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Aktivierende Therapien bei Parkinson-Syndromen 3. Auflage · Vorwort Ansätze, Parkinson-Symptome durch aktivierende Therapien zu bessern, reichen bis in das 19. Jahr-hundert zurück.
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by naturmed FachbuchvertriebAidenbachstr. 78, 81379 München
VorwortAnsätze, Parkinson-Symptome durch aktivierendeTherapien zu bessern, reichen bis in das 19. Jahr-hundert zurück. Bei vielen Betroffenen mit idio-pathischem Parkinson-Syndrom (IPS) können diefür die Lebensqualität wesentlichen Funktionenwie Gleichgewicht, Gehen, Sprechen und Schlu-cken, nur unzureichend durch die moderne Phar-makotherapie und die tiefe Hirnstimulation gebes-sert werden. Begrenzte Wirksamkeit und gele-gentlich auch unzureichende Verträglichkeit derpharmakologischen und operativen Therapie ma-chen ein integriertes Behandlungskonzept erfor-derlich, bei dem aktivierende Übungsverfahrenwie Logopädie, Ergotherapie, Musiktherapie,Sporttherapie sowie verschiedene Formen physi-kalischer Therapien und psychosozialer Interven-tionen eine wichtige Rolle spielen.
Während der aktivierenden Therapie bei Parkin-son in den Behandlungspräferenzen von Medizi-nern und Betroffenen schon lange eine wichtigePosition zukommt, hat sich in den letzten Jahrenauch die wissenschaftliche Basis durch methodischanspruchsvolle klinische und grundlagenorientier-te Studien verbessert. Diese positive Entwicklungwurde bei der Überarbeitung der Kapitel für dievorliegende Neuauflage berücksichtigt.
Es gibt zunehmende Hinweise, dass der, durchkognitiven Abbau und pharmakorefraktäre moto-rische Defizite bestimmte, Langzeitverlauf der Par-kinson-Erkrankung durch intensives körperlichesTraining verbessert werden kann. In Tiermodellender Parkinson-Erkrankung hat körperliche Aktivi-tät, möglicherweise durch Freisetzung neurotro-pher Faktoren mediierte, neuroprotektive undneuroplastische Effekte, die sich positiv auf dieMotorik auswirken. Zahlreiche klinische Studiensprechen dafür, dass die Behinderung durch phar-makorefraktäre Bewegungseinschränkungen bei
der Parkinson-Erkrankung durch aktivierendeTherapie reduziert werden kann. Auch Verbes-serungen der kognitiven Leistungsfähigkeit durchkörperliche Aktivität wurden sowohl im Tiermo-dell als auch in klinischen Studien nachgewiesen.
Die neuronalen Mechanismen der aktivierendenTherapie bei IPS und die Auswirkungen auf Pro-gression und Prognose können vorerst nur speku-lativ beurteilt werden. Trotzdem sollten aktivie-rende Therapien einschließlich der Sporttherapie,aufgrund der positiven Ergebnisse von klinischerund Grundlagenforschung schon jetzt einen höhe-ren Stellenwert in der alltäglichen Patientenver-sorgung bekommen. Die immer deutlicher wer-denden neuroplastischen und neuroprotektivenAuswirkungen körperlichen Trainings sprechendafür, aktivierende Therapien bei Parkinson frühim Krankheitsverlauf und nicht erst beim Auftre-ten funktionell relevanter Behinderungen ein-zusetzen.
In dem vorliegenden Buch, das sich an Thera-peuten, Ärzte und spezialisierte Pflegekräfte rich-tet, wird das Spektrum der aktivierenden Thera-pieverfahren bei Parkinson vor dem Hintergrundder spezifischen neurophysiologischen Störungenvorgestellt. Indikationen, praktische Umsetzungund Wirksamkeit der wichtigsten Behandlungs-verfahren werden anwenderorientiert und praxis-nah dargestellt. Außerdem werden die Rahmenbe-dingungen der aktivierenden Therapie diskutiert,die sich aus anderen Behandlungen (Medikamen-te, tiefe Hirnstimulation) und den vielschichtigenpsychosozialen Problemstellungen bei Parkinsonergeben.
Kleinschrittigkeit (Hypokinese) führt (Farley,2005; Ebersbach et al., 2010). Auch Bewegungender oberen Extremität lassen sich durch Trainingzielgerichteter Bewegungen beschleunigen (Pal-mer et al., 1986; Platz et al., 1998), vor allemscheinbar bei Entfernungen, die eine Armlängeoder etwas weiter entfernt liegen (Farley, 2005).Dies unterstreicht die therapeutische Korrelationvon vergrößerter Amplitude und gesteigerter Ge-schwindigkeit bei Alltagsbewegungen.
LSVT BIGTM
Ein Behandlungskonzept, das die Amplitudenspe-zifität bei Parkinson in der Therapie bereits seit2 Jahrzehnten untersucht und hochsignifikanteEffekte nachweisen kann, ist die Sprechtherapiebei Parkinson als sogenanntes Lee Silverman VoiceTreatment (LSVT) (siehe auch Kap. 3). Eine Über-tragung dieses parkinsonspezifischen Behand-lungsansatzes auf die Bewegungsamplituden vonExtremitäten und Rumpf erfolgte Anfang des letz-ten Jahrzehnts und firmierte als LSVT BIG(big = groß). Zur besseren Abgrenzung sind nun inder Sprechtherapie der Begriff LSVT LOUD(loud = laut) und in der Physiotherapie LSVT BIGgebräuchlich (Farley, 2005).
LSVT BIG ist ein hochintensives, standardisiertesTherapieverfahren. Es erfolgt in Einzeltherapieüber 4 Wochen mit jeweils 4 Behandlungstagenund einer Behandlungszeit von 60 Minuten. Darinenthalten sind Basisübungen (tägliche Maximal-übungen), funktionelle Bewegungskomponenten(funktionelle Aufgaben) inklusive eines Gehtrai-nings und komplexe motorische Aktivitäten (hie-rarchische Aufgaben). Zusätzlich zur Behandlungabsolviert der Patient täglich einen Teil der Trai-ningsinhalte nochmals als 10- bis 20-minütigeHausaufgabe, an behandlungsfreien Tagen werdendiese 2-mal ausgeführt (▶Abb. 4.1, ▶Abb. 4.2).
Therapiefokus ist die Größe der selbstinitiiertenBewegung, mit dem Ziel, diese (wieder) in norma-ler Größe auszuführen und in die Alltagsbewegun-gen zu übertragen.
Änderungen der Amplitude bei Körperbewegun-gen sind schwer objektiv zu messen. Anders als beiLSVT LOUD, steht kein standardisiertes Messver-fahren, wie ein Lautpegelmesser, zur Verfügung.Deshalb wird bei LSVT BIG die Eigenperzeptionder Unterschiede zwischen gemachter und inten-dierter Bewegung geschult. Dies wird Kalibrierung(recalibration =Zurückeichung, Kalibrierung) ge-
nannt und ist die zweite entscheidende Säule desKonzepts. Sie wird ermöglicht durch Feedback-Mechanismen wie Videoaufnahmen, Einsatz einesSpiegels, taktiles korrigierendes Feedback, dem so-genannten „Modelling“, durch den Therapeuten(to model = anpassen) und funktionelle Testung,beispielsweise durch den Functional Reach Test(FR).
Um sich „normal“ groß zu bewegen, ist vom Pa-tienten eine hohe Anstrengung beim Trainierengefordert und mit einem Zielwert von 8/10 auf dernumerischen analogen Skala von 0–10 (NAS) be-legt.
LSVT BIG zielt, zusammen mit hoch repetitivem,4-wöchigem Training großer Bewegungsamplitu-den und individuell motivierenden Trainingsinhal-ten nicht auf die Vermittlung einer neuen Reihevon parkinsonspezifischen Übungen ab. Es nimmtfür sich in Anspruch, das Bewegungsverhalten ins-gesamt wieder zu normalisieren und in den Bewe-gungsalltag zu integrieren, sodass es selbst bei Ab-lenkung und Dual-Task-Situationen beibehaltenwird. LSVT BIG ist bei Parkinson anderen Therapie-konzepten, wie zum Beispiel einem Nordic-Wal-king-Training, symptomatisch und funktionellüberlegen, die brady- bzw. hypokinetische Symp-tomatik der Gangparameter zu reduzieren (Ebers-bach et al., 2010).
Lokomotionstherapie und Training derGehfähigkeitDie Lokomotionstherapie auf dem Laufband ist beiidiopathischem Parkinson-Syndrom gut unter-sucht und verbessert die Gangparameter Schritt-länge und Gehgeschwindigkeit (Mehrholz et al.,2015). Das Laufband unterstützt die Schrittinitiie-rung von außen und kann in Verbindung mit auf-geklebten Streifen auch als kombinierter, externerCue (cue =Hinweisreiz) beschrieben werden (s.Kap. Cueing). Laufbandtherapie gewährleistet einehohe Repetition von Schritten und am Erkran-kungsbeginn ein forciertes Ausdauertraining. Beinur eingeschränkt gehfähigen bzw. sturzgefähr-deten Patienten ist durch entsprechende Gurtsi-cherung ebenfalls ein effektives Trainieren mög-lich.
Gehen auf der Ebene bietet klinisch den Vorteil,dass Starten, Richtungswechsel und die Schulungam benötigten Hilfsmittel wie im Alltag trainiertwerden können und keine situativen Transferleis-tungen nötig sind, deren Bewältigung sich imKrankheitsverlauf zunehmend reduziert (Onla-or,2008).
Darüber hinaus zeigte sich Nordic Walking alsGehtraining im Außenbereich für Parkinson-Pa-tienten als effektiv (Van Eijckeren et al., 2008).Durch einen aktiven Stockeinsatz werden Schul-ter- und Armbewegungen mit trainiert. NordicWalking verbessert Gehgeschwindigkeit und Geh-strecke und kann als Ausdaueraktivität empfohlenwerden.
CueingÄußere Hinweisreize bzw. externe Cues tragen zurVerbesserung des Gangbildes bei (Morris et al.,1996; Azulay et al., 1999; Rubinstein et al., 2002;Lim et al., 2005). Als Modalitäten stehen akus-tische (Metronom, ▶Abb. 4.3, rhythmische Musik),visuelle (Laserpointer ▶Abb. 4.4, Streifen▶Abb. 4.5), taktile (Klopfen auf Schulter oderOberschenkel) und mentale Cues (Bewegungsvor-stellung) zur Verfügung (verschiedene Stimuli imKap. 4.1.4 beschrieben).
Cues sind Signale, die die Initiierung und dasstetige Beibehalten von Bewegung unterstützen.Ihre Wirkung ergibt sich einerseits aus einer Ver-stärkung der defizitären motorischen Signale fürwillkürliche Bewegung, die aufgrund des Defizitsan Dopamin in den Basalganglien zu schwach ge-neriert werden. Andererseits aktivieren Cues wei-tere, nicht geschädigte Funktionskreisläufe, bei-spielsweise über Kleinhirnbahnen, und könnendas dopaminerge Defizit so teilweise kompensie-ren bzw. umgehen (Cunnington et al., 1995). So-wohl externe als auch mentale rhythmische Cuessind geeignet, automatisierte und repetitive Bewe-gungen und Bewegungsabläufe zu unterstützen(Thaut et al., 1996).
Visuelle Cues unterstützen klinisch vor allemSchrittinitiierung und Schrittlänge, akustischeHinweisreize fazilitieren besonders die Geh-geschwindigkeit (Morris et al., 1996; Suteerawat-tanon et al., 2004, Lim et al., 2005; Willems et al.,2006). Eine effektive Cueing-Frequenz kann bei
leicht reduzierter Schrittlänge bzw. Gehgeschwin-digkeit durch eine Formel berechnet werden (Wil-lems et al., 2006):
Cueing-Frequenz: (Schritte/min) = (Schrittzahl/Gehzeit für 10m) × 60 plus 10%
Durch Cueing erreichte Therapieeffekte sind nichtgrößer als bei nicht „gecuetem“ Training, sie per-sistieren jedoch länger (Marchese et al., 2000;Mak, 2008).
Optimierung von motorischenLeistungenJe nach Krankheitsstadium, Lebensalter und indi-vidueller Motivationslage für Bewegung stehenneben der evidenzbasierten Physiotherapie Aus-dauersportarten bzw. komplexe motorische Akti-vitäten zur Verfügung, um brady- bzw. hypokineti-sche Symptome bei Parkinson positiv zu beeinflus-sen und die motorische Leistungsfähigkeit zu opti-mieren. Hierzu zählen beispielsweise Tanzen undTai Chi Chuan.
TanzenDas Training gangabhängiger Parameter profitiertvon rhythmischerMusik (engl.:music-basedmove-ment therapy). Die Gehgeschwindigkeit verbessertsich dabei mehr als bei Therapieansätzen, die auf
Abb. 4.4 Visueller Cue: Laserpointer. Das Bild zeigtintermittierendes Cueing bei motorischen Blockaden(s. Kap. Training und Resultate).
Abb. 4.5 Streifen auf dem Boden vergrößern beiHypokinese die Schrittlänge (Zebrastreifen) und könnenmotorische Blockaden reduzieren.
Elementen des Tanzes aufbauen (De Dreu et al.,2012). Für eine Optimierung der Gleichgewichts-und Ausdauerleistungen ist jedoch Tanzen effektiv.Hier scheint der argentinische Tango einemWalzer oder Foxtrott leicht überlegen zu sein(Hackney et al., 2009). Patienten, die ein Jahr zwei-mal wöchentlich eine Stunde Tango tanzten, konn-ten gegenüber der Vergleichsgruppe ohne Trainingihre Krankheitsprogression verringern und dasGleichgewicht, Freezing sowie die Gehfähigkeitunter Dual-Task-Bedingungen verbessern (Duncan,2012).
Tai Chi ChuanTai Chi Chuan wird meist als Tai Chi abgekürzt undbeinhaltet körperliches und mentales Training(siehe Kap. 5). Als fernöstliche Bewegungskunst istes eine Synthese aus Gesundheitsübungen, Medi-tation und Kampfkunst. Je nach praktiziertem Stilwerden diese 3 Aspekte unterschiedlich betont.Tai Chi ist charakterisiert durch bewusstes, geziel-tes und koordiniertes Bewegen des ganzen Kör-pers. Es entsteht ein Bewegungsfluss, der in sichein festes Timing mit Start und Ende der einzelnenBewegungselemente trägt, sodass sich eine Bewe-gung jeweils aus der vorigen ergibt. Dies kann alsChaining (chain =Kette) oder inhärentes, mentalesCueing bezeichnet werden.
Um die Komplexität der Tai-Chi-Chuan-Bewe-gungsfolge für Parkinson-Patienten besser trai-nierbar zu machen, löste man in 2 neueren Studienzu Tai Chi und Parkinson einzelne Figuren und Be-wegungselemente aus der Gesamtform heraus.Diese wurden hoch repetitiv einige Wochen iso-liert geübt (Hackney u. Earhart, 2008; Li et al.,2012). Ausgewählt wurden dabei Bewegungsele-mente, die Schrittfolgen- und Richtungswechsel,Gewichts- und Schwerpunktverlagerungen mitgleichzeitig ablaufenden, koordinierten Arm- undRumpfbewegungen, beinhalteten.
Das Tai-Chi-Training von Li et al. (2012), beidem 6–8 Einzelfiguren des Tai-Chi-Chuan-Yang-Stils 2-mal pro Woche 60 Minuten über einen Zeit-raum von 6 Monaten hinweg bei Parkinson-Pa-tienten trainiert wurden, erzielte neben signifi-kanten Verbesserungen korrektiver und proaktiverGleichgewichtsleistungen auch eine Reduzierungder Sturzrate. Korrektive Gleichgewichtsleistungenwerden auf der gleichen Unterstützungsfläche er-bracht, proaktive Leistungen gehen mit einer ge-planten Schwerpunktverlagerung und geänderter
Unterstützungsfläche einher. Die mit Kraft- undAusdauerleistungen assoziierten Gangparameter,Schrittlänge und Gehgeschwindigkeit, profitiertenebenfalls signifikant.
Abb. 4.6 Tai Chi Chuan optimiert bei ParkinsonGleichgewichtsleistungen und Gangparameter.
Diese hochrangig publizierte Studie stellte demTai Chi Chuan 2 Kontrollinterventionen gegenüber,ein Kraft- bzw. Dehnungstraining. Während Geh-geschwindigkeit und Timed-up-and-go-Test in derKraft- und in der Tai-Chi-Gruppe ähnliche Steige-rungen verzeichneten, profitierte die Schrittlängein der Tai-Chi-Gruppe sehr viel deutlicher (10,3 cm(TC) bzw. 4,3 cm (Kraft) (Li et al., 2012). Die Inter-vention der Dehnungsübungen verzeichnetedurchgehend keine messbaren Verbesserungen.
Tai Chi Chuan stellt so, bei entsprechendem In-teresse für diese fernöstliche Bewegungskunst,eine zusätzliche effektive Therapieoption bei Par-kinson dar, um Gleichgewichtsleistungen undGangparameter zu optimieren und die hypo- bzw.bradykinetische Gangstörung bei Parkinson zu be-einflussen (▶Abb. 4.6 und ▶Abb. 4.7).
4.1.3 Kamptokormie, Anterocollisund Pisa-SyndromAxiale Symptome sind vorrangig Symptome derSpätphase und werden mit achsennaher Rigidität,Gangstörung und posturaler Instabilität assoziiert.Sie gelten als therapeutisch schwer beeinflussbar.
Fakultativ kommen im Krankheitsverlauf extremeHaltungsanomalien wie Kamptokormie, Anterocol-lis und Pisa-Syndrom als seltene ausgeprägteSymptome hinzu. Physiotherapeutisch sind sie be-sonders relevant, da sie von einer medizinischenTherapie (L-Dopa-Substitution) selten zufrieden-stellend profitieren.
SymptomeJames Parkinson beschrieb die Körperhaltung sei-ner Patienten als „Neigung, den Rumpf nach vornezu beugen“ und im fortgeschrittenen Stadium als„fast dauerhaft gebeugt“. Diese gebeugt-gebunde-ne Haltung ist Zeichen eines brady- bzw. hypoki-netischen Rumpfes und abzugrenzen von extre-men, weit selteneren Haltungsstörungen wieKamptokormie, Anterocollis oder Pisa-Syndrom.
Der Begriff Kamptokormie entstand, als Soldatendieses Phänomen als psychogene Störung nachtraumatischen Erlebnissen in den Schützengräbendes Ersten Weltkrieges mitbrachten. Sie ist defi-niert als unwillkürliche, markante Beugung desRumpfes nach vorne (Flexion des Rumpfes in derSagittalebene), die im Sitzen und Stehen bzw. Ge-hen auftritt und sich im Liegen spontan größten-
Abb. 4.7 Parkinson-Patienten beim Tai-Chi-Chuan-Training.
teils bis vollständig zurückbildet (Djaldetti et al.,1999). Der Flexionsgrad der Wirbelsäule wird ineiner Spanne zwischen 30° bzw. 40° und 90° (Djal-detti et al., 1999; Lepoutre et al., 2006), teilweiseaber auch punktuell mit > 45° angegeben (Blochet al., 2006; Ponfick et al., 2011). Kamptokormiekommt als primäres Syndrom (z. B. als Bauch-wanddystonie oder als psychogenes Krankheits-bild) und als sekundäres Symptom im Rahmeneiner anderen Erkrankung vor (Parkinson-Syndro-me, neuromuskuläre Erkrankungen).
Beim Anterocollis (Flexion des Nackens in der Sa-gittalebene) ist die aktive Nackenextension unterSchwerkrafteinfluss erschwert bis unmöglich. Inausgeprägter Form liegt bei extremer Nackenky-phose das Kinn auf dem Sternum auf. Er scheintvermehrt beim atypischen Parkinson-Syndrom derMultisystematrophie (MSA) vorzukommen (Geseret al., 2006).
Das analog zum schiefen Turm zu Pisa benanntePisa-Syndrom (Flexion des Rumpfes in der Frontal-ebene) ist bei Parkinson charakterisiert durch eineleichte Flexionskomponente in der Sagittalebeneund eine ausgeprägte Lateralflexion des Rumpfes> 15° in der frontalen Ebene (Doherty et al., 2011).Der Begriff Pisa-Syndrom wurde ursprünglich alsdystone, durch Neuroleptika induzierte Bewe-gungsstörung eingeführt (Ekbom et al., 1972; Su-zuki et al., 1990). Hypothetisch repräsentiert eseine Komplikation des fortgeschrittenen Parkin-son-Syndroms bei Patienten, die eine markanteSeitenlateralisation der Symptomatik zeigen mitgleichzeitiger Hyperaktivität der dorsalen, para-vertebralen Muskeln der weniger betroffenen Seite(Tassorelli et al., 2011).
Bei idiopathischem Parkinson-Syndrom undKamptokormie gibt es unterschiedliche Erklä-rungsansätze. Zum einen wird angenommen, dassein zentrales Geschehen aufgrund dopaminergerund nicht dopaminerger Defizite in den Basalgan-glien zu einer Aktionsdystonie (Djaldetti et al.,1999; Bloch et al., 2006) bzw. zu einer abnormenRigidität führt (Lepoutre et al., 2006). Zum ande-ren wird ein struktureller Umbau der Muskeln mitAtrophien und Fetteinlagerungen der paraver-tebralen Muskulatur (Myopathie) als Ursache be-schrieben (Margraf et al., 2008). Auch eine Verbin-dung beider Ansätze erscheint plausibel (Jankovicet al., 2010).
Um Kamptokormie zu evaluieren und von derkrankheitsspezifisch gebeugten Haltung bei Par-kinson abzugrenzen, werden klinisch Winkelanga-
ben der Rumpfbeugung (Djaldetti et al.,1999;Bloch et al., 2006) verwendet. Drei mechanischeMessungen sind hierbei gebräuchlich:● Der Winkelgrad zwischen der Lotsenkrechtenund der Wirbelsäule (Margraf et al., 2010)
● der Abstand zwischen dem siebten Halswirbel-dornfortsatz und einer Wand (C 7–Wand-abstand), wobei der Patient instruiert wird, ingewohnter, nicht korrigierter Haltung zu stehen(Bloch et al., 2006)
● die Differenz der Körperlänge im Stehen undLiegen nach 1 Minute freien Stehens (Schroeteleret al., 2011)
Den Schweregrad der Haltungsstörung beschreibteine kürzlich eingeführte Skala, die die Dauer derkamptokormen Haltung während der Wachstun-den, den Beugegrad, die Relevanz bei funktionellenTätigkeiten im Alltag und auftretende Rücken-schmerzen abfragt (Margraf et al., 2010).
Eine diagnostische Unterscheidung von Kampto-kormie und Pisa-Syndrom fällt bei Parkinson dannschwer, wenn zur massiven Vorwärtsbeugungauch seitliche Deviationen auffällig sind. Vielleichtsind solche Unterscheidungen aber auch obsolet(Slawek et al., 2006). Als definierende Kriterienwerden, mit Ausnahme der (zusätzlichen) Seitde-viation >15°, die gleichen genannt, die auch beiKamptokormie üblich sind: Die Zunahme der Stö-rung während des Stehens und Gehens, eine Auf-hebung der Symptomatik in Rückenlage und dasFehlen von mechanischen Restriktionen der Wir-belsäule (Bonanni et al., 2007; Doherty et al.,2011).
Auswirkung auf ADLNicht aufrecht stehen und gehen zu können, er-schwert die Alltagsaktivitäten wie Tragen von Ge-genständen oder Treppensteigen und es verkürztdie Gehstrecke, die bewältigt werden kann. Die be-einträchtigte Rumpfkontrolle erhöht die Sturzge-fahr bei Parkinson-Patienten zusätzlich. Bis zu 75%der Patienten stürzen, weil sie unfähig sind, denKörperschwerpunkt beim Drehen, Aufstehen undBücken zu kontrollieren (Bloem et al., 2001; Lattet al., 2009).
TherapiekonzeptAxiale Rumpffehlhaltungen können durch Ausdau-er- und Krafttraining der betroffenen Muskulatur,einschließlich Dehnung der Antagonisten, verbes-sert werden. Das Training der Muskulatur solltedabei gegen die Schwerkraft erfolgen. Bei schwe-ren Haltungsstörungen ist zusätzlich der Einsatzgeeigneter kompensatorischer Hilfsmittel notwen-dig, um sekundären Ausdauerdefiziten der Geh-ausdauer und der mobilen Selbstständigkeit zubegegnen. Symmetrie- und Haltungsschulung(Perzeptionstraining) unter Einsatz von visuellemund taktilem Feedback (z. B. Spiegel bzw. Berüh-ren/Anlehnen an einer Wand) bilden einen wei-teren Behandlungsschwerpunkt. Das Bewegungs-ausmaß von Hüftgelenken und Wirbelsäule istbegleitend durch Einsatz manueller Techniken zusichern. Ein Gleichgewichtstraining mit gesteiger-tem propriozeptivem Input wird zudem empfoh-len (Ebersbach, 2005) (siehe Kap. 4.1.5).
Training und ResultateExtreme Haltungsstörungen sind bezüglich einereffektiven Physiotherapie bislang wenig unter-sucht. Ein Ausdauer- und Krafttraining der Rücken-extensoren in Verbindung mit Erhalt ventralerMuskellängen durch muskuläre Entspannung undDehnung, zeigte sich kürzlich auch bei extremenHaltungsstörungen als haltungsverbessernd (Bar-tolo et al., 2010). Als klinisch wirksam zeigt sichein intensives Training der Hüftextensoren(▶Abb. 4.9) in Verbindung mit Perzeptionstrainingder eigenen Haltung, unter Einsatz taktiler und vi-sueller Feedback-Mechanismen (Ebersbach, 2005;Schroeteler, 2015). Die partielle Gewichtsentlas-tung (Gurtvorrichtung) beim Lokomotionstrainingauf dem Laufband (▶Abb. 4.13) erleichtert klinisch
eine Vertikalisierung des Oberkörpers und schaffteine günstige Ausgangsstellung, um während desGehens die Rückenstrecker zu kräftigen. Um auf-rechtes Gehen im Alltag zu ermöglichen, sind ver-schiedene Hilfsmittel wie Rucksack, Korsett undStandard-Rollatoren sowie Teleskopstöcke im Ge-brauch. Durch diese können milde Formen derKamptokormie kompensiert werden (Gerton et al.,2010; de Sèze et al., 2008). Bei schwerer Kampto-kormie ist ein hoher Rollator mit Unterarmschalen(sogenannter Arthritisrollator ▶Abb. 4.14) effektiv,um die Gehstrecke in aufrechter Haltung zu stei-gern und Rückenschmerzen zu reduzieren(Schroeteler et al., 2011). Die gebeugte Haltungeines Patienten mit Kamptokormie ohne Hilfsmit-tel zeigt ▶Abb. 4.15.
4.1.4 Motorische Blockaden
SymptomeMotorische Blockaden unterbrechen Bewegungs-abläufe oft sehr plötzlich und können vorüber-gehend zu einem vollständigen Bewegungsstoppführen. Dieses Phänomen wird auch Freezing(engl. freezing = Einfrieren) genannt. Freezing be-trifft motorische Abläufe wie Gehen, Sprechen undSchreiben. Freezing des Gehens (FOG= freezing ofgait) wird aktuell definiert als ein episodisches Un-vermögen, über mehrere Sekunden hinweg eineeffektive Schrittbewegung zu generieren, und trittbei Patienten mit Parkinson-Syndrom oder ande-ren zentralen Gangstörungen (engl. higher levelgait disorder) auf. Ausgelöst wird FOG am häufigs-ten bei Körperdrehungen oder am Bewegungs-beginn. Räumliche Enge, Stress oder Ablenkungvermögen FOG ebenfalls zu provozieren (Giladi,2008).
Eigentraining bei axialer Fehlhaltung undKamptokormieGezielte, möglichst tägliche muskuläre Kräftigungmit Erhalt der Gelenkbeweglichkeit kann Fehlhal-tungen reduzieren.
Übungsbereiche● Hüftstreckung (▶Abb. 4.8): Rückenlage mit Beinim Übergang zum Erhalt der Hüftbeweglichkeit.Der Fuß hat Bodenkontakt.
● Wirbelsäulenstreckung, Training am Hüftextensor(▶Abb. 4.9): Zusätzlich zum Eigentraining(▶Abb. 4.8 und ▶Abb. 4.10) wird am Hüftexten-sor in 2–3 Serien mit 12–20 Wiederholungen ge-gen das Eigengewicht bzw. gegen Widerstand bishöchstens 75% der Maximalkraft trainiert.
● Kräftigung der Rücken- und Hüftstrecker(▶Abb. 4.10): In Bauchlage das Knie beugen undden Oberschenkel anheben. Ca. 20 s abwechselndhalten und entspannen.
● Beide Seiten trainieren (▶Abb. 4.11): AufrechterStand, Füße dabei hüftbreit auseinander. Bei Be-darf ist ein leichtes Anlehnen erlaubt. Diese Un-terstützung wird im Laufe des Trainings abge-baut. Wechselseitiges Heben der Arme, bis sie dieWand berühren. Möglichst 20–30 Wiederholun-gen mit Pausen je Seite. ▶Abb. 4.12: Wenn esdie Kraft erlaubt, gleichzeitig mit dem Arm dasgegenseitige Bein heben.
Abb. 4.9 Training am Hüftextensor bei Kampto-kormie.
Abb. 4.8 Übung zur Hüftstreckung: Rückenlage mitBein im Überhang zum Erhalt der Hüftbeweglichkeit.
Abb. 4.10 Kräftigung der Rücken- und Hüftstreckeraus der Bauchlage.
Abb. 4.11 Patient mitKamptokomie. Vertika-lisierung mit taktilemFeedback und Trainingder Rückenstrecker.
Abb. 4.12 Patient mitKamptokormie: Ver-tikalisierung mit takti-lem Feedback undTraining der Rücken-strecker, anspruchsvolleAusgangsstellung durchzusätzliches Anhebendes jeweils gegenseiti-gen Beines.
Eine Freezing-Episode liegt also vor, wenn die Un-terbrechung der Fortbewegung mindestens 1 Se-kunde besteht und nach einigen Sekunden wiederüberwunden werden kann (Fahn, 1995). Nur we-nige FOG-Episoden dauern länger als 30 Sekunden(Schaafsma et al., 2003). In den frühen Stadiensind ca. 20% der Erkrankten von FOG betroffen, beieiner Krankheitsdauer ab 20 Jahren und längererL-Dopa-Substitution zeigten bis zu 80% der IPS-Pa-tienten Freezing-Phänomene (Nieuwboer, 2013;Hely et al., 2008). Risikofaktoren für das Auftretenvon FOG bei Parkinson sind eine initiale Gang-störung und fehlender Ruhetremor bei Diagnose-stellung. Im Verlauf der Krankheit korreliert FOGstark mit Problemen des Gleichgewichts und Stür-zen und anderen Freezingphänomenen wie z. B.Freezing des Schreibens und Sprechens, sowie De-fiziten der Exekutivleistungen (Vercruysse et al.,2012). Eine Verschlechterung der Bradykinese undzunehmender Rigor hängen nicht mit FOG zusam-men (Nutt et al., 2011). Auch scheint Freezing ge-nerell häufiger bei Männern als bei Frauen vor-zukommen (Macht et al., 2007).
Bei atypischen Parkinson-Syndromen sind mo-torische Blockaden ebenfalls zu beobachten: DieHäufigkeit von Freezing liegt bei den vaskulären
Parkinson-Syndromen bei 57%, beim Normal-druckhydrozephalus bei 65% und bei progressiversupranukleärer Blickparese (PSP), bei Multisystem-atrophie vom Parkinson-Typ (MSA-P) und kortiko-basaler Degeneration (CBD) bei 45%. Bei durchMedikamente induziertem Parkinson tritt Freezingkaum auf (Giladi et al., 1997).
Die Kategorisierung von FOG kennt 3 Ansätze:FOG wird eingeteilt nach seinem Ansprechen aufMedikamente, nach der Auslösesituation oder demMuster der Beinbewegungen während der motori-schen Blockade (s. u. (S.77)). Tritt FOG währendder Phase schlechter Mobilität (Off) auf, wird es alsOff-FOG bezeichnet. Nicht L-Dopa-responsivesFOG ist gekennzeichnet durch Blockierungen desGehens während On-Phasen bei ansonsten guterBeweglichkeit (Nieuwboer, 2013). In Off-Phasensind Freezing-Phänomene generell häufiger als inOn-Phasen, da die Gabe von L-Dopa, besonders zuErkrankungsbeginn, diese meist aufzuheben ver-mag (Schaafsma et al., 2003).
Abb. 4.13 Laufband mit partieller Gewichtsentlastungbei Kamptokormie.
Abb. 4.14 Hoher Rollator zur leichteren axialen Auf-richtung.
▶ Einteilung von FOG in Subtypen anhand ver-schiedener Kriterien● Nach dem Zeitpunkt des Auftretens (Fahn,1995):○ Freezing beim Starten (start hesitation)○ Freezing beim Drehen (turning hesitation)○ Freezing in räumlicher Enge (tight quarters he-sitation)
○ Freezing in Zielnähe (destination hesitation)○ Freezing im offenen Raum (open space hesita-tion)
● Anhand unterschiedlicher Bewegungsmuster derBeine (Thompson, 1995):○ FOG mit kleinen, sich beschleunigendenSchritten mit Weggewinn, auch als Festination(lat. festinare = sich beeilen) bezeichnet
○ FOG mit einem Trippeln der Füße auf der Stelleohne Weggewinn
○ FOG als komplette Akinese ohne Beinbewe-gung
Ein funktionales Netzwerk kortikaler und subkor-tikaler Gebiete steuert das Gehen. Direkt verant-wortliche Areale für die Entstehung von Freezingkönnen deshalb nur schwer lokalisiert werden.Störungen der kortikalen und mesenzephalen Lo-komotionszentren unter Beteiligung von supple-mentär motorischem Areal, Striatum und Ncl. pe-
dunculopontinus scheinen bei FOG jedoch ursäch-lich beteiligt (Snijders et al., 2016).
Aktuell beschreiben vier Erklärungsmodelle dieEntstehung von FOG:● Schwellenwert-Modell: Das Gangbild Betroffenerist auch außerhalb der FOG-Episode arrhyth-mischer, asymmetrischer undweniger koor-diniert als das Gehen bei Patienten ohne Freezing.Die klassischen Auslösesituationen, wie z. B. Dre-hungen, erfordern komplexemotorische Gang-muster, die zumveränderten Gangbild einesFreezers noch hinzukommen. Dabeiwird einSchwellenwert überschritten und FOG tritt auf.
● Interferenz-Modell: Während motorischer Auf-gaben kommt es durch zusätzliche kognitiveoder limbische Belastung (dual task) zu konkur-rierenden Informationen innerhalb der gleichenneuronalen Netzwerke, die in momentanerÜberlastung, sichtbar als FOG, resultieren.
● Kognitives Modell: Die eingeschränkte automati-sche Kontrolle infolge der Basalganglienerkran-kung erfordert kognitive kompensatorische Kon-trolle. Da bei Patienten mit FOG gehäuft defizitä-re kognitive Leistungen auftreten, reicht dienutzbare Reserve nicht mehr aus.
● Decoupling-Modell: Ineffektive antizipatorischeHaltungsreaktionen (APA; engl. anticipatory pos-tural adjustments) verhindern eine ausreichendeGewichtsverlagerung vor dem ersten Schritt undverursachen FOG beim Starten (Nieuwboer et al.,2013).
Je nach Auslösesituation können unterschiedlicheKombinationen aus den beschriebenen vier Mo-dellen zur Erklärung von FOG herangezogen wer-den (Vercruysse et al., 2014).
Während der FOG-Episoden nimmt die Schritt-länge kontinuierlich ab, während die Kadenz(Schritte/Minute) abrupt ansteigt (Nieuwboer etal. 2001a). Freezing ist ein eigenständiges Symp-tom und von der Bradykinese bei Parkinson ab-grenzbar (Bloem et al., 2004). Die Trippelbewegun-gen der Beine bei FOG unterscheiden sich vom Par-kinson-Ruhetremor (4–6Hz) hinsichtlich Komple-xität der Beinbewegungen und Frequenz bei FOG(2–4Hz) (Bloem et al., 2004).
Auswirkung auf ADLEine erhöhte Sturzgefahr durch motorische Blocka-den ist nachgewiesen (Latt et al., 2009; Kerr et al.,2010, Hiorth et al., 2014). Sie sind Ursache für ca.25% der Stürze (Michalowska et al., 2005).
Abb. 4.15 Patient mit Kamptokormie im freien Stand.