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© Deutsches Archäologisches Institut / Verlag Philipp von Zabern Der Autor / die Autorin hat das Recht, für den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch unveränderte Kopien dieser PDF-Datei zu erstellen bzw. das unveränderte PDF-File digital an Dritte weiterzuleiten. Außerdem ist der Autor/die Autorin berechtigt, nach Ablauf von 24 Monaten und nachdem die PDF-Datei durch das Deutsche Archäo- logische Institut der Öffentlichkeit kostenfrei zugänglich gemacht wurde, die unver- änderte PDF-Datei an einem Ort seiner / ihrer Wahl im Internet bereitzustellen. Athenische Abteilung Band 125 · 2010 PDF-Dokument des gedruckten Beitrags Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kai M. Töpfer Amphiaraos als paradigmatischer Held im klassischen Athen
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Amphiaraos als paradigmatischer Held im klassischen Athen, Mitteilungen des Deitschen Archäologischen Instituts Athen 125, 2010, 199-219.

Feb 07, 2023

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Oliver Rettig
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Page 1: Amphiaraos als paradigmatischer Held im klassischen Athen, Mitteilungen des Deitschen Archäologischen Instituts Athen 125, 2010, 199-219.

© Deutsches Archäologisches Institut / Verlag Philipp von Zabern

Der Autor / die Autorin hat das Recht, für den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch unveränderte Kopien dieser PDF-Datei zu erstellen bzw. das unveränderte PDF-File digital an Dritte weiterzuleiten. Außerdem ist der Autor/die Autorin berechtigt, nach Ablauf von 24 Monaten und nachdem die PDF-Datei durch das Deutsche Archäo-logische Institut der Öffentlichkeit kostenfrei zugänglich gemacht wurde, die unver-änderte PDF-Datei an einem Ort seiner / ihrer Wahl im Internet bereitzustellen.

Athenische Abteilung

Band 125 · 2010

PDF-Dokument des gedruckten Beitrags

Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts

Kai M. TöpferAmphiaraos als paradigmatischer Held im klassischen Athen

Page 2: Amphiaraos als paradigmatischer Held im klassischen Athen, Mitteilungen des Deitschen Archäologischen Instituts Athen 125, 2010, 199-219.

IV

Herausgeber

Wolf-Dietrich Niemeier und Reinhard SenffDeutsches Archäologisches Institut Athen

Fidiou 110678 AthenGriechenland

© 2013 by Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt / MainzISSN: 0342-1295

ISBN: 978-3-8053-4749-5Satz: www . wisa - print . de

Druck und Verarbeitung: Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt / MainzAlle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der

Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durchPhotokopie, Mikrofilm usw. ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oderverbreitet werden. Bezüglich Photokopien verweisen wir nachdrücklich auf §§ 53, 54 UrhG.

Printed in Germany by Philipp von ZabernPrinted on fade resistant and archival quality paper (PH 7 neutral) · tcf

Wissenschaftlicher Beirat

Martin Bentz, Bonn – Emanuele Greco, Athen – Klaus Hallof, Berlin – Antoine Hermary, Marseille – Wolf Koenigs, München – Robert Laffineur, Liège –

Wolfram Martini, Gießen – Sarah Morris, Los Angeles – Aliki Moustaka, Thessaloniki – Andrew Stewart, Berkeley

XII, 314 Seiten mit 66 Abbildungen; 49 Tafeln

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V

Mercourios GeorGIadIs, Neolithic pottery from the daI collection: attica (45 abbildungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

elena BozhINoVa – reinhard JuNG – hans MoMMseN, dra-gojna. eine spätbronzezeitliche höhensiedlung in den bulgarischen rhodopen mit importierter mykenischer Keramik (Tafeln 1 – 14, 4 Ab-bildungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Wolf-dietrich NIeMeIer – Yannis MaNIatIs, der ›heilige Baum‹ und Kultkontinuität im heraion von samos (Tafeln 14 – 19, 5 Abbil-dungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

holger BaItINGer, Ein silbernes Sphyrelaton aus Olympia ? (Tafeln 20. 21, 4 Abbildungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

angelika CleMeNte, zur Basis der Geneleos-Gruppe (tafel 21, 2 ab - bildungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Bernhard sChMaltz, eine attische Frauenstele spätarchaischer zeit (Tafeln 22 – 24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Bernhard sChMaltz, aktualisierte denkmäler in Paros (tafeln 25. 26, 1 abbildung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Kai M. töPFer, amphiaraos als paradigmatischer held im klassi-schen athen (Tafeln 27 – 29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Georgios a. zaChos, New evidence on the topography of ancient eresos. Bridging the gap (Tafeln 30 – 35, 5 Abbildungen) . . . . . . 221

simone KIlleN, Barren, Marktgewichte, Netzbeschwerer oder Web-gewichte ? Bleierne Pyramidenstümpfe in der Sammlung des Athener In stituts (tafeln 36. 37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

stefanie a. h. KeNNell, »... daß es keinen so gelehrten und tüchtigen Mann gibt als sie«: the heinrich schliemann – Wilhelm dörpfeld cor-respondence, 1879 – 1890 (Tafeln 38 – 49) . . . . . . . . . . . . 257

tafeln

I N h a l t

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C o N t e N t s

Mercourios GeorGIadIs, Neolithic pottery from the daI collection: attica (45 figures) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

elena BozhINoVa – reinhard JuNG – hans MoMMseN, dragoj-na. a late Bronze age hilltop settlement in the Bulgarian rhodopes with imported Mycenaean pottery (plates 1 – 14, 4 figures) . . . . . 45

Wolf-dietrich NIeMeIer – Yannis MaNIatIs, the ›sacred tree‹ and the continuity of cult in the heraion of samos (plates 14 – 19, 5 figures) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

holger BaItINGer, A silver sphyrelaton from Olympia ? (plates 20. 21, 4 figures) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

angelika CleMeNte, the base of the Geneleos group (plate 21, 2 fi-gures) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Bernhard sChMaltz, an attic stele of two women from the late archaic period (plates 22 – 24) . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Bernhard sChMaltz, updated monuments in Paros (plates 25. 26, 1 figure) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Kai M. töPFer, amphiaraus as a paradigmatic hero in Classical athens (plates 27 – 29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Georgios a. zaChos, New evidence on the topography of ancient eresos. Bridging the gap (plates 30 – 35, 5 figures) . . . . . . . . . 221

simone KIlleN, Ingots, market weights, net sinkers or loom weights ? truncated lead pyramids in the collection of the athens Institute (plates 36. 37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

stefanie a. h. KeNNell, »... daß es keinen so gelehrten und tüchtigen Mann gibt als sie«: the heinrich schliemann – Wilhelm dörpfeld cor-respondence, 1879 – 1890 (plates 38 – 49) . . . . . . . . . . . . 257

Plates

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ursula Knigge, leiterin der ausgrabungen der abteilung athen des deut-schen Archäologischen Institutes im Kerameikos von Athen von 1975 bis 1995, ist am 12. September 2010 nach längerer Krankheit in Bremen verstor-ben. Die Fotografie aus dem Jahr 1989 zeigt sie an ihrer Wirkungsstätte, im Magazin der Kerameikos-Grabung, im Gespräch über Grabungsfunde mit Margit heiber, der langjährigen Bibliothekarin der abteilung athen, mit der sie befreundet war, und ist insofern typisch, als ursula Knigge immer gern ihr reichhaltiges Wissen über den Kerameikos weitergab.

ursula KNIGGe

1930 – 2010

ursula Knigge im Gespräch mit Margit heiber (rechts)

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Sie wurde am 19. November 1930 in Bremen geboren und wuchs in ei-nem nicht akademischen Umfeld auf, in der gutbürgerlichen Atmosphäre ih-rer Familie, die seit über 120 Jahren die traditionsreiche Konditorei Knigge in Bremen führt. 1944 mußte sie erleben, dass ihr Elternhaus mit der Konditorei durch Bomben zerstört wurde. aus einem drang nach unabhängigkeit, der ihr zeitlebens erhalten blieb, verließ sie kurz vor dem abitur das Gymnasium und auch ihre heimatstadt, die ihr in mancherlei hinsicht zu eng erschien. Um ein eigenes Leben zu führen, ging sie nach München und absolvierte dort eine ausbildung an der Fotografenschule. sowohl diese ausbildung als auch die reiche Museenlandschaft Münchens erweckten ihr Interesse an Kunstge-schichte und Klassischer Archäologie. Für einige Zeit arbeitete sie in einem Fotoatelier an der stazione termini in rom, um in der ›ewigen stadt‹ mit ihren reichen Kunstschätzen leben zu können.

1959 holte sie Dieter Ohly, der damalige Zweite Direktor der Abteilung athen und leiter der Kerameikos-Grabung, als Fotografin in den Keramei-kos. die Begegnung mit der griechischen antike, neben der archäologie un-ter der Anleitung Ohlys auch die gemeinsame Homer-Lektüre mit Freunden, sowie das damals einfache und ursprüngliche Leben in Griechenland, das sich so sehr von dem in deutschland unterschied, faszinierten sie und lösten bei ihr den Wunsch aus, Klassische archäologie zu studieren und danach als Archäologin in Griechenland zu arbeiten. Dafür musste sie das Abitur nach-holen, was sie in kurzer zeit mit der ihr stets eigenen eisernen energie be-wältigte. so lernte sie selbst bei lambretta-Fahrten durch Italien lateinische Vokabeln. Das Studium in München und Tübingen absolvierte sie sehr gezielt und in kurzer Zeit. 1963 promovierte sie in München bei Ernst Homann-We-deking mit der dissertation »Bewegte Figuren der Großplastik im strengen Stil« (Publikationsliste Nr. 1), in der sie die Eroberung des der Figur innewoh-nenden raumes bei den bewegten Figuren des strengen stils analysierte, wel-che die Voraussetzung für das Hinausdrängen dieser Kräfte in den äußeren Raum in der Klassik der 2. Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. bildete. Bereits die Dis-sertation zeichnet sich durch den sachlichen und konzisen schreibstil aus, der für Ursula Knigges gesamtes wissenschaftliches Oeuvre charakteristisch ist.

zeigte ursula Knigge in ihrer dissertation – wie auch in einigen späteren Arbeiten –, dass sie die kunsthistorisch-archäologische Methode der Mün-chener schule voll beherrschte, so galt ihre wissenschaftliche leidenschaft doch der erschließung neuer Quellen durch Feldforschung. Franz Willemsen, 1961 – 1975 Zweiter Direktor der Abteilung Athen und Leiter der Keramei-kosgrabung, dessen liebe zu Griechenland und wissenschaftliches engage-ment für den Kerameikos für Ursula Knigge vorbildhaft waren, holte sie in den Kerameikos zurück, wo sie seit 1963 zunächst mit Werkverträgen, seit 1967 als wissenschaftliche Angestellte arbeitete. Der Kerameikos sollte für ihr wissenschaftliches leben bestimmend bleiben. die große Mehrzahl ihrer Pu-

Ursula Knigge 1930 – 2010

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blikationen betrifft diesen wichtigen Fundplatz mitten in athen. Nach Wil-lemsens Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1975 wurde sie zur Leiterin der Kerameikos-Grabung ernannt und prägte diese für zwei Jahrzehnte bis zu ihrer Pensionierung 1995.

Ursula Knigges erste eigenständige Ausgrabung im Kerameikos war 1963 die ihr von Willemsen übertragene des Südhügels, die sie 1976 in Band 9 der Kerameikos-Reihe (Publikationsliste Nr. 2) veröffentlichte. Wie alle ihre spä-teren Grabungspublikationen ist auch diese bereits von vorbildlicher Quali-tät, Klarheit und Gründlichkeit. In einem Schachtgrab kam das Skelett eines zwei Meter großen Mannes zutage, dem seine prachtvolle Kline mit elfen-bein- und Bernsteineinlagen als totenbahre gedient hatte. die Beigaben, elf samische Lekythen und drei lydische Salbgefäße, führten Ursula Knigge zu dem schluss, dass es sich bei dem toten nicht um einen athener, sondern wohl um einen ostionischen Gesandten der zeit des Peisistratos handelte, da ja auch die späteren ›Gesandtenstelen‹ unmittelbar am Nordfuß des Südhü-gels aufgestellt wurden. Am Ende des 6. Jhs. v. Chr. wurden die Hänge des Südhügels durch Erdanschüttungen ausgeglichen und für eine Bürgernekro-pole hergerichtet, ein Vorgang der nach ursula Knigge wohl in zusammen-hang mit den reformen des Kleisthenes stand.

1965 grub Ursula Knigge geometrische bis hellenistische Gräber der Erida-nos-Nekropole aus und veröffentlichte sie 1966 (Publikationsliste Nr. 8). 1972 untersuchte sie den rundbau am eridanos, einen bis in das beginnende 7. Jh. v. Chr. zurückreichenden Grabtumulus einer alten attischen Adelsfamilie, die sie in der Veröffentlichung von 1980 (Publikationsliste Nr. 3) überzeugend als die der Kerykes identifizierte, die das amt der herolde bei den eleusinischen Mysterienfeiern innehatten.

1968 und 1972 untersuchte Ursula Knigge das Areal der schon erwähnten sog. Gesandtenstelen, Monumente für einen Konsul aus Selymbria, der hier wohl anlässlich des Beitritts jener Stadt in den attischen Seebund 451 v. Chr. eine ehrenbestattung erhielt, und zwei Gesandte aus Kerkyra, deren Gräber nach dem Ergebnis ihrer Grabungen aus dem 3. Viertel des 5. Jhs. v. Chr. stammten, im Peloponnesischen Krieg zerstört und um 375 v. Chr., als Kerky-ra in den zweiten attischen seebund eintrat, erneuert wurden (Publikations-liste Nr. 13. 14).

Seit der Übernahme der Grabungsleitung im Kerameikos 1975 führte Ursula Knigge bis zu ihrer Pensionierung 1995 jährliche Ausgrabungskam-pagnen durch, über die sie zusammen mit ihren jeweiligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, B. von Freytag gen. Löringhoff, W. Kovacsovics, A. Rügler, A. Schöne und R. Stichel, im Archäologischen Anzeiger gründliche Vorbe-richte vorlegte (Publikationsliste Nr. 20 – 23, 25, 28, 32, 34 – 37). Während ihrer Grabungsleitung gab ursula Knigge sechs Bände der reihe »Kerameikos. er-gebnisse der Ausgrabungen« heraus: U. Knigge, Der Südhügel, Kerameikos

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9 (Berlin 1976); W. Hoepf ner, Das Pompeion und seine Nachfolgerbauten, Kerameikos 10 (Berlin 1976); I. Scheibler, Griechische Lampen, Kerameikos 11 (Berlin 1976); W. Koenigs – U. Knigge – A. Mallwitz, Rundbauten im Keramei-kos, Kerameikos 12 (Berlin 1980); B. Bohen, Die geometrischen Pyxiden, Ker-meikos 13 (Berlin 1988); W. Kovacsovics, Die Eckterrasse an der Gräberstraße des Keramikos, Kerameikos 14 (Berlin 1990). Für zwei weitere Bände wurden die wesentlichen arbeiten während der amtszeit von ursula Knigge durch-geführt: B. Vierneisel-Schlörb, Die figürlichen Terrakotten I. Spätmykenisch bis späthellenistisch, Kerameikos 15 (Berlin 1997); E. Kunze-Götte – K. Tan-cke – K. Vierneisel, die Nekropole von der Mitte des 6. bis zum ende des 5. Jahrhunderts, Kerameikos 7, 2 (München 1999).

2005 legte ursula Knigge die ergebnisse ihrer wichtigen Grabungen der Jahre 1978 bis 1981 im Haus Z am Heiligen Tor vor (Publikationsliste Nr. 5). Hier kamen unmittelbar hinter der Stadtmauer über einer Straße und einem Grabbezirk der archaischen Periode fünf übereinanderliegende bis zu ca. 500 m2 große Gebäude der Zeit zwischen 430 und 86 v. Chr. zutage, teilweise mit nahezu vollständigem hausrat und einer weitgehend ungestörten strati-graphie. die ergebnisse der Grabungen vermitteln einzigartige neue erkennt-nisse zur architektur und den Wohnsitten der athener in klassischer zeit und zur Stadtentwicklung im 5. und 4. Jh.v. Chr. Der Bedeutungswandel der Bau-ten Z vom Wohnhaus über Gewerbebetrieb und Wirtshaus zum Banketthaus ist offensichtlich symptomatisch für die Veränderungen des Viertels hinter dem heiligen tor, wie auch die untersuchungen im benachbarten Bau Y ge-zeigt haben. Das Manuskript über diesen konnte Ursula Knigge unter großen schwierigkeiten noch vor ihrem tod fertigstellen.

In ihrer letzten zu Lebzeiten publizierten Arbeit (Publikationsliste Nr. 40) identifizierte ursula Knigge die Grabstätte eines weiteren bedeutenden athe-nischen adelsgeschlechtes, des der alkmeoniden. die darstellung auf der sog. Porosstele eines Mannes mit Stab und Schwert, die K. Kübler für die des solon gehalten hatte, interpretierte sie als die des olympia-siegers alkmeon aus dem Geschlecht der alkmeoniden, erkannte den tumulus G neben dem tritopatreion als das Grabdenkmal dieses Geschlechtes und meinte, das tri-topatreion habe den alkmeoniden als stätte des ahnenkultes gedient.

Ein Vermächtnis von Ursula Knigge stellt der 1988 erschienene Führer durch den Kerameikos (Publikations-Nr. 4) dar, der auch in englischer und neugriechischer Übersetzung publiziert wurde und viel mehr als ein Füh-rer ist, nämlich eine bis heute unersetzliche, äußerst kenntnisreiche Gesamt-darstellung dieser neben akropolis und agora wichtigsten Grabungsstätte athens, deren erforschung die wissenschaftliche lebensaufgabe ursula Knig-ges darstellte.

Ihre Publikationen hat sie sich jahrzehntelang mit geradezu preußischer Disziplin unter den Schmerzen eines schweren Rückenleidens abringen müs-

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XI

sen, das ihr das sitzen am arbeitstisch zur Qual machte. sie war stets ein unabhängiger und unbestechlicher Geist, machte aber nie aufhebens um die eigene Person. ein kennzeichnender Wesenszug war es, grundsätzlich erst einmal alle dinge in Frage zu stellen, was zu manchmal kontroversen, aber doch stets fruchtbaren Diskussionen führte, durch die gute menschliche Be-ziehungen nie gestört wurden. die Förderung der wissenschaftlichen Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter im Kerameikos war ursula Knigge immer ein besonderes anliegen, sie erfuhren von ihr eine ausgezeichnete ausbildung in hinsicht auf ausgrabung sowie die Bearbeitung und Publikation von Gra-bungsbefunden und -funden. Gute Kontakte, auch Freundschaften, verban-den sie mit griechischen, deutschen und internationalen Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftlern. Neben der archäologie engagierte sie sich auch intensiv im Tier- und Umweltschutz. Sie hatte ein Herz für die herrenlosen hunde athens, nahm sie bei sich auf oder vermittelte ihnen ein zuhause bei hundefreunden in athen und deutschland. Ihre große sorge galt außerdem der erhaltung des einzigartigen, artenreichen Biotops im Kerameikos mit sei-ner großen Population griechischer landschildkröten. so spartanisch sie ihr eigenes Leben führte, so großzügig und hilfsbereit war sie oft anderen Men-schen gegenüber. Allen, die Ursula Knigge kannten, werden ihr mit feiner Iro-nie gepaarter humor, ihr unbestechliches urteil und ihr hohes wissenschaftli-ches ethos unvergesslich bleiben.

athen Wolf-Dietrich NiemeierFür Hinweise und Auskünfte

danke ich vor allem M. hei ber, außerdem M. ohly, I. scheibler

und K. Vierneisel.

Ursula Knigge 1930 – 2010

BIBlIoGraPhIe ursula KNIGGezusammengestellt von t. Keßler

Monographien 1. Bewegte Figuren der Großplastik im Strengen Stil (München 1965) 2. Der Südhügel, Kerameikos 9 (Berlin 1976) 3. zusammen mit W. Koenigs – a. Mallwitz, rundbauten im Kerameikos, Kerameikos

12 (Berlin 1980) 4. Der Kerameikos von Athen. Führung durch Ausgrabungen und Geschichte (Athen

1988) 5. Der Bau Z, Kerameikos 17 (München 2005)

artikel 6. zusammen mit F. Willemsen, Die Ausgrabungen im Kerameikos 1963. Die Höhe öst-

lich des Querweges, ADelt B 19, 1964, 42 – 46 7. Ein rotfiguriges Alabastron aus dem Kerameikos, AM 79, 1964, 105 – 113 8. zusammen mit B. Schlörb-Vierneisel, Eridanos-Nekropole, AM 81, 1966, 1 – 134

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XII Ursula Knigge 1930 – 2010

9. zusammen mit F. Willemsen, Die Ausgrabungen im Kerameikos, ADelt B 21, 1966, 51 – 54

10. Zum Kouros vom Piräischen Tor, AM 84, 1969, 76 – 86 11. Neue Scherben von Gefäßen des Kleophrades-Malers, AM 85, 1970, 1 – 22 12. Kerameikos 1968 – 1969, ADelt B 25, 1970, 31 – 39 13. Untersuchungen bei den Gesandtenstelen im Kerameikos zu Athen, AA 1972, 584 – 629 14. Die Gesandtenstelen im Kerameikos, AAA 5, 1972, 259 – 265 15. Der Kerameikos von Athen, AW 4, 4, 1973, 2 – 20 16. zusammen mit B. von Freytag, Die Ausgrabungen im Kerameikos 1970 – 1972, AA

1974, 181 – 198 17. zusammen mit B. von Freytag – K. von Woyski, Kerameikos. tätigkeitsbericht

1973/74, AA 1975, 456 – 471 18. Aison, der Meidiasmaler? Eine Oinochoe aus dem Kerameikos, AM 90, 1975, 123 – 143 19. Zum Löwen von Kantzas, AM 91, 1976, 167 – 173 20. zusammen mit R. Stichel – K. von Woyski, Kerameikos. Tätigkeitsbericht 1975/76, AA

1978, 44 – 67 21. Tätigkeitsbericht Kerameikos 1977, AA 1979, 178 – 187 22. Kerameikos. Tätigkeitsbericht 1978, AA 1980, 256 – 265 23. zusammen mit W. Kovacscovics, Kerameikos. Tätigkeitsbericht 1979, AA 1981,

385 – 396 24. Ὁ ἀστὴρ τῆς Ἀφροδίτης, AM 97, 1982, 153 – 170 25. W. Kovacscovics, Kerameikos. Tätigkeitsbericht 1981, AA 1983, 209 – 224 26. Κεραµεικός. Οἱ ἐργασίες τοῦ Γερµανικοῦ Ἀρχαιολογικοῦ Ἰνστιτούτου, Archaiolo-

gia 6, 1983, 25 – 31 27. Ein Jünglingskopf vom Heiligen Tor in Athen, AM 98, 1983, 45 – 56 28. zusammen mit B. von Freytag – W. Kovacscovics – r. stichel, Kerameikos. tätigkeits-

bericht 1982, AA 1984, 27 – 61 29. Marmorakroter und Fries von einem attischen Grabbau?, AM 99, 1984, 217 – 234 30. Die zweigestaltige Planetengöttin, AM 100, 1985, 285 – 292 31. ein Kultbild der athena in larisa, in: h. Kyrieleis (hrsg.), archaische und klassische

griechische Plastik. Akten des internationalen Kolloqiums vom 22. – 25. April 1985 in Athen II. Klassische griechische Plastik (Mainz 1986) 143 – 148

32. zusammen mit B. von Freytag, Ausgrabungen im Kerameikos 1983 – 1985, AA 1987, 481 – 499

33. Ein Meisterwerk des frühen strengen Stils im Kerameikos, in: Praktika tou III Dieth-nous Synedriou Klasikis Archaiologias, Athina 4 – 10 Septemvriou 1983 (Athen 1988) 151 – 154

34. zusammen mit A. Rügler – A. Schöne, Die Ausgrabungen im Kerameikos 1986-1987, AA 1989, 81 – 99

35. Die Ausgrabungen im Kerameikos 1988/89, AA 1991, 371 – 388 36. Die Ausgrabungen im Kerameikos 1990/91, AA 1993, 125 – 140 37. Kerameikos. Tätigkeitsbericht 1992 – 1994, AA 1995, 627 – 656 38. zum tod von Franz Willemsen, aW 31, 2000, 207 39. Eine Tanagräerin aus dem Kerameikos, in: D. Damaskos (Hrsg.), Epitymbion Gerhard

Neumann (Athen 2003) 183 – 188 40. Ein Grabmonument der Alkmeoniden im Kerameikos, AM 121, 2006, 127 – 165

rezensionen 41. Rez. zu K. Kübler, Die Nekropole des späten 8. bis frühen 6. Jahrhunderts, Keramei-

kos 6, 2 (Berlin 1970), Gnomon 46, 1974, 198 – 208.

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199Amphiaraos als paradigmatischer Held

AmphiArAos Als pArAdigmAtischer held im klAssischen Athen

(Mit Tafeln 27 – 29)

Zusammenfassung: der argivische held Amphiaraos, der als einer der sieben gegen the-ben kämpfte und von Zeus gerettet wurde, erfuhr im Athen des 5. Jhs. v. Chr. eine beson-dere Aufmerksamkeit. Auffällig ist vor allem die einrichtung des heiligtums bei oropos, die als religiöse manifestation eines realpolitischen gebietsanspruches zu verstehen ist. Amphiaraos wird dabei zum paradigmatischen held, in dessen Zug gegen theben die aktuelle Auseinandersetzung präfiguriert ist. deutlich wird diese Auffassung auch in den attischen Vasenbildern, die Amphiaraos bereits seit archaischer Zeit als leitbild präsen-tieren. erscheint der heros in archaischer Zeit aber noch als identifikationsfigur für die Oberschicht, wird er im 5. Jh. v. Chr. in gewisser Weise verbürgerlicht und so zum my-thischen Vorläufer des attischen hopliten umgedeutet. Zudem scheint das nur während der 2. Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. auftretende Motiv der Bestechung der Eriphyle durch Po-lyneikes ebenfalls antithebanisch konnotiert gewesen zu sein. Nicht zuletzt sind auch die Gründung des Heiligtums in Rhamnous, ebenfalls an der Grenze zu Boiotien, und die einrichtung eines kultes auf der Athener Agora im Zusammenhang mit der rolle des Am-phiaraos als mythischer Vorkämpfer gegen Theben zu betrachten.

Schlagwörter: Amphiaraos; Eriphyle; Rhamnous; Oropos; Sieben gegen Theben.

Abstract: Amphiaraus as a paradigmatic hero in Classical Athens

the Argive hero Amphiaraus, who fought as one of the seven against thebes and was rescued by Zeus, was the subject of particular interest in 5th cent. B.C. Athens. This was shown most conspicuously by the erection of the sanctuary near Oropos, which can be regarded as the religious manifestation of a political and, more specifically, a territorial claim. Amphiaraus in the process became a paradigmatic hero whose campaign against thebes prefigured the conflict in which Athens found itself at the time. this conception of Amphiaraus is evident also in Attic vase paintings which, from the Archaic period on-wards, present the hero as a model. While in Archaic times however he still appears as an identification figure for the ruling class, in the 5th cent. B.C., Amphiaraus becomes to some extent middle-class, being reinterpreted as the mythical precursor of the Attic hoplite. The motif of Eriphyle being bribed by Polynices – which occurs only during the second half of the 5th cent. B.C. – appears moreover to have had an anti-Theban connotation, too. Finally, the founding of the sanctuary at Rhamnous – another town on the border with Boeotia – and the establishment of a cult in the agora of Athens are also to be viewed in connection with Amphiaraus’s role as a legendary campaigner against Thebes.

Keywords Amphiaraus; Eriphyle; Rhamnous; Oropos; Seven against Thebes.

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Der mythische Held Amphiaraos 1, der als einer der sieben am Zug gegen theben teilnahm, erfuhr im Athen klassischer Zeit eine besondere Aufmerk-samkeit und wurde in dieser Phase, ebenso wie der Mythos der Sieben insge-samt, politisch semantisiert 2. Auch die gründung des heiligtums in oropos im späteren 5. Jh. v. Chr. wurde in diesem Kontext bereits überzeugend mit der Expansionspolitik Athens an der Grenze zu Böotien in Zusammenhang gebracht und als religiöse landnahme interpretiert 3. die gleichzeitigen atti-schen Vasenbilder wurden allerdings bislang kaum in diese Überlegungen einbezogen, was im Folgenden versucht werden soll. Ausgegangen wird da-bei von der prämisse, dass die darstellungen auf den Vasen als Zeugen gesell-schaftlicher Diskurse zu verstehen und die dortigen Mythenbilder daher als reflexe eben dieser zu interpretieren sind.

Der Mythos um den in Argos beheimateten und später unter die Götter erhobenen helden Amphiaraos ist aus verschiedenen Quellen gut bekannt 4.

1 Allg. zur Gestalt des Amphiaraos: Krauskopf 1981; Sineux 2007, passim. 2 Vgl. z. B. M. Tiverios, Sieben gegen Theben, AM 96, 1981, 145 – 161; A. Kühr, Als Kadmos nach Boiotien kam (Stuttgart 2006) 145 f. 149. 3 Sineux 2007, 91 – 117 bes. 97 – 109. 4 Die Quellen sind übersichtlich zusammengestellt bei Krauskopf 1981, 691 – 693; Sineux 2007, 23 – 58.

Περίληψη: Ο Αμφιάραος ως παραδειγματικός ήρωας στην κλασική Αθήνα

Ο ήρωας Αμφιάραος από το Άργος, ο οποίος πολέμησε ως ένας από τους Επτά επί Θή-βας και σώθηκε από τον Δία, έχαιρε ιδιαίτερης προσοχής στην Αθήνα του 5ου αι. π. Χ. Η ανέγερση του ιερού του ήρωα στον Ωρωπό αποτελεί ιδιαίτερα ασυνήθιστο γεγονός, το οποίο εκλαμβάνεται ως θρησκευτική δήλωση μίας καθαρά πολιτικής απαίτησης για την περιοχή. Ο Αμφιάραος μετατρέπεται με αυτό τον τρόπο σε έναν παραδειγ-ματικό Ήρωα, στην πορεία του οποίου εναντίον της Θήβας αντανακλάται η σύγχρο-νη αντιπαράθεση. Αυτή η εκδοχή γίνεται ξεκάθαρη και στην αττική αγγειογραφία, η οποία ήδη από την αρχαϊκή περίοδο παρουσιάζει τον Αμφιάραο ως κεντρικό θέμα. Αν και στην αρχαϊκή περίοδο ο ήρωας εμφανίζεται ως αντιπροσωπευτική μορφή της άρχουσας τάξης, μετατρέπεται τον 5ο αι. π. Χ., κατά κάποιο τρόπο, σε αστό και ερ-μηνεύεται πλέον διαφορετικά, ως μυθικός πρόγονος των οπλιτών της Αττικής. Επι-πρόσθετα εμφανίζεται, μόνο κατά τη διάρκεια του δεύτερου μισού του 5ου αι. π. Χ., το εικονογραφικό μοτίβο της δολοφονίας της Εριφύλης από τον Πολυνείκη να λαμβάνει ένα περιεχόμενο κατά της Θήβας. Εν κατακλείδι πρέπει να αντιμετωπιστούν τόσο η ίδρυση του ιερού στο Ραμνούντα, επίσης στα σύνορα με τη Βοιωτία, όσο και η εγκαθί-δρυση της λατρείας στην αθηναϊκή Αγορά σε συνάρτηση με το ρόλο του Αμφιάραου ως μυθικού πρωτεργάτη κατά των Θηβών.

Λέξεις-κλειδιά: Αμφιάραος, Εριφύλη, Ραμνούντας, Ωρωπός, Επτά επί Θήβας.

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Bevor er mit den Sieben zum Zug gegen Theben aufbrach, hatte er an der kalydonischen Eberjagd, am Argonautenzug und an den Leichenspielen des pelias teilgenommen. in Argos selbst hatte er zunächst Adrast als könig ver-drängt, sich aber später mit ihm versöhnt und dessen Schwester Eriphyle geheiratet. dabei verpflichtete er sich, bei einem eventuellen streit zwischen ihm und seinem ehemaligen Kontrahenten das Urteil der Eriphyle als bin-dend anzuerkennen. dieses Versprechen sollte ihm zum Verhängnis werden, denn als Adrast den Zug gegen theben vorbereitete, konnte der mit der se-hergabe ausgestatte Amphiaraos zwar seinen eigenen tod voraussehen, den-selben aber nicht verhindern, da Adrast auf seiner teilnahme bestand und die als Schlichterin eingesetzte Eriphyle der Forderung ihres Bruders stattgab. Ihr Schlichterspruch kam jedoch nicht ohne eine Beeinflussung von außen zustande, denn Polyneikes hatte sie zuvor mit der Halskette, die Hephaistos einst für harmonia gefertigt und die er aus theben mitgebracht hatte, besto-chen. Trotz des Wissens um diese Bestechung und den Verrat an ihm nahm Amphiaraos am Zug teil, gab aber beim Abschied seinem sohn Alkmaion den Auftrag, seinen Tod an Eriphyle zu rächen.

Als es vor Theben schließlich zu der entscheidenden Schlacht kam, bei der sechs der sieben fallen sollten, floh Amphiaraos mit seinem gespann und seinem Wagenlenker Baton vom Schlachtfeld, wobei er von Periklymenos, einem Sohn Poseidons, verfolgt wurde. Bevor dieser ihn aber einholen konn-te, öffnete Zeus mit einem Blitz die Erde und das Gespann des Amphiaraos versank samt dem Wagenlenker in einer Erdspalte. Angekommen im Hades wurde Amphiaraos von den Göttern in den Olymp erhoben und wirkte fort-an als orakel- und heilgott. Als ort der wundersamen rettung galt in der Antike ursprünglich wohl das bei Theben gelegene Cnopia, außerdem auch harma bei tanagra 5. später reklamierte auch oropos den ort des geschehens für sich.

5 Pausanias (9, 19, 4) gibt als Ort der Niederfahrt des Amphiaraos Harma bei Tanagra an und verweist zugleich darauf, dass dies ein anderer ort sei als der, den die thebaner hierfür in Anspruch nähmen. Strabon (9, 2, 11) kennt ebenfalls ein Harma bei Tanagra, wo das Gespann des Amphiaraos im Boden verschwunden sei und das er von einem gleichnamigen Ort in Attika unterscheidet. Kurz vorher (9, 2, 10) berichtet er zudem von dem Heiligtum des Am-phiaraos bei oropos und erwähnt, dass dieses von cnopia bei theben aufgrund eines orakels hierher verlegt worden sei. Zu berücksichtigen ist auch herodot, der zum einen von einer Weihung des Kroisos an Amphiaraos im Ismenion bei Theben (1, 52) und zum anderen von einer Befragung des Orakels des Amphiaraos durch Mys (8, 134) und Kroisos (1, 46) berichtet. Aufgrund dieser zunächst uneinheitlich erscheinenden Überlieferungen konnte bislang keine klarheit darüber erzielt werden, wo genau sich die Amphiaraos-heiligtümer archaischer Zeit befunden haben, vgl. Kühr a. O. (Anm. 2) 233 – 235; Sineux 2007, 66 – 73. A. Schachter, Cults of Boiotia 1 (London 1981) 21 – 23 und ihm folgend Kühr nehmen an, es habe von Anfang an nur das Amphiaraion in Oropos gegeben, das bereits im 6. Jh. v. Chr. bestanden habe. Dass Herodot das Weihgeschenk des Kroisos in Theben sieht, erklärt Schachter mit einer Verschlep-

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die Vasenbilder

Die ersten bildlichen Wiedergaben einzelner Episoden des Amphiaraosmy-thos finden sich im 6. Jh. v. Chr. im Umfeld Korinths 6. nach pausanias war auf der Kypseloslade der Abschied des Amphiaraos aus Argos dargestellt 7, und zwar in dem für die Archaik typischen Schema des Kriegerabschieds mit gespann 8. Einen Reflex dieses Bildes 9 können wir wahrscheinlich in dem sog. Amphiaraos-krater (Taf. 27, 1), einem spätkorinthischen kolonettenkrater ehemals in Berlin fassen 10. Das Gefäß zeigt die ausführlichste erhaltene Wie-dergabe des Abschieds des helden. Amphiaraos besteigt gerüstet sein im pro-fil nach rechts gezeigtes gespann, wendet sich dabei allerdings um und hält, für eine kriegerabschiedsszene eher ungewöhnlich, das gezückte schwert in seiner Rechten. Hinter ihm steht eine größere Gruppe von Personen, die ihn verabschieden. Unter diesen befindet sich auch Eriphyle, die das als Lohn für ihren schiedsspruch erhaltene halsband in den händen hält und der sowohl der Blick ihres Mannes als auch das gezückte Schwert gelten. Im Hintergrund ist eine weit gespannte Architekturdarstellung zu sehen, mit der das haus des Amphiaraos angedeutet werden soll. Vor dem gespann sind weitere perso-nen zu sehen, darunter auch ein am Boden hockender Seher, der seinen Kopf in seine hand stützt.

pung nach einer militärischen Auseinandersetzung. Das Fehlen jeglicher so früher Reste im heiligtum in oropos begründet schachter mit einer Verlegung des heiligtums, auf die sich die Angabe strabons bezöge. cnopia sei demnach ein ort im territorium von oropos, wogegen allerdings die Angabe bei Strabon »ἐκ Κνωπίας δὲ τῆς Θηβαϊκῆς« spricht. Wahrscheinlicher mutet daher die u. a. auch von Sineux 2007, 65 – 73 vertretene Annahme an, dass es tatsächlich ein bei theben gelegenes Amphiaraos-heiligtum gegeben hat, das dem in oropos vorausging. inwiefern es sich bei der heiligtumseinrichtung in oropos tatsächlich um einen Umzug des cnopischen heiligtums oder vielleicht zunächst um eine reine neugründung in konkurrenz zum thebanischen kult gehandelt hat, die nur nachträglich durch ein orakel gerechtfertigt wurde, ist bislang nicht zu klären. 6 Zu den archaischen Wiedergaben des Mythos um Amphiaraos vgl. K. Schefold, Götter- und Heldensagen der Griechen in der Früh- und Hocharchaischen Kunst (München 1993) 280 – 287. 7 Paus. 5, 17, 7 – 8. Vgl. Krauskopf 1981, 695 Nr. 15; R. Splitter, Die »Kypseloslade« in Olym-pia (Mainz 2000) 24 f. Allg. zur Beschreibung der Kypesloslade durch Pausanias A. M. Snod-grass, Pausanias and the Chest of Kypselos, in: S. E. Alcock u. a. (Hrsg.), Pausanias, Travel and Memory in Roman Greece (Oxford 2001) 127 – 141. 8 W. Wrede, Kriegers Ausfahrt in der archaischen Kunst, AM 41, 1916, 222 – 374; Spiess 1992, 29 – 39. 9 Zum Verhältnis zwischen Krater und Kypseloslade vgl. Splitter a. O. (Anm. 7) 107 f. Nr. 180. 10 Krauskopf 1981, 694 Nr. 7; F. Brommer, Vasenlisten zu griechischen Heldensagen 3(mar-burg 1973) 476 C 1. Das Gefäß stammt aus Cerveteri und wurde in Berlin unter der Inv.-Nr. F 1655 aufbewahrt, gilt seit 1945 aber als verschollen.

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In der Darstellung werden Bestechung, Verrat und Rache zwar nicht unmit-telbar dargestellt, doch sind mit dem seher, der halskette und dem gezückten schwert gleich mehrere Verweise auf Vor- und nachspiel des Abschieds ein-gefügt worden. Ähnlich muss auch das Elfenbeinrelief an der Kypseloslade gestaltet gewesen sein, da Pausanias bei seiner Beschreibung das gezückte Schwert und die erkennbare Wut des Amphiaraos besonders hervorhebt, was auch in den übrigen außerattischen archaischen Darstellungen gleicher Thematik in grundsätzlich ähnlicher Weise wiederzufinden ist. Anders zei-gen dagegen die attischen Vasenbilder archaischer Zeit den Abschied 11, was anhand einer beispielhaft ausgewählten tyrrhenischen Amphora in Florenz 12 (Taf. 27, 2) verdeutlicht werden kann. Zwar schreitet Amphiaraos auch hier gerüstet auf sein bereitstehendes gespann zu, doch hat er dabei seinen linken Arm um die schulter eines knaben, wohl seines sohnes Alkmaion, gelegt. Sein Schwert verbleibt in der Scheide und Eriphyle hebt sogar flehend die Hand zu ihm. Selbst das Halsband fehlt hier, so dass im Bild jeglicher Verweis auf die Vorgeschichte des Abschieds unterbleibt. nur der zukünftige Unter-gang des Helden wird durch den vor dem Gespann am Boden hockenden Seher angedeutet. Wie auf der Amphora in Florenz fehlt auch auf den übrigen archaischen Vasenbildern aus Athen stets das motiv des gezückten bzw. gezo-genen Schwertes und damit jeglicher Verweis auf den Zorn des Amphiaraos und die bevorstehende Rache an Eriphyle 13. immerhin wird das halsband als Pfand der Bestechung gelegentlich dargestellt 14, doch wirkt es bei gleichzei-tigem Fehlen des Zornmotivs eher wie ein gewohnheitsmäßiges Attribut der Eriphyle denn als Anspielung auf Bestechung und Verrat.

die deutlichen differenzen in der visuellen Umsetzung derselben episode des gleichen Mythos in zwei verschiedenen Kunstzentren dürften kaum zu-fälliger natur, sondern eher das ergebnis verschiedener inhaltlicher schwer-punktsetzungen durch die maler sein 15, die auf diese Weise auf aktuelle ge-sellschaftliche Diskurse in ihren jeweiligen Poleis reagiert haben dürften 16. in Athen war demzufolge der für die Familie trauervolle Abschied des Helden der interessantere Aspekt im rahmen des Abschieds des Amphiaraos, wo-gegen Verrat und Zorn zumindest in diesem Zusammenhang nebensächlich waren. Die große Beliebtheit gerade des Amphiaraos als Protagonist in den

11 Krauskopf 1981, 694 – 696 Nr. 8 – 13. 19 – 21. 12 Florenz Mus. Arch. 3773. ABV 95, 8 und Para 34; Krauskopf 1981, 694 Nr. 9 Taf. 556. 2. Viertel des 6. Jhs. 13 Krauskopf 1980, 111 f.; Krauskopf 1981, 707. 14 So z. B. auf dem Fragment eines Lekanisdeckels in Athen, Krauskopf 1981, 694 Nr. 8, oder auf einer weiteren tyrrhenischen Amphora in Basel, Krauskopf 1981, 694 Nr. 10. 15 Krauskopf 1980, 111 f. 16 Die Frage, warum in Korinth gerade der Zorn des Amphiaraos eine so wichtige Rolle spielte, lässt sich aufgrund des derzeit noch sehr unzureichenden Forschungsstandes zu den korinthischen Mythenbildern insgesamt kaum beantworten.

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Abschiedsbildern resultierte möglicherweise auch aus der tatsache, dass die-ser sich bei seinem Abschied seines künftigen todes bewusst war 17, worauf der häufig anwesende seher deutlich hinweist. dadurch ergibt sich eine enge Parallele zu Achill, der besonders in der ersten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. die kriegerabschiedsszenen dominiert 18 und dem ebenfalls sein tod bereits vor seinem Abschied vorausgesagt worden war. ebenso wie also Achill sich se-henden Auges für den ruhm und damit für den sicheren tod entscheidet, so beugt sich auch Amphiaraos seinem schicksal und zieht mit den sieben gegen theben in seinen Untergang. diese opferbereitschaft der beiden helden, die am Ende auf ihre jeweilige Art und Weise belohnt wurde, mag sie zu idealen Vorbildern für die aristokratische gesellschaft im archaischen Athen gemacht haben. Den Bedürfnissen dieser aristokratischen Elite kommt auch das auf beinahe allen archaischen darstellungen unabhängig von ihrer provenienz dargestellte Gespann samt Wagenlenker entgegen, mittels dessen das Gesche-hen in eine heroische, vorbildhafte Vergangenheit projiziert wird 19. daneben impliziert der Wagen auch einen Hinweis auf die Rettung des Helden durch Zeus. die daraus resultierende Apotheose scheint freilich erst in der späten Archaik oder der Frühklassik dem Mythos hinzugefügt worden sein 20, kann also auf den früheren Vasenbildern noch keine rolle spielen.

Besonders beliebt sind die Darstellungen des Abschieds des Amphiaraos in der attisch-schwarzfigurigen Malerei des 6. Jhs. v. Chr., wo wir die meis-ten entsprechenden darstellungen finden können 21. das thema bleibt auch in der zweiten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. attraktiv, obwohl in dieser Phase die Anzahl der sonstigen Mythenbilder aus dem Umkreis der Sieben gegen The-ben deutlich zurückgeht. Das Interesse an Amphiaraos als mythischer Figur war also nicht primär durch seine teilnahme am Zug der sieben begründet, sondern durch seine individuelle lebensgeschichte und hier vor allem durch seine Trennung von der Familie mit dem sicheren Tod vor Augen, wenn wir die Bilder so verstehen dürfen.

17 Diesen Umstand führt Lohmann auch für die spätere Beliebtheit des Amphiaraosmythos auf apulischen Krateren an. H. Lohmann, Der Mythos von Amphiaraos auf apulischen Vasen, Boreas 9, 1986, 70. 18 Spiess 1992, 38. 97 f. 19 Wrede a. O. (Anm. 8) 254; Spiess 1992, 93 – 95. Eine Ausnahme stellt lediglich eine attische schwarzfigurige Lekythos aus Cerveteri (Krauskopf 1981, 696 Nr. 23) dar, die eine sehr unge-wöhnliche Fassung des Abschieds des Amphiaraos zeigt. Der Heros erscheint ohne Gespann als Fußsoldat und Eriphyle hält das als Bestechung erhaltene Halsband in der Hand. Aber selbst hier fehlt wieder ein Hinweis auf den Zorn des Amphiaraos. Vgl. Spiess 1992, 51 – 53. 88. 20 Nachrichten über ein Fortleben des Amphiaraos und seine Erhebung unter die Götter finden sich erstmals bei Pindar (P. 8, 38 – 55) und Aischylos (Sept. 568 – 589), während vor-her noch vom Tod des Helden vor Theben berichtet wird (Hom. Od. 15, 243 – 248). Vgl. Kühr (a. O. Anm. 2) 139 f. 233 – 235. 21 Krauskopf 1980, 113 f.; Krauskopf 1981, 708 f.

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Im frühen 5. Jh. v. Chr. ist zunächst ein Rückgang in der Zahl der Darstel-lungen des Abschieds des Amphiaraos festzustellen. Eines der letzten Gefäße, das Amphiaraos mit einem Gespann zeigt, dürfte eine um 490 – 480 v. Chr. entstandene schale des kleophradesmalers in Athen sein 22. der namentlich nicht bezeichnete Krieger ist beim Besteigen eines Viergespannes zu sehen, wobei er mit der rechten hand ein in der scheide steckendes schwert von einer Frau entgegennimmt. Das Zornmotiv fehlt auch hier wieder, im Gegen-teil ist es sogar Eriphyle, die ihrem Mann das Schwert überreicht.

noch vor der mitte des 5. Jhs. erwacht erneut ein starkes interesse an dar-stellungen des Abschieds des Amphiaraos 23, doch anders als die früheren Va-sen zeigen die nun entstehenden den helden nicht mehr mit einem auf die heroische Vergangenheit verweisenden gespann, sondern in aller regel als Fußsoldat und damit in der Rüstung eines zeitgenössischen Hopliten. Das Zornmotiv tritt in der attischen Vasenmalerei weiterhin nicht in erscheinung. So zeigt beispielsweise eine fragmentierte Hydria in St. Petersburg 24 Amphia-raos im leinenpanzer mit piloshelm und lanze. in dieser darstellung reicht er Eriphyle sogar die Hand zum Abschied, was ihre Verbundenheit deutlich hervorhebt. rechts dieser szene ist der kleiner dargestellte und erhöht ste-hende Baton zu sehen, dessen Gespann aus Platzgründen aber nicht darge-stellt gewesen sein kann 25. eine vergleichbare darstellung zeigt eine etwas jüngere, ebenfalls fragmentierte Hydria in Boston 26 (Taf. 28, 1). Amphiaraos wird wiederum als Fußsoldat wiedergegeben, der sich hier in häuslicher At-mosphäre von Frau und Kind verabschiedet, um in den Krieg gegen Theben zu ziehen. Auf beiden Vasen erscheint Amphiaraos wie auch auf den übrigen klassischen Vasenbildern als Hoplit und damit nicht anders als ein typischer athenischer Bürger dieser Zeit. Er ist somit nicht mehr der Heros aus mythi-schen Zeiten, welcher der archaischen Aristokratie als Vorbild dienen sollte. Stattdessen wird er geradezu ›verbürgerlicht‹ und auf diese Weise zu einem Paradigma für alle athenischen Bürger, die gerade in dieser Zeit mehrere mi-litärische Konflikte gegen Theben und den boiotischen Bund auszufechten hatten. Allerdings bleibt das phänomen einer ›Verbürgerlichung‹ nicht auf Abschiedsszenen des Amphiaraos beschränkt; bereits seit dem späten 6. Jh. v. Chr. zeigen auch die anonymen Kriegerabschiedsbilder zunehmend selte-ner ein Gespann und immer häufiger Fußsoldaten in Hoplitenrüstung 27.

22 Athen, Nat. Mus. Acrop. 2.336. ARV2 192, 105; Tiverios a. O. (Anm. 2) 145 – 161; Krauskopf 1981, 703 Nr. 73; Spiess 1992, 253 Nr. C6. 23 Zu den klassischen Vasenbildern des Amphiaraosmythos vgl. K. Schefold – F. Jung, Die sagen von den Argonauten, von theben und troia in der klassischen und hellenistischen Kunst (München 1989) 70 – 74. 24 Eremitage Nr. B 1845. ARV2 605, 64; Krauskopf 1981, 696 Nr. 24. 25 Krauskopf 1981, 696. 26 ArV2 1011, 16; Krauskopf 1981, 697 Nr. 25. 27 Spiess 1992, 155 f. mit entsprechender Interpretation dieses Wandels.

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Eine sehr eng an einem Bürgerideal orientierte Vorstellung des Amphiaraos begegnet uns auf einer Hydria in Berlin 28 (Taf. 28, 3). Auf dem um 430 v. Chr. entstandenen Vasenbild trägt der Held statt einer Rüstung und Waffen ein Hi-mation und steht mit überkreuzten Beinen auf einen Stock gestützt am linken Bildrand. Er blickt zu der in der Bildmitte sitzenden, den kleinen Alkmaion stillenden Eriphyle, die ihrerseits zu zwei Hähnen zu ihren Füßen schaut, die sich mit vorgestreckten Köpfen anstarren – zweifellos das Vorspiel zu einem Kampf. Rechts wird das Bild von einer nach links gewandten Frau mit Spin-del abgeschlossen, in der entweder die älteste Tochter der Eriphyle Demo-nassa 29 oder aber eine Dienerin zu erkennen ist. In jedem Fall verortet die Anwesenheit dieser Figur die Szenerie im Bereich des familiären Oikos, was durch die Spindel in ihrer Hand und einen Wollkorb neben ihr verdeutlicht wird. Die Figurentypen entsprechen weitgehend denen, die von häuslichen Idealdarstellungen bekannt sind, wodurch der mythische Held vollkommen verbürgerlicht erscheint. Einzig die Hähne stören dieses Bild familiärer Idylle, weshalb sie als Anspielung auf Verrat und rache, also den konflikt zwischen Amphiaraos und Eriphyle interpretiert wurden 30. da sich in der attischen Vasenmalerei des 5. Jhs. v. Chr. aber sonst kaum ein Bild findet, das den of-fenen Konflikt zwischen Amphiaraos und Eriphyle thematisieren würde 31, und auch die älteren attischen Vasenbilder das Zornmotiv ausblenden, mu-tet diese Deutung wenig überzeugend an. Angesichts der Beliebtheit der Ab-schiedsszenen dürften die kampfbereiten hähne daher wohl eher als hinweis auf den bevorstehenden kampf der sieben gegen theben zu verstehen sein 32, zu dem Amphiaraos bald aufbrechen und daher Haus und Familie verlassen

28 Berlin F 2395. M. Mayer, Alkmeons Jugend, AZ 43, 1885, 240 – 247; Krauskopf 1981, 697 Nr. 27; CVA Berlin (9) Taf. 26. 29 Auf eine solche Benennung verweisen auch die noch erkennbaren Buchstaben der Bei-schrift (ΔΗΜ...). Zu diesen vgl. Mayer a. O. (Anm. 28) 243 Anm. 3; Krauskopf 1981, 697 Nr. 27; Sineux 2007, 44. Anders E. Böhr, CVA Berlin (9) 51, die als Beischrift ΔΗΜΩΝΑΣΣΑ angibt. Auf den publizierten Bildern ist die Beischrift nicht zu erkennen. 30 Krauskopf 1981, 709. E. Böhr, CVA Berlin (9) 52, schreibt, die Hähne wiesen »auf das nahende Unheil« hin. Sie seien zudem »Zeichen des seelischen Zwiespalts der Eriphyle«. 31 Anders hat Gerda Schwarz, Der Abschied des Amphiaraos, ÖJh 57, 1986/87, 39 – 54 bes. 49 – 52 einige der klassischen Vasenbilder interpretiert. So erkennt sie in dem Vasenbild eines vermutlich den Abschied des Amphiaraos zeigenden Stamnos (Krauskopf 1981, 703 Nr. 73a) einen »prüfenden Blick der Gattin« sowie ein Verhalten der Eriphyle, das »ihr schlechtes Ge-wissen nur allzu deutlich verrät«. Diese Interpretationen scheinen aber eher durch das Wissen um den mythischen Hintergrund als durch wirkliche Beobachtungen motiviert zu sein. 32 Vgl. Sineux 2007, 44, der in den Hähnen ebenfalls ein Zeichen des Krieges sieht, in dem Vasenbild insgesamt jedoch wiederum einen Hinweis auf den bevorstehenden Auftrag des Amphiaraos an seinen Sohn zur Rache an der Mutter erkennt. Für ihn ist vor allem der Blick des sohnes zum Vater entscheidend, doch wäre dieser auch in einem häuslichen rahmen und im Bezug auf den bevorstehenden Abschied verständlich.

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muss. In der historischen Realität der Zeit um 430 v. Chr. erhält dieses Bild natürlich eine besondere Bedeutung, steht doch den wehrpflichtigen atheni-schen männern das gleiche schicksal bevor.

Eine gesonderte Betrachtung verdient noch die Kleidung des Amphiaraos auf der Berliner Hydria. Wie bereits erwähnt ist er hier statt mit der üblichen rüstung 33 mit einem Himation und zusätzlich einer Binde im Haar bekleidet. damit erscheint er gänzlich unmilitärisch, was vielleicht auch die hinzufü-gung der Hähne erklärt, da diese den im Bild sonst völlig fehlenden Hinweis auf eine bevorstehende kriegerische Auseinandersetzung präsent halten. Un-gewöhnlich und im Vergleich zu den bisherigen darstellungen des Amphia-raos neu ist aber nicht nur dessen kleidung, sondern auch sein standschema, das ihn mit überkreuzten Beinen auf einen Stock gestützt zeigt. In der Folge-zeit wird Amphiaraos allerdings häufiger in dieser haltung und mit dieser Ikonographie dargestellt, nämlich in seiner Funktion als Heil- und Orakel-gott. die erhaltenen reliefs und statuen insbesondere aus oropos, rhamnous und Athen präsentieren Amphiaraos in, grob gesagt, zwei verschiedenen dar-stellungsweisen 34. Entweder wird der Heilgott in einer Frontalansicht mit in die schulterbeuge gestütztem stock 35 gezeigt oder aber in einer dreiviertelan-sicht mit überkreuzten Unterschenkeln auf einen stock gestützt 36 (Taf. 29, 1), wie er auch auf der Berliner Hydria zu sehen ist. Innerhalb dieser beiden gundschemata wird vor allem die drapierung des mantels noch variiert, der mal mehr und mal weniger vom oberkörper frei lässt.

Die auf Amphiaraos hier angewandte Ikonographie ist typisch für Heilgöt-ter und dürfte derjenigen entsprechen, die auch für das Kultbild in seinem heiligtum in oropos Anwendung fand, wo dieser eben als heil- und orakel-gott verehrt wurde. ein unmittelbares motivisches Abhängigkeitsverhältnis der genannten darstellungen von dem kultbild muss dabei allerdings nicht zwangsläufig angenommen werden, da für den Wandel der Ikonographie pri-mär das neue Verständnis des ehemals in erster linie als krieger gesehenen Heros als Heil- und Orakelgott verantwortlich zu machen ist. Die Berliner Hydria, auf der diese Ikonographie das erste Mal begegnet, belegt somit, dass diese neue Sicht auf Amphiaraos in Athen bereits um 430 v. Chr. bekannt war.

33 Alle unzweifelhaft benennbaren älteren darstellungen des Amphiaraos zeigen ihn gerüs-tet. Tiverios a. O. (Anm. 2) 154 – 156 hat allerdings in einem älteren, mit einem langen Chiton und Mantel gekleideten Mann auf einer Hydria in der Slg. Borowski Amphiaraos erkennen wollen, doch könnte es sich hierbei auch um Adrast handeln. eine namensbeischrift fehlt leider. 34 Vgl. Krauskopf 1981, 710 f. 35 Krauskopf 1981, 701 f. Nr. 54 – 56. 65. Vgl. M. Meyer, Ein Torso im Typus Doria. Asklepios oder Amphiaraos, MusBenaki 1, 2001, 21 – 32; Sineux 2007, 208 f. 36 Krauskopf 1981, 702 Nr. 61. 63. 64. Auf Taf. 29, 1 ist ein Weihrelief aus Oropos in Athen zu sehen (Nationalmuseum Inv. Nr. 3369)

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neben dem ›Abschied des kriegers‹ begegnet in der attischen Vasenma-lerei seit dem zweiten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. noch ein anderes Thema aus dem Umfeld des Mythos um Amphiaraos. In dieser Zeit wird – erstmals in der griechischen Kunst überhaupt – die Bestechung der Eriphyle durch Poly-neikes zum Thema bildlicher Wiedergaben gemacht (Taf. 28, 2) 37. insgesamt elf entsprechende darstellungen sind bekannt, von denen acht erst aus der 2. hälfte des 5. Jhs. stammen 38. das thema erfreute sich allerdings nur einer recht kurzen Beliebtheit, denn bereits im frühen 4. Jh. verschwindet es wie-der aus dem repertoire der Vasenbilder. da sich zudem kaum entsprechende Darstellungen außerhalb der attischen Vasenmalerei finden, es sich also um ein chronologisch und geographisch eng eingegrenztes phänomen handelt, dürften aktuelle ereignisse und diskurse für die themenwahl verantwort-lich sein 39. Dabei kann das plötzliche Interesse an dieser Episode des My-thos kaum völlig losgelöst von der gleichzeitigen Vorliebe für den Abschied des Amphiaraos betrachtet werden. Galt letzterer als mythisches Paradigma des attischen Bürgers im Krieg gegen Theben, dürfte die Bestechung der Eri-phyle durch den Thebaner Polyneikes, die zum Verrat an Amphiaraos führ-te, als Anspielung auf die handlungsweise der thebaner verstanden worden sein, deren Verhalten während der perserkriege weithin als Verrat an allen griechen galt 40. Dieses unredliche Treiben fand zudem seine Fortsetzung im Überfall Thebens auf Plataiai zu Beginn des peloponnesischen Krieges, was zumindest auf athenischer seite als Vertragsbruch angesehen wurde 41.

So wie sich also Polyneikes heimtückischer und ehrloser Mittel bediente, als er Eriphyle mit einem Geschmeide göttlicher Herkunft 42 zum Verrat an

37 Auf Taf. 28, 2 ist exemplarisch das Vasenbild auf einer Oinochoe in Ferrara (Mus. Naz. 3914) zu sehen, die aus Spina stammt und ins letzte Viertel des 5. Jhs. v. Chr. zu datieren ist. Vgl. LIMC III 1 (1986) s. v. Eriphyle I 845 Nr. 9 (A. Lezzi-Hafter); CVA Ferrara 1 10 Taf. 24, 3 – 4. 38 Darstellungen mit der Übergabe des Halsbandes finden sich beinahe ausschließlich in der attischen Vasenmalerei, und zwar ab dem 2. Viertel des 5. Jhs. v. Chr. Außerhalb Attikas begegnet das thema nur auf zwei frühlukanischen Vasen aus dem letzten Viertel des 5. Jhs. (LIMC III 1 [1986] s. v. Eriphyle I 845 Nr. 11. 18 [A. Lezzi-Hafter]). Zum Auftreten allg. LIMC III 1 (1986) s. v. Eriphyle I 844 f. (A. Lezzi-Hafter); Schwarz a. O. (Anm. 31) 52 – 54. 39 Anders Schwarz a. O. (Anm. 31) 53 f., die als Auslöser für die plötzliche Beliebtheit eine tragödienaufführung vermutet. 40 Herodot (7, 205) berichtet, dass Theben bei den Thermopylen zwar ein Kontingent auf Seiten der Griechen stellte, dabei aber bereits an Verrat dachte. In 7, 233 beschreibt er, wie die thebaner in der schlacht dann die seiten wechselten. 41 Thuk. 2, 2 – 7. 42 das als geschenk übergebene halsband, das ursprünglich von hephaistos für harmonia gefertigt wurde, taucht auch in anderen Mythen auf, die sich zeitlich an den der Sieben gegen Theben anschließen. Auch dort ist das Halsband der Harmonia, ganz anders als der Name es vermuten lassen würde, stets ein Auslöser von Zwietracht und mord.

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Amphiaraos erpresste, so hat sich auch theben in den perserkriegen schänd-lich verhalten und später in heimtückischer Art die Verbündeten Athens über-fallen. Sein Paradigma findet dieses ehrlose Handeln also in der Bestechung der Eriphyle, dem Auslöser für den Verrat an Amphiaraos. Das erklärt auch, warum die Übergabe des halsbandes als Auslöser der treulosigkeit und nicht etwa diese selbst, also etwa der schiedsspruch gezeigt wird 43. Urheber des Unglücks ist der Thebaner Polyneikes, dessen ehrloses Verhalten deutlich ge-zeigt werden soll. Eriphyle kann dem Geschenk aufgrund dessen Herkunft nicht widerstehen, sie ist selbst geradezu ein Opfer des Polyneikes. Der Un-tergang des Amphiaraos wird somit nicht Eriphyle, sondern Polyneikes 44 und damit Theben angelastet. In der Wiedergabe des Bestechungsaktes ist der spätere Verrat zwar implizit, er wird aber nicht derart inszeniert, dass die positive Sichtweise der Eriphyle in den Abschiedsszenen davon beeinträch-tigt werden könnte.

dennoch erscheint es kaum möglich, die hier vorgeschlagenen interpreta-tionen der beiden Episoden des Mythos in einen stringenten Erzählzusam-menhang zu ordnen, innerhalb dessen die jeweilige Konnotation der Figuren in gleicher Form erhalten bliebe – dies ist jedoch auch gar nicht notwendig. Die Mythenbilder erscheinen niemals zusammen auf einem Gefäß. Sie prä-sentieren unterschiedliche Episoden des Mythos, die inhaltlich verschiedene Assoziationen erlauben, um reale politische entwicklungen und ereignisse paradigmatisch zu visualisieren. eine narrative stringenz auf der ebene des Mythos ist dabei nur in den Grenzen der für die Darstellung ausgewählten Episode nötig, nicht aber im Bezug auf andere, nicht oder in anderen Zusam-menhängen wiedergegebene erzählabschnitte 45.

43 eine darstellung des schiedsspruches findet sich möglicherweise auf einem attisch-rotfi-gurigen kolonettenkrater aus dem zweiten Viertel des 5. Jhs. in neapel (krauskopf 1981, 702 Nr. 69; ARV2 511, 2). Das Vasenbild zeigt zwei Krieger, die mit gezückten Schwertern aufein-ander losgehen wollen, aber von zwei Unbewaffneten zurückgehalten werden. Zudem drängt sich eine Frau zwischen die beiden, in der vielleicht Eriphyle erkannt werden darf, die den streit zwischen Adrast und Amphiaraos schlichten will. 44 Auffällig ist auch die zumeist fremdländisch anmutende oder zumindest auf einen rei-senden hinweisende Tracht des Polyneikes, auf die schon Lezzi-Hafter (LIMC III 1 [1986] s. v. Eriphyle I 846 [A. Lezzi-Hafter]) aufmerksam gemacht hat. Dadurch wird Polyneikes zunächst als eindringling in den häuslichen oikos charakterisiert, darüber hinaus könnte seine teils sehr ungriechische gewandung aber auch als hinweis auf die kollaboration thebens mit den persern verstanden werden. 45 Vgl. T. Hölscher, Griechische Historienbilder des 5. und 4. Jhs. v. Chr. (Würzburg 1973) 72.

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erkennen wir also in dem argivischen helden Amphiaraos ein für Athen bedeutsames mythisches Paradigma für den Kampf gegen Theben 46, stellt sich die Frage nach den Entwicklungen, die zu dieser Sicht auf den Helden geführt haben. die semantische Aufladung der gestalt des Amphiaraos setzte nicht erst mit dem peloponnesischen krieg ein, worauf der Anstieg von thematisch relevanten Vasenbildern bei deutlich veränderter ikonographie bereits kurz vor der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. hinweist. Als nahe liegende Auslöser kom-men das Verhalten Thebens in den Perserkriegen und in besonderem Maße das Bündnis Thebens und des böotischen Bundes mit Sparta sowie zuletzt der in nicht unerheblichem Maße auf dieses Bündnis zurückzuführende sog. erste Peloponnesische Krieg in Betracht, der in die Jahre 457 – 446/445 v. Chr. fällt. die spannungen zwischen Athen und theben hielten auch nach dem Friedensschluss an. So war es dann auch Theben, das 431 v. Chr. den zweiten peloponnesischen krieg mit einem nächtlichen Überfall auf die mit Athen ver-bündete stadt plataiai einläutete.

parallel zu dem konflikt mit theben entwickelte sich zudem ein bald nach den Perserkriegen geschlossenes Bündnis mit Argos 47, der heimat des Am-phiaraos, was wiederum eine Präfiguration im Mythos finden konnte. So nahm Athen für sich in Anspruch, nach der verlorenen schlacht der sieben gegen Theben die von Kreon zunächst verweigerte Bestattung der Gefallenen erwirkt zu haben, nachdem Adrast das von theseus regierte Athen um hilfe gebeten hatte. die gefallenen helden wurden daraufhin in eleusis, also in Attika begraben, wo sie ein heroon erhielten 48. der kampf der sieben gegen Theben begegnet nun gerade in der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. besonders häufig auf attischen Vasenbildern, was in der Forschung bereits seit Langem mit dem realen konflikt mit theben in Verbindung gebracht wird 49. Auch den Tragödien des Euripides und des Aischylos, die den thebanischen Sagenkreis

46 Dass der Mythenkreis der Sieben gegen Theben in Athen eine starke antithebanische Konnotation besaß, steht außer Zweifel, wie Tiverios a. O. (Anm. 2) 145 – 161 deutlich gezeigt hat. Vgl. auch i. krauskopf, i miti tebani nell’iconografia di alte regioni greche, in: p. Angeli Bernaridini (Hrsg.), Presenza e funzione della città di Tebe nella cultura greca, Atti del Conveg-no Internazionale Urbino 1997 (Pisa 2000) 291 – 315; Kühr a. O. (Anm. 2) 145 f. 149. So erklärt sich auch die Beliebtheit entsprechender Darstellungen im 5. Jh. Auch die Anbringung eines Wandgemäldes gleichen Themas im Pronaos des Tempels der Athena in Plataiai (Paus. 9, 4, 2. Vgl. K. Jeppesen, Dilemma der Sieben gegen Theben, ActaArch 41, 1970, 178 f.) noch vor der mitte des 5. Jhs. ist in diesen Zusammenhang einzuordnen. 47 thuk. 1, 102. 48 ein sichtbares grab für die heerführer aus dem Zug der sieben in der nähe von eleusis erwähnen Pausanias (1, 39, 2) und Plutarch (Thes. 29, 4). Vgl. D. Boehringer, Heroenkulte in Griechenland von der geometrischen bis zur klassischen Zeit (Berlin 2001) 63 f. 49 LIMC VII (1994) s. v. Septem 745 (I. Krauskopf). 50 Zusammenfassend mit weiterer Literatur: Tiverios a. O. (Anm. 2) 151 – 154. Speziell zu den Tragödien: G. Zuntz, The Political Plays of Euripides (1955) 3. 55. 71 f. 88 f.

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thematisieren, wird allgemein eine politische Aussage im hinblick auf den schwelenden konflikt zwischen Athen und theben zugeschrieben 50.

Auffällig ist auch eine inhaltliche Veränderung des Mythos im Laufe des 5. Jhs. v. Chr. im Bezug auf das Eingreifen des Theseus nach der Niederlage der sieben vor theben, die plutarch bezeugt 51. seinen Ausführungen zufolge erreichte Theseus die Herausgabe der Gefallenen in dem im Jahre 467 v. Chr., also zu Friedenszeiten aufgeführten Drama des Aischylos noch durch Ver-handlungen, während in den 422 v. Chr. aufgeführten Hiketiden des Euri-pides ein kriegszug gegen theben notwendig wird, um das gleiche Ziel zu erreichen. Auch darin könnten sich die historischen ereignisse und der inzwi-schen eskalierte konflikt mit theben widerspiegeln.

Amphiaraos als derjenige der argivischen Helden, der von Zeus vor dem tode auf dem schlachtfeld bewahrt und später unter die götter aufgenom-men wurde, erscheint somit als geradezu idealer spiegel der realpolitischen Verhältnisse 52. euripides lässt theseus, den athenischen ›nationalhelden‹, in den hiketiden bemerken, dass die götter selbst Amphiaraos durch sein Ver-schwinden in der Erde wahrhaftig gesegnet hätten (εὐλογοῦσιν ἐμφανῶς) 53. Der Ort dieses Verschwindens ist Schauplatz göttlichen Wirkens; im Eingrei-fen des Zeus manifestiert sich die göttliche Unterstützung für den argivischen Helden. Der dabei zugrunde liegenden Version des Mythos folgend kann die-ser ort sakraltopographisch also kaum von thebanischer seite beansprucht werden, ereignete sich hier doch ein zumindest nach athenischer sichtweise nicht gerade prothebanisches eingreifen von göttlicher seite.

51 Plut. Thes. 29, 4, 5. Dieser erklärt die Veränderung mit einer prothebanischen Mythen-variante bei Aischylos und einer antithebanischen bei Euripides. Schon Kühr a. O. (Anm. 2) 143 – 145 bezweifelte, dass Plutarch damit die wahren Hintergründe erfasst hat. 52 eine vergleichbare interpretation hat tonio hölscher für die darstellung des kampfes des Bellerophon gegen die Chimaira als Akroter am Niketempel in Athen vorgeschlagen. Sei-nen Überlegungen nach handelt es sich hierbei um einen ›Vorläufer-Mythos‹ für den Kriegs-zug der Athener nach Lykien zu Beginn des Peloponnesischen Krieges. T. Hölscher, Bellero-phon am Tempel der Athena Nike und der Feldzug des Melesandros in Lykien, in: Studien zur Religion und Kultur Kleinasiens und des ägäischen Bereiches. Festschrift für Baki Öğün zum 75. Geburtstag, AMS 39 (Bonn 2000) 99 – 105. 53 Eurip. Hiket. 926 – 927. Die besonderen Umstände der Rettung des Amphiaraos werden auch auf zwei attischen Vasen des 5. Jhs. v. Chr. thematisiert. Eine weißgrundige Lekythos aus dem 2. Viertel des 5. Jhs. (Krauskopf 1981, 698 Nr. 37) zeigt das versinkende Gespann, über dem zwei Vögel mit Kranz bzw. Schlangen in den Fängen erscheinen. Der Fokus der Darstel-lung liegt hier klar auf der rettung des helden. Auf einem rotfigurigen Volutenkrater aus der Zeit um 450 (Krauskopf 1981, 697 Nr. 28; ARV2 612, 1) ist ebenfalls das versinkende Gespann zu sehen, doch ist es dort in eine vielfigurige Wiedergabe der Kämpfe vor Theben eingebun-den und steht wohl nicht im Zentrum der Aussage.

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das heiligtum in oropos

Vor diesem hintergrund erhält die einrichtung des heiligtums in oropos kurz vor oder in der Frühphase des Peloponnesischen Krieges eine besondere Bedeutung, erscheint diese doch geradezu als mythische Begründung für und manifestierung des realpolitischen gebietsanspruches 54. Üblicherweise wird für die Heiligtumsgründung in Oropos ein Zeitpunkt zu Beginn des letzten Viertels des 5. Jhs. v. Chr. bis um 420 v. Chr. vermutet 55. entscheidend für die-sen Ansatz sind die zweifellos richtige Annahme einer athenischen initiative zur gründung, was eine kontrolle Athens über dieses gebiet voraussetzt 56, sowie Überlegungen zu einem Zusammenhang mit der etablierung des As-klepioskultes in Athen um 420 v. Chr. 57. einen klaren terminus ante quem für die einrichtung des heiligtums bildet die fragmentarisch erhaltene komödie des Aristophanes »Amphiaraos«, die 414 v. Chr. in Athen aufgeführt wurde 58 und in welcher auch der kurbetrieb in oropos thematisiert wird. die grabun-gen im Areal des heiligtums brachten mit Ausnahme einer frühklassischen herme 59 keine Funde oder gar Strukturen ans Licht, die deutlich vor das Jahr der Aufführung zu datieren wären, weshalb das heiligtum nicht erheblich äl-ter sein dürfte 60. Eine Entstehung in den späten 430er Jahren wäre allerdings noch problemlos denkbar und aufgrund der obigen Überlegungen m. E. durchaus zu erwägen. Allerdings beschreibt Thukydides, dass die Spartaner 431 v. Chr. auf ihrem Rückweg aus Attika Oropos und sein Umland verwüstet hätten 61, was angesichts der tatsache, dass sich im heiligtum keine spuren einer frühen Zerstörung fanden, darauf hinweisen könnte, dass es erst nach 431 v. Chr. gegründet wurde. Thukydides spricht jedoch nur von einer Ver-wüstung des landes, nicht von einer schändung von heiligtümern, was eine heranziehung dieser Angaben als terminus post quem für die heiligtumsgrün-dung zumindest unsicher erscheinen lässt.

in diesem Zusammenhang ist auf eine eigentümliche Angabe bei hero-dot einzugehen, der eine ungewöhnliche diskriminierung der thebaner im orakelkult des Amphiaraos beschreibt 62. seinen Angaben zufolge dürften die

54 Sineux 2007, 97 – 109. 115 – 117. 55 Zusammenfassend mit Kommentar Sineux 2007, 76 – 78. 56 Thukydides (2, 23) belegt, dass Oropos bereits vor dem peloponnesischen Krieg unter der kon trolle Athens stand. 57 E. Kearns, The Heroes of Attica (London 1989) 18; Sineux 2007, 78. 58 die Aufführung ist durch die nennung des Archonten charias datiert. Vgl. J. m. ed-monds, The Fragments of Attic Comedy I (Leiden 1957) 576. 59 Πετράκος 1968, 121 Nr. 15 Taf. 37; Πετράκος 1997, 256 f. Nr. 334; Sineux 2007, 75 f. mit Anm. 70. 60 Zur der abweichenden Auffassung von Schachter und Kühr s. hier Anm. 5. 61 Thuk. 2, 23. 62 Hdt. 8, 134.

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Einwohner Thebens im Heiligtum im Gegensatz zu fremden Besuchern keine Orakel erfragen. Begründet sei dieser Ausschluss durch ein von Amphiaraos selbst gegebenes Orakel, durch das er die Thebaner vor die Wahl gestellt habe, ob sie ihn als Bundesgenossen oder Orakelgott haben wollten. Diese hätten sich für die Bundesgenossenschaft entschieden, weshalb es keinem Thebaner erlaubt sei, in dem heiligtum den heilschlaf zu nehmen.

herodot spezifiziert an dieser stelle nicht, über welches heiligtum er spricht bzw. wo das gemeinte genau liegt. die heiligtümer bei theben oder tanagra kommen jedoch kaum in Frage, wäre ein Ausschluss der Thebaner von einem Kultgeschehen im eigenen Territorium doch kaum verständlich. Begründen ließe sich eine solche Kultpraxis dagegen für das auf Initiative Athens neu gegründete heiligtum in oropos 63, wenn die oben geäußerten Überlegungen zum hintergrund der kulteinrichtung das richtige treffen. Allerdings sind Herodots Historien wohl spätestens 424 v. Chr. abgeschlossen gewesen 64, weshalb das heiligtum in oropos, wenn herodot von diesem spricht, etwas früher als gemeinhin angenommen gegründet worden sein müsste, vielleicht sogar noch kurz vor dem peloponnesischen krieg. die von herodot genann-te, zweifellos von thebanischer Seite verbreitete Begründung der religiösen diskriminierung wäre somit als reaktion auf die kulteinrichtung und als Versuch zu verstehen, den ehemals vor allem im thebanischen herrschaftsbe-reich kultisch verehrten, nun aber von Athen vereinnahmten heros ›zurück-zugewinnen‹. Athen und theben führten demnach im Vorfeld bzw. parallel zu den militärischen Auseinandersetzungen allem Anschein nach auch einen Kampf um die mythischen Gestalten und ihre Inanspruchnahme als Vorbil-der und Begründung für ihr reales politisches Handeln.

ein besonderes Augenmerk verdienen in diesem Zusammenhang auch die bei der einrichtung des Amphiaraions oder kurz danach begründeten spiele, die Amphiaraia 65. Zu diesen zählte auch ein Apobatenwettkampf, der durch zwei entsprechende reliefs (Taf. 29, 2) 66 aus dem heiligtum und

63 Kühr a. O. (Anm. 2) kommt zu dem Schluss, dass das Orakel und die Wahl nachträgliche erfindungen zur erklärung eines realen kultausschlusses seien. Auch sie bezieht die Angaben Herodots auf Oropos, da sie Schachter (vgl. hier Anm. 5) folgend eine Einrichtung des dorti-gen Heiligtums bereits im 6. Jh. v. Chr. annimmt. 64 K. Meister, Die griechische Geschichtsschreibung (Stuttgart 1990) 26 mit Anm. 14. Das Datum ergibt sich aus der Tatsache, dass Aristophanes in den 424 v. Chr. aufgeführten Achar-nern passagen aus herodot parodiert, was eine Verbreitung des textes voraussetzt. 65 Allg. Πετράκος 1968, 194 – 198. Den ersten schriftlichen Nachweis für die Durchführung von Apobatenwettkämpfen in Oropos stellt eine Inschrift aus dem Jahre 329/328 v. Chr. (IG VII 4254) dar. Allerdings belegt ein Apobatenrelief aus Oropos (Πετράκος 1968, 121 f. Nr. 17; Πετράκος 1997, 257 Nr. 335), das ans Ende des 5. Jhs. v. Chr. datiert werden kann, eine bereits deutlich frühere Durchführung entsprechender Wettkämpfe. Die Amphiaraia wurden daher wohl bereits im Zuge der heiligtumseinrichtung oder nur kurze Zeit später etabliert. 66 das relief auf Taf. 29, 2 stammt aus Oropos und befindet sich heute in Berlin, Antiken-sammlung, sk 725.

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mehrere inschriftliche erwähnungen gut belegt ist 67. Apobatenwettkämpfe scheinen insbesondere in Attika weit verbreitet gewesen zu sein, so waren sie beispielsweise auch ein wichtiger Bestandteil der Panathenäen 68. in vor-römischer Zeit lassen sich außerhalb Attikas nur für Larissa in Thessalien entsprechende Agone zweifelsfrei nachweisen 69, allerdings zum einen erst für das 1. Jh. v. Chr. und zum anderen war Larissa zumindest in klassischer Zeit mit Athen verbündet. Ferner findet sich bei Valerius Harpokration ein Zitat aus einem text theophrasts 70, der demzufolge bemerkt habe, Apobaten-wettkämpfe seien ihm nur in Attika und Boiotia bekannt. Aus dieser Angabe wurde zumeist geschlossen 71, dass entsprechende Agone nicht nur in Attika, sondern auch in weiten Teilen Boiotiens üblich gewesen wären, auch wenn entsprechende darstellungen oder inschriften aus dieser landschaft bis heute nicht bekannt sind. Zu wenig bedacht wurde in diesem Zusammenhang mög-licherweise, dass Oropos im 4. Jh. v. Chr., also zu Lebzeiten Theophrasts, lan-ge Zeit zu Boiotien gehörte 72, sich dessen Aussage also auch dezidiert auf den dortigen Agon beziehen könnte, der im 5. Jh. v. Chr. aber unter athenischer Ägide eingerichtet worden ist 73. Vor dem hintergrund der bislang bekannten einschlägigen Quellen erscheint es also durchaus wahrscheinlich, dass Apo-batenwettkämpfe in Attika nicht nur besonders beliebt waren, sondern diese Form des Agons im Zuge der Konstituierung der Panathenäen 74 als ein cha-rakteristisch athenischer und ursprünglich exklusiv im attischen herrschafts-

67 Reliefs: Πετράκος 1968, 121 f. Nr. 16 – 17. Inschriften: Πετράκος 1968, 194 – 198; Πετράκος 1997, 409 – 440 Nr. 519 – 534. 68 S. Müller, »Herrlicher Ruhm im Sport oder im Krieg« – Der Apobates und die Funk-tion des Sports in der griechischen Polis, Nikephoros 9, 1996, 56 – 65. D. G. Kyle, Athletics in Ancient Athens (Leiden 1987) 49. 175 erkennt die Apobatenwettkämpfe als charakteristisch für Athen. Vgl. auch N. B. Reed, A Chariot Race for Athen’s Finest: The Apobates Contest Re-Examined, Journal of Sport History 17 H. 3 (1990) 306 – 317. 69 IG IX 2, 527. 531. 614b. Vgl. Reed a. O. (Anm. 68) 315 Anm. 43; Müller a. O. (Anm. 68) 58 Anm. 66. 70 J. J. Keaney (Bearb.), Valerius Harpokration, Lexeis of the Ten Orators (Hakkert 1991) 34 nr. A 182. 71 So Kyle a. O. (Anm. 68) 188 f.; Reed a. O. (Anm. 68) 315 f. 72 Die Geschichte Boiotiens im 4. Jh. v. Chr. verläuft sehr wechselhaft, was auch Auswir-kungen auf Oropos hatte, das mal als autonome Stadt in einem Boiotischen Städtebund galt und mal unter thebanischer Vorherrschaft stand. Von Athen kontrolliert wurde das gebiet wohl kurzzeitig zwischen 371 und 366 v. Chr., dann erst wieder ab 330 v. Chr. Allerdings geht Oropos für Athen schon 322 v. Chr. wieder verloren. Vgl. Πετράκος 1968, 22 – 29; Sineux 2007, 97 – 100 (mit ausf. Lit.). 73 Leider bis heute unpubliziert ist die Wiener Diplomarbeit von S. Szemethy, Der Apoba-tenagon. eine philologisch-epigraphisch-archäologische studie von 1991, die einen zweifellos umfassenderen Überblick über die Quellen geben könnte. 74 Apollod. 3, 14, 6; Hyg. astr. 2, 13. Vgl. Kyle a. O. (Anm. 68) 49. 175; Reed a. O. (Anm. 68) 307; Müller a. O. (Anm. 68) 63 – 65.

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gebiet praktizierter Wettkampf eingerichtet wurde. Demzufolge wäre auch der etablierung der Apobatenwettkämpfe in oropos im Zuge der von Athen gesteuerten kulteinrichtung ein besonderes gewicht beizumessen 75.

ein kult für Amphiaraos wurde aber nicht nur in oropos eingerichtet, son-dern auch in rhamnous 76, das ebenfalls unweit der grenze zum boiotischen Bund und damit zum thebanischen Herrschaftsgebiet liegt. Ursprünglich wurde hier der lokale Heros Aristomachos verehrt, der bis ins 4. Jh. v. Chr. hinein in Weihinschriften erscheint. Eine Inschrift des 3. Jhs. 77 bezeugt einen oikos des Amphiaraos, der Aristomachos als herr des heiligtums abgelöst zu haben scheint. eine genauere datierung der gründung des kultes für Amphi-araos ist nicht möglich. Zu erwägen wäre ein Zusammenhang mit dem Ver-lust der Kontrolle über Oropos und der wohl im frühen 4. Jh. v. Chr. erfolgten Errichtung einer athenischen Festung in Rhamnous. Sineux schlägt vor, die kulteinrichtung als reaktion auf einen erneuten Verlust der zwischenzeitlich wiedergewonnenen Herrschaft über Oropos im Jahre 322 v. Chr. zu sehen 78. Unabhängig von der genauen datierung dürfte es sich bei dem heiligtum in Rhamnous aber ebenfalls um eine mythisch-religiöse Manifestation eines realpolitischen gebietsanspruches handeln 79, die nicht unabhängig von den geschehnissen in und um oropos betrachtet werden kann.

diese sichtweise auf die beiden kultgründungen an der grenze zu the-ben wird noch durch eine weitere kulteinrichtung unterstrichen. pausanias erwähnt bei seinem rundgang über die Agora von Athen in der nähe der Phylenheroen einige Götterstatuen, unter denen sich die Eirene mit dem Plu-tosknaben und ein standbild des Amphiaraos befinden 80. Über den Zeitpunkt der Aufstellung dieser statue erfahren wir nichts und auch andere Quellen

75 nur am rande sei darauf hingewiesen, dass sich gerade die Apobatenwettkämpfe mit ihrem klar militärischen hintergrund sehr gut dazu eigneten, an einer grenze militärische präsenz durch eine agonale tätigkeit zum Ausdruck zu bringen. die für klassische Zeit ana-chronistische Kampfesweise, die hierbei vorgeführt wird, schmälert die Symbolik keineswegs, wie Kyle a. O. (Anm. 68) 50. 188 f ausführt. Müller a. O. (Anm. 68) 62 f. 68 f. abstrahiert dagegen die Apobaten m. E. zu weit vom realen Kriegsgeschehen, wenn er hier »eine romantische Ver-klärung einer stilisierten Vergangenheit« erkennt. 76 Zum Heiligtum des Amphiaraos in Rhamnous Β. Πετράκος, O δήμoς τoυ Ραμνoύντoς I (Athen 1999) 307 – 319; L. E. Baumer, Kult im Kleinen (Rahden 2004) 29. 98 f. Kat. Att. 28; Sineux 2007, 109 – 115. Das Heiligtum befindet sich außerhalb der befestigten Stadt auf einer Anhöhe. sineux sieht den grund für die gründung des Amphiaraos-kultes überzeugend im kontext der grenzsituation zu theben. das datum der kulteinrichtung ist unsicher, allgemein geht man vom späten 4. Jh. v. Chr. aus, wobei auch eine Gründung noch im 5. Jh., wie Sineux 2007, 109 schreibt, nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. 77 ig ii2 1322. 78 Sineux 2007, 112 f. 79 Sineux 2007, 109 – 115. 80 paus. 1, 8, 2.

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schaffen hier bislang keine klarheit. immerhin belegen eine inschrift 81 aus dem Jahre 273/272 v. Chr. und ein Relief 82 aus der Zeit um 320 v. Chr., die beide von der Agora stammen, die existenz eines entsprechenden kultes zu-mindest ab der Spätklassik. Bedenkt man aber die Ortswahl für das Standbild, das auf der Agora, also im politischen Zentrum Athens aufgestellt wurde, und weiterhin die politische Bedeutung des Amphiaraos für Athen im 5. Jh., erscheint im hinblick auf die gründung des heiligtums in oropos und die damit verbundene sakraltopographische landnahme eine etwa gleichzeitige Aufstellung der statue auf der Agora in Verbindung mit einer entsprechenden kulteinrichtung zumindest überlegenswert 83. Vor dem hintergrund der ge-samtentwicklung der Agora mutet allerdings eine etwas spätere Aufstellung erst im 4. Jh. v. Chr. wahrscheinlicher an, vielleicht im Zusammenhang mit der Wiedergewinnung der Kontrolle über Oropos zwischen 374 und 366 v. Chr. 84. Auch eine Beziehung zu der Kultgründung in Rhamnous ist letztlich nicht auszuschließen. Völlig losgelöst von den Heiligtümern in der Grenzregion zu Boiotien können die Errichtung der Statue des Amphiaraos und die Einrich-tung eines entsprechenden kultes auf der Agora aber wohl kaum betrachtet werden, wurde auf diese Weise doch eine sakrale Verbindung zwischen dem politischen Zentrum Athens und der umkämpften nordgrenze des attischen territoriums etabliert. so manifestierte sich in der religiösen Verknüpfung von Zentrum und peripherie der Anspruch auf das gebiet um oropos mehr als deutlich.

Über den für das standbild des Amphiaraos auf der Agora gewählten sta-tuentyp sind nur Vermutungen möglich, da keine sicher zuweisbaren Frag-mente gefunden wurden und Pausanias keine genauere Beschreibung gibt. Ingrid Krauskopf hat aber bereits darauf hingewiesen, dass aufgrund der For-mulierung des Perigeten, der von Götterstatuen (ἀγάλματα θεῶν) spricht, sowie angesichts des reliefs von der Agora und der vergleichbaren stücke aus rhamnous und oropos, die Amphiaraos stets als heilgott und nicht als krieger zeigen, eine entsprechende motivwahl für das standbild auf der Ago-ra anzunehmen ist 85. der vergöttlichte held dürfte also als stehender mann im himation und auf einen stock gestützt dargestellt gewesen sein.

81 seg XXXii 110. 82 Krauskopf 1981, 702 Nr. 65; Sineux 2007, 114 Nr. 96. 83 Anders M. Meyer, Ein Torso im Typus Doria. Asklepios oder Amphiaraos, MusBenaki 1, 2001, 21 – 32, die in der Statue auf der Athener Agora das Vorbild für den Statuentypus Epidau-ros vermutet, der stilistisch in das 3. Viertel des 4. Jhs. v. Chr. zu datieren ist. 84 Zu dieser Phase vgl. D. Knoepfler, Un document attique à reconsidérer: le décret des Pandios sur l’Amphiaraion d’Oropos, Chiron 16, 1986, 71 – 98. 85 Krauskopf 1981, 701 Nr. 57.

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Synthese

Griechische Mythenbilder sind, egal in welchem Medium sie erscheinen, kei-ne beliebigen dekorationen, sondern reflexe auf zu ihrer Zeit aktuelle gesell-schaftliche diskurse, die sie aufnehmen, spiegeln und weiterführen können. Bei einer Interpretation der Darstellungen ist aber nicht nur der gewählte Mythos als Gesamtwerk zu berücksichtigen, ebenso wichtig ist auch die Aus-wahl der episode und der spezifischen ikonographischen details, da so ein-zelne Aspekte betont und andere unterdrückt werden können. dabei sollte man die wiedergegebene, also vom Maler in einem Willensakt ausgewählte episode nicht einfach als pars pro toto für den gesamten Mythos sehen, wenn man diejenigen historischen Gegebenheiten und Ereignisse, die für die Be-liebtheit einzelner Mythenbilder zu bestimmten Zeiten verantwortlich sind, verstehen möchte 86. Der Mythos in seiner Gesamtheit fungiert hierbei vor allem als sinnhorizont, vor dem gerade die gezeigte episode eine besonde-re Bedeutung erhält. Im Hinblick auf eine Inbezugsetzung von Mythen mit historischen ereignissen, entwicklungen oder diskursen erscheinen daher gerade solche situationen besonders aufschlussreich, in denen bislang nicht wiedergegebene Episoden bekannter Mythen zur Darstellung gebracht oder bekannte darstellungsweisen grundlegend verändert werden. Auch können regionale Besonderheiten weitergehende Erkenntnisse ermöglichen.

Für die hier besprochenen Vasenbilder treffen gleich mehrere dieser Indi-katoren zu, so der Verzicht auf das rachemotiv in den attischen darstellun-gen des Abschieds des Amphiaraos, die ›Verbürgerlichung‹ des Amphiaraos durch den Wegfall des Gespanns bei gleichzeitiger Hinzufügung der Hop-litenrüstung, das kurze Aufblühen der Bilder der Bestechung der Eriphyle und zuletzt die schaffung einer neuen ikonographie für Amphiaraos. Alle diese phänomene bezeugen eine wichtige rolle des Amphiaraos in den ge-sellschaftlichen und politischen Diskursen im Athen des 5. Jhs. v. Chr. In der attischen Kunst der Archaik tritt uns Amphiaraos noch ganz als mythisches Vorbild des aristokratischen Kriegers entgegen, der seine Familie verlässt und in den Krieg zieht. Mit dem Beginn der Klassik und der Erweiterung des Heeresdienstes auf weite Teile der Bürgerschaft wurde auch der paradigma-tische held verbürgerlicht. im aufkeimenden konflikt mit theben wurde er, da er gegen die gleiche Stadt ins Felde gezogen war, zu einer idealen Identifi-kationsfigur für alle Bürger, für die ein Krieg auch immer einen ungewissen Abschied von der Familie mit sich brachte. Auch das Bündnis mit Argos fand eine Entsprechung im Mythos, nämlich in der Hilfeleistung Athens nach der

86 Grundlegend zum Verständnis der Mythenbilder als Anspielungen auf reale Ereignisse Hölscher a. O. (Anm. 45) 71 – 73.

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Niederlage der Sieben. Dank der Übereinstimmung zwischen mythischem und historisch-realem gegner kristallisierte sich Amphiaraos immer stärker nicht nur als allgemeines paradigma des bürgerlichen hopliten, sondern zu-dem auch als ideale identifikationsfigur in der konkreten konfliktsituation heraus. Veränderungen der historischen Situation konnten auf diese Weise sogar eine Variation des Mythos bewirken, wie die von Plutarch bezeugte Veränderung des charakters der mission des theseus nach theben beweist, die bei Aischylos noch als diplomatische Mission, bei Euripides hingegen als kriegszug beschrieben wird.

Bereits nach dem verräterischen Verhalten Thebens in den Perserkriegen wird die Episode der Bestechung der Eriphyle aus dem mit Theben verknüpf-ten Mythos des Amphiaraos als passende Visualisierung der schändlichen Taten Thebens empfunden. Die durch die Bilder wachgehaltene Erinnerung an den Verrat an ganz griechenland dient der diskreditierung thebens, des-sen Unternehmungen im Zusammenhang mit dem Überfall auf plataiai diese Sichtweise nur bestätigen konnten. Kein Wunder also, dass sich Darstellun-gen der Bestechung der Eriphyle in dieser Phase einer besonderen Beliebtheit erfreuten.

einen ersten höhepunkt dürfte die politische semantisierung des Amphia-raos im Zuge der gründung des heiligtums in oropos erreicht haben, wobei die Rettung des Amphia raos durch Zeus als mythische Legitimierung eines realpolitischen gebietsanspruches instrumentalisiert wurde. im drama ist es theseus selbst, der auf die exzeptionelle gottwerdung des heros hinweist. die Vasenbilder mit dem Abschied des Amphiaraos und ebenso die mit der Beste-chung der Eriphyle verschwinden recht bald nach dem Ende des peloponne-sischen Krieges wieder aus der Vasenmalerei. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der heros seine rolle als paradigmatischer held vollkommen verloren hätte, vielmehr verändert sich die Bilderwelt auf den Vasen im Allgemeinen. Es sind in der Folge ganz andere Diskurse, die dort thematisiert werden, so vor allem die sphäre des persönlichen und häuslichen glücks. dass Amphiaraos wei-terhin der paradigmatische held im Zusammenhang mit dem konflikt mit theben blieb, beweisen die heiligtumseinrichtung in rhamnous und seine kultische Verehrung auf der Agora von Athen. Aufgrund der chronologischen Unklarheiten bezüglich dieser entwicklungen erscheint es derzeit aber nicht möglich, die Veränderungen der politischen Rolle des Heros im 4. Jh. genauer zu beschreiben oder gar in phasen zu untergliedern. es kann nur vermutet werden, dass die andauernden Gebietsstreitigkeiten mit Boiotien und die phasen der rückgewinnung der kontrolle über das heiligtum von oropos zwischen 374 und 366 und wiederum in den 330er Jahren die Athener stets an die Rolle des Amphiaraos als mythischer Vorkämpfer erinnerten. Allerdings fanden die entsprechenden diskurse ihren niederschlag nicht mehr auf den Vasen, sondern in den öffentlichen denkmälern, wie dem auf der Agora, oder

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in den Festen wie den Amphiareia, die nach 330 neu geordnet und als pente-terische Spiele in den athenischen Festkalender integriert worden sind 87.

heidelberg Kai M. Töpfer

Anschrift

dr. phil. kai m. töpferinstitut für klassische ArchäologieMarstallhof 469117 [email protected]

Abkürzungen

krauskopf 1980 i. krauskopf, die Ausfahrt des Amphiaraos auf Amphoren der tyrrhenischen Gruppe, in: H. Cahn – E. Simon (Hrsg.), Tainia. Festschrift R. Hampe (Mainz 1980) 105 – 116.

Krauskopf 1981 LIMC I (1981) s. v. Amphiaraos 691 – 719 (I. Krauskopf)

Πετράκος 1968 B. Πετράκος, O Ωρωπός και το ιερόν του Aμφιαράου (Athen 1968)

Πετράκος 1997 B. Πετράκος, Οι επιγραφές του Ωρωπού (Athen 1997)

Sineux 2007 P. Sineux, Amphiaraos. Guerrier, devin et guérisseur (Paris 2007)

spiess 1992 A. spiess, der kriegerabschied auf attischen Vasen der archai-schen Zeit (Frankfurt am Main 1992).

87 R. Parker, Athenian Religion. A History (Oxford 1996) 247.

Abbildungsnachweis: Taf. 27, 1: Staatliche Museen zu Berlin / Antikensammlung. – Taf. 27, 2: Museo Archeologico Nazionale die Firenze. – Taf. 28, 1: photograph © 2011 museum of Fine Arts, Boston. – Taf. 28, 2: Nach LIMC III Taf. 607 Eriphyle I 9. – Taf. 28, 3: staatliche mu-seen zu Berlin / Antikensammlung. – Taf. 29, 1: Natio nalmuseum Athen. – Taf. 29, 2: staatliche Museen zu Berlin / Antikensammlung.

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TAFEL 27AM 125, 2010

1 Sog. Amphiaraos-Krater, ehemals Berlin F 1655

Töpfer – Amphiaraos

2 Tyrrhenische Amphora, Florenz 3773

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TAFEL 28 AM 125, 2010Töpfer – Amphiaraos

1 Hydria, Boston 03.798

3 Hydria, Berlin F 2395

2 Oinochoe aus Spina, Ferrara 3914

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TAFEL 29AM 125, 2010 Töpfer – Amphiaraos

1 Weihrelief aus Oropos, Athen Nationalmuseum 3369

2 Apobatenrelief aus Oropos, Berlin Sk 725