Eins für viele: Oft teilen sich Kinder ein Fahrrad. In einigen Familien gibt es sogar Stundenpläne, wer wann fahren darf S aidar ist neun Jahre alt und lebt in der Stadt Masaka im Westen des afrikanischen Landes Uganda. Bislang sah ein Tag in ihrem Leben so aus: »Jeden Morgen stehe ich um 5.30 Uhr auf. Um 6 Uhr gehe ich zur Schule, zu Fuß, vier Kilo- meter weit. Einen Schulbus haben wir nicht.« Wenn Saidar aufbricht, ist es stockfinster, denn in ihrer Heimat in der Nähe des Äquators geht die Sonne das ganze Jahr über erst um 6.30 Uhr auf. Mit ihren Freundinnen läuft Saidar an kleinen Feldern vorbei, auf denen Bananen, Kaffee und Mais wachsen, und an einfachen Steinhütten. In so einer wohnt sie selbst mit ihrer Familie. Fließendes Wasser gibt es in kaum einer Hütte, auch Strom haben die wenigsten Familien. Eine gute Stunde ist Saidar jeden Morgen unterwegs, gerade noch recht- zeitig zur ersten Stunde erreicht sie um 7 Uhr ihre Primary School. So heißt die Grundschule, sie dauert hier sieben Jahre. Saidar ist in der vierten Klasse. »Mein Unterricht geht bis 17 Uhr. Da- nach laufe ich zu Fuß zurück nach Hause.« Dafür braucht sie wieder eine Stunde. »Wenn ich ankomme, esse ich nur noch zu Abend, mache meine Hausaufgaben, und um 20 Uhr muss ich schon ins Bett«, sagt Saidar. Ein ziemlich anstrengendes Leben. Aber das soll jetzt besser werden. Zusammen mit anderen Kindern steht Saidar an einem Samstag im Mai auf einer Wiese am Stadtrand von Ma- saka. Obwohl heute kein Unterricht ist, hat sie sich schick gemacht und ihre Schuluniform angezogen, eine hell- grüne Bluse und einen dunkelgrünen Rock. Vor ihr stehen in einer Reihe sechs neue Fahrräder. Eins davon ist für Saidar. Und das soll ihr Leben ändern. In Deutschland ist ein Fahrrad das Normalste der Welt. Fast jedes Kind hat eins, und wenn es zu klein wird, gibt es eben ein neues. Saidar hat noch nie ein Fahrrad besessen – ihre Eltern könnten es nicht bezahlen. 90 Euro kostet eins von den Rädern, die hier auf der Wiese stehen. Aber Saidars ganze Familie hat jeden Monat nicht einmal 40 Euro zum Leben. Deshalb bekommt Saidar das Fahr- rad von einer kleinen amerikanischen Hilfsorganisation geschenkt. Die heißt Wheels4Life, auf Deutsch »Räder fürs Leben«. Mehr als 7000 Fahrräder hat die Gruppe schon in armen Ländern verteilt. Und Saidars Rad ist ein biss- chen auch mein Geschenk. Denn zu meinem Geburtstag habe ich mir von den Gästen gewünscht, dass sie nicht mir etwas mitbringen, sondern Geld für die Fahrradhilfe spenden. Weil ich wissen möchte, ob das wirklich eine gute Idee war, bin ich selbst nach Uganda gereist. Und Sai- dars Augen jedenfalls strahlen. Es ist ein stabiles schwarzes Herrenfahrrad, das sie bekommt, ideal für die Straßen hier. Viele sind holprig und uneben. Der Weg zu Saidars Schule etwa ist aus roter Erde, die sich während der Regen- zeit schnell in Schlamm verwandelt. Da muss Saidar dann durch. Noch kann Saidar gar nicht Rad fahren, er- zählt sie, aber einer ihrer großen Brü- der wird es ihr beibringen. Dass sie kein kleineres Kin- derrad bekommt oder eins für Damen, macht ihr nichts: »Ich fahre erst mal im Stehen über der Stange«, sagt sie. Mit dem Fahrrad wird Saidar jeden Tag anderthalb Stun- den weniger brauchen, um zur Schule und wieder zurück nach Hause zu kom- men. Eineinhalb Stunden, in de- nen sie andere Dinge tun kann, zum Beispiel in ih- rem Lieblingsbuch Lucy und der magische Baum lesen. Wozu so ein einfaches Rad noch gut sein kann, erzählt mir am nächsten Tag Bernard. Er ist 15 Jah- re alt und wohnt in dem Dorf Kyamaganda mitten im Wald, weit entfernt von Masaka. Bernard hat schon vor ein paar Jahren ein Rad von Wheels4Life bekommen, und damit fährt er nicht nur die zehn Kilometer zur Schule und zurück. »Ich hole auch Wasser für die Fami- lie«, erzählt er, »Früher musste ich die anderthalb Kilometer zur Quelle lau- fen und den gefüllten Kanister auf dem Kopf zurückbalancieren.« Der wiegt 20 Kilogramm! Auf seinem Rad kann Bernard die vierfache Menge transportieren – und seinen Kopf schonen. »Ich bringe auch den Mais, den meine Familie anbaut, zur Müh- le«, sagt er – Entfernung: zehn Kilo- meter pro Strecke. Und wenn jemand aus sei- ner Familie krank wird, funktio- niert Bernard sein Rad zum Kranken- transporter um: Er setzt den Patienten auf den Gepäckträger und bringt ihn zum nächsten Arzt. Noch viele solcher Geschichten höre ich auf meiner Reise. Oft teilen sich bis zu fünf Menschen ein Fahrrad. Manche Familien haben sogar einen genauen Stundenplan, wer es wann benutzen darf. Denn auch vielen Erwachse- nen hilft ein Rad: Sie können zum Beispiel eine Arbeit annehmen, die vorher zu weit entfernt war. Leh- rer können auch an einer abgelegenen Dorfschule unterrichten, Kranken- pfleger ihre Patienten da- heim besuchen. Bauern bringen mit dem Drahtesel ihre Ernte zum Markt. Auf meiner Reise sehe ich Räder, die mit sechs und mehr Stauden der Kochbanane, aus der das Nationalgericht Matoke zubereitet wird, beladen sind – die wiegen zusam- men mehr als 100 Kilogramm! Aber wer bekommt überhaupt eins der kostbaren Fahrräder von den amerikanischen Helfern? Das ent- scheiden Vertrauensleute, die in den unterschiedlichen Ländern, Städten und Dörfern leben. Oft sind das Nonnen, Priester und Sozialarbeiter. Sie kennen die einzelnen Familien und ihre Nöte genau und wissen, wer am dringendsten Hilfe braucht. Saidar zum Beispiel ist eine richtig gute Schülerin. »In der letzten Mathe- arbeit hatte sie 100 von 100 mögli- chen Punkten«, sagt ihre Mutter stolz. Ihre Familie, aber auch ihre Freunde und Nachbarn hoffen, dass Saidar mit ihrer Klugheit eine gute Zukunft be- vorsteht. Das Fahrrad soll ihr dabei eine Hilfe sein. Z E I T - R e d a k t e u r C h r i s t o f S i e m e s m i t S a i d a r u n d i h r e r M u t t e r J e t z t g e h t ’ s r u n d ! 37 POLITIK, WISSEN, KULTUR UND ANDERE RÄTSEL FÜR JUNGE LESERINNEN UND LESER Mehr für Kinder: Die neue Ausgabe von ZEIT LEO, dem Magazin für Kinder, jetzt am Kiosk! Weitere Infos: www.zeitleo.de 11. JUNI 2015 DIE ZEIT N o 24 BLEEKER DER ELEKTRONISCHE HUND RÄTSELECKE Lösungssatz aus der Nr. 23: Wer lächelt, statt zu wüten, ist immer der Stärkere. HIER AUSREISSEN! Mein Vorname und Alter: Wenn ich aus meinem Fenster gucke, sehe ich: Glücklich macht mich: Dieses Ereignis in der Welt hat mich beschäftigt: Das würde ich meinen Eltern gerne beibringen: Ich ärgere mich über: Jede Woche stellt sich hier ein Kind vor. Willst Du auch mitmachen? Dann guck mal unter www.zeit.de/fragebogen Ich wohne in: UND WER BIST DU? Füll das Sudoku-Gitter mit Zahlen von 1 bis 9. In jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem der stärker umrandeten 3x3-Quadrate soll jede Zahl aber nur einmal vorkommen. Sammler gesucht! Gartenzwerge, Strohhalme, alte Turnschuhe: Menschen sammeln die verrücktesten Dinge. Die KinderZEIT fragt: Sammelst Du auch etwas? Stofftiere, Sticker oder alles über Deinen Lieblingsstar? Schreib uns, was Du anhäufst, warum genau das und was Du daran toll findest. Und schick uns Fotos von Dir und Deinen gesammelten Schätzen – als E-Mail an [email protected] oder per Post an DIE ZEIT / KinderZEIT, 20097 Hamburg. S c h w e r b e l a d e n : 1 0 0 K i l o u n d m eh r m u s s d e r G e p ä c k t r ä g e r a u s h a lt e n Radeln ist nichts Besonderes? In Uganda schon! Kinder dort führen ein ganz anderes Leben, wenn sie ein Fahrrad bekommen VON CHRISTOF SIEMES Fotos: Christof Siemes (Uganda); Illustrationen: Matthias Schütte für DIE ZEIT (Sammler); Jon Frickey für DIE ZEIT (Wappen, Leo)