalls zwischen den jeweiligen Tönen in Anzahl der Halbtonschritte benannt.
- Um eventuellen Strukturverwandtschaften der jeweiligen Klänge auf die Spur zu kommen,
habe ich die Prime Forms aller vorkommenden Akkorde ermittelt.
Da in diesem Stück auch die Klangfarbe eine wichtige Rolle spielt, habe ich die
Instrumentierung einer detaillierten Untersuchung unterzogen und für jeden Klang des
Stückes eine farbig ausgearbeitete Instrumentierungsliste erstellt.
Natürlich ist es möglich ‚Farben’ in beiden Richtungen des Zeitpfeils zu lesen – man könnte
zum Beispiel die zweifellos vorhandenen Bezüge zur Tradition hervorheben. Ich möchte hier
jedoch die Komposition vorwiegend aus der Position des Nachgeborenen betrachten, sie bei
Berücksichtigung der Traditionsbindung in Richtung dessen deuten, was folgte und noch
folgen kann. Ich habe deshalb die Betrachtung und Analyse der verschiedenen gestischen
Motive in den Hintergrund gestellt, weil sie zwar auffällig, aber in Hinsicht auf die
beabsichtigte Komposition eines Klangfarbenstückes sicherlich nicht sonderlich bedeutend
sind. Man könnte diese Elemente im Rahmen eines Klangfarbenstückes als Ornament
verstehen und ihr Erscheinen als eine Art Konzession an musikalische Konventionen. Ich
möchte nun keinesfalls ein ästhetisches Urteil dieser Art fällen, denn ich habe große
Hochachtung vor ‚Farben’ so wie es ist – es geht mir bei dieser Formulierung um die
Stoßrichtung der Analyse. Ich habe mir vorgenommen, diese Tonfolgen und Vorschläge eher
als Durchgangsnoten und Verzierungen und somit als vordergründig zu betrachten und mich
auf ‚tiefer’ liegende Zusammenhänge zu konzentrieren.
5
Ich bin außerdem der Meinung, dass sich in ‚Farben’ bereits das kompositorische Denkens in
parametrischen Ebenen ankündigt und werde deshalb auf einzelne musikalische Parameter
genauer und separat eingehen.
Vor allem die absolut wiederholungsfreie Organisation des Komplexes
‚Klangfarbe’/Instrumentierung im zweiten und dritten Teil des Werks setzt Assoziationen an
das Varietasprinzip des 15.Jahrhunderts oder an Konzepte der Erinnerungsaufhebung bei
Komponisten der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts frei.
1. Geschichtliches und Kontext
‚Farben’ ist ein höchst eindrucksvolles und für die weitere Entwicklung der Musik des
20.Jahrhunderst bedeutsames Werk. Es wurde 1909 geschrieben3 und ist zur ‚freien atonalen’
Phase des Komponisten zu rechnen, die dem systematischen dodekaphonen Komponieren
vorangeht.4
Farben ist das Mittelstück der 5 Orchesterstücke op.16. Das Orchester ist mit jeweils drei- bis
vierfacher Besetzung von Holz und Blech, Streichorchester, einer Harfe, einer Celesta, ohne
Schlagzeug für damalige Verhältnisse bescheiden besetzt. Es wird ausschließlich
kammermusikalisch verwendet, nie in seiner ganzen Stärke, es dient eher als eine Art
Registerwerk, als großer ‚Klangfarbkasten’, dessen Farben in vielerlei unterschiedlichen
Kombinationen zur Anwendung kommen.
Mit einer Dauer von etwa drei bis vier Minuten hat ‚Farben’ den Charakter einer Miniatur.
Der Gebrauch einer solch knappen Form für ein Orchesterstück steht im Gegensatz zu den
ausufernden Großformen der Spätromantik. Schönberg und seine Schüler Alban Berg und
Anton von Webern bevorzugten alle drei in dieser Phase ihres Schaffens, die etwa von 1908
bis in die frühen 1920er währte, auch deshalb kurze Formen, weil ihnen mit dem Verzicht auf
die Funktionsharmonik und der Emanzipation vormals als Dissonanzen gewerteter Intervalle
ein wesentliches Mittel zur Formbildung im größeren Zusammenhang verloren gegangen war
– die Großform wurde durch harmonische Zentren und deren Bezug zur Grundtonart
strukturiert. Schönberg schreibt dazu: „Früher hatte die Harmonie nicht nur als Quelle der
Schönheit gedient, sondern, was wichtiger war, als Mittel zur Unterscheidung der
Formmerkmale. Für den Schluss wurde zum Beispiel nur eine Konsonanz als passend
3 Stuckenschmidt, Hans Heinz: „Schönberg . Leben . Umwelt . Werk“, München 1989, S.64 4 Schönberg selbst hat sich nicht als „Atonalisten“ gesehen und verwendet diese Bezeichnung selbst eher herabsetzend für nicht namentlich genannte Kollegen (Harmonielehre S.486, Fußnote). Leider hat der Begriff sich durchgesetzt, obwohl er das Phänomen nicht optimal benennt.
6
erachtet. (...) Die Erfüllung all dieser Funktionen – vergleichbar der Zeichensetzung im Satz,
der Unterteilung in Abschnitte und der Zusammenfassung in Kapiteln – war kaum mit
Akkorden zu gewährleisten, deren konstruktive Werte bisher noch nicht erforscht worden
waren. Daher schien es zunächst unmöglich, Stücke von komplizierter Organisation oder
großer Länge zu komponieren.“5
Mit der Auflösung der harmonischen Systeme war auch ein Problem der horizontalen
Gestaltbildung einhergegangen: aus Terzen konstituierte Klänge und Kadenzharmonik,
Thema und Motiv mit ihrer Bindung an Metrik und Rhythmik hatten sich mit der Großform in
den Jahrhunderten davor so sehr verwoben, dass sie beinahe untrennbar geworden waren –
Melodie repräsentierte Harmonie. Eine neue Harmonik erforderte somit auch ein Überdenken
der linearen Konzeption.
Zwar hatte es in der Musikgeschichte immer wieder „chromatische Angriffe“ auf das System
gegeben, aber die funktionsharmonischen Zusammenhänge waren tief im Bewusstsein
verankert und nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Seit dem letzten Viertel des
19.Jahrhunderst allerdings war die funktionale Tonalität in der Kunstmusik allen Ortens ins
Wanken geraten: man experimentierte mit alternativen Klangbildungen und Tonvorräten. So
wurden aus Quartschichtungen gebildete Klänge und die Ganztonleiter verwendet, aber in
seiner wundersamen Geschlossenheit und ‚Logik’ war das funktionsharmonische System
nicht einfach ersetzbar. Insofern ist es schlüssig, dass in dieser Phase der Ablösung auf
Großformen verzichtet wurde, abgesehen davon, dass die Miniatur auch einen beträchtlichen
ästhetischen Reiz ausübt und Anton von Webern dieser Faszination des ‚nur das wesentliche
Sagens’ bis zu seinem Lebensende treu blieb. Der ‚Hafen’ des systematischen zwölftönigen
Komponierens, das ab Anfang der 1920er dodekaphone Intervallreihen zur formbildenden
Grundlage für größere Zusammenhänge erhob, war noch nicht erreicht.
Schönberg schreibt in einem Brief an Richard Strauss über die Orchesterstücke op.16: „(....)
Klang und Stimmung. Nur um das handelt es sich – absolut nicht symphonisch, direkt das
Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau. Bloß ein bunter ununterbrochener Wechsel
von Farben, Rhythmen und Stimmungen.“6 Zwischen den einzelnen ‚Sätzen’ von Opus 16
mag es keinen ‚symphonischen’ Zusammenhang geben – Schönberg selbst erlaubt in seinem
Brief an Strauss bei Aufführungen einzelne hiervon wegzulassen (‚Farben’ war von dieser
Erlaubnis ausdrücklich ausgenommen) – aber Opus 16 / 3 für sich genommen hat auf jeden
Fall eine stringente Architektur, einen klaren dramatischen Aufbau. Es erstreckt sich über 44 5 Schönberg, Arnold: ‚Stil und Gedanke’, Frankfurt/Main 1992, S.108 6 Stuckenschmidt, S.65
7
Takte und ist überschrieben mit ‚mäßige Viertel’. Damit ist es in seiner zeitlichen
Ausdehnung nicht signifikant von den anderen vier Stücken von Opus 16 unterschieden, die
Zeitabschnitte von zwei bis fünf Minuten beanspruchen. Sein „monochromer“ ungestischer
Charakter lässt es aber wie einen Solitär zwischen den anderen Sätzen stehen, eine Insel der
Ruhe, aber auch wie der Gruß eines noch fernen, sich dennoch stetig nähernden neuen
musikalischen Zeitalters – das sich vielleicht auch schon in den Flageolettflächen im Beginn
des ersten Satz von Gustav Mahlers Erster Symphonie oder in den ersten Takten von Richard
Wagners Lohengrinvorspiels angekündigt hatte. Über die Möglichkeit von
Klangfarbenmelodien hatte Schönberg in seiner Harmonielehre von 1911 spekuliert und
dieses Ausdrucksmittel herbeigewünscht. Er glaubte, „dass sie die sinnlichen, geistigen und
seelischen Genüsse, die die Kunst bietet, in unerhörter Weise zu steigern imstande“ 7 sein
würde. Das Orchesterstück ‚Farben’ stellt einen systematischen Explorationsversuch dieses
möglichen neuen musikalischen Denkens dar – in seiner Konsequenz und in der
Beschränkung der Mittel ist es zu seiner Zeit einzigartig.
7 Schönberg, Arnold: „Harmonielehre“, Wien 2001, S.503
8
2. Ablauf und Form im Überblick
„Farben“ beginnt mit flächiger, geometrisch anmutender und solistisch besetzter
Fünfstimmigkeit; diese ist konstitutiv für das Stück und wird im selben Register das ganze
Stück über beibehalten. 8 Mithin bewegt sich die harmonische Grundstruktur im fest
geschriebenen Tonraum zwischen H und d2. (Eine Ausnahme stellen die Takte 10 bis 12 dar,
in denen der Tonraum durch komplette Oktavierung aller Stimmen nach unten um eine
Oktave erweitert bzw. verschoben wird) Alle fünf Stimmen sind vollkommen gleichberechtigt
konzipiert, wir finden in dieser Komposition einen polyphonen Ansatz verwirklicht.
2.1 Teil A – ‚Exposition’
Jeder Klang dieses ersten Teils ist vier Viertel lang, aber changierend instrumentiert:
Die vier Oberstimmen werden von 2 Instrumentenblöcken jeweils in halben Noten
abwechselnd realisiert. Block a umfasst (von oben nach unten) 2 Flöten, Klarinette und Fagott
2 (mithin 4 Holzbläser), Block b Englisch Horn, Trompete mit Dämpfer, Fagott 1 und Horn
mit Dämpfer (2 Holzbläser und 2 gedämpfte Blechbläser). „Der Wechsel der Akkorde hat so
sacht zu geschehen, dass gar keine Betonung der einsetzenden Instrumente sich bemerkbar
macht, so dass er lediglich durch die andere Farbe auffällt“, lautet Schönbergs Anweisung zur
Ausführung.9 Mit der ersten Viola (ab Takt 9 Kontrafagott) und dem ersten Kontrabass
wechseln sich zwei Streicher unterschiedlichen Registers Viertelweise mit dem Basston c ab.
Nach drei Takten des Verharrens auf dem Ausgangsklang (c-gis-h-e1-a1; Intervallstruktur: 8 Die deutlich hörbaren, gestisch und illustrativ wirkenden Elemente des Mittelteils habe ich bei diesem Überblick bewusst ausgelassen. 9 Anmerkung auf Seite 1 der Partitur
9
<8, <3, <5,<5) wird in den folgenden Takten taktweise der Akkord gewechselt. Diese
Wechsel erfolgen mittels Engführung der einzelnen Stimmen durch den dreitönigen
Grundgedanken (Intervallfolge: +1, –2)10, welcher sich als konstruktive Grundlage des ganzen
Stückes entpuppt. Aus dieser Stimmführung ergibt sich die untenstehende Harmoniefolge, die
im B-Teil noch einige Male auftreten wird.
Ich nummeriere die fünf Stimmen von oben nach unten, so dass die oberste Stimme mit eins
und die Bassstimme mit fünf benannt wird. Die Stimmfolge lautet somit: 2, 1, 4, 3, 5. Im Takt
9 ist wieder ein Akkord mit der Intervallstruktur des Anfangsklanges erreicht, diesmal über
dem Basston H. Dieser Klang wird von den Celli eine Oktave tiefer vollständig verdoppelt, in
Takt 11 bleibt der Celloklang alleine stehen. Im Takt 9-10 wird die Stimmenanzahl außerdem
durch hinzutretende Quintakkorde bis zur 10-Stimmigkeit vergrößert11. Diese von mir im
folgenden Additionsklänge genannten Hinzufügungen im tiefen Register treten immer zum
Ende eines Formteils auf.
Die beschriebenen streng gesetzten und instrumentierten 11 Anfangstakte stellen sich als eine
Art ‚Exposition’ dar: Sie sind eine in sich abgeschlossene Formeinheit in der die konstitutiven
Elemente des Stückes vorgestellt werden.
2.2 Teil B – ‚Durchführung’
Nach der Unterbrechung des periodischen Klangblockwechsels in den Takten 11 und 12 setzt
die Bewegung in Takt 13 zunächst leicht verändert und aufgelockert wieder ein. Zwar
wechseln ab Takt 14 die Instrumentenblöcke zunächst weiterhin wie gehabt in Vierteln
(Bassstimme) und Halben (Oberstimmen), aber ab Takt 13 bis zum Schluss wird kein einziger
Klangblock mehr gleich instrumentiert, Wiederholungen im Bereich der Instrumentierung hat
Schönberg ganz bewusst vermieden.
10 Siehe Anlagen Noten 2 und 3, Stimmführung und Grundgedanke 11 Siehe Anlagen Noten 4: A-Teil
10
2.2.1 Ebenen der Steigerung Auf verschiedenen musikalischen Ebenen findet im weiteren Fortgang des B-Teils eine
allmähliche Steigerung zum Höhepunkt in den Takten 26-29 statt. Diese musikalischen
Ebenen der Steigerung sind:
a) die Dynamik: In den Takten 1 bis 13 ist sie in den Einzelstimmen statisch und nur durch
den Zuwachs der Stimmenanzahl durch die Additionsstimmen terassierend verändert. Ab
Takt 15 bis Takt 19 wird die dynamische Gestaltung durch den Stimm- und meist auch
einzeltonbezogenen Einsatz von Crescendo – Decrescendo (in engen Grenzen) expressiver.
Takt 20 bis Takt 23 sind wieder statisch notiert. Im Takt 24/3 ist ein Decrescendo in den
Akkordstimmen notiert – vermutlich der Hörbarkeit der Harfe geschuldet. Nur im Takt 25-
28 ist zusätzlich zu den in den Instrumenten notierten Schwelltönen eine orchesterüber-
greifendes Crescendo-Decrescendo vom ppp zum mp und wieder zurück eingetragen.
Zumindest für Takt 29 sollte das erreichte dreifache Pianissimo noch Gültigkeit haben.
b) die Tonhöhe des immer wieder vorkommenden Hauptakkords (Intervallstruktur <8, <3,
<5, <5) (und des Bassfundaments12):
Dieser steigt bis Takt 23/3 vom Basston H nach e und fällt in den Takten 28/29 in
chromatischen Stufen bis in Takt 30 zum c zurück – der gesamte beanspruchte Tonraum
wird langsam nach oben verschoben und gleitet rasch wieder zurück. (Der höchste Ton der
Oberstimme (d2) wird in den Takten 26 und 27 erreicht.) Immer wenn ein neuer Basston
erreicht ist, taucht auch der Hauptklang des Stückes ( <8, <3, <5, <5) in genau dieser
Stellung auf.13
c) die Geschwindigkeit des Harmoniewechsels (Zunahme ab Takt 21 bis Takt 29): Diese
steigert sich in einem auskomponierten Accelerando von ganztaktigen, über halbtaktige
(Takt 21), viertelweise (Takt 26 und 27) bis zu Wechseln in 16teln (Takt 28 und 29)!
Takt 27 ist im übrigen noch einmal verlangsamt Harmoniewechsel in halben Noten.
d) der Wechsel der Instrumentierung und somit der Klangfarbe: Der Wechsel der
Instrumentenblöcke beschleunigt sich im Takt 26 von Vierteln über Achteltriolen bis zu
16teln, verlangsamt sich auf der ersten Zählzeit von Takt 27 ebenfalls auf Halbe und wird
dann erneut nach dem Muster von Takt 26 schneller. Somit erfolgen die Wechsel der 12 Es scheint mir aufgrund der abweichenden rhythmischen Gestaltung der fünften Stimme gerechtfertigt, dieser eine Fundamentfunktion zuzusprechen. 13 In der Anlage Noten 4 und Noten 3 sind diese Hauptklänge blau gekennzeichnet.
11
Instrumentenblöcke in Takt 26 asynchron zum Harmoniewechsel. Takt 29 ist als einziger
Takt des gesamten Stückes durchgängig gebrochen chorisch instrumentiert – zum Klang
treten verschiedene Instrumente hinzu und gegen wieder hinaus; zusätzlich wechseln sie in
ihren kurzen Tonfolgen die Stimmen.14
Zwei weitere Parameter werden ebenfalls im Sinne einer Steigerung des B-Teils ausgestaltet;
allerdings tragen diese Steigerungen gleichermaßen zur Entwicklung jedes einzelnen Teils,
also auch des A- und des A’-Teils bei:
e) die Stimmenanzahl von liegenden Akkorden (durch Additionsklänge erweitert) ist mit 10
Stimmen in den Takten 9 und 10 des A-Teils für die längste Dauer am größten.
Im B-Teil erreichen die Takte 27-29 mit sieben Stimmen die größte Dichte.
In den Takten 20 und 24 des B-Teils treten im Zusammenhängen mit 32tel Sprungmotiven
sehr hohe Additionsklänge (gis3-h3-dis4,g4) auf, aus denen ebenfalls Siebenstimmigkeit
resultiert.
Im letzten Teil des Stückes kommt es nur noch einmal kurz am Ende des Taktes 31 zu
Zehnstimmigkeit; die tiefen Additionstöne in den Takten 39 und 40 greifen (bis auf Des in
Takt 40) auf bereits vorhandene Tonhöhen zurück.
f) die Weite des Tonraumes (Ambitus): durch die Additionsklänge wird jeweils zum
Schluss eines jeden Teils der 19 bis 22 Halbtöne umfassende Standardambitus der
fünfstimmigen Akkordfolge [a]-[f] (bzw. 20 – 23 Halbtöne der Umkehrung in Teil A’)
deutlich ausgeweitet. In der zweiten Hälfte von Takt 10 umfasst der erweiterte Ambitus 30
Halbtöne vom D bis zum as1, um dann durch Pausieren der Instrumentenblöcke a und b im
Takt 11 ruckartig nach unten auf 18 Halbtöne zusammengezogen zu werden.
In den Takten 27 bis 29 umfasst der Tonraum durch jeweils auf der ersten Takthälfte
hinzutretende halbtaktige Additionsklänge in der Spitze 33 Halbtöne.
Der tiefste Ton den Stückes C und der Ambitus von ebenfalls 33 Halbtönen (C bis a1) wird
im Takt 30 in der Reprise erreicht. Takt 40 der ‚Coda’ umfasst für zwei Zählzeiten 31
Halbtöne.
Eine bedeutende Erweiterung des Tonraumes nach oben, weit über den geregelten Umfang
der fünf Hauptstimmen hinaus, entsteht durch die bereits erwähnten Additionsklänge in der
drei- und viergestrichenen Oktave (Takt 20, 24 und 31). Diese Flageolettklänge (gis3-h3-
14 siehe Anlagen Tabelle1 und Noten1
12
dis4-g4 entspricht 44-47-51-53) der ersten Violinen gehören zum Auftreten der gestischen
32tel Aufwärtsbewegung f1-e2-g215 und der darauf folgenden zweistimmigen
Abwärtsbewegung f3/c3-fis2/h1-b1/g1 (in Takt 20 durch die kleinen Flöten oktaviert); in
Takt 32 färben sie die Staccatoachteltriolen (d3-e3 in Oktaven) der Piccoloflöten. Sie
umrahmen in Takt 20 und 24 die Mitte des Stückes, in Takt 31 markieren sie die den Beginn
der Reprise. Sie vergrößern den Ambitus auf 53, 51 bzw. 55 Halbtöne nach oben hin; dies
wird eher als Klangfarbenanreicherung gehört. Dagegen ist die punktuelle Ausweitung
durch die Spitzentöne des Sprungmotivs sehr deutlich wahrnehmbar; diese Auffälligkeit ist
aber m. E. eher der zur Ruhe des Stückes in erheblichem Kontrast stehenden gestischen
Rhythmik und Bewegung geschuldet.
Wie vorausgehend bereits angedeutet, ist der Höhepunkt des Stückes in den verschiedenen
Parametern nicht deckungsgleich ausgestaltet: die eingezeichnete dynamische und die
Tonhöhenkurve zeigen in den Takten 27/28 abwärts, für Takt 29 ist durchweg dreifaches
Pianissimo eingezeichnet. Der Höhepunkt der Tonhöhenkurve liegt also in den Takten 26 und
27, während der Höhepunkt der dynamischen Einzeichnung am Anfang des Takts 27 zu
finden ist. Die Geschwindigkeit des Harmoniewechsels und der Instrumentierung erreichen
ihren Höhepunkt in Takt 29. Durch die chorische Instrumentierung hat Takt 29 zusätzlich die
höchste Instrumentendichte – dies wirkt der dynamischen Kurve entgegen. Die Takte 27 bis
29 sind immer wieder siebenstimmig und auch der Ambitus dieser 3 Takte ist mit 33
Halbtönen am größten. Rhytmische Motive finden sich während des Höhepunkts gar nicht.
Allerdings wirken die Einzelstimmen aufgrund des kombinierten schnellen Instrumentations-
und Harmoniewechsels im Takt 28 und 29 zunehmend motivisch.
2.2.2 Entwicklung des Grundgedankens im B-Teil16 Im B-Teil gibt es bis Takt 27 keine vollständige Einsatzfolge aller fünf Stimmen. Von Takt 13
zu Takt 14 springt der Bass um (+3) nach oben, von 14 zu 15 bewegen sich erste und zweite
Stimme um (–2), die dritte bleibt liegen und die vierte springt (+3) nach oben, so dass dritte
und vierte Stimme sich auf b treffen. Aus dieser Stimmführung resultiert eine Abweichung
vom Konzept der solistischen Fünfstimmigkeit: Zwei Instrumente gleichzeitig, nämlich Horn
4 und Fagott 2 intonieren das b der vierten Stimme. Das fehlende h2 tritt erst ein Viertel
später in der Oberstimme hinzu und macht aus dem vierstimmig gewordenen Klang wieder
einen fünfstimmigen Hauptakkord über d. Solcherlei Abweichung kommt im ganzen Stück
15 John Rahn hat in seiner Analyse von Farben (Basic Atonal Theory) vielfältige Beziehungen der Tonhöhen dieses Motivs zum umgebenden Tonsatz hergestellt. (S.65ff) 16 Hierzu siehe Noten 5: B-Teil
13
nicht wieder vor. Möglicherweise bereitet sie auch auf die in Takt 16 als Solitär auftretende
Tonrepetition h3 in der Piccoloflöte vor – oder aber anders herum gedacht könnte diese
‚Eintonmelodie’ auch eine kompositorische Folge des virtuos gelösten Stimmführungs- und
Transpositionsproblems sein – hier ist eine Stimme hinzugetreten, das muss nicht versteckt
werden!
In Takt 16 -19 finden wir in der ersten und zweiten Stimme eine Abspaltung des
Grundgedankens und seiner Umkehrung: Die jeweils ersten Schritte beider Formen werden zu
(+1, –1) kombiniert. Die Umkehrung des Grundgedankens, die den dritten Teil bestimmen
wird, kündigt sich das erste Mal an.
In den Takten 20 bis 23 beginnt die Original Stimmfolge in der Grundform nun halbeweise
wechselnd im doppelten Tempo erneut; allerdings wird sie nur in den vier Oberstimmen
ausgeführt, die Stimmführung des Basses bleibt aus und die Folge wird ab Takt 23
abweichend fortgesetzt. Die vollständige Engführung des Grundgedankens durch alle
Stimmen würde eine Transposition um einen Halbton nach unten bewirken, angestrebt wird
aber eine Rückung um einen Ganzton nach oben zum Hauptakkord über e. Schönberg löst
dies, indem er zuerst alle vier Oberstimmen sich um zwei Halbtonschritte nach unten und die
Bassstimme sich in Gegenbewegung um zwei Halbtonschritte nach oben bewegen lässt. (Hier
finden wir die fehlende zweite Hälfte der Abspaltung des Grundgedankens und seiner
Umkehrung (–2,+2) realisiert.) Um dann den Hauptakkord über e in Takt 24 zu erreichen,
springen nun alle vier Oberstimmen parallel um 5 Halbtöne nach oben.
Über dem Basston e begegnen wir in den Takten 25 und 26 nun wiederum der Abspaltung
(+1,–1). Diese wird in der
zweiten Stimme auf (+1,–1)
folgend (–1,+1) weitergeführt.
Hieraus ergibt sich ein weiterer
Akkord [d’], der mit dem
Akkord [d] des ersten Teils
verwandt, Element des dritten
Teils sein wird. Es entsteht die
Klangfolge [a]-[b]-[x]-[d’]-[a], also die ersten zwei Klänge des A-Teils, [x] als
Verbindungsklang, als Überblendepunkt, und mit [d’]-[a] die ersten zwei Klänge des dritten
Teils im Krebs. Inhaltlich bewegt sich das Stück auf den dritten Teil hin!
Ab Takt 27 bedient der bereits erwähnte chromatische Abgang sich der vollständigen
Stimmfolge des A-Teils – in den Takten 26/4 bis 29 findet deshalb der Grundgedanke
14
zwanzigmal Verwendung! 17 In exakt der Reihung (2, 1, 4, 3, 5) der Takte 3-9, aber deutlich
beschleunigt kommt diese Folge in den Takten 27 bis 29 viermal hintereinander vor – der
Abgang wird auf diese Weise polyphon aufgeladen. Hinzu tritt in den Takten 28 und 29 eine
auskomponiert schneller werdende chromatische Tremolo-Abwärtstonleiter der Celli.
Die beschriebenen 17 Takte (Takt 13 – 29) können als entwickelnder Mittelteil, als
‚Durchführung’ verstanden werden.
2.3 Teil A’ – ‚Reprise’
Nach dem Wiedererreichen des Ausgangsklanges über c auf der vierten Zählzeit von Takt 29
hält die Musik im Takt 30 inne – der Anfangsakkord des Stückes ist wieder erreicht und als
Flageolettklang der tiefen Streicher in der originalen Lage zu hören – verstärkt durch C in
Fagott 3, Kontrafagott und Tuba.
Ab Takt 32 mündet das Stück wieder im ruhig fließenden halbtaktig instrumentierten
Kontinuum und taktweisen Harmoniewechseln, allerdings ist die Textur ruhiger als in den
Anfangstakten, da der Bass nunmehr mit den Oberstimmen synchron geführt wird. Die streng
in Blöcken wiederholte Instrumentierung des Anfangs wird nicht wieder aufgenommen.
Der Grundgedanke wird nun in Umkehrung (–1,+2) auf alle fünf Stimmen in der
Reihenfolge 2, 4, 1, 3, 5 angewandt – folgerichtig endet die nunmehr nach oben gerichtete
Transpositionsbewegung nun mit dem Ausgangsklang (8, 3, 5, 5) über cis.
Nach 4 Takten Einschub – einer ‚Coda’ mit Parallelführung aller Stimmen in der Umkehrung
des Grundgedankens, von c Halbton abwärts zum H, einen Ganzton aufwärts zum cis. – endet
das Stück mit den Takten 43+44 auf dem Ausgangakkord über c.
Dieser Teil ist dem A-Teil konstruktiv gesehen sehr ähnlich – er könnte deshalb als ‚Reprise’
aufgefasst werden
17 siehe Anlagen Noten2 und Noten3
15
2.4 Zusammenfassende Bemerkungen zur Form
Die drei Teile des Stückes stehen in folgendem zeitlichen Verhältnis zueinander:
Teil 1 umfasst die ersten 11 Takte. Teil 2 erstreckt sich von Takt 12 bis Takt 29 – also 18
Takte. Teil 3 beginnt mit Takt 30 und endet Takt 44; berücksichtigt man den viertaktigen
Einschub (Coda) Takt 39 – 42, dann ist Teil 3 genauso lang, wie Teil 1, nämlich 11 Takte.
Der Mittelteil lässt sich in 11 und 7 Takte untergliedern, indem man die Takte 12,13 über H
mit den folgenden neun Takten über d zusammenfasst – hiermit ergibt sich analog zum ersten
Teil eine Einheit von 11 Takten. Die sieben überzähligen Takte T 23 bis 29 ergeben
zusammen mit der viertaktigen Coda wiederum eine Summe von 11 Takten.
Zusammengefasst stellt sich die Form so dar:
Teil A: 11 Takte (2+7+2)
Teil B: 18 Takte ((2+9)+7)
Teil A’: 15 Takte ((2+7)+ (4)+2)
Die drei Teile des Stückes überlappen, indem die Übergänge durch gehaltene Akkorde und
Unterbrechung des rhythmischen Flusses weich gestaltet sind. Takt 12 ist dabei
Übergangstakt, als vermittelndes Element wird der eine Oktave tiefere, von Takt 10 bis 13
liegende Akkord der Violoncelli und des Kontrabasses eingesetzt. Auch die bereits zur
‚Reprise’ gehörenden Takte 30 und 31 haben Überleitungscharakter.
Im Gesamtverlauf des Stücks wird eine klassische Entwicklungs- und Spannungskurve
verwirklicht, die sich allerdings auf eine geringe Breite beschränkt. Das melodische Element
bzw. das Motiv im Sinne von rhythmisch gegliederter horizontaler Abfolge von Tonhöhen
steht eindeutig im Hintergrund. Vielmehr wird der Grundgedanke als beherrschendes Element
erst beim Studium der Partitur sichtbar.
Die in Kapitel 2.2.1 beschriebene diversifizierte Gestaltung in Parametern des Klanges findet
sich in Schönbergs eigenen theoretischen Überlegungen verortet – in seiner Harmonielehre
erkennt er einem Klang drei Eigenschaften zu: „Höhe, Farbe und Stärke“18. Und er
konstatiert, dass der Tonhöhe im Verhältnis zu den anderen Merkmalen in der Vergangenheit
zu isoliert die Hauptaufmerksamkeit gegolten habe. Der Notentext von ‚Farben’
berücksichtigt alle drei genannten Parameter und zusätzlich Stimmenanzahl und Ambitus
gleichermaßen strukturbildend.
18 Harmonielehre, S.503, Stil und Gedanke S.107
16
3. Zum Grundgedanken
In seiner Funktion und seinem Erscheinungsbild ist der Grundgedanke (+1,–2) kein Motiv, er
erfüllt eher die Aufgabe, die einige Jahre später in der Zwölftonkomposition von der
Grundreihe erfüllt werden wird: er ist rhythmisch ungebunden als Intervallfolge konstitutive
Keimzelle des gesamten Werks. In seiner Beschränkung auf drei Töne bzw. zwei Intervalle ist
er jedoch sehr elementar – in seiner Knappheit lässt er Verwandtschaft zum berühmten b-a-c-
h (–1, +3, –1) Motiv erkennen. Reduziert man das ‘Sprungmotiv’ f-e-g (vollständig in Takt
20, unvollständig in den Takten 24/25, 40 und 42) auf seine Pitch Classes 5, 4, 7, ergibt sich
die Intervallfolge (–1, +3) (unordered pc intervals). Bezieht man das stets gleichzeitig mit
dem g (von f-e-g) in einer anderen Stimme auftretende fis mit ein dann ergibt sich die Folge
5, 4, 7/6. Dies entspricht der Intervallfolge von b-a-c-h (–1,+3–1), allerdings sind 7 und 6 in
die Vertikale komprimiert. Die absteigende Antwort des Sprungmotiv lautet als pc interval
(+1,+4), die zweite Stimme hierzu (–1,–4)19.
Der Grundgedanke taucht außer in der Grundform in verschiedenen Formen auf: Als
Umkehrung (–1,+2) im A’-Teil, seine Abspaltungen (–1,+1), (+1,–1) und (+2)/(–2) im B-Teil.
Die beiden anderen vorkommenden Transpositionsbewegungen (+ 3) und (+5) lassen sich
nicht direkt ableiten; rein arithmetisch ist der Zusammenhang schnell hergestellt: aus (+1,+2)
ergibt sich (+3), und (+3,+2) ergibt (+5). (Im Sprungmotiv, dass aufgrund seiner besonderen
Nähe zum b-a-c-h Motiv nun doch als musikalische relevant eingeschätzt werden muss, findet
sich das Intervall +3). Inwieweit Schönberg solcherlei algebraische Zusammenhänge
konstruktiv hergestellt hat, oder ob sich die Transpositionsbewegungen vordringlich aus dem
Zusammenhang mit der Basslinie der Orgeltöne oder der Additionsklänge erklären (siehe
Kapitel 4.4 und 4.5) vermag ich nicht zu beurteilen.
Dass in den größeren Transpositionsintervallen tatsächlich ein tieferer Zusammenhang mit
dem Grundgedanken bestehen könnte, legt z.B. die Beobachtung nahe, dass in Takt 24 sowohl
die Transpositionsbewegung (+5) in den vier Oberstimmen als auch das Sprungmotiv mit
seiner Antwort (+1,+4) erfolgt – auch hier ist die Summe (+5). (Das beantwortete
Sprungmotiv kommt im ganzen Stück nur zweimal vor.)
Dem Reduktionsgrad des Grundgedankens entsprechend, sind alle motivisch-gestischen
Ereignisse ebenfalls sehr knapp gefasst.
19 Siehe Noten 5 Takt 20
17
4. Zur Harmonik
4.1 Grundsätzliches zur Harmonik – aufgehobene Tonalität
Schönberg bezeichnet in seiner Harmonielehre die Bildung des Gegensatzpaares ‚Konsonanz
– Dissonanz’ als Fehler.20 Dieser scheinbare Antagonismus würde vielmehr nur graduelle
Unterschiede der Vertrautheit von Intervallen benennen und genauso wenig einen Gegensatz
bezeichnen wie die Zahlen zwei und zehn. „Was heute fern liegt, kann morgen nahe liegen; es
kommt nur darauf an, dass man imstande ist, sich zu nähern.“21 Schönberg geht von
unterschiedlicher Vertrautheit der Intervalle auf der Ebene des Rezipienten aus, theoretisch
stellt er aber vertraute und weniger vertraute Intervalle auf eine Stufe und bestreitet die
Notwendigkeit ihrer Hierarchisierung.
Opus 16 / 3 kann als Beispiel für ein harmonisches Konzept dienen, in dem es keine
Hierarchie von Klängen gibt, in dem der Kontext von Konsonanz und Dissonanz aufgehoben
ist. Diese Musik hat kein harmonisches Zentrum im funktionsharmonischen Sinne, der von
Schönberg verwendete Begriff ‚aufgehobene Tonalität’22 scheint hier angebracht.
Zur Ermöglichung aufgehobener Tonalität kommt es laut Schönberg „unbedingt aufs Thema
an. Dieses muss durch seine Wendungen den Anlass zu solcher harmonischer
Ungebundenheit geben.“ Der Grundgedanke von Farben erfüllt diese Bedingung, denn die
Tonfolge (–1, +2) kann in einer diatonischen Skala nicht vorkommen.
Zu den Harmonien führt Schönberg folgendes aus: „Rein harmonisch wird es sich dabei (im
Falle der aufgehobenen Tonalität) fast ausschließlich um ausgesprochen vagierende Akkorde
handeln. Jeder Dur- oder Molldreiklang könnte, wenn auch vorübergehend, als Tonart
aufgefasst werden.“
Gemeint ist mit ‚vagierend’ die Richtungsoffenheit der Klänge, ihre Nicht-Eindeutigkeit in
Beziehung auf ein tonales Zentrum. Die Präposition ‚vagierend’ (unstet umherziehen) ist
allerdings als Terminus in der Welt der Funktionsharmonik zu Hause, in der er die
Mehrdeutigkeit eines Klanges in Hinsicht seiner Weiterführung beschreibt. Als vagierende
Akkorde werden von Schönberg genannt: verminderte und übermäßige 7-Akkorde,
neapolitanische Sexte, übermäßiger Dreiklang. Im Falle von ‚Farben’ wäre es nicht richtig,
die Klänge als ‚vagierend’ zu bezeichnen, ‚richtungslos’ ist eher zutreffend. Diese ihnen
eigene Richtungslosigkeit und Polyvalenz gewinnen sie aus ihrer Vieldeutigkeit und aus ihrer
Bemerkenswert ist die Häufung von ‚Zwitterwesen’, von Klängen also, die mehrere der vier
verschiedenen Dreiklangstypen gleichzeitig enthalten. (Diese Aufstellung erhebt im übrigen
keinen Anspruch auf Vollständigkeit.)
Der Hauptakkord dieses Stückes ist nicht ‚konsonanter’ als die Akkorde, die auf dem Weg der
Transposition (Modulation wäre hier ein falscher Begriff) zum selben Akkordtyp auf einem
anderen Basston durchschritten werden.
4.2 Polyphone Stimmführung und Harmonik
Aus der Stimmführung aller Töne des Ausgangsakkordes durch den Grundgedanken (+1, –2)
ergibt sich wie gesagt zwingend, dass ‚Farben’ auf keiner bekannten diatonischen Skala
23 Da funktionsharmonische Bezüge von Schönberg nicht gewollt waren, werde ich keine Versuche unternehmen irgendwelche funktionalen Reminiszenzen zu ‚enthüllen’. Der Klang c-e-gis-h-a könnte nämlich auch als eine alterierte Form von C-Dur mit hinzugefügter großer Septime und Sexte verstanden und der Klang h-g-dis-as-b als Dominante dazu gedeutet werden. Solcherlei Betrachtung wird aber m. E. den Zusammenhängen dieser Musik nicht gerecht.
19
beruhen kann. Addiert man dem Tonvorrat Akkords [a] über dem Basston c [0, 8, 11, 4, 9]
eine kleine Sekunde hinzu (+1, erster Schritt des Grundgedankens) resultieren daraus die
Töne [1, 9, 0, 5, 10] und durch den Schritt (–2) ergibt sich [a] über H [11, 7, 10, 3, 8]. In
‚normal order’ gebracht, lautet der zehntönige Tonvorrat des A-Teils [0, 1, 3, 4, 5, 7, 8, 9,10,
11]. Durch den Additionsklang in Takt 9-11 tritt das D [2] hinzu, fis [6] ist Vorschlagsnote
des e im selben Additionsklang. Insofern kann man davon ausgehen, dass der chromatische
Tonvorrat zu Grunde gelegt wurde.
Die gesamte Harmonik des Stückes ist Ergebnis des polyphonen Konzeptes, die Akkorde des
A-Teils ergeben sich aus der Engführung des Grundgedankens, die des A-Teils aus der
Engführung seiner Umkehrung. „Die moderne Musik, die sechs- und mehrstimmige Akkorde
verwendet, scheint sich in einem Stadium zu befinden, welches der ersten Epoche der
polyphonen Musik entspricht. Danach dürfte man eher durch einen Vorgang, wie es die
Generalbassbezifferung war, zu einem Urteil über die Zusammensetzung der Akkorde
kommen, als zur Klarheit über ihre Funktion (...). Denn anscheinend, und wahrscheinlich wird
das immer deutlicher werden, wenden wir uns einer neuen Epoche des polyphonen Stils zu,
und wie in den früheren Epochen werden die Zusammenklänge Ergebnis der Stimmführung
sein.“24
Aus der Engführung aller Stimmen ergibt sich an einigen Stellen die Verdopplung von
Oktaven und daraus resultierend die Hervorhebung eines bestimmten Tones (Takte 7, 22, 36).
Oktavverdopplungen werden von Schönberg in Stil und Gedanke und in der Harmonielehre25
als problematisch thematisiert, stellen hier aber offensichtlich einen akzeptablen Mangel dar.
Im Takt 7 fügt Schönberg noch als fünfte Stimme E im Bass hinzu, in den Takt 22 und 36
reduziert sich der Klang tatsächlich durch die Oktavverdopplung auf vier Stimmen.
Die sich aus der Engführung des Grundgedankens ergebenden Fünfklänge [a] bis [f] sind
nicht wirklich gleichartig, so wie etwa die Akkorde einer Dur-Kadenz jeweils eine
deckungsgleiche Intervallstruktur aufweisen. Ihre Intervallstruktur ist vielmehr
unterschiedlich und lässt sich kaum systematisieren.
Die Prime Forms der Klänge des A-Teils lauten folgendermaßen:
Tonrepetitionen werden nicht gespielt sondern ausgehalten. Die Aufteilung in kleine Notenwerte dient in diesem Beispiel dazu, die Einsatzstellen jener Instrumenteanzeigen zu können, die zu ausgehaltenen Tönen hinzutreten und diese verdoppeln, bzw. aus ausgehaltenen Klängen früher herausgehen.
Noten 1: Takt 29 Instrumentierung
Vcl. Gr.1 Flag.Fl.1
1.Vl.Gr.1Klar.1
1.Vl.Gr.2
Vla Gr.2
Oboe 1Vcl. Gr.1
Trp.1 Horn 1
Fl. 1
1.Vl.Gr.1
D-Klar.
2
Vcl. Gr.2 Flag.D-Klar.
Fl.2Oboe 2
Engl.H.
Horn 1Trp. 3
Fag.1
Pos.1
Trp.1Horn 3
Oboe 2 Klar.1
Fl.2 Oboe 2
3
Vcl. Flag.Fag.3
Engl.H.
Fag.1
Horn 3
Fl.2
Vcl. Gr.2
2.Vl.Gr.1
Oboe 3
Pos.2
Fag.2
1.Vl.Gr.1
Engl.H.
Fag.1
Horn 3
4
2.Vl.Gr.2
Pos.1Fag.2
Klar.2
2.Vl.Gr.2
Horn 2
D-Klar.Klar.1
BassKlar.
Engl.H.
Vcl. Gr.2 Fag.2
5
KFag
Pos.3Pos.4
KB 1 pizz
Pos.3
BassKlar.
KB 1 pizz
Horn 2
Takt 39 Takt 40 Takt 41 Takt42Stimme a b a b a b a b