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Sonderdruck aus Susanne Popp / Michael Sauer / Bettina Alavi / Marko Demantowsky / Alfons Kenkmann (Hg.) Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern Nationale und internationale Perspektiven Mit 24 Abbildungen V& R unipress ISBN 978-3-8471-0087-4
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Akteure versus Strukturen – zum Spannungsverhältnis zwischen Lehrbuch- und Lehrpersonenkonzepten im Geschichtsunterricht. Das Schweizer Beispiel „Hinschauen und Nachfragen“

Dec 08, 2022

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Bernhard Schär
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Sonderdruck aus

Susanne Popp / Michael Sauer / Bettina Alavi /Marko Demantowsky / Alfons Kenkmann (Hg.)

Zur Professionalisierung vonGeschichtslehrerinnen undGeschichtslehrern

Nationale und internationale Perspektiven

Mit 24 Abbildungen

V& R unipress

ISBN 978-3-8471-0087-4

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Inhalt

Susanne PoppZum Stand von Disziplin und Verband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Michael SauerZur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen undGeschichtslehrern. Einführung in das Tagungsthema . . . . . . . . . . . 19

Ewald TerhartAnmerkungen zur Situation und Entwicklung der empirischenForschung zur Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Sektion 1: Was ist ein guter Geschichtslehrer/eine guteGeschichtslehrerin?

Bettina AlaviWas ist ein guter Geschichtslehrer/eine gute Geschichtslehrerin?Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Karl FilserDas Bild des guten Geschichtslehrers – gezeichnet 1774 von JohannMatthias Schröckh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Joke van der Leeuw-RoordHigh-quality History education requires excellent teachers. Trainingeducators in innovative and responsible History education. A Europeanperspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Gerhard Henke-Bockschatz / Christian MehrProfessionalisierung des Lehrerhandelns am Beispiel desproblemorientierten Geschichtsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

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Martin Lücke / Michele BarricelliDiversity, Sozialisation und professionelles Selbstbild vonGeschichtslehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Sektion 2: Zur Sozialisation von Geschichtslehrerinnen undGeschichtslehrern

Marko DemantowskyZur Sozialisation von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern.Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Manfred Seidenfuß / Georg KanertDie Wirksamkeit der Geschichtslehrerbildung. Forschungsansätze undForschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Thomas SandkühlerVom Master zum Meister? Zur Sozialisation künftiger Geschichtslehrerim Land Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Vera Sperisen / Bernhard C. SchärAkteure versus Strukturen – zum Spannungsverhältnis zwischenLehrbuch- und Lehrpersonenkonzepten im Geschichtsunterricht. DasSchweizer Beispiel „Hinschauen und Nachfragen“ . . . . . . . . . . . . . 187

Sektion 3: Strukturen der Geschichtslehrerbildung nach Bologna

Alfons KenkmannStrukturen der Geschichtslehrerbildung nach Bologna. Einführung . . . 203

Meike Hensel-GrobeKompetenzorientierung in der Geschichtslehrerausbildung.Möglichkeiten und Grenzen der Vernetzung von Ausbildungssegmenten 207

Christine PflügerGeschichtslehrerausbildung für den bilingualen Unterricht.Erfordernisse, Strukturen, Perspektiven für die erste Ausbildungsphase . 223

Uwe DankerGeschichtslehrerausbildung im Bolognaprozess. Eine Zwischenbilanz . . 247

Inhalt6

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Sektion 4: Vermittlungsformen in der universitärenGeschichtslehrerbildung

Michael SauerVermittlungsformen in der universitären Geschichtslehrerbildung.Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Anke JohnGeschichtsdidaktik 2.0 – Vom Nutzen und Nachteil internetbasiertenStudierens im Lehramt Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Birgit WenzelWas ist ein gutes Didaktikseminar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Peter Gautschi / Stephan HedigerUnterrichtsvideos in der Ausbildung von Geschichtslehrpersonen . . . . 311

Monika FennVom instruktionalen zum problemorientierten Unterrichtsstil.Modifikation der Handlungsroutinen von Studierenden . . . . . . . . . . 327

Sektion 5: Geschichtslehrerausbildung nach Bologna – europäischeEinblicke

Susanne PoppGeschichtslehrerausbildung nach Bologna – europäische Einblicke.Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Wolfgang HasbergHerausforderungen der Geschichtslehrerbildung. Chancen und Gefahren 351

Elisabeth ErdmannTypen der Geschichtslehrerbildung in Europa . . . . . . . . . . . . . . . 371

!gnes Fischer-D"rdaiGeschichtslehrerbildung im Bologna-System in Ungarn . . . . . . . . . . 387

B#atrice ZieglerWas ist ein „Geschichtslehrer“ in der Schweiz? Das Konzept derGeschichtslehrerbildung in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Inhalt 7

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Vera Sperisen / Bernhard C. Schär

Akteure versus Strukturen – zum Spannungsverhältniszwischen Lehrbuch- und Lehrpersonenkonzepten imGeschichtsunterricht. Das Schweizer Beispiel „Hinschauenund Nachfragen“1

Zum Auftakt ein kurzer Einblick in eine Geschichtsstunde am Gymnasium einerDeutschschweizer Agglomerationsgemeinde: Es ist Montag, kurz vor Mittag unddie Schulstunde neigt sich dem Ende zu. Gerade hat eine Schülergruppe ihrekurze Präsentation zum Thema „Schweizerische Flüchtlingspolitik zur Zeit desZweiten Weltkriegs“ beendet. Dem Kurzvortrag ist eine Gruppenarbeit mit demLehrmittel „Hinschauen und Nachfragen“ vorausgegangen.2 Die Lehrerin hat denSchülergruppen jeweils ein Kapitel zugeteilt, welches sie aufmerksam durchlesenund diskutieren sollten. Als Hilfestellung für die anschließenden Kurzvorträgestanden ihnen drei Fragen aus demselben Lehrmittel zur Verfügung. Diese lau-teten: „Wie verhielt sich die Schweiz? Weshalb handelte sie so und nicht anders?Und wie ist das Verhalten zu bewerten?“3 Jetzt, nach der Präsentation, stehen dievier Schülerinnen und Schüler vor der Klasse und versuchen mit der Zuhörer-schaft die Grenzschließung von 1942 zu diskutieren. Die Lehrerin ergreift dasWort und fragt die Klasse nach den Gründen für die restriktive Flüchtlingspolitik.Nach einigen Schülervoten, die beispielsweise auf eine mögliche militärischeBedrohung durch die Wehrmacht hinweisen, beantwortete sie die Frage mit denWorten: „Der Hauptgrund [für die restriktive Flüchtlingspolitik] war die Angstum die Arbeitsplätze.“4

1 Dies ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des Aufsatzes „Zum Eigensinn derLehrperson im Umgang mit Lehrbüchern. Das Beispiel ,Hinschauen und Nachfragen‘“ er-schienen im Sammelband von Jan Hodel und B!atrice Ziegler (Hrsg.): ForschungswerkstattGeschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 09“. Bern 2011,S. 124 – 134, publiziert beim hep-Verlag.

2 Barbara Bonhage u. a. : Hinschauen und Nachfragen. Die Schweiz und die Zeit des National-sozialismus im Licht aktueller Fragen. Zürich 2006.

3 Ebd., S. 82.4 ID04_V, 32.50.

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Warum handelt die Lehrperson genau so und nicht anders? Warum nutzt sie dasLehrmittel in ihrem Unterricht auf diese Weise? Warum wirft sie diese Frage ein,und warum leitet sie die Schülerinnen und Schüler mit dieser Antwort an? In derSchulbuchforschung und der geschichtsdidaktischen Fachliteratur gelten Ge-schichtslehrmittel als Leitmedien des Geschichtsunterrichts.5 Auch wenn em-pirische Untersuchungen gezeigt haben, dass Schulbücher nur eines untermehreren Medien sind, die Lehrpersonen im Unterricht verwenden, wird davonausgegangen, dass diese Bücher die Arbeit von Lehrpersonen beeinflussen unddiese sich somit auf die Lehr-Lernprozesse im Unterricht auswirken.6 Gerade inder Deutschschweizer Bildungslandschaft wird den Lehrmitteln traditionell einbesonders hoher Stellenwert für die Unterrichtsentwicklung zugesprochen.Lehrmittel gelten hier, im Gegensatz zu Lehrplänen, als die eigentlichen Steue-rungsmittel zur Implementierung von inhaltlichen Bildungsreformen.7 Ge-schichtslehrmittel stellen folglich ein Instrument dar, an welches Schulbuch-autoren und Geschichtsdidaktikerinnen die Hoffnung knüpfen, das Geschehenim Schulzimmer lenken zu können, um die „Qualität“ von Geschichtsunterrichtzu erhöhen.

Was den Forschungsstand betrifft, gilt immer noch Jörn Rüsens Beobach-tung: „Es gibt so gut wie keine empirische Untersuchungen über den prakti-schen Gebrauch von Schulbüchern.“8 Ein wichtiger Grundstein zur Erforschungder Schulbuchnutzung ist von Bodo von Borries, Claudia Fischer, Sibylla Leut-ner-Ramme und Johannes Meyer-Hamme gelegt worden, die 2002 eine Schüler-und Lehrerbefragung zur Nutzung von Schulbüchern durchführten.9 Die Zu-sammenhänge und Widersprüche zwischen der Deutung und Beurteilung vonSchulbüchern und dem konkreten Unterrichtshandeln mit Schulbüchern, blie-ben aber weitgehend unerforscht. Es handelt sich dabei nicht nur um ein em-pirisches Problem, sondern auch um eine theoretische Herausforderung. Soexistieren unseres Wissens bislang kaum theoretische Konzepte, die den Zu-

5 Vgl. Waltraud Schreiber/Stephan Bleitzhofer/Michael Erber : Werkstattbericht: KategorialeInhaltsanalyse von Schulbuchtexten oder erkennen lernen, wie mit Hilfe von Schulbüchernder reflektierte Umgang mit Geschichte gefördert werden kann. In: Zeitschrift für Ge-schichtsdidaktik 2 (2003), S. 69 – 88 und Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen undParadigmen. Köln u. a. 1994, S. 156.

6 Vgl. Jan Hodel/Monika Waldis: Sichtstrukturen im Geschichtsunterricht – die Ergebnisse derVideoanalyse. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirischeAnalyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 91 – 142.

7 Rudolf Hadorn: Zum allmählichen Verschwinden der Geschichte aus dem Schulunterricht. In:Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 3 (2001), S. 368 – 371, hier S. 369.

8 Vgl. Rüsen (Anm. 5), S. 162.9 v. Borries, Bodo u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse

im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung imdeutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2002 (Bayerische Studien zur Geschichts-didaktik, Bd. 9).

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sammenhang zwischen Schulbüchern und dem Berufshandeln von Lehrperso-nen adäquat beschreiben und erklären.

Hier setzt unser qualitativ angelegtes Forschungsprojekt an. Zwischen 2008und 2010 wurden zwanzig Geschichtslehrpersonen aus der Deutschschweiz dazubefragt, wie sie ein bestimmtes Geschichtslehrmittel interpretieren, beurteilenund wie sie es im Unterricht einsetzen. Sechs Lehrpersonen besuchten wir imUnterricht, als das Lehrmittel zum Einsatz kam. Mit Hilfe der daraus gewon-nenen Erkenntnisse lässt sich die These vom Geschichtslehrmittel als „Leitme-dium“ des Unterrichts präzisieren. Wir stellten fest, dass die Deutung und derEinsatz des Lehrmittels von Lehrperson zu Lehrperson stark differierten. DieseUnterschiede haben mit unterschiedlichen berufsbiographischen Erfahrungenzu tun. So lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen der beruflichen So-zialisation von Lehrpersonen und den jeweiligen Handlungsmustern im Um-gang mit Lehrmitteln rekonstruieren.

Die eingangs beschriebene Unterrichtsszene stammt aus einer Unterrichts-beobachtung, die im Rahmen dieses Projekts bei der Geschichtslehrerin LeaWeber10 durchgeführt wurde. Wir werden anhand von Frau Webers Unterrichtaufzeigen, dass sich geschichtstheoretische, inhaltliche und didaktische Vor-stellungen von Lehrpersonen und Lehrmittel fundamental widersprechen kön-nen. Dies führt im konkreten Fall dazu, dass der praktizierte Unterricht unge-wollt und unbewusst die Programmatik des Lehrmittels auf den Kopf stellt.Daraus schließen wir, dass die sozialisatorisch erworbenen berufshabituellenDispositionen für das Unterrichtshandeln der Lehrpersonen relevanter sind alsdie Lehrbuchkonzepte. Im Folgenden schildern wir zunächst die Ausgangslageunseres Forschungsprojektes. Danach beschreiben wir den theoretischen Rah-men unserer Untersuchung, um zum Schluss ausführlicher auf den Fall LeaWeber eingehen zu können.

1. Zur Ausgangslage: Ein Erinnerungskonflikt im Schulbuch

Den Ausgangspunkt unserer Forschung bildet das Lehrmittel „Hinschauen undNachfragen. Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktuellerFragen“, das im Jahr 2006 erschienen ist und sich an 14- bis 18-jährige Schü-lerinnen und Schüler der Sekundarstufe I und II richtet.11 Dem Lehrmittel liegenErkenntnisse der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – ZweiterWeltkrieg“ (UEK) zugrunde.12 Diese hatte zwischen 1996 und 2001 im Auftrag

10 Name geändert.11 Für ausführliche Informationen zum Buch siehe www.hinschauenundnachfragen.ch.12 Peter Gautschi: Geschichtslehrmittel als eigenwilliger Beitrag zur Geschichtskultur. In:

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von Regierung und Parlament die Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zu NS-Deutschland sowie die schweizerische Flüchtlingspolitik während des ZweitenWeltkriegs untersucht.13 Die Ergebnisse der UEK stießen von nationalkonser-vativer Seite auf erhebliche Kritik, die sich auch gegen das Lehrmittel richtete. Sowar ein Parteisprecher der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei(SVP) bereits 2003 überzeugt, das geplante Buch werde zur „Verdummung derGesellschaft“ beitragen.14

Der Erinnerungskonflikt, der sich rund um die Arbeiten der UEK und dasLehrmittel manifestiert, lässt sich als Teil der Transnationalisierung der Ho-locausterinnerung verstehen. Im Rahmen dieser Entwicklung tragen seit den1990er Jahren auch Staaten, die nicht unmittelbar in den Holocaust verwickeltwaren, national variierende Kontroversen über die eigene Weltkriegsvergan-genheit und ihre nationale Identität aus.15 In der spezifisch schweizerischenVariante stehen sich zwei erinnerungspolitische Lager gegenüber : Hier dasnationalkonservative Lager, das das Bild einer neutralen Widerstandsnationhochhält, die dank militärischem Verteidigungswillen vom Zweiten Weltkriegverschont blieb und ihre humanitären Pflichten so gut wie möglich erfüllte. Dortdas linksliberale Lager, das das Bild einer Nation vertritt, die vor allem Dankwirtschaftlicher Kollaboration und politischen Zugeständnissen an NS-Deutschland überlebte.16

2. Erkenntnisinteresse und theoretische Einbettung

In unserem Forschungsprojekt verfolgten wir zwei grundsätzliche Erkenntnis-interessen.

In einem ersten Schritt beschäftigten wir uns mit dem Lehrmittel „Hin-schauen und Nachfragen“. Uns interessierte, wie sich das Geschichtslehrmittelin der polarisierten schweizerischen Erinnerungslandschaft positioniert. Wiruntersuchten, auf welche Weise sich der Erinnerungskonflikt im Lehrmittel

Oswalt Vadim u. a. (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in derGegenwart. Schwalbach/Ts. 2009, S. 34 – 46, hier S. 35.

13 Siehe auch www.uek.ch.14 Der Bergier-Bericht hält Einzug in die Schule. In: Neue Zürcher Zeitung vom 4. 3. 2006, S. 37.15 Jan Eckel/Claudia Moisel: Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Ge-

schichtspolitik in internationaler Perspektive. Göttingen 2008 und Daniel Levy/NatanSznaider : Erinnerungen im globalen Zeitalter : Der Holocaust. Frankfurt/M. 2001.

16 Markus Furrer : Die Nation im Schulbuch zwischen Überhöhung und Verdrängung. Leit-bilder der Schweizer Nationalgeschichte in Schweizer Geschichtslehrmitteln der Nach-kriegszeit und Gegenwart. Hannover 2004 und Thomas Maissen: Verweigerte Erinnerung.Nachrichtenlose Vermögen und die Schweizer Weltkriegsdebatte 1989 – 2004. Zürich 2005.

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manifestiert und auf welche Weise das Lehrmittel diesen Konflikt in den Ge-schichtsunterricht hineinträgt.17

In einem zweiten Schritt interessierte uns der Umgang der Lehrpersonen mitdem Lehrbuch „Hinschauen und Nachfragen“. Wir beschäftigten uns mit derFrage, wie Geschichtslehrpersonen mit unterschiedlichen berufsbiographischenund sozialen Hintergründen das Lehrmittel a) für sich selber interpretieren undb) in ihrer konkreten Unterrichtspraxis einsetzen. Die vorliegende Falldarstel-lung widmet sich diesem zweiten Teil unseres Erkenntnisinteresses.

Die unserer Forschung zugrunde liegende theoretische Perspektive ist einewissenssoziologische. Diese untersucht, „wie es vor sich geht, dass gesell-schaftlich entwickeltes, vermitteltes und bewahrtes Wissen für den Mann [unddie Frau] auf der Straße zu außer Frage stehender ,Wirklichkeit‘ gerinnt“.18 DerSchule kommt in diesem Prozess eine bedeutende Rolle zu. Sie entwickeltRoutinen, um Menschen aus den nachwachsenden Generationen mit jenemWissen und jenen Fähigkeiten auszustatten, mit dem „einerseits das Individuumhandlungsfähig und andererseits das soziale System über Generationen funk-tions- und überlebensfähig“ gemacht werden soll.19 Diese „Doppelfunktion“ vonSchule – Reproduktion von Gesellschaft und Förderung der Autonomie desIndividuums – scheint uns mit einem Konzept von Pierre Bourdieu gut fassbarzu sein. Er hat vorgeschlagen, Schulen wie „Religion in den primitiven (sic!)Gesellschaften“ zu betrachten, nämlich als eine Institution, „die Individuen miteinem gemeinsamen Bestand an Denkkategorien ausstattet und damit Kom-munikation ermöglicht“.20 Die Vermittlung von Denkkategorien und Hand-lungsroutinen zur Einübung dieser Denkkategorien nennt Bourdieu die „kul-turelle Integrationsfunktion“ von Schule. Sie ermöglicht Menschen, an ge-sellschaftlichen Kontroversen teilzunehmen, die spezifisch sind für die Kulturund die Zeit, in der sie leben. Dabei gilt es zu beachten, dass die Schule kei-nesfalls uniforme Interpretationen der Welt oder gar Einstellungen zu dieserproduziert. Im Gegenteil : Die Schule vermittelt nur einen Konsens über dierelevanten Kategorien, mit welchen über eine gemeinsam geteilte „Problem-stellung“ gesprochen werden kann. Innerhalb dieser Problemstellung herrschtselten Einigkeit. Aber : „Die Uneinigkeit setzt Einigkeit über die Uneinigkeits-

17 Ausführlich dazu Bernhard C. Schär/Vera Sperisen: Switzerland and the Holocaust. Teachingcontested history. In: Journal of Curriculum Studies. National History and Beyond – PartThree 5 (2010), S. 649 – 669.

18 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.Frankfurt/M. 2004, S. 3.

19 Helmut Fend: Gesellschaftliche Bedingungen schulischer Sozialisation. Weinheim 1976, S.5.20 Pierre Bourdieu: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik.

Hamburg 2001, S. 86.

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bereiche voraus“.21 Und genau darin bestehe, so Bourdieu, die kulturelle Inte-grationsfunktion der Schule.

Bezogen auf den Geschichtsunterricht werden nachfolgende Generationenzum einen mit Wissen und Werten vertraut gemacht. Zum anderen vermitteltGeschichtsunterricht aber auch Kompetenzen.22 Dazu zählen namentlich diemethodischen Fähigkeiten, um innerhalb der als gesellschaftlich relevant ge-setzten Denkkategorien, Fragestellungen, Perspektiven und eben Problemstel-lungen zu selbstständigen Deutungen und Beurteilungen von Vergangenheit zugelangen. Damit lassen sich auch einige der institutionalisierten Erwartungen anGeschichtslehrpersonen umreißen. Ihre Aufgabe ist es, den Spagat zu meisternzwischen der Tradierung von autoritativen Vergangenheitsdeutungen (Wissen)und der Förderung der Deutungsautonomie von Jugendlichen (Kompetenzen).

Wie dieses Spannungsverhältnis, das dem Beruf der Geschichtslehrpersoneninhärent ist, aus der „Teilnehmerperspektive“ (Habermas) von den Berufsleutenselber gedeutet wird und wie sie damit umgehen, ist eine empirische Frage, zuder bislang noch kaum geforscht wurde. Aus soziologischer Optik ist davonauszugehen, dass Lehrpersonen unterschiedliche Deutungs- und Handlungs-routinen ausbilden. Um diese theoretisch besser fassen zu können, lehnen wiruns an das Habituskonzept von Pierre Bourdieu an. Er versteht unter Habitus-formen „Systeme dauerhafter Dispositionen“, die Menschen im Verlauf ihrerSozialisation verinnerlichen und die in der Folge das Denken und Handeln vonMenschen strukturieren.23 Seine Theorie des Handelns vermittelt zwischenstreng strukturalistischen Ansätzen, die soziale Handlung als weitgehend de-terminiert betrachten und solchen Handlungstheorien, welche auf die Intention,die Ziele und Zwecke von handelnden Akteuren fokussieren.24 Bourdieu schreibtdem Habitus eine Doppelfunktion als „strukturierte und strukturierendeStruktur“ zu.25 Der Habitus ist entlang der Erfahrungen und dem bisherigenLebenslauf der sozialen Akteure gebildet und inkorporiert worden (struktu-rierte Struktur) und prägt wiederum die Art des Handelns dieser sozialen Ak-teure in der Gegenwart (strukturierende Struktur).

Der Habitus strukturiert die Wahrnehmung der (Lehr-)Person, ihre Art zudenken, ihre Sichtweise auf die soziale Welt und auch die alltäglichen (berufli-chen) Handlungen. Jede Geste, jede Frage, jede Antwort ist eine Entscheidungder handelnden (Lehr-)Person, die aber nicht durchweg bewusst, sondern

21 Ebd., S. 88.22 Vgl. Furrer (Anm. 16), S. 58.23 Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der

kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1976, S. 165.24 Pierre Bourdieu: Feine Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.

1987.25 Ebd., S. 279.

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weitgehend über habitualisierte Handlungsmuster gefällt wird. Muster, die sichdas Individuum im Laufe des Lebens sozialisatorisch angeeignet hat. In unseremFall haben wir uns primär auf jene Dispositionen konzentriert, die für den Berufvon Bedeutung sind, und nannten sie daher „berufshabituelle Dispositionen“.Dazu zählten wir fundamentale Vorstellungen von Geschichte, vom konkretenThema „Schweiz – Zweiter Weltkrieg“, über die allgemeinen Ziele des Ge-schichtsunterrichts, didaktische Leitvorstellungen, aber auch Vorstellungen vonden Bedürfnissen von Schülerinnen und Schülern.

In eine wissenssoziologische Sprache übersetzt lässt sich unsere Fragestel-lung wie folgt formulieren: 1) Auf welche Weise wird der Konflikt um die richtigeErinnerung an die Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs imLehrmittel „Hinschauen und Nachfragen“ für den Geschichtsunterricht objek-tiviert? 2) Wie gehen Lehrpersonen – mit unterschiedlichen berufshabituellenDispositionen – mit den objektivierten Merkmalen im Lehrmittel um?

3. Methode

Das methodische Vorgehen gestaltete sich wie folgt: Zunächst haben wir dasLehrmittel in Anlehnung an die Methode der Objektiven Hermeneutik se-quenzanalytisch analysiert, um so seine grundlegenden Gestaltungsprinzipienzu rekonstruieren.26 In einem zweiten Schritt haben wir Geschichtslehrpersonenunterschiedlichen Geschlechts und Alters, aus unterschiedlichen geographi-schen Regionen, mit unterschiedlichen berufsbiographischen Hintergründenund Weltanschauungen (Stichwort: theoretical sampling) mithilfe eines Leitfa-dens zu ihrer Einschätzung des Lehrmittels sowie zu ihrem beruflichen Wer-degang und ihren Erfahrungen mit dem Thema „Schweiz – Zweiter Weltkrieg“interviewt. Die transkribierten Interviews haben wir ebenfalls sequenzanaly-tisch ausgewertet, um die oben erwähnten berufshabituellen Dispositionen zuerschließen. Diese Dispositionen verglichen wir in einem dritten Schritt mit derProgrammatik des Lehrmittels. Schließlich konnten wir den Unterricht vonausgewählten Lehrpersonen videographieren. Diese Unterrichtsvideos habenwir sequenzanalytisch auf die Frage hin ausgewertet, auf welche Weise die zuvorerhobenen Dispositionen sich im konkreten Umgang der Lehrperson mit demLehrmittel niederschlägt.

26 Zur Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik siehe AndreasWernet: Hermeneutik – Kasuistik – Fallverstehen. Eine Einführung. Stuttgart 2006.

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4. Der Fall Lea Weber

Bevor wir näher auf den Fall Lea Weber eingehen, thematisieren wir ausgewählteMerkmale des Lehrmittels, die für die anschließende Falldarstellung von Inter-esse sind.

Beim Lehrmittel „Hinschauen und Nachfragen“ handelt es sich um eine na-tionalgeschichtliche Darstellung. Ein strukturierendes Merkmal dieser Ge-schichtsdarstellung ist der akteursorienterte Ansatz. Neben dem Subjekt „dieSchweiz“ werden auch andere Kollektivakteure benannt; beispielsweise „dieRegierung“ oder „die Unternehmen“.27 Wie dem Vorwort des Lehrmittels ent-nommen werden kann, geht es primär um die Frage, wie „Menschen in derSchweiz“ und „die Schweiz“ auf die Shoa und die damit verbundenen Heraus-forderungen reagiert haben. So heißt es im Vorwort: „Wie verhielten sich dieMenschen in der Schweiz, als sich ein befreundeter Nachbarstaat in eine Dik-tatur verwandelte, die politische Opposition unterdrückte, die Juden und andereMinderheiten diskriminierte, vertrieb und schließlich ermorderte? Hätten sichRegierung, Unternehmen und Privatpersonen damals anders verhalten könnenoder sollen? Wer trägt welche Verantwortung und warum handelten die Ent-scheidungsträger so, wie sie es taten?“28 Gefragt wird nach Handlungsmög-lichkeiten von historischen Akteuren während der Zeit des Zweiten Weltkriegs.Das didaktische Konzept des Lehrmittels sieht vor, „keine vorgefertigten Ant-worten“ zu liefern.29 Vielmehr wolle es „anregen, denselben Sachverhalt unterverschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, immer wieder neu zu befragen undje nach Standpunkt neue Antworten zu entwickeln“.30 Das Ziel ist mithin, dassJugendliche die Frage nach dem Umgang der Schweiz mit der moralischenHerausforderung der Shoa selbstständig deuten sowie in ihren moralischen undpolitischen Implikationen für die Gegenwart selbstständig beurteilen. DasLehrmittel bietet hierfür fünf Kapitel mit Autorentexten, Quellenmaterialienund Arbeitsaufträgen an. Nebst einem Kernkapitel, das Resultate der UEK-Forschung referiert, enthalten andere Kapitel Porträts, eine makrogeschichtli-che Einordnung der Schweiz im europäischen Umfeld zwischen 1914 bis 1945und eine Schilderung der Kontroversen der 1990er Jahre. Das letzte Kapitelthematisiert die Wiedergutmachung von vergangenem Unrecht. Eine weitereBesonderheit des Lehrmittels ergibt sich aus der Art und Weise, wie die Er-gebnisse der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg(UEK) an die Leserschaft herangetragen werden. Im Lehrmittel wird darauf

27 Die Formulierung „die Schweiz“ wird mit 1082 Nennungen mit Abstand am häufigstenverwendet.

28 Vgl. Barbara Bonhage u. a. (Anm. 2), S. 5.29 Ebd.30 Ebd., S. 7.

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verzichtet, den Kern der Problemstellung oder gar die Hauptthesen der UEKbegrifflich scharf auf den Punkt zu bringen. Es tut dies auf eine zurückhaltendeWeise.31

Der akteursorientierte Ansatz mit einer nationalgeschichtlichen Perspektive,die Frage nach Verantwortlichen und Verantwortung (ohne aber das „Wofür“dieser Verantwortlichkeit begrifflich genau fassen zu können) und die sprach-lich zurückhaltende Vermittlung der UEK-Interperationen bilden Struktur-merkmale des Lehrmittels, mit welchen sich Geschichtslehrpersonen ausein-andersetzen müssen, wenn sie das Thema mit diesem Buch unterrichten. WieLea Weber damit umging, soll abschließend erörtert werden.

4.1 Interview mit der Lehrperson

In einem ersten Interview baten wir Lea Weber um eine kritische Würdigung desLehrmittels. Sie kam zu einem ambivalenten Urteil. Das Kernkapitel (Kapitel 4),in welchem die Ergebnisse der Unabhängigen Expertenkommission referiertwerden, fand sie äußerst gelungen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie darin denaktuellen Stand der Wissenschaft erkannte und sich den wissenschaftlichenErgebnissen der Bergierkommission verpflichtet fühlt:32 „Das Lehrmittel hältsich an die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Bergier, das finde ich, ist dasEntscheidende.“33 Die Wissenschaft als Orientierungs- und Ankerpunkt helfeihr gerade dort, wo man sich politisch auf Glatteis begebe: „Ich sage dann, das isthistorisch erforscht und versuche klar zu machen, was Wissenschaft ist.“34 DasKapitel 5 über die „Anerkennung und Wiedergutmachung von vergangenemUnrecht“ fand sie hingegen befremdend und das Kapitel 1 mit Porträts von„Menschen in der Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs“ schien ihr vomgeschichtstheoretischen Zugang her veraltet.35 Denn „man“ wolle eigentlich vonder Vorstellung wegkommen, „dass Geschichte von Menschen gemacht wird“.36

Vielmehr seien „Strukturen“ und „Prozesse“ die geschichtsmächtigen Faktoren.„Ich versuche den Schülern gerade klar zu machen, dass nicht Hitler die Judenumgebracht hat und nicht Hitler schuld ist. Sondern eben zu zeigen, wie dasgesellschaftliche Prozesse sind“.37 Und weiter : „Mein Verständnis ist nicht, dass

31 Vgl. Schär/Sperisen (Anm. 17).32 Umgangssprachlich wird die UEK auch nach ihrem Vorsitzenden Jean-FranÅois Bergier als

„Bergierkommission“ bezeichnet.33 ID04 = Zitate von Lea Weber, hier ID04, Z. 1104 – 1107.34 ID04, Z. 1830 – 1833.35 Vgl. Bonhage u. a. (Anm. 2), S. 116 – 139 sowie S. 8 – 33.36 ID04, Z. 949.37 ID04, Z. 1020 – 1029.

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die Geschichte von Menschen gemacht wird, sondern es mehr um Strukturen,Mechanismen und lang dauernde Entwicklungen geht.“38

Die Zitate illustrieren ein strukturalistisches Geschichtsverständnis. EineKonsequenz aus diesem ist, dass Frau Weber historische Schuld oder Verant-wortung nicht thematisieren kann. Denn wenn in ihrem Geschichtsverständnisnicht einmal „Hitler schuld ist“, erübrigen sich auch Fragen nach Schuld undVerantwortung von schweizerischen Entscheidungsträgern. Damit zeichnet sichab, dass Frau Webers Geschichtskonzeption sich diametral entgegengesetzt zujener des Lehrmittels verhält, das ja explizit nach den Handlungsräumen und derhistorischen Verantwortung von handelnden Subjekten in der Schweiz fragt.Schließlich sieht Frau Weber eine starke Opposition zwischen einer „wissen-schaftlichen“ Betrachtung von Geschichte und einer politischen oder morali-schen Betrachtungsweise. Sie sieht es daher als ihre Aufgabe an, ihre Schüle-rinnen und Schüler mit der wissenschaftlichen Betrachtungsweise von Ge-schichte vertraut zu machen – eine Betrachtungsweise, die sie mit einerstrukturgeschichtlichen Optik gleichsetzt und die sie grundsätzlich durch den„Bergier-Bericht“, wie er im Lehrmittel dargestellt wird, gestützt sieht.

4.2 Unterrichtsbeobachtung

Einige Wochen nach unserem Interview konnten wir Frau Weber beim Unter-richten einer Matura-Klasse besuchen.39 Unsere einzige Vorgabe war, dass dasLehrmittel „irgendwie“ im Unterricht genutzt werde. Ihr Unterrichtsaufbau waran diesem Vormittag dreigeteilt. Die Einstiegssequenz war als Einführung in dieGeschichte der 1990er-Jahre konzipiert, wobei Frau Weber die Vorwürfe, „die indiesen Jahren an die Schweiz gerichtet wurden“, präsentierte: Das stillschwei-gende Einbehalten nachrichtenloser jüdischer Depot- und Kontenvermögen beiSchweizer Banken, die schweizerische Flüchtlingspolitik, die Übernahme vonRaubgut und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland.40 DieKlasse wurde daraufhin beauftragt, anhand der wissenschaftlichen Resultate derUEK, wie sie in Kapitel 4 des Lehrmittels referiert werden, zu überprüfen, in-wiefern diese Vorwürfe gerechtfertigt waren oder nicht. Hierzu bildeten dieSchülerinnen und Schüler Arbeitsgruppen mit den Themen „Rüstungsindu-strie“, „Raubgold“, „Flüchtlingspolitik“ und „Finanzplatz“, was den Unterka-piteln im Buch entspricht. Sie lasen die Textpassagen durch, fassten die wich-tigsten Inhalte zusammen und präsentierten diese anschließend der gesamten

38 ID04, Z. 952.39 Die Maturität ist das schweizerische Äquivalent zum Abitur in Deutschland.40 ID04_V, 6.51.

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Klasse. Die Leitfragestellungen für die Gruppenarbeiten übernahm Frau Weberaus dem Lehrmittel, diese lauteten: „Wie verhielt sich die Schweiz? Weshalbhandelte sie so und nicht anders? Und wie ist das Verhalten zu bewerten?“41

Diese Fragen zielen neben der Beschreibung von historischen Entscheidungender wirtschaftlichen und politischen Verantwortlichen auch auf den Hand-lungsspielraum der damaligen Akteure und die Beurteilung ihrer Entschei-dungen ab. Sie entsprechen dem akteursorientierten Ansatz des „Hinschauenund Nachfragen“, wobei auch moralische Fragen aufgeworfen werden. GegenEnde der Doppellektion präsentierten die Gruppen ihre Ergebnisse im Plenum.Nach jeder Präsentation kommentierte Frau Weber die Schüleraussagen undstellte eigene Fragen an die Klasse. Bei der Auswertung der Videodaten waren dieKommentare der Lehrperson im Anschluss an die Referate äußerst ergiebig.Frau Weber behielt mit ihnen sozusagen „das letzte Wort“ bei jeder Unter-richtssequenz.

Wenn wir nun das Augenmerk auf die Frage richten, wie sich das Span-nungsverhältnis zwischen den Merkmalen des Lehrmittels einerseits und denberufshabituellen Dispositionen der Lehrerin andererseits im Unterricht nie-derschlugen, so können vier Thesen formuliert werden: Erstens, durch dieLehrerkommentare zwischen den einzelnen Unterrichtssequenzen wurden dieakteurs- und handlungsorientierten Lehrmittelvorgaben in eine strukturalisti-sche Geschichtsdeutung überführt. Zweitens, Frau Weber vermittelte mit ihremUnterricht trotz gegenteiliger Intention ein Geschichtsbild, das dem national-konservativen Lager näher steht als jenem der UEK, dem sie sich selber ver-pflichtet fühlt. Drittens, auch wenn moralische Fragen aus dem Buch in denUnterricht eingeführt worden sind, verschwanden diese im Laufe des Unter-richts undiskutiert von der Bildfläche. Viertens, Frau Weber bietet den Schü-lerinnen und Schülern nach jeder Unterrichtssequenz ein abgerundetes, histo-risches Narrativ an und widerspricht damit dem didaktischen Anspruch desLehrmittels, „keine vorgefertigten Antworten“ zu liefern.42

Diese Thesen sollen nachfolgend durch die Beschreibung dreier Unter-richtssequenzen illustriert werden:

Im Referat der Arbeitsgruppe „Flüchtlingspolitik“ wurde über die Einfüh-rung des J-Stempels referiert.43 Im Anschluss an das Referat der Schülergruppewarf Lea Weber die Frage nach dem Grund für die Einführung des J-Stempelsauf: „Was war der Anlass für das Begehren der Schweizer Behörden inDeutschland diesen J-Stempel in die Pässe von Nicht-Ariern zu stempeln?“44

41 Vgl. Bonhage u. a. (Anm. 2), S. 82.42 Ebd., S. 5.43 Georg Kreis: Die Rückkehr des J-Stempels. Zur Geschichte einer schwierigen Vergangen-

heitsbewältigung. Zürich 2002.44 ID04_V, 27.40. .

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Nach einzelnen Schülerkommentaren beantwortete Frau Weber die Frage ab-schließend: „Der Anschluss [die De-facto Annexion Österreichs 1938] war derAuslöser. Da gab es nochmals eine Welle von österreichischen Juden und Jü-dinnen, die versuchten via und in die Schweiz zu kommen. Das löste diesesBegehren aus.“45 Diese Antwort stellt die Geschichte als Kette von in der „Natur“(„die Welle“) wurzelnden Impulsen und quasi-automatischen Reaktionen (der J-Stempel) dar. Die Schweizer Behörden werden damit nicht, wie dies der Pro-grammatik des Buches entspricht, als aktiv handelndes Subjekt dargestellt. Umdies zu tun, hätten bereits in der Frage die Handlungsmotive angesprochenwerden müssen. Die Thematisierung von Handlungsspielräumen – und damitverbunden von Verantwortung – wird so verunmöglicht.

Frau Webers Kommentar auf die Frage, warum Nazi-Deutschland Gold an dieSchweiz verkauft hatte, wies in dieselbe Richtung: „Der springende Punkt ist,Deutschland brauchte den Schweizer Franken, weil es eine Devise war, an dieDeutschland herankam und die von allen anderen akzeptiert wurde.“46 Ihrhistorischer Blick blieb auf das strukturelle Funktionieren des Devisenmarkteswährend des Zweiten Weltkriegs fokussiert. Dabei werden mit dem Kauf vonGold aus Nazi-Deutschland einzig ökonomische Marktgesetze befolgt. Erneutwird die Schweiz nicht als aktives, sondern als passiv reagierendes Subjektdargestellt.

Dieselbe Strukturlogik war schließlich auch im Anschluss an die eingangsbeschriebene Präsentation einer zweiten Gruppe zur „Flüchtlingspolitik“ re-konstruierbar. Die Klasse diskutierte die Schließung der Schweizer Grenze imJahr 1942. Im Gespräch warf Frau Weber die Frage nach den Gründen für dieserestriktive Flüchtlingspolitik auf. Nach einigen Schülervoten, die beispielsweiseauf eine mögliche militärische Bedrohung durch die Wehrmacht hinwiesen,beantwortete Frau Weber die Frage mit den Worten: „Der Hauptgrund war dieAngst um die Arbeitsplätze.“47 Auch hier fiel ein strukturalistisches Argument,das volkswirtschaftliche Überlegungen in den Blick nimmt. Lea Weber folgtedamit einer Logik, in welcher das Handeln der Behörden als einem Zwang ge-horchend – unter dem Diktat der Volkswirtschaft stehend – dargestellt wurde.Der Aspekt des Antisemitismus blieb ausgeblendet und wurde in der besuchtenDoppellektion von Frau Weber nie erwähnt. Auch nachdem Schülerinnen undSchüler Antisemitismus zur Sprache brachten, ging sie nicht weiter darauf ein.

In welchem Verhältnis stehen diese Aussagen nun zum Lehrmittel? Obschondas Passungsverhältnis zwischen dem Lehrmittel und der vorliegenden Unter-richtspraxis in wichtigen Punkten stark differiert, ging Frau Weber mit diesen

45 ID04_V, 27.40.46 ID04_V, 19.47 ID04_V, 32.50.

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Widersprüchlichkeiten souverän und ohne Irritation um. Die Leitfragen für dieGruppenarbeit, welche aus dem Buch übernommen wurden, sind nicht mit FrauWebers Strukturalismus zu vereinbaren, weshalb sie ganz unbemerkt aus demUnterricht verschwanden. Wenn wir dieses Ergebnis vor dem eingangs ge-schilderten Erinnerungskonflikt in der Schweiz verorten, kommen wir zu einemparadoxen Ergebnis. Das im Unterricht entwickelte Geschichtsbild – eine pas-sive Nation, die strukturellen Zwängen folgt – passt zum nationalkonservativenDiskurs, wonach sich die Frage nach der Mitverantwortung der Schweiz für denHolocaust nicht stellt. Schließlich weicht Frau Webers Unterricht auch auf di-daktischer Ebene vom Lehrbuch ab. Während das Lehrmittel den Anspruchformuliert, dass Schülerinnen und Schüler ein Denkraum zur Entwicklung voneigenen Deutungen angeboten werden müsse, schließt Frau Weber diese Räumejeweils wieder, indem sie jede Unterrichtssequenz mit einem eigenen Kom-mentar abschließt und damit die strukturalistische, „quasi-richtige“ Interpre-tation als „letztes Wort“ im Raum stehen lässt.

5. Fazit

Kommen wir zurück zur Eingangsfrage nach dem „Warum“. Warum handeltFrau Weber gerade so und nicht anders? Oder noch präziser : Warum handelt sietrotz des gegenteilig konzipierten Lehrmittels im Unterricht unter struktura-listischen Vorzeichen?

Erklärungen für berufshabituelle Dispositionen finden sich primär in derAusbildung und im beruflichen Werdegang von Lehrpersonen. Es geht um dieberufliche Sozialisation von Frau Weber – in diesem Fall hinsichtlich ihrerprinzipiellen Vorstellung von geschichtsmächtigen Faktoren. Und tatsächlichscheint der strukturalistische Blick auf die Geschichte eng mit den Studienjahrenvon Frau Weber in Verbindung zu stehen. Jedenfalls studierte sie zu einer Zeitund bei Professoren, wo strukturalistische Geschichtsmodelle, unter anderemgeprägt durch die Annales-Schule, den Diskurs dominierten.

Ein normatives Urteil über den vorgefundenen Unterricht zu fällen ist wederAufgabe noch Ziel unseres Forschungsprojekts. Wir erlauben uns trotzdem einekritische Anmerkung, die gleichzeitig auch als Anregung zur Unterstützung undProfessionalisierung von Geschichtslehrpersonen gelesen werden kann. UnseresErachtens ist es grundsätzlich nicht problematisch, dass Frau Weber einestrukturalistische Sichtweise auf historische Zusammenhänge hat und dass siedieses Geschichtsbild an die Schülerinnen und Schüler weitervermittelt. DieseTatsache ist der Heterogenität von Lehrpersonen und deren unterschiedlichenberufsbiographischen Hintergründen geschuldet. Gerade in Anbetracht desKonstruktionscharakters von Geschichte ergibt sich eine solche Vielfalt orga-

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nisch aus der Sache heraus. So wird die Unterrichtspraxis auch in Zukunft einVermittlungsfeld für unterschiedlichste Forschungspositionen und Ge-schichtsverständnisse von verschiedensten Lehrpersonen sein. Problematischam Fall Weber scheint uns allerdings der Punkt, dass sie ihren Schülerinnen undSchüler ein historisches Narrativ vermittelt, welches sie laut ihren eigenenAussagen nicht vertreten will : Sie spricht sich im Interview explizit für dieForschungsposition der UEK und gegen ein nationalkonservatives Geschichts-bild aus. Ihre Unterrichtsintention und ihr Handeln driften an diesem Punktweit auseinander. Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Vermittlung desGeschichtsverständnisses während des Unterrichts eine zu einem hohen Gradhabitualisierte Handlung ist. Dieses Spannungsfeld zwischen Intention undHandlung könnte einzig durch die Bewusstwerdung des Unbewussten aufgelöstwerden. Beispielsweise in der Form einer Supervision, bei welcher die videog-raphierten und analysierten Lektionen gemeinsam mit der Lehrperson be-sprochen werden.

Das Beispiel von Frau Weber zeigt, dass Lehrpersonen sowohl den Inhalt wieauch das didaktische Konzept von Lehrmitteln anhand eigener Vorstellungensehr stark formen und verändern können. Dieser „Eigensinn“, wie man es in derSprache der Alltagsgeschichte nennen könnte, der Lehrpersonen lässt sich auchan den anderen untersuchten Fällen erkennen.48 Lehrpersonen sollten daherweniger als Vollstrecker, sondern vielmehr als Interpreten und Interpretinneneiner Lehrbuchprogrammatik gesehen werden – wobei die Vielfalt der Inter-pretationen und Inszenierungen groß ist. Die Rede vom Lehrmittel als „Leit-medium des Unterrichts“ sollte daher nicht zur Annahme verleiten, dass Lehr-mittel einen ungebrochenen, direkten Einfluss auf die Lernprozesse haben. Siegeben eher die Themen und Denkkategorien des Unterrichts vor, welche Lehr-personen und Jugendliche aufgreifen und weiterformen. Ziel einer künftigenrekonstruktiven Forschung wird es unter anderem sein, die strukturellen undgesellschaftlichen Gründe für die Pluralität der berufshabituellen Dispositionenim Feld der Geschichtslehrpersonen weiter zu erforschen.

48 Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Alltags-kultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster1994, S. 139 – 153.

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