25.11.2010 Prof. Dr. Oliver Niebuhr 1 Analyse gesprochener Sprache Allgemeine & Vergleichende Sprachwissenschaft Christian-Albrechts-Universität zu Ist es ein // ? Kontrastive Untersuchungen zur Sibilantenassimilation im Französichen und Englischen Gastvortrag SFB „Mehrsprachigkeit“ Universität Hamburg, 25.11.2010
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Analyse gesprochener Sprache Allgemeine & Vergleichende Sprachwissenschaft Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 25.11.2010 Prof. Dr. Oliver Niebuhr.
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• Es ist lange bekannt und gut erforscht, dass im Französischen bei angrezenden Konsonanten eine Assimilation der Stimmeinstellung stattfindet (“voice assimilation”).
– “C’est un groupe zulu” /p// z/→[bz]
• Die stimmliche Assimilation ist regressiv.
• Sie ist stärker von stimmlos zu stimmhaft als von stimmhaft zu stimmlos…
• …, und sie ist stärker, wenn sie nicht zu lexikalischen Ambiguitäten führt (Snoeren et al. 2006, 2008).
• Sie variiert mit dem Grad der syntaktischen Grenze (Kohler 2002).
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• Aber wie sieht es mit Assimilation des Artikulationsortes (“place assimilation”) aus?
• Diese Frage wird in der Literatur zur französischen Phonetik und Phonologie weitgehend ignoriert (Armstrong 1932; Batt 1960; Malmberg 1969; Price 1991)…
• …, oder es wird explizit behauptet, Ortsassimilation sei“non-existent in French” (cf. Fagyal et al. 2006:49)
• Ramus (2001:208): “English children […] must learn how place assimilation works in English […] if they were in a French environment, they would need to learn that there is no place assimilation, but that there is voicing assimilation”
• “Darcy (2002) performed word monitoring experiments in French and English that examined the role of context in processing […] regressive place assimilation (which occurs in English but not French)” (Gow 2003: 492)
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• Als eine der wenigen Ausnahmen weisen Fagyal et al. (2006:49) mit Bezug auf Léon and Carton (1983) and Gadet (1992) auf einen Sonderfall hin: “After schwa deletion in Northern Metropolitan French, sibilant + sibilant fricative sequences do show anticipatory assimilation of place. For instance in quinze juin ‘June fifteen’ […] the two adjacent sibilants form a ‘homorganic consonant cluster’ […] when the schwa is deleted”
• D.h., Ortsassimilation kann unter speziellen Bedingungen doch auftreten:
– Bei Sibilantensequenzen…– …die durch Schwaelision…– (→)…in der Varietät des ‘Northern Metropolitan French’
entstehen.– Die hier auftretende Assimilation ist regressiv– …und läuft in Zielrichtung ‘postalveolar’ ab.
• Kohler (2002:19) äußert sich ähnlich (aber nicht identisch!): “There are very few examples of place assimilation of consonants in the data. The succession of postalveolar and alveolar fricatives […] with schwa elision […] may result in […] [:]”
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– Mit “quinze jours” wurden im ‘CID’ zwei zu “quinze juin” ([:], Fagyal et al. 2006) sehr ähnliche Fälle gefunden…
– …und zwar für südfranzösische Sprecher, die nicht dem ‘Northern Metropolitan French’ angehören.
– Daneben wurden eine Reihe weiterer Beispiele für progressive und regressive Assimilationen in Sibilantensequenzen gefunden, die in Richtung der postalveolaren [] oder [] gehen.
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• Die bis hierin zusammengefassten Beobachtungen waren der Ausgangspunkt für eine systematische akustische Analyse mit gezielt erhobener Lesesprache…
• …auf Basis der folgenden Hypothesen:– (1) In Sibilantensequenzen des Französischen können
Assimilationen des Artikulationsortes prinzipiell vorkommen.– (2) Diese Ortsassimilation ist sehr viel verbreiteter als in der
Literatur angenommen. Sie tritt über schwache Formen und feststehende Ausdrücke wie “je suis” und “je sais” hinweg auf.
– (3) Die Zielqualität der Assimilation ist ‘postalveolar’ → Sie tritt progressiv und regressiv auf, je nach der Position des postalveolaren Sibilanten in der Sequenz
– (4) Der Assimilationsprozess ist insgesamt graduell und reicht von fehlender, über teilweise, bis zu vollständiger Assimilation der Sibilantenqualitäten.
• Aufgenommen wurden 6 Sprecherinnen aus Aix-en-Provence und Umgebung; insg. 2304 Sätze wurden gelesen und segm. annotiert.
• In Satzkontexte eingebettet wurden (a) hoch kontrollierte Pseudonamen (“Bas Chafe”) und (b) und echte Wortpaare (“classe chargée”).
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• Fazit:• Niebuhr et al. (2008 + accepted JPhon) haben erstmals
in einer systematisch-phonetischen Analyse gezeigt, dass im Französischen Assimilation des Artikulationsortes vorkommt.
• Am Beispiel ‘alveolar’-zu-’postalveolar’ im Bereich der Sibilanten
• Im Deutschen und Englischen findet sich hier regressive Assimilation.
• Im Französischen ist die Zielqualität ‘postalveolar’ der bestimmende Faktor. D.h., die Assimilation kommt in regressiver und in progressiver Richtung vor.
zurück(velar)
zurück(postalveolar, //)
„Have you seen Barbara‘s shoes ?“m sh„Ich muss es bis zum Bus(ch?) schaffen!“
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• Viele Wahrnehmungsstudien zeigen übereinstimmend, dass Hörer über Wortgrenzen hinweg Ortsassimilationen kompensieren bzw. Zurücknehmen können, wenn der lautliche Kontext eine Assimilation wahrscheinlich macht.
• “lean bacon” und “leam bacon” “leam gammon”
Perzeptorische Kompensation im Kontext
ENGLISCH FRANZÖSISCH
Regressiv “See how the glass shines”STARK-VOLLSTÄNDIG
“C’etait une classe chargée”SCHWACH-STARK
Progressive “She likes the British south”NICHT EXISTENT
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• Darüber hinaus gibt es Anzeichen, dass dieses Kompentationsvermögen durch die jeweilige Sprache geformt wird und somit sprachspezifisch ist (vgl. Gaskell 2003; Darcy et al. 2007).
• Würden also englische und französische Hörer Sibilantensequenzen anders wahrnehmen?
Perzeptorische Kompensation im Kontext
ENGLISCH FRANZÖSISCH
Regressiv “See how the glass shines”STARK-VOLLSTÄNDIG
“C’etait une classe chargée”SCHWACH-STARK
Progressive “She likes the British south”NICHT EXISTENT
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• Die sprachspezifischen Assimilationsmuster sind im Verhalten der Hörer einer Sprache reflektiert. Der kognitive Umgang mit Assimilationen wird erlernt und ist keine sprachuniverselle “Verdrahtung”.
• Regressiv:– Im Englischen ist Sibilantenassimilation eher kategorial. Englische
Hörer kompensieren [] /s/ nur bei eindeutigem [].– Im Französischen führt Sibilantenassimilation eher zu Mischformen.
Franz. Hörer kompensieren [] /s/ NICHT nur bei eindeutigem [], sondern AUCH bei Mischformen.
• Progressiv:– Im Englischen gibt es keine progressive Sibilantenassimilation.
Der zweite Sibilant der Sequenz kann nach // direkt “phonetisch dekodiert” werden.
Im Französischen wird der zweite Sibilant nur bei eindeutigem [s] direkt “phonetisch dekodiert”; für Mischformen und klare [] wird progressive Assimilation in Betracht gezogen. Verzögert gezielte Augenbewegungen; wirkt sich allerdings nicht nachweislich auf Kopfdruckverhalten aus.
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• Beispiele für solche “assimilationsresistenten” Spuren, die dann auch als Identifikationssignale (= “acoustic cues”) für den Hörer fungieren, gibt es bereits.
– Nolan’s (1992) EPG-Studie über alveolar-zu-velar Assimilation in Plosiven (/dg/ → [gg] wie in “bad girl” vs. “bag girl”).
– Selbst wenn die Assimilation aufgrund der EPG-Kontaktmuster als “vollständig” beschrieben werden kann, stellt Nolan fest, dass “auditorily, it seems that the vowel allophone before the lexical velar is slightly closer than before the lexical alveolar” (Nolan 1992:272)
– Seine Hörer, die in der Lagen waren, die laut messphonetischen Kennzahlen ambigen Fälle zu als z.B. /dg/ und /gg/ zu erkennen, weisen auf die perzeptive Relevanz dieser Beobachtung hin.
– Nolan’s impressionistische Bemerkung wurde später durch akustische Analysen seiner Daten durch Local (2003:329) bestätigt.
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• Hawkins & Smith (2001:10) → obwohl die /z/-Sequenz in “who’s sharpened” spektral annähernd mit der //-Referenz in “who sharpened” übereinstimmt, sind die vorausgehenden /u/ - besonders in puncto F2 und F3 klar verschieden.
• Auch in unsere Fran- zösischen Daten weisen erste Beobachtungen auf assimilationsresistente vokalische Details hin.
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• Stimmqualiät (Grad der Behauchung des Vokals):– Die Vokale waren signifikant behauchter (>H1-H2 Differenz) vor //.– Gilt für Referenz- und für (assimilierte/neutralisierte)
Sequenzbedingungen– Dafür fand sich vor /s/ oft kurze [h]-Phase (“Präaspiration”)– Die generelle Behauchung ebenso wie der Behauchungsunterschied
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• Weitere prüfstatistische Auswertung• Es wurden 2 Diskriminanzanalysen durchgeführt, je eine auf
Basis der Sibilantenmessungen (CoGs) und der Vokalmessungen.
• Diskriminanzanalysen versuchen, anhand der Messwerte, mit denen sie “gefüttert” werden, vorherzusagen, ob es sich um einen /s/- oder einen /s/-Fall handelt.
• Auf Basis der Sibilantenmessungen war keine signifikante Vorhersage/ Klassifikation möglich. Korrekte Zuordnungen zwischen 40-60% = Zufall.
• Auf Basis der Vokalmessungen war hingegen eine signifikante Zuordnung möglich.
– Rangfolge der akustischen Parameter: Dauer > Stimmqualität > F2 > Intensität > F1
– Vorhersage war geringfügig schlechter für /i/ Trefferquote 73%.
– Anhand der akustisch-phonetischen Eigenschaften von /a/ und /u/ wurden 85-95% der Sibilantensequenzen korrekt als /s/ oder /s/ vorhergesagt.
– Viss Simley Vish Shimley Viss Shimley– Vass Sabson Vash Shabson Vass Shabson– Voss Somdon Vosh Shomdon Voss Shomdon
• Wir sind zu gleichen Ergebnissen gelangt, wie im Französischen
• Vokale vor Sequenzen, die mit postalveolarem // beginnen, waren länger, behauchter und leiser (F2-Effekte waren nur in der Tendenz vorhanden), unabhängig davon, inwieweit die Sequenzen mit initialem /s/ eine regressive /s/ [] Assimilation aufwiesen.
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• Assimilationsresistente Spuren in benachbarten Lautsegmenten können dazu beitragen, den Prozess der Assimilation in einem segmentübergreifenden Licht neu zu konzipieren und weitere Zweifel an der Existenz “vollständiger Assimilation” zu sähen.
• “Moreover, they have important implications for psycholinguistic theory, where debate continues about the processes underlying the perception of assimilated speech; all models focus on the consonants involved in assimilation. Clearly, if preceding vowels contain disambiguating cues then there is the potential to advance this theoretical debate.” (Gaskell 2009:3)
Perzeptionsexperimente mit Stimuli auf Basis der Pseudonamen im Französischen und Englischen
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• Perzeptionsexperiment zum Englischen• Quintessenz der englischsprachigen Instruktion:• Es gibt eine englischsprachige Region auf der Welt, in der die
Vornamen einem bestimmten System folgen. Die Namen der Frauen enden auf <s>, die Namen der Männer hingegen auf <sh>. Nachfolgend hören Sie Ausschnitte aus Dialogen, in denen sich Sprecherinnen über Menschen aus dieser Region unterhalten. Hören Sie gut zu und urteilen Sie anschließend: Wird über eine Frau oder über einen Mann gesprochen?
Es wurden nicht Sprachlaute, sondern Personen/Geschlechter identifi-ziert. = kein “phoneme monitoring”
• Urteile wurden durch Knopfdruck abgegeben.• Taste 1 = <s>, Taste 2 = <sh>.• Es wurden Urteile und die dazugehörigen Reaktionszeiten erfasst
und automatisch derandomisiert, aufbereitet (mittels RMG3, IPdS).
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• Perzeptionsexperiment zum Englischen• Ergebnisse der Reaktionszeiten:• Immer gerechnet ab Beginn des /v/ des Vornamens• Wenn die akustischen Signale der Vokale und Sibilanten in
unterschiedliche Richtungen weisen, ist die Reaktionszeit deutlich größer (= Target 1 + 3)
• In Target 2 entsteht ein solcher “cue”-Konflikt nicht.
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• Perzeptionsexperiment zum Englischen• Ergebnisse der Reaktionszeiten:• Insgesamt kaum Unterschiede zwischen den Vokal-/Äußerungskontexten• Die Sprechgeschwindigkeit war in den Stimuli von JOD ca. 1-2 Sil./Sek.
schneller als für CLA, und für JOD sind auch die Reaktionszeiten 200-300ms kürzer (obwohl die Dauern für /v/+Vok. + Sibilantensequenz nicht kürzer sind! Warum?)
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• Perzeptionsexperiment zum Englischen• Fazit:• Die phonetischen Details des Vokals haben einen erheblichen
Effekt auf die Identifikation des darauf folgenden Sibilanten als alveolaren /s/ oder postalveolaren //.
• Dieselbe vollständig assimilierte /s/-Sequenz kann (fast) eindeutig als [s] oder [] identifiziert werden, je nachdem, welche Eigenschaften der vorangehende Vokal hat.
• Sogar ein originales // kann als /s/-Sequenz interpretiert werden, wenn ein Vokal aus einem ursprünglichen /s/-Kontext vorausgeht.
• Wahrnehmungsmodelle können Assimilation nicht nur Basis des Paares aus assimilerendem und assimiliertem Laut behandeln.
• Die Befunde verstärken den Zweifel daran, ob es “vollständige Assimilation” überhaupt geben kann.
• Wahrnehmungsexperimente zum Französischen folgen im Februar
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• Auch das Französische kennt regionsübergreifend das Phänomen der Ortsassimilation, allerdings weniger kategorial als im Englischen, dafür jedoch regressiv und progressiv.
• Die Unterschiede in Richtung und Grad der Assimilation bilden sich in einem sprachspezifischen Hörverhalten ab.
• Sowohl im Französichen als auch im Englischen gibt es vergleichbar ausgeprägte assimilationsresistente Unterschiede in den Vokalen vor dem bzw. den Sibilanten-
• Hörer können diese Details nutzen, um den nachfolgenden Sibilanten als alveolar oder postalveolar zu identifizieren. Entsprechend kann man in einer suprasegmentellen Perspektive nicht von kompletter Assimilation reden.
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• Wodurch entstehen die sibilantenspezifischen vokal. Details?
• Erster, vorläufiger Erklärungsansatz als Koartikulation:• Stimmlose Sibilanten involvieren zwei Gesten
• eine supraglottale (artikulatorische) Bildung der Friktionsenge• eine glottale (phonatorische) Abduktion der Stimmlippen zur Herstellung der Stimmlosigkeit
• Die artikulatorische Geste verursacht die Formantunterschiede• Die phonatorische verursacht die übrigen Unterschiede
• langsamere Abduktion vor // schafft Behauchung mit kleinerer Energie als Nebenprodukt und nahtlosen Übergang vom Vokal in den Sibilanten (ohne Präaspiration), wodurch der Vokal zudem länger wird.
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• Wodurch entstehen die sibilantenspezifischen vokal. Details?
• Erster, vorläufiger Erklärungsansatz als Koartikulation:• Ggf. erfordern die unterschiedlichen aerodynamischen
Be-dingungen von /s/ und // das abweichende artikulatorische-phonatorische Timing
• Bei der (regressiven) Assimilation /s/ [] wird nur die artikulatorische Geste angeglichen, die phonatorische bleibt.
• Erklärt auch, warum die F2-Effekte insb. gegen Vokalende weniger robust waren als die der Dauer, Intensität und Behauchung
• Eine umgekehrte, gestenspezifische Assimilation ist implizit für die Stimme bereits bekannt (Snoeren et al. 2006; Kohler 2002; Kuzla 2009; Myers 2010)