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Die Monatszeitschrift
Herausgeber:Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof.
Dr. Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian
Winterhoff
In dieser Ausgabe:
Die auch unter www.juris.de
JANUAR
2021M 1
Topthema:
Quarantäne, Beherbergungs-verbot, „Lockdown“ – neue Facetten
beim Rücktritt vom Pauschalreisevertrag wäh-rend der PandemieWiss.
Mit. Rudi Ruks
Die Abwicklung des Dieselskan-dals über § 852 Satz 1 BGB –
Rettungsanker oder Rohrkre-pierer? (Teil 1)RA und Prof. (em.) Dr.
Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek
Schockschaden nach schwe-rer Schädigung eines Ange-hörigenVRiOLG
a.D. Lothar Jaeger
Kündigen oder kurzarbeiten?PD Dr. Tim Husemann
Reichsbürger – ein Irrsinn aus rechtlicher SichtWiss. Mit.
Michelle Weber
Interview: Arbeitsagenturen in Zeiten der PandemieVors. d. GF
Agentur für Arbeit Mannheim Thomas Schulz
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IIIII
JANUAR
2021JM 1INHALT
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN
Quarantäne, Beherbergungsverbot, „Lock-down“ – neue Facetten
beim Rücktritt vom Pauschalreisevertrag während der PandemieWiss.
Mit. Rudi Ruks S. 2
Die Abwicklung des Dieselskandals über § 852 Satz 1 BGB –
Rettungsanker oder Rohrkrepierer? (Teil 1)RA und Prof. (em.) Dr.
Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek S. 9
Schockschaden nach schwerer Schädigung eines AngehörigenVRiOLG
a.D. Lothar Jaeger S. 15
Kündigen oder kurzarbeiten?PD Dr. Tim Husemann S. 19
Auch einfache Signaturen können erheb-liche Bedeutung haben –
vom Zusammen-spiel zwischen sicherem Übertragungsweg und
UnterschriftserfordernisBAG, Beschl. v. 14.09.2020 - 5 AZB
23/20VPräsLG Holger Radke S. 26
Auch Dauer hat ihre GrenzenBVerwG, Urt. v. 24.06.2020 - 6 C
23/18Prof. Dr. Frank Fechner S. 28
Sind Ginkgo-Kapseln Arzneimittel?BVerwG, Urt. v. 30.01.2020 - 3
C 6/18RiVG Dr. Björn Schäfer S. 31
Zivil- und Wirtschaftsrecht
Arbeitsrecht
Verwaltungsrecht
Expertengremium:Wolfgang Ball | RA Prof. Dr. Guido Britz | Prof.
Dr. Harald Dörig | Prof. Dr. Heinz-Jürgen Kalb | Prof. Dr. mult.
Michael Martinek | Dr. Wolfram Viefhues
Topthema:
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IIIIII
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN
INHALT
Keine Kürzung des Unterhaltshöchstbetrags bei
Unterhaltsleistungen an ein mit seinem Lebensgefährten
zusammenlebendes KindBFH, Urt. v. 28.04.2020 - VI R 43/17RiBFH Dr.
Roland Krüger S. 34
Reichsbürger – ein Irrsinn aus rechtlicher SichtWiss. Mit.
Michelle Weber S. 37
Arbeitsagenturen in Zeiten der PandemieInterview mit:Vors. d. GF
Agentur für Arbeit Mannheim Thomas Schulz S. 42
SteuerrechtSteuerrecht
SteuerrechtStrafrecht
INTERVIEW
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11111
JANUAR
2021JM 1EDITORIAL
Holger Radke,Vizepräsident des Landgerichts Karlsruhe
...nennt man die Deutschen gerne, auch wenn uns in den
Statistiken zum Jahr 2019 die Amerikaner und Chinesen diese
Stellung streitig machen. Dem Portal „Statista“ zu-folge haben im
Jahr 2019 ca. 55 Millionen Deutsche eine Reise von mindestens fünf
Tagen unternommen und dafür über 73 Milliarden Euro ausgegeben.
Eine besonders be-liebte Art des Verreisens stellt dabei die
„Pauschalreise“ dar, die sich dadurch auszeichnet, dass ein
Reiseveranstal-ter mehrere Hauptreiseleistungen (etwa Transport zum
und Unterbringung am Urlaubsort) zu einem Arrangement bündelt und
zu einem Gesamtpreis verkauft.
Manch ein Leser mag es als perfide ansehen, in Zeiten der
Pandemie und der damit einhergehenden massiven Ein-schränkungen
insbesondere der Freizeitaktivitäten ausge-rechnet die Reiselust
als Aufmacherthema eines Editorials zu wählen. Denn es sind ja
gerade die Schlagworte bzw. „Un-worte“ unserer Zeit wie „Lockdown“,
„Beherbergungsver-bot“, „Quarantäne“ oder „Reisewarnung“, die
Urlaubspla-nungen erschweren oder gar unmöglich machen. Wer aber
die Hoffnung nicht aufgeben will und im Vertrauen auf bes-sere
Zeiten eine (Pauschal-)Reise plant, für den ist es wichtig zu
wissen, welche nicht zuletzt finanziellen Risiken ihm aus einer
Buchung erwachsen. Was, wenn das Gesundheitsamt kurz vor dem Abflug
eine Quarantäne anordnet? Was, wenn im Urlaubsland ein Lockdown
verhängt wird? Kann ich von
der Reise zurücktreten? Übernimmt eine Versicherung meine
Kosten? Mit diesen und anderen Fragen rund um das
Span-nungsverhältnis zwischen Urlaubsreise und Viruseindäm-mung
befasst sich der Aufsatz von Rudi Ruks im Topthema dieser Ausgabe.
Und wer über die Auswirkungen von Corona in einem ganz anderen
Umfeld, nämlich dem der Arbeits-agenturen, Näheres erfahren möchte,
dem sei das Interview meines Mitherausgebers Thomas Voelzke mit dem
Leiter der Mannheimer Arbeitsagentur, Thomas Schulz, ans Herz
gelegt.
Ein ganz anderes „Aufregerthema“ – schon seit Jahren – ist der
sog. Dieselskandal. Dessen juristische Aufarbeitung bringt Gerichte
an ihre Kapazitätsgrenzen, macht frühere Topmanager zu Angeklagten
vor Strafkammern und lässt spezialisierte Kanzleien mit einer
bisweilen standesrecht-lich fragwürdigen Vehemenz und Medienpräsenz
um Man-danten werben. Der Skandal hat aber vor allem eine Viel-zahl
spannender juristischer Probleme aufgeworfen oder wiederbelebt und
die obergerichtlichen Klärungen des Jah-res 2020 haben ihrerseits
zu Folgefragen geführt. Eine Norm, die dabei ins Blickfeld geraten
ist – nämlich den „be-reicherungsrechtlichen
Schadensersatzanspruch“ (oder doch den „deliktsrechtlichen
Bereicherungsanspruch“?) des § 852 BGB – beleuchtet unser
jM-Experte Michael Mar-tinek im ersten Teil seiner Abhandlung zu
der Frage, ob die-se Norm im Kontext der Manipulation der
Abgasrückfüh-rung „Rettungsanker oder Rohrkrepierer“ ist.
Wer als Leser dieser Ausgabe nach der Befassung mit „Co-rona“
und „Abgasskandal“ immer noch auf der Suche nach einem Thema ist,
das geeignet erscheint, den Blut-druck in die Höhe zu treiben, dem
wird die Befassung mit der schillernden Gruppierung der
„Reichsbürger“ weiter-helfen – von der Autorin des entsprechenden
Beitrags selbst als „Irrsinn aus rechtlicher Sicht“ tituliert. Man
lernt in dem Aufsatz vieles über die unterschiedlichen Spielarten
der Szene: Leben wir weiterhin im „Deutschen Reich“, das nur von
den Alliierten besetzt ist? Befinden wir uns rein rechtlich noch im
Kriegszustand? Oder ist Deutschland eigentlich eine Gesellschaft
mit der Kanzlerin als Geschäfts-führerin? Wüsste man nicht um die
Gefährlichkeit von Tei-len dieser Szene, man wähnte sich im
Kabarett. So aber geht es auch im Beitrag von Michelle Weber
letztlich um die ernste Frage, ob und wie den Protagonisten mit
Mitteln des Strafrechts beizukommen ist.
Gewinn und Freude bei der Lektüre dieser, aber auch der weiteren
sehr lesenswerten Beiträge wünscht Ihnen, im Namen aller
Herausgeber und Experten,
Holger Radke
Reiseweltmeister...
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2
Die Monatszeitschrift
Zivil- und Wirtschaftsrecht
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN
A. Ausgangslage
Die dynamische Entwicklung der Corona-Krise macht weit-reichende
Einschränkungen insbesondere des öffentlichen und
gesellschaftlichen Lebens erforderlich. Davon bleibt auch die
Reiseindustrie nicht ausgenommen. Mit Blick auf die in der EU sowie
der Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden: Bundesrepublik)
gestiegenen Infektionszahlen und eingeleiteten Gegenmaßnahmen
stellen sich neue Rechtsfragen in Zusammenhang mit Pauschalreisen.
Die mögliche Infektion des Reisenden, die Quarantäneanord-nung, das
Beherbergungsverbot sowie schließlich der „Lockdown“ machen die
Teilnahme an einer Pauschalreise faktisch „unmöglich“. Aus Sicht
des Kunden erscheint es daher überaus relevant, ob er aus diesen
Gründen vor Rei-sebeginn von seinem einmal geschlossenen Vertrag
zurück-treten darf.1 Ein dahin gehendes Recht normiert § 651h Abs.
1 Satz 1 BGB, allerdings verbunden mit der Möglich-keit des
Veranstalters, im Gegenzug laut § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB eine
Entschädigung (sog. Stornogebühren) ver-langen zu können.2 Eine
solche Forderung schließt § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB aus, wenn am
Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare,
außergewöhn-liche Umstände3 auftreten, welche die Durchführung der
Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den
Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Ob derartige Ereignisse
anzunehmen sind, ist angesichts des damit ver-bundenen
entschädigungsfreien Rücktritts für den Kunden von grundlegender
Bedeutung. Das stellt den Schwerpunkt dieses Beitrags dar, wobei
zugleich im Fall einer bestehen-den Entschädigungspflicht nach §
651h Abs. 1 Satz 3 BGB die Aspekte der
Reiserücktrittskostenversicherung nicht ausgeblendet bleiben
sollen.
B. Infektion bzw. Erkrankung des Reisenden
I. Rücktritt
Angesichts der zeitweise steigenden Infektionszahlen kann das
Virus gleichermaßen Personen treffen, deren Pauschalreise (nahe)
bevorsteht. Die eigene Infizierung des Reisenden mit dem Virus bzw.
die eigene Erkrankung stellt jedoch nach nahezu einhelliger
Auffassung keinen
außergewöhnlichen Umstand i.S.d. § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB dar,
welcher die Durchführung der Pauschalreise nach § 651h Abs. 3 Satz
1 BGB erheblich beeinträchtigt.4 Dies entspricht dem allgemeinen
Verständnis zur krank-heitsbedingten Verhinderung an der
Reiseteilnahme außerhalb von Zeiten der Pandemie.5 Zwar ließe sich
da-gegen einwenden, auch die Infektion des Kunden unter-liege nicht
dessen Kontrolle und die Folgen seien von ihm ebenso wenig zu
vermeiden, sodass die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB
erfüllt wären. Allerdings handelt es sich bei der zitierten
Vorschrift um eine Trans-formation des Art. 3 Nr. 12 RL (EU)
2015/2302.6 Der euro-päische Gesetzgeber benennt in Erwägungsgrund
31 Satz 3 RL (EU) 2015/2302 verschiedene Beispiele für
außergewöhnliche Umstände. Hierzu zählen etwa schwer-wiegende
Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terroris-mus oder erhebliche
Risiken für die menschliche Gesund-heit in Form des Ausbruchs einer
schweren Krankheit am Reiseziel. Daraus ergibt sich, dass das
Ereignis in gewisser Weise „übergeordnet“ sein muss. In diesem
Sinne posi-tionierte sich ebenfalls der BGH in einer Entscheidung
zur
Quarantäne, Beherbergungsverbot, „Lockdown“ – neue Facetten beim
Rücktritt vom Pauschalreisevertrag während der Pandemie
Wiss. Mit. Rudi Ruks
1 Auf die in der Praxis eingeräumten vertraglichen
Stornierungsmöglich-keiten soll an dieser Stelle nicht eingegangen
werden.
2 Den Reisepreis muss der Veranstalter laut § 651h Abs. 1 Satz
2, Abs. 5 BGB innerhalb von 14 Tagen erstatten: AG Frankfurt a. M.,
Urt. v. 15.10.2020 - 32 C 2620/20 (18); AG Bad Iburg, Urt. v.
22.10.2020 - 4 C 404/20, 4 C 398/20.
3 Umfassend dazu: Ruks, Die Haftung für außergewöhnliche
Umstände, 2021; siehe ferner: Bergmann/Blankenburg, NJW 2019,
3678.
4 Harke in: BeckOGK, BGB, § 651h Rn. 48.1, Stand 01.08.2020;
Harke in: BeckOGK, BGB, Art. 240 § 6 EGBGB Rn. 7, Stand 01.10.2020;
Stein-rötter in: jurisPK BGB, 9. Aufl. 2020, § 651h Rn. 44.1;
Staudinger/ Achilles-Pujol in: Schmidt, COVID-19, 2. Aufl. 2020, §
7 Rn. 25; Stau-dinger/Ruks, DAR 2020, 314, 315; a.A. Blankenburg
in: Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 651h Rn. 10.
5 Staudinger in: Führich/Staudinger, Reiserecht, 8. Aufl. 2019,
§ 20 Rn. 6; Bergmann in: Tonner/Bergmann/Blankenburg, Reiserecht,
2020, § 2 Rn. 380; vormals: BGH, Urt. v. 16.05.2017 - X ZR 142/15 -
NJW 2017, 2677, 2678 mit zustimmender Anmerkung Singbartl/Zintl; AG
Ham-burg, Urt. v. 26.10.2016 - 17a C 261/16; a.A. Blankenburg in:
Erman, BGB, § 651h Rn. 10.
6 Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 25.11.2015 über Pauschalreise und verbundene
Reiseleistungen (ABl. L 326 vom 11.12.2015, S. 1 ff.).
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33
JANUAR
2021JM 1
früheren Gesetzeslage, in welcher er Bezug auf die novel-lierte
Bestimmung der Richtlinie nahm. Nach Auffassung des X. Senats
stellen die Beispiele des Erwägungsgrunds 31 Satz 3 RL (EU)
2015/2302 nämlich Situationen der „all-gemeinen Lebensverhältnisse“
dar, die beide Vertragspar-teien gleichermaßen treffen und nicht
ausschließlich der Risikosphäre des einen oder anderen Teils
zuzuordnen sind.7 Demgegenüber ist aber die Erkrankung des
Reisen-den lediglich in seiner eigenen Person begründet und steht
damit innerhalb seiner Risikosphäre.8 Mithin han-delt es sich
gerade nicht um einen außergewöhnlichen Umstand, sondern ein an ihn
selbst knüpfendes „Reise-hindernis“. Das gilt erst recht für Fälle,
in denen nicht der Kunde selbst, sondern eine ihm nahestehende
Person von der Krankheit betroffen ist. Folglich bleibt dem
Reisenden in diesen Konstellationen nur der Weg des „ordentlichen“
Rücktritts gem. § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB, was ggf. zur Zahlung
einer Entschädigung (sog. Stornogebühren) an den Veranstalter
verpflichtet (vgl. 651h Abs. 1 Satz 3 BGB).
II. Reiserücktrittskostenversicherung
1. Versichertes Risiko
Der Kunde kann sich durch den Abschluss einer
Reise-rücktrittskostenversicherung grds. gegen das Risiko
ab-sichern, ein Arrangement bspw. wegen einer unerwartet schweren
Erkrankung9 nicht antreten zu können. Dies zählt laut Ziffer 2.1
VB-Reiserücktritt 2008/201810 zu den versicherten Risiken,11 und
zwar ungeachtet der Tat-sache, ob er selbst oder eine
„Risikoperson“12 erkrankt (vgl. Ziffer 2.1 VB-Reiserücktritt
2008/2018). Auch CO-VID-19 dürfte dem Grunde nach als schwere
Erkrankung einzuordnen sein.13 Dem steht es gleich, wenn der
Rei-sende „lediglich“ eine Infektion mit SARS-CoV-2 auf-weist,
welches bei ihm jedoch nicht die davon medizi-nisch zu
unterscheidende Erkrankung14 mit COVID-19 auslöst. Denn es wäre
kaum sachgerecht und angesichts der Beweisschwierigkeit wenig
praktikabel, wenn die rechtliche Beurteilung von der Unterscheidung
zwischen einer Infektion sowie einem (ggf. sogar symptomfreien)
Krankheitsausbruch abhinge.
2. Pandemie-Ausschluss
Problematisch erscheint jedoch, dass die
Versicherungs-bedingungen oftmals Risikoausschlüsse enthalten. Das
gilt ebenfalls für die Musterbedingungen, die in Ziffer 3.1
VB-Reiserücktritt 2008/2018 sowie Ziffer 5 AT-Reise 200815
bestimmte Ausschlusstatbestände vorsehen. So sind bspw. die
Gefahren „von Pandemien“ laut Ziffer 5.6 AT-Reise 2008 nicht
versichert. Teile der Literatur vernei-
nen deshalb – jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Qualifika-tion als
Pandemie – eine Leistungspflicht der Assekuranz für den Fall der
Infektion des Reisenden mit dem Corona-Virus,16 während andere für
den Deckungsschutz eintre-ten.17 Ausgangspunkt der Beurteilung muss
dabei stets der konkrete Versicherungsvertrag mit seinen jeweiligen
Vereinbarungen sein. In Bezug auf die hier zitierten
Mus-terbedingungen erscheint die Rechtslage alles andere als
eindeutig, wobei die nachfolgenden Ausführungen nicht unbedacht auf
anderslautende Klauselwerke zu übertra-gen sind. Dreh- und
Angelpunkt ist letztlich die Streitfra-ge, ob der Ausschluss von
Gefahren „der Pandemie“ glei-chermaßen die unerwartet schwere
Erkrankung erfasst. Dagegen mag sprechen, dass die Bestimmung in
Ziffer 5.6 AT-Reise 2008 eine allgemeine Formulierung enthält und
nicht etwa auf „Erkrankungen oder [den] Tod infolge von
Pandemien“18 abstellt. Andererseits ist aber die Bezug-nahme in
Ziffer 3.1 VB-Reiserücktritt 2008/2018 auf Ziffer 5 AT-Reise 2008
kaum sinnstiftend, wenn sich der Aus-schluss für Pandemien nicht
auf einen der Hauptanwen-dungsfälle, namentlich der unerwartet
schweren Erkran-kung, erstrecken sollte. Die Vertreter der
Gegenauffassung müssten zudem einräumen, dass sich der Ausschluss
dann konsequenterweise auf keinen der versicherten Risiken
7 BGH, Urt. v. 16.05.2017 - X ZR 142/15.8 BGH, Urt. v.
16.05.2017 - X ZR 142/15; vgl. auch Bergmann in: Tonner/
Bergmann/Blankenburg, Reiserecht, § 2 Rn. 380.9 Zur Wirksamkeit
der Formulierung in Versicherungsbedingungen
jüngst: OLG Hamburg, Urt. v. 10.07.2020 - 9 U 228/19;
Staudinger/Schröder, NJW 2020, 3149, 3153.
10 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V.,
Besonde-re Versicherungsbedingungen für die
Reiserücktrittskostenversiche-rung 2008/2018, Stand Januar
2018.
11 Dazu Staudinger in: Beckmann/Matusche-Beckmann,
Versicherungs-rechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 41 Rn. 99 ff.;
Steinbeck in: MAH-VersR, 4. Aufl. 2017, § 30 Rn. 44 ff.; Roth in:
Tonner/Bergmann/Blan-kenburg, Reiserecht, § 7 Rn. 28 ff.
12 Das sind laut Ziffer 2.2 VB-Reiserücktritt 2008/2018
Angehörige, Be-treuer der nicht mitreisenden Minderjährigen oder
Pflegebedürftigen sowie Personen, die gemeinsam mit der
versicherten Person eine Rei-se gebucht haben.
13 Günther/Piontek, r+s 2020, 242, 246; Rixecker in: Schmidt,
COVID-19, § 11 Rn. 46; Schreier, VersR 2020, 513, 519.
14 Vgl. die Darstellung des Bundesministeriums für Gesundheit:
www.zusammengegencorona.de/informieren/basiswissen-coronavirus/#fa-qitem=a4bee452-d365-593b-bd04-9f8f9a4e0c1f
(zuletzt abgerufen am 06.11.2020).
15 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V.,
Allgemei-ner Teil der Versicherungsbedingungen für die
Reiseversicherung 2008, Stand Januar 2008.
16 Rixecker in: Schmidt, COVID-19, § 11 Rn. 47; Schreier, VersR
2020, 513, 520.
17 Günther/Piontek, r+s 2020, 242, 247.18 Formulierungsbeispiel
nach Günther/Piontek, r+s 2020, 242, 247.
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4
Die Monatszeitschrift
beziehen könnte. Ebenso wäre es nur folgerichtig, dass generell
keiner der Ausschlussgründe von Ziffer 5.6 AT-Reise 2008 gelten
würde. Denn weshalb ausschließlich die Pandemie-Klausel und diese
sogar nur im Fall der un-erwartet schweren Erkrankung keine
Anwendung finden soll, erschließt sich nicht. Ein solches
Verständnis gibt die Gestaltung der Musterbedingung schlichtweg
nicht her. Es überzeugt demzufolge kaum, dass der ausdrücklichen
Bezugnahme in Ziffer 3.1 VB-Reiserücktritt 2008/2018 letztlich ihre
Geltung abgesprochen wird. Ebenso wenig vermag man sich unter
Hinweis auf teleologische Erwä-gungen oder eine „Lücke“ im
Versicherungsschutz darü-ber hinwegzusetzen.
C. Angeordnete Quarantäne vor Reisebeginn
I. Rücktritt
Das örtliche Gesundheitsamt ordnet gegenüber den Zu-gehörigen
der Kontaktgruppe I – auf Grundlage von Empfehlungen des Robert
Koch-Instituts – in aller Regel eine verbindliche Quarantäne an
(sog. Absonderung). Zu dieser Kategorie zählen Personen, die
entweder engen Kontakt zu einem Infektiösen hatten oder die sich in
einem Raum mit wahrscheinlich hoher Konzentration von infektiösem
Aerosol aufhielten.19 Trifft die Anord-nung einen Reisenden vor
Beginn des Arrangements, rechtfertigt diese Absonderung ebenso
wenig wie die eigene Erkrankung den entschädigungsfreien Rücktritt
nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB,20 und zwar selbst im Fall einer
behördlichen Anordnung. Sofern Stimmen in der Literatur vereinzelt
vortragen, die Anordnung durch das Gesundheitsamt sei ein
unvermeidbarer, außergewöhn-licher Umstand, weil die Maßnahme
außerhalb der Kon-trolle des Reisenden liege,21 kann dem Ansatz in
dieser Pauschalität nicht gefolgt werden. Es leuchtet nicht ein,
weshalb die vorliegende Konstellation anders zu behan-deln sein
sollte als die Infektion bzw. Erkrankung des Reisenden. Die
Tatsache, dass es sich bei der Anordnung einer Quarantäne um eine
hoheitliche Maßnahme han-delt, ändert an dieser Beurteilung nichts.
Bereits zur frü-heren Gesetzeslage entschied der BGH, dass sogar
feh-lerhaftes behördliches Handeln keine höhere Gewalt i.S.d. §
651j Abs. 1 BGB a.F. darstellt.22 Dass dies bei rechtmäßiger
Anordnung der Quarantäne anders zu be-handeln sein soll, ist wenig
nachvollziehbar. Denn ähn-lich wie bei der bereits dargestellten
Infektion steht die „Risikobegegnung“ mit einem Infizierten einzig
in der Risikosphäre des Kunden. Die Vorschrift des § 651h Abs. 3
Satz 1 BGB ist aus diesen Gründen nicht einschlä-gig. Folglich kann
der Reisende nur nach Maßgabe des § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB
zurücktreten, und zwar ggf. mit
der Folge, zur Zahlung einer Entschädigung gem. § 651h Abs. 1
Satz 3 BGB verpflichtet zu sein.
II. Reiserücktrittskostenversicherung
Für etwaige „Stornogebühren“ nach § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB kommt
in Fällen der angeordneten Quarantäne nicht der
Reiserücktrittskostenversicherer auf.23 Denn eine be-hördlich
angeordnete Quarantäne stellt keine Erkrankung dar,24 wie sie bspw.
Ziffer 2.1 VB-Reiserücktritt 2008/2018 voraussetzt. Ebenso wenig
liegt eine Infektion mit dem Vi-rus vor. Das gilt ungeachtet der
Tatsache, dass das Ge-sundheitsamt die Absonderung nach den obigen
Ausfüh-rungen in aller Regel gegenüber direkten Kontaktpersonen
ausspricht, die ein höheres Infektionsrisiko aufweisen. Denn selbst
eine erhöhte Wahrscheinlichkeit ist „noch“ keine Erkrankung. Im
Übrigen würde aber ohnehin glei-chermaßen die Darstellung zum
Pandemie-Ausschluss gelten.
D. Verpflichtende Quarantäne für Reiserückkehrer
I. Allgemein
Die Exekutive hat die innerstaatlichen Bestimmungen für
Reiserückkehrer aus sog. Risikogebieten zwischenzeitlich mehrfach
modifiziert. Gemeint sind Staaten oder Regionen, für die zum
Zeitpunkt der Einreise in die Bundesrepublik das erhöhte Risiko
einer Infektion mit dem Corona-Virus besteht.25 Welche Vorschriften
die Reisenden beachten müssen, ergibt sich insbesondere aus den
jeweiligen Rechtsverordnungen der Bundesländer. So sieht bspw. § 1
Abs. 1 Satz 1 CoronaEinrVO26 für Nordrhein-Westfalen vor, dass sich
die genannten Personen für einen Zeitraum von
19 Siehe
www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Kon-taktperson/Management.html#doc13516162bodyText8
(zuletzt ab-gerufen am 06.11.2020).
20 Vgl. Meier in: Effer-Uhe/Mohnert, Vertragsrecht in der
Corona-Krise, 2020, S. 177; ebenso, allerdings unter Befürwortung
eines Rückgriffs auf § 313 BGB: Tonner, MDR 2020, 519, 520 f.
21 Führich, NJW 2020, 2137, 2139.22 BGH, Urt. v. 16.05.2017 - X
ZR 142/15 - NJW 2017, 2677, 2678 mit
zustimmender Anmerkung Singbartl/Zintl.23 Günther/Piontek, r+s
2020, 242, 247; Schreier, VersR 2020, 513, 519;
im Ergebnis ebenso: Rixecker in: Schmidt, COVID-19, § 11 Rn.
48.24 Schreier, VersR 2020, 513, 519.25 Vgl.
www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus-infos-reisen-
de/faq-tests-einreisende.html?fbclid=IwAR02Q-RjWGF6S21ZTjhbKtgi-Miz_E3DbD6-ySe4BGEdiwFKa3SXR7eFOWV4
(zuletzt abgerufen am 06.11.2020).
26 Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem
Coronavirus SARS-CoV-2 in Bezug auf Ein- und Rückreisende vom
06.11.2020 (GV. NRW 2020 Nr. 50d, S. 1044d ff.).
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55
JANUAR
2021JM 1
zehn Tagen abzusondern haben, sich also in Quarantäne begeben
müssen.27
II. Rücktritt
Im Schrifttum findet sich die Auffassung, wonach
„Qua-rantänemaßnahmen Deutschlands“ und damit „hoheit-liche
Eingriffe als solche schon unvermeidbare, außer-gewöhnliche
Umstände“ seien sowie „ein weiteres Indiz für eine erhebliche
Beeinträchtigung der geplan-ten Reiseleistungen“ darstellten.28 Als
Konsequenz soll dies offenbar einen entschädigungsfreien Rücktritt
nach Maßgabe des § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB rechtfertigen. Eine dahin
gehende Einschätzung vermag jedoch nicht zu überzeugen. Dabei ist
zunächst vorauszuschicken, dass sich in der Praxis ggf. bereits aus
der Einordnung des Zielortes als Risikogebiet wegen der damit
verbun-denen Gesundheitsgefahren die Annahme außerge-wöhnlicher
Umstände begründen lässt. Die nachfolgen-den Ausführungen beziehen
sich daher einzig auf die Frage, ob die verpflichtende Quarantäne
einen An-wendungsfall des § 651h Abs. 3 BGB darstellt. Dagegen
spricht zunächst, dass § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB das Auftreten
außergewöhnlicher Umstände „am Be-stimmungsort“ oder „in dessen
unmittelbarer Nähe“ voraussetzt. Diese Merkmale haben durchaus ihre
Be-rechtigung und stellen einen Bezug zu der konkreten
Pauschalreise her.29 Keines der beiden Kriterien ist je-doch
erfüllt, wenn der Urlauber lediglich im Anschluss und damit nach
Durchführung der Reise in seinem Hei-matgebiet bestimmte
infektionsrechtliche Bestimmun-gen einzuhalten hat. Es erscheint
zudem fraglich, wie diese Vorschriften, die einen Zeitraum nach der
Reise erfassen, nachträglich oder rückwirkend die „Durchfüh-rung
der Pauschalreise“ bzw. die „Beförderung von Personen an den
Bestimmungsort“ erheblich beein-trächtigen sollen (vgl. § 651h Abs.
3 Satz 1 BGB). Denn die Reise wäre zu diesem Zeitpunkt bereits
abgeschlos-sen. Ferner gilt es zu beachten, dass der Zweck des §
651h Abs. 3 Satz 1 BGB nicht darin besteht, den Kun-den in
sämtlichen, für ihn unvorhersehbaren Fällen von einer etwaigen
Entschädigungspflicht nach § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB zu entbinden.30
Die Regelung bedeu-tet also gerade keine vollständige
Risikobefreiung auf-seiten des Kunden. Das zeigen die skizzierten
Fälle der Erkrankung oder der Quarantäne vor Reisebeginn. Mit-hin
unterfällt auch die Quarantäne für Reiserückkehrer nicht der
Regelung des § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB.31 Der Kunde kann gleichwohl
gem. § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB vom Pauschalreisevertrag
zurücktreten, muss aber ggf. Entschädigungszahlungen nach § 651h
Abs. 1 Satz 3 BGB an den Veranstalter leisten.
III. Reiserücktrittskostenversicherung
Die Assekuranz dürfte für die genannten Auslagen wohl nicht
aufkommen, weil es sich nicht um ein versichertes Er-eignis der
Ziffer 2.1 VB-Reiserücktritt 2008/2018 handelt. Entscheidend bleibt
aber die konkrete Ausgestaltung der Versicherungsbedingungen im
Einzelfall.
IV. Kündigung
Ebenso wenig ergibt sich aus der – sogar vor Reisebeginn
anwendbaren32 – Vorschrift des § 651l Abs. 1 BGB ein
Kündigungsrecht zugunsten des Buchenden. Das Gestal-tungsrecht
setzt laut § 651l Abs. 1 Satz 1 BGB einen Rei-semangel i.S.d. §
651i Abs. 2 BGB voraus. Die letztge-nannte Regelung erfordert
jedoch einen Bezug zu der Beschaffenheit oder der Verwendung der
Pauschalreise (vgl. § 651i Abs. 2 Satz 1, 2 BGB). Die vertraglich
geschul-deten Leistungen des Veranstalters sind indes nicht
be-troffen, wenn er die Reise ordnungsgemäß durchführen kann,
sondern vielmehr die Kunden nach ihrer Rückkehr im Heimatgebiet
infektionsschutzrechtliche Vorgaben ein-zuhalten haben.
E. Zielgebiet mit Reisewarnung
Eine hinreichend verlässliche Beurteilung hinsichtlich der
Annahme von außergewöhnlichen Umständen i.S.d. § 651h Abs. 3 Satz
1, 2 BGB erlauben Reisewarnungen, die etwa das Auswärtige Amt oder
die Weltgesundheits-organisation ausspricht. Derartige Meldungen
über das Reiseziel sind nach einhelliger Auffassung als
„gewichti-ges Indiz“33 für das Vorliegen jener Umstände anzuse-
27 Beachte jedoch die zahlreichenden Ausnahmetatbestände (vgl. §
2 CoronaEinrVO NRW) sowie die Möglichkeit der Verkürzung nach § 3
CoronaEinrVO NRW.
28 Führich, NJW 2020, 2137, 2139.29 Ruks, Die Haftung für
außergewöhnliche Umstände, 2021, S. 55 ff.30 Staudinger/Ruks, DAR
2020, 314, 315.31 Meier in: Effer-Uhe/Mohnert, Vertragsrecht in der
Corona-Krise,
2020, S. 188 f.; Staudinger/Achilles-Pujol in: Schmidt,
COVID-19, § 7 Rn. 25; Staudinger/Ruks, DAR 2020, 314, 315; dahin
gehend ebenfalls: Harke in: BeckOGK, BGB, § 651h Rn. 48.1, Stand
01.08.2020.
32 Klingberg in: BeckOGK, BGB, § 651l Rn. 10, Stand 01.08.2020;
Blankenburg in: Erman, BGB, § 651l Rn. 13; Staudinger in:
Führich/Staudinger, Reiserecht, § 20 Rn. 3; Tonner in: MünchKomm,
BGB, 8. Aufl. 2020, § 651l Rn. 4; Ruks, Die Haftung für
außergewöhnli-che Umstände, 2021, S. 132 ff.;
Staudinger/Achilles-Pujol in: Schmidt, COVID-19, § 7 Rn. 11;
vormals: BGH, Urt. v. 16.01.2018 - X ZR 44/17 - NJW 2018, 1534,
1535 mit Anmerkung Flöthmann.
33 Ausdrücklich: BT-Drs. 19/19851, S. 12.
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6
Die Monatszeitschrift
hen.34 Dass zeitweise eine Reisewarnung für eine Vielzahl von
Ländern oder gar sämtliche Staaten („weltweit“) galt, ändert
entgegen einer Literaturauffassung35 nichts an der Indizwirkung.36
Der Rücktritt bleibt daher in aller Regel gem. § 651h Abs. 3 Satz 1
BGB für den Reisenden „kostenfrei“.
F. Zielgebiet ohne Reisewarnung
Der entschädigungsfreie Rücktritt nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB
setzt eine Reisewarnung indes nicht voraus. Vielmehr kann der Kunde
im Einzelfall selbst dann von der gesetzlichen Regelung
profitieren, wenn zwar ent-sprechende Meldungen staatlicher Stellen
nicht vorhan-den sind, aber am Zielort ein erhebliches
Gesundheitsrisi-ko besteht.37 Es handelt sich um eine
Prognoseentscheidung, für die es auf eine ex-ante-Betrachtung
ankommt.38 Zu welchem Zeitpunkt und für welchen Bestimmungsort eine
entsprechende Gefahr und damit ein außergewöhn-licher Umstand
anzunehmen ist, erweist sich als streit-trächtiges Problemfeld, das
bereits die Gerichte beschäf-tigt.
In dem Zusammenhang sei die Entscheidung des AG Köln genannt,
die den am 02.03.2020 vom Kunden erklärten Rücktritt einer für
April 2020 geplanten Japan-Reise be-trifft.39 Überzeugend führt das
Gericht aus, dass gerade bei einer schnell zunehmenden
Infektionsrate im Zielge-biet die Wahrscheinlichkeit einer schweren
Erkrankung steigt und die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 BGB
nicht zu hoch angesetzt werden dürfen. Nach Auffassung des AG Köln
stellen selbst „reine Sicherheitshinweise“ des Auswärtigen Amtes
belastbare Anhaltspunkte dar. Die erhebliche Gesundheitsgefahr soll
dann vorliegen, wenn am Bestimmungsort ein deutliches höheres
Infektionsrisi-ko besteht als am Wohnort.40 Gerade angesichts der
im Oktober und November 2020 gestiegenen Infektionszah-len
innerhalb der Bundesrepublik ist aber der ausschließ-liche
Vergleich von Infektionszahlen zwischen Wohn- und Bestimmungsort im
Einzelfall kritisch zu sehen. Sofern In-fektionsraten
flächendeckend und länderübergreifend steigen, erscheint es nicht
sachgerecht, den entschädi-gungsfreien Rücktritt deshalb
abzulehnen, weil die Infek-tionszahl im Bestimmungsgebiet hinter
der des Wohnor-tes zurückbleibt.
Ferner äußerte sich das AG Stuttgart zu der Frage eines
Rücktritts ohne Reisewarnung.41 Im Ausgangsfall trat der Kläger am
20.04.2020 von einer für den Juni 2020 ge-planten Kreuzfahrt42 zum
Nordkap zurück, wobei die amtliche Reisewarnung (zum Zeitpunkt der
Rücktritts-erklärung) nur bis Ende April 2020 galt. Nach Auffassung
des Gerichts steht die befristete Reisewarnung einer An-
wendung des § 651h Abs. 3 BGB nicht entgegen. Viel-mehr stellt
das AG Stuttgart in seinem Urteil darauf ab, dass auf einem
Kreuzfahrtschiff eine erhebliche Anzahl von Menschen eng
miteinander in Berührung komme und die Gefahr des Ausbruchs eines
Infektionsgesche-hens „letztlich vom Zufall“ abhänge. Ferner
bestehe für nicht infizierte Reisende das Risiko, dass das gesamte
Schiff unter Quarantäne gestellt, Landgänge untersagt bleiben und
Passagiere unter diesen Bedingungen auf dem Schiff festsitzen
würden. Dass somit erhebliche Be-einträchtigungen der Reise zu
befürchten seien, bedürfe „keiner weiteren Begründung“. Die
Entscheidung über-zeugt zwar insoweit, als das Gericht dem Kunden
einen entschädigungsfreien Rücktritt nach § 651h Abs. 3 BGB
zuspricht. Gleichwohl lässt sich die Begründung nicht ohne Weiteres
auf Kreuzfahrten insgesamt verallgemei-nern. Im Unterschied zur
damaligen Situation sind inzwi-schen gleichermaßen für Kreuzfahrten
– sofern sie über-haupt stattfinden – umfangreiche
Präventionsmaßnahmen vorhanden, wie etwa Schutz- und
Hygienekonzepte mit Abstandsregeln, wenigen oder keinen Landgängen,
einer reduzierten Gästeanzahl sowie eingeschränkten
(Frei-zeit-)Angeboten. Ob also weiterhin die Gefahr besteht, dass
ein gesamtes Schiff unter Quarantäne gestellt wird,
34 AG Stuttgart, Urt. v. 13.10.2020 - 3 C 2559/20 Rn. 15; Harke
in: Be-ckOGK, BGB, § 651h Rn. 48.1, Stand 01.08.2020; Steinrötter
in: jurisPK BGB, § 651h Rn. 22, 44.1; Bergmann in: Kroiß,
Rechtsprobleme durch COVID-19, 2020, § 8 Rn. 38; Löw, NJW 2020,
1252, 1253; Ruks, Die Haftung für außergewöhnliche Umstände, 2021,
S. 67 f.; Staudinger/Achilles-Pujol in: Schmidt, COVID-19, § 7 Rn.
27; Staudinger/Ruks, DAR 2020, 314, 316; Tonner, MDR 2020, 519,
520.
35 So etwa die Ansicht, wonach eine weltweite Reisewarnung „sich
in ihrer Indizwirkung für einzelne Länder selber schwächt“:
Führich, NJW 2020, 2137, 2138.
36 Ebenso: Staudinger/Achilles-Pujol in: Schmidt, COVID-19, § 7
Rn. 27; Staudinger/Achilles-Pujol, RRa 2020, 205.
37 Meier in: Effer-Uhe/Mohnert, Vertragsrecht in der
Corona-Krise, 2020, S. 178; Staudinger/Achilles-Pujol in: Schmidt,
COVID-19, § 7 Rn. 27; Staudinger/Ruks, DAR 2020, 314, 315 f.;
Weller/Lieberknecht/Habrich, NJW 2020, 1017, 1021;
Wolf/Eckert/Denz/Gerking/Holze/Künnen/Kurth, JA 2020, 401, 402;
vgl. Erwägungsgrund 31 Satz 3 Pauschalrei-se-RL (EU) 2015/2302;
BT-Drs. 18/10822, S. 76.
38 Ruks, Die Haftung für außergewöhnliche Umstände, 2021, S. 66
ff.; dem folgend: AG Frankfurt a. M., Urt. v. 11.08.2020 - 32 C
2136/20 (18); siehe auch: Staudinger/Ruks, DAR 2020, 314, 315.
39 AG Köln, Urt. v. 14.09.2020 - 133 C 213/20.40 AG Köln, Urt.
v. 14.09.2020 - 133 C 213/20; Harke in: BeckOGK, BGB,
§ 651h Rn. 48.1, Stand 01.08.2020; Steinrötter in: jurisPK BGB,
§ 651h Rn. 14.1, 44.1.
41 AG Stuttgart, Urt. v. 13.10.2020 - 3 C 2559/20.42 Auch bei
der Kreuzfahrt handelt es sich um eine Pauschalreise: Stau-
dinger in: Führich/Staudinger, Reiserecht, § 5 Rn. 4;
Staudinger/Ruks, RRa 2018, 2, 3; vgl. Erwägungsgrund 17 Satz 6 RL
(EU) 2015/2302; BT-Drs. 18/10822, S. 67.
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77
JANUAR
2021JM 1
erscheint – auch im Lichte der Eingruppierung in
Kon-taktkategorien eines Infizierten – durchaus zweifelhaft.
Jedenfalls hätte ein solcher „Generalverdacht“ zur Folge, dass der
Kunde in Zeiten der Pandemie von jeder beliebi-gen Kreuzfahrtreise
entschädigungsfrei nach § 651h Abs. 3 BGB zurücktreten könnte. Das
ist mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis von § 651h Abs. 1, 3 BGB
nicht in Einklang zu bringen.
G. Zielgebiet mit Beherbergungsverbot ohne „Lock-down“
I. Allgemein
Politisch wie rechtlich umstritten sind die sog.
Beherber-gungsverbote43 innerhalb der Bundesrepublik, die –
ver-einfacht formuliert – das Gewähren von Unterkunft gegen-über
Personen aus einem sog. Risikogebiet untersagen. Die Regelungen der
Bundesländer unterscheiden sich je-doch im Einzelnen und enthalten
teils umfangreiche Ausnahmen.44 Die Gerichte setzten bislang
bereits zahlreiche solcher Rechtsverordnungen (vorläufig) außer
Vollzug, bspw. in Niedersachsen,45 Baden-Württem-berg,46
Mecklenburg-Vorpommern47 sowie Schleswig-Holstein.48 Die aktuelle
Rechtslage eines jeden Bundes-landes kann verlässlich nur unter
Zuhilfenahme der jeweiligen Rechtsverordnungen eingeschätzt werden.
Dabei dürfte es mitunter schon eine Herausforderung darstellen, die
jeweils einschlägige, tagesaktuelle Fas-sung zu identifizieren und
ausfindig zu machen.49 Als An-wendungsfall soll die Beurteilung
anhand der Rechtslage in Hamburg erfolgen, selbst wenn die
Bestimmung von der Exekutive aufgehoben oder der Judikative
vorläufig außer Vollzug gesetzt werden sollte. Laut § 16 Abs. 4
Satz 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO50 ist die Bereit-stellung von
Übernachtungsangeboten zu touristischen Zwecken für Personen, die
sich in einem Risikogebiet auf-gehalten haben, nur zulässig, wenn
die Betroffenen bei der Ankunft ein ärztliches Zeugnis vorlegen,
welches be-stätigt, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen
einer Infektion mit dem Coronavirus vorhanden ist. Dieses ärztliche
Zeugnis muss sich gem. § 16 Abs. 4 Satz 2
HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO auf eine molekular-biologische Testung
stützen, die höchstens 48 Stunden zuvor erfolgen darf.
II. Rücktritt
Auf der Basis der dargestellten Rechtslage können
unter-schiedliche Konstellationen eintreten. Verfügt der Reisen-de
über ein negatives Testergebnis, greift die Ausnahme-bestimmung zu
seinen Gunsten ein und die Beherbergung
ist ungehindert möglich. Liegt kein negativer, sondern ein
positiver Befund beim Urlauber vor, unterfällt dies der be-reits
erörterten Fallgruppe der Erkrankung eines Reisen-den.
Übrig bleiben sodann Sachverhalte, bei denen der Urlau-ber
entweder über ein „veraltetes“ oder keinerlei ärzt-liches Zeugnis
verfügt. Das novellierte Pauschalreise-recht äußert sich zu
gesundheitlichen Bestimmungen bezüglich der Reise etwa in Art. 250
§ 3 Nr. 6 EGBGB. So muss der Veranstalter den Kunden vor
Vertragsschluss über gesundheitspolizeiliche Formalitäten des
Bestim-mungsortes informieren (§ 651d Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art.
250 § 3 Nr. 6 EGBGB),51 was die notwendige Einhal-tung
gesundheitsrelevanter Vorschriften einschließt.52 Die
entsprechenden Einreise- wie Gesundheitsdoku-mente zu beschaffen,
liegt dabei grds. in der Verantwor-tung des Reisenden.53 Demzufolge
handelt es sich nicht um außergewöhnliche Umstände i.S.d. § 651h
Abs. 3 Satz 1, 2 BGB, wenn der Urlauber dieser Art von Mitwir-kung
in eigener Angelegenheit nicht nachkommt und bspw. die Teilnahme an
einem Corona-Test verweigert. Entgegen der Vorgabe in § 651h Abs. 3
Satz 2 BGB han-delt es sich nämlich um ein Ereignis, das seiner
Kontrol-le untersteht.
Anders hingegen mag die Beurteilung ausfallen, wenn der Buchende
angesichts des kurzen Zeitfensters einer Testung von 48 Stunden vor
Abreise wegen Kapazitäts-engpässen, fehlender Test-Termine oder
Verzögerungen im Untersuchungslabor nicht oder jedenfalls nicht
recht-
43 Zur Verhältnismäßigkeit: Eibenstein, COVuR 2020, 688.44 Vgl.
etwa die Ausnahmen in § 5 Abs. 3 – 14 Corona-Lockerungs-LVO
MV vom 07.07.2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom
13.10.2020 (GVOBl. M-V 2020, S. 518); beachte hierzu: OVG
Greifs-wald, Beschl. v. 20.10.2020 - 2 KM 702/20.
45 OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20.46 VGH
Mannheim, Beschl. v. 15.10.2020 - 1 S 3156/20.47 OVG Greifswald,
Beschl. v. 20.10.2020 - 2 KM 702/20.48 OVG Schleswig, Beschl. v.
23.10.2020 - 3 MR 47/20; beachte aber
BVerfG, Beschl. v. 22.10.2020 - 1 BvQ 116/20.49 Zur Aufstellung
siehe: www.adac.de/news/beherbergungsverbot-co-
rona-hotspots/ (zuletzt abgerufen: 06.11.2020).50 Achtzehnte
Verordnung zur Änderung der Hamburgischen SARS-CoV-
2-Eindämmungsverordnung (HmbGVBl. Nr. 57 vom 23.10.2020, S.
543).
51 Zur Informationspflicht hinsichtlich etwaiger Änderungen bis
zum Rei-sebeginn: Staudinger in: Führich/Staudinger, Reiserecht, §
9 Rn. 14; dem folgend: Blankenburg in: Erman, BGB, § 651d Rn.
8.
52 Baumgärtner in: BeckOK, BGB, 55. Edition, Art. 250 § 3 EGBGB
Rn. 28, Stand 01.08.2020.
53 Vgl. BGH, Urt. v. 16.05.2017 - X ZR 142/15; BGH, Urt. v.
20.05.2014 - X ZR 134/13 („eigene rechtliche Angelegenheit“); OLG
Frankfurt a. M., Urt. v. 26.02.2015 - 16 U 122/14.
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8
Die Monatszeitschrift
zeitig einen Negativbefund vorweisen kann. Einzig in solchen
Ausnahmekonstellationen erscheint die Annah-me außergewöhnliche
Umstände nach § 651h Abs. 3 Satz 1, 2 BGB nicht von vornherein
ausgeschlossen. Ein vergleichbarer Fall lag der Entscheidung des
OLG Frank-furt zugrunde, wenngleich sie die frühere Regelung des §
651j Abs. 1 BGB a.F. und den Begriff der höheren Ge-walt betraf.54
Das Gericht sprach sich für höhere Gewalt aus, weil das
Bestimmungsland kurzfristig und ohne weitere Ankündigung eine
Visumpflicht anordnete und die rechtzeitige Beschaffung durch den
Reisenden nicht mehr gelingen konnte. Teile der Literatur sprechen
sich dafür aus, den Richterspruch auf das novellierte Recht und die
außergewöhnlichen Umstände zu übertragen.55 Andererseits betonte
der BGH bereits bislang, dass nicht die Unmöglichkeit der eigenen
individuellen Anreise maßgeblich ist, sondern vielmehr die
Tatsache, dass eine Hinfahrt infolge bestimmter Ereignisse
„schlechthin ausgeschlossen“ bleibt.56 Demzufolge können selbst für
den Reisenden unvorhersehbare Situationen noch seiner Risikosphäre
zuzuordnen sein, bspw. behördliches Fehl-verhalten in Bezug auf die
Reisedokumente.57 In diesem Sinne dürfte ebenfalls die Situation zu
beurteilen sein, dass sich der Urlauber aufgrund von
Kapazitätsengpäs-sen nicht in der Lage sieht, einen Negativbefund
vorzu-weisen. Im Streitfall und bei Entscheidungserheblichkeit
dieser Frage erscheint aber die Einbindung des EuGH durch ein
Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV angezeigt. Denn
letztlich geht die Beantwortung auf die Reichweite von Art. 3 Nr.
12 bzw. Art. 12 Abs. 2 RL (EU) 2015/2302 und damit supranationale
Vorgaben zurück.
H. „Lockdown“/„Shutdown“ im Zielgebiet
Einen äußerst gravierenden Eingriff stellen gebiets- oder
landesweite staatliche Schließungs- bzw. Stilllegungs-maßnahmen
bestimmter Wirtschaftszweige dar. Gerade in Zeiten steigender
Infektionszahlen sind Pauschalreisen vermehrt durch solche
Anordnungen betroffen. Das zei-gen bspw. die für die Bundesrepublik
im November 2020 von der Exekutive angeordneten Einschränkungen. So
sind Übernachtungsangebote zu touristischen Zwecken, die nach dem
29.10.2020 angetreten worden sind, bis zum 30.11.2020 untersagt
(vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Corona- SchVO NRW58).59 Gleiches gilt laut
§ 15 Abs. 2 Corona- SchVO NRW für Busreisen.
Demzufolge kann der Veranstalter seine in § 651a Abs. 1 Satz 1
BGB festgelegte Pflicht nicht erfüllen, dem Kun-den eine
Pauschalreise zu verschaffen.60 Die staatlichen Einschränkungen
gehen auf die dynamische Entwick-
lung der Pandemie und das sich stetig verändernde
In-fektionsgeschehen zurück. Steigen die Infektionszahlun-gen und
kommt es zu derart umfassenden staatlichen Beschränkungen oder gar
der vollständigen Untersa-gung von touristischen Reisen, liegen
außergewöhnliche Umstände am Bestimmungsort vor, welche die
Durch-führung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen. Im Fall
eines Rücktritts des Kunden steht dem Veranstalter also kraft §
651h Abs. 3 Satz 1 BGB kein Entschädi-gungsanspruch aus § 651h Abs.
1 Satz 3 BGB zu. Einer Vertragsbeendigung durch den Reisenden
dürfte der Veranstalter in solchen Fällen jedoch typischerweise
durch eine eigens erklärte Absage zuvorkommen. Dieser ist nämlich
durch die Ereignisse an der Durchführung des Arrangements gehindert
und darf gem. § 651h Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BGB gleichermaßen vom
Vertrag zu-rücktreten.
I. Fazit und Ausblick
Die Pandemie sowie die Einschränkungen des öffentli-chen Lebens
konfrontieren die Gesellschaft mit unbe-kannten Herausforderungen,
was gleichermaßen für die juristische Beurteilung neuer
Sachverhaltskonstellatio-nen gilt. Die ersten Gerichte
beschäftigten sich bereits mit der Aufbereitung reiserechtlicher
„Corona-Fälle“ und den außergewöhnlichen Umständen. Weitere
Urtei-le dürften zeitnah folgen und mittel- bis langfristig
si-cherlich den EuGH erreichen. Der hiesige Beitrag zeigt insoweit
auf, dass die mit der Pandemie verbundenen Ri-siken nicht generell
von einer bestimmten Partei zu tra-gen sind, sondern das „Pendel“
sowohl zu der einen wie der anderen Vertragsseite ausschlagen
kann.
54 OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 16.09.2004 - 16 U 49/04; zur
Änderung von Gesundheitsvorschriften, allerdings noch vor
Inkrafttreten der §§ 651a ff. BGB siehe: OLG Frankfurt a. M., Urt.
v. 26.02.2015 - 16 U 122/14.
55 Harke in: BeckOGK, BGB, § 651h Rn. 52, Stand 01.08.2020; Geib
in: BeckOK, BGB, 55. Edition, § 651h Rn. 20, Stand 01.08.2020.
56 BGH, Urt. v. 16.05.2017 - X ZR 142/15.57 BGH, Urt. v.
16.05.2017 - X ZR 142/15.58 Verordnung zum Schutz vor
Neuinfizierungen mit dem Coronavirus
SARS-CoV-2 vom 30.10.2020 (GV. NRW 2020 Nr. 50b, S. 1043b
ff.).59 Bezüglich der Verhältnismäßigkeit vergleichbarer
Regelungen: VGH
München, Beschl. v. 05.11.2020 - 20 NE 20.2468; OVG Magdeburg,
Beschl. v. 04.11.2020 - 3 R 218/20.
60 Zur rechtlichen Unmöglichkeit bei der Beherbergung außerhalb
des Pauschalreiserechts: Staudinger/Achilles-Pujol, RRa 2020, 154,
161 f.
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99
JANUAR
2021JM 1
In den sog. Abgasfällen nach dem Dieselskandal erregt für
Geschädigte nach der Verjährung ihres Schadensersatzan-spruchs aus
§ 826 BGB gegen den Kraftfahrzeug-Herstel-ler der sog.
Restschadensersatzanspruch gem. § 852 Satz 1 BGB Aufmerksamkeit. Er
setzt den verjährten De-liktsanspruch fort und beschränkt ihn in
seinem Umfang auf eine bereicherungsfolgenrechtliche Herausgabe der
Vermögensmehrung, die der Schädiger durch die un-erlaubte Handlung
vom Geschädigten erlangt hat, ohne dass es für diese
Gewinnabschöpfung auf eine Unmittel-barkeit der
Vermögensverschiebung oder sonstige Voraus-setzungen eines
Bereicherungsanspruchs ankommt. Die nähere Untersuchung der
Bedeutung und Anwendung des § 852 Satz 1 BGB in den Abgasfällen
zeigt indes, dass die große Mehrzahl der Anspruchsteller im
Ergebnis leer aus-zugehen droht.
A. Die Ausgangslage
In den (vor-)gerichtlichen Auseinandersetzungen zwi-schen den
Erwerbern von Kraftfahrzeugen mit software-gesteuerter Manipulation
der Abgasrückführung und dem hierfür verantwortlichen
Herstellerunternehmen (vulgo: „Dieselskandal“)1 rückt neuerdings
eine Rege-lung aus dem Recht der unerlaubten Handlungen des BGB ins
Visier, die in der Rechtspraxis nicht zum Alltags-geschäft gehört.
Die Rede ist von § 852 Satz 1 BGB in der seit der
Schuldrechtsreform von 2002 geltenden Fas-sung, die unter der
amtlichen Überschrift „Herausgabe-anspruch nach Eintritt der
Verjährung“ folgenden Wort-laut aufweist: „Hat der Ersatzpflichtige
durch eine unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten etwas
erlangt, so ist er auch nach Eintritt der Verjährung des Anspruchs
auf Ersatz des aus einer unerlaubten Hand-lung entstandenen
Schadens zur Herausgabe nach den Vorschriften über die Herausgabe
einer ungerechtfertig-ten Bereicherung verpflichtet.“2
Mit Urteil vom 25.05.2020 hat der VI. Senat des BGH im sog.
Grundfall des Dieselskandals3 den Hersteller zum Schadensersatz
wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schä-digung nach § 826 BGB
verurteilt, dabei allerdings eine (vorher stark umstrittene)
unbegrenzte Anrechnung der vom Erwerber gezogenen Nutzungen im Wege
der Vor-teilsausgleichung vorgenommen.4 Dieses Urteil hat der-selbe
Senat wenig später (am 30.07.2020) durch vier wei-
tere „Diesel-Entscheidungen“ ergänzt und damit wichtige
höchstrichterliche Klärungen vieler Rechtsfragen für die
Betroffenen präsentiert.5 Der Anspruch gegen den Her-steller aus §
826 BGB verjährt nach §§ 195, 199 BGB in drei Jahren wohl
spätestens ab Ende 2015 – wegen der in diesem Jahr bereits
unübersehbaren medialen Bericht-erstattung über die
Abgasproblematik.6 Von diesem Aus-gangspunkt her richtet sich das
Augenmerk darauf, ob für individuelle Klagen, die erst nach dem
Jahresbeginn 2020 erhoben wurden oder werden, § 852 BGB anwendbar
ist und zu einem Restschadensersatzanspruch gegen den Hersteller,
gerichtet auf „den Kaufpreis abzüglich der Händlermarge“ führen
kann.7
B. Das heutige Normverständnis des § 852 Satz 1 BGB
I. § 852 Satz 1 BGB als Rechtsfolgeverweisung
Die Vorschrift ist nicht leicht zu verstehen. Nachdem sich der
jahrzehntelange rechtsdogmatische Streit unter der Überschrift
„Rechtsgrund- oder Rechtsfolgeverwei-
Die Abwicklung des Dieselskandals über § 852 Satz 1 BGB –
Rettungsanker oder Rohrkrepierer? (Teil 1)*
RA und Prof. (em.) Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek
* Der Beitrag beruht auf einer Anfrage aus der
Unternehmenspraxis und wird in einer der kommenden Ausgaben der jM
fortgesetzt.
1 Zu den Hintergründen und Einzelheiten vgl. Borgeest,
Manipulation von Abgaswerten, 2017; Ewing, Wachstum über alles. Der
VW-Skandal. Die Personen. Die Technik. Die Hintergründe, 2017;
Ewing, Faster, Hig-her, Farther. The Volkswagen Scandal, (New York)
2017; Hauck, wistra 2017, 457 ff.
2 In § 852 Satz 2 BGB heißt es weiter: „Dieser Anspruch verjährt
in zehn Jahren von seiner Entstehung an, ohne Rücksicht auf die
Entstehung in 30 Jahren von der Begehung der Verletzungshandlung
oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.“
3 So Heese, Projekt Dieselskandal Herstellerhaftung in:
https://go.ur.de/dieselskandal (zuletzt abgerufen am
08.11.2020).
4 BGH, Urt. v. 25.05.2020 - VI ZR 252/19 mit Anmerkung Jaensch,
jM 2020, 322 ff.; allgemein zu den deliktsrechtlichen Ansprüchen
der Kraftfahrzeug-Erwerber gegen den Hersteller in den Abgasfällen
Witt, NJW 2017, 3631; Legner, VuR 2018, 215.
5 BGH, Urt. v. 30.07.2020 - VI ZR 354/19; BGH, Urt. v.
30.07.2020 - VI ZR 397/19; BGH, Urt. v. 30.07.2020 - VI ZR 5/20;
BGH, Urt. v. 30.07.2020 - VI ZR 367/19.
6 So OLG München, Beschl. v. 03.12.2019 - 20 U 5741/19.7 Hierauf
hat namentlich Augenhofer, VuR 2019, 83, 86 aufmerksam ge-
macht; in der Rechtsprechung hat die Vorschrift bislang, soweit
ersicht-lich, nur bloße Erwähnung als mögliche Anspruchsgrundlage
gefun-den, vgl. LG Marburg, Beschl. v. 16.06.2020 - 9 C 891/19; LG
Magdeburg v. 25.06.2020 - 10 O 1856/19 (unveröffentlicht); LG Kiel,
Beschl. v. 02.07.2020 - 17 O 124/20 (unveröffentlicht).
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10
Die Monatszeitschrift
sung“8 inzwischen – seit der BGH-Entscheidung
„Fahrrad-gepäckträger II“ von 19789 – erledigt hat, lässt sich
heute in Literatur und Rechtsprechung ein weithin konsentiertes
Verständnis des § 852 Satz 1 BGB ausmachen,10 auch wenn nach wie
vor wechselnd und unscharf vom „bereicherungs-rechtlichen
Schadensersatzanspruch“ oder vom „delikts-rechtlichen
Bereicherungsanspruch“ die Rede ist.11 Dieses Verständnis, das sich
auch der Gesetzgeber des Schuld-rechtsmodernisierungsgesetzes zu
eigen gemacht hat,12 lässt sich in nur einem Satz zusammenfassen:
Der Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB setzt den verjährten
Deliktsanspruch fort und beschränkt ihn in seinem Umfang auf eine
berei-cherungsfolgenrechtliche Herausgabe der durch die un-erlaubte
Handlung des Schädigers vom Geschädigten erlangten
Vermögensmehrung, ohne dass es für die Ge-winnabschöpfung beim
Schädiger und für die Begünsti-gung des Geschädigten auf eine
Unmittelbarkeit der Ver-mögensverschiebung oder auf sonstige
Voraussetzungen eines Bereicherungsanspruchs ankommt. Dies lädt
freilich prima vista zu einer Anwendung des § 852 Satz 1 BGB auf
die Abgasfälle ein.
II. Die Doppelschritt-Prüfung und die doppelte Limi-tierung
Eine wichtige Konsequenz des heute einhelligen
Norm-verständnisses liegt für den Rechtsanwender darin, dass ihm §
852 Satz 1 BGB eine „Doppelschritt-Prüfung“ ab-verlangt. Es „kommt
nicht darauf an, ob die Vorausset-zungen eines Kondiktionsanspruchs
vorliegen, sondern es sind die Voraussetzungen für einen
Deliktsanspruch, etwa aus § 823 zu prüfen, und zwar einschließlich
der haftungsausfüllenden Kausalität und der Schadensbe-rechnung.
Erst wenn feststeht, was der Geschädigte nach Deliktsrecht hätte
beanspruchen können, ist in einem zweiten Schritt anhand der §§ 818
ff zu ermitteln, welchen Umfang die vom Schädiger durch die
unerlaub-te Handlung erlangte Bereicherung hat. Übersteigt die
Bereicherung den Schaden, kann er vollen Ersatz verlan-gen; bleibt
sie dahinter zurück, ist der Ersatzanspruch entsprechend zu
beschneiden.“13 Damit „deckelt“ der Bereicherungsumfang den
Schaden, denn der Geschä-digte kann auch bei weitergehendem Schaden
höchs-tens Ersatz in Höhe des Bereicherungsumfangs verlan-gen.
Indes „deckelt“ der Schadensersatzanspruch auch den
Bereicherungsumfang, denn auch bei höherer Berei-cherung des
Schädigers kann der Geschädigte jedenfalls nur höchstens seinen
Schaden ersetzt verlangen.14 Mit anderen Worten: „Der Anspruch ist
durch den Schaden des Verletzten und die Bereicherung des
Verletzers dop-pelt limitiert.“15
III. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise
Eine weitere wichtige Konsequenz der heute einhelligen
Sichtweise der Rechtsfolgeverweisung zu § 852 Satz 1 BGB folgt für
den Rechtsanwender daraus, dass das Merk-mal „auf Kosten“ gleichsam
von dem vorhergehenden Merkmal „durch eine unerlaubte Handlung“
absorbiert wird; es büßt jede Eigenständigkeit ein, sodass eine
„Un-mittelbarkeit der Vermögensverschiebung“, die nach der früheren
bereicherungsrechtlichen Dogmatik teilweise er-forderlich war,
unbedeutend wird.16 Auch bei einer nur mittelbaren
„Vermögensverschiebung“ über Dritte, bspw. vom
Kunden/Kraftfahrzeug-Käufer über einen
Kraftfahr-zeug-Vertragshändler kann sich ohne Weiteres eine
Ver-mögensmehrung beim Kraftfahrzeug-Hersteller einstel-len. Schon
früh hat der BGH betont,17 dass es nicht von Bedeutung ist, ob
einem Mittäter die Bereicherung unmit-telbar vom Geschädigten oder
durch Vermittlung eines
8 Vgl. dazu Wagner in: MünchKomm, BGB, 8. Aufl. 2018, § 852 Rn.
1 unter Hinweis auf Motiv II, 742 und 852 sowie auf die Darstellung
der Entstehungsgeschichte bei König in: BMJ (Hrsg.), Gutachten und
Vor-schläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, 1981, Bd. II, S.
1515, 1557; vgl. insbesondere v. Caemmerer in: Festschrift für
Rabel, 1954, Bd. I, S. 333, 396; Reuter in: Reuter/Martinek,
Ungerechtfertigte Be-reicherung, Teilbetrag 2, 2016, S. 595; ebenso
schon in der Vorauflage von 1983, S. 739.
9 BGH, Urt. v. 14.02.1978 - X ZR 19/76 Rn. 61 und 62 im
Anschluss an BGH, Urt. v. 30.11.1976 - X ZR 81/72 -
„Kunststoffhohlprofil I“; vgl. dazu Horn, GRUR 1978, 496 – 498;
Hülsewig, GRUR 2011, 673 – 678; Hülsewig, GRURPrax 2019, 369 – 370;
Gansweid, JA 1978, 641 – 643; Bruchhausen, LM Nr. 11 zu § 823 (Ag)
BGB.
10 Vgl. z.B. Rüßmann in:
Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger (Hrsg.), jurisPK BGB, 8.
Aufl. 2020, § 852 Rn. 5; Spindler in: BeckOK, BGB, 2020, § 852 Rn.
2; Wagner in: MünchKomm, BGB, 8. Aufl. 2018, § 852 Rn. 2; Vieweg
in: Staudinger, BGB, 2015, § 852 Rn. 2 ff., jeweils m.w.N.
11 In den Kommentierungen zu § 852 BGB und bei der Mehrzahl des
sonstigen Schrifttums herrscht bis heute terminologische
Verwirrung; man weiß den Anspruch nicht recht zwischen Delikts- und
Kondiktions-recht zu platzieren; vgl. schon Seifert, NJW 1972,
1739.
12 BT-Drs. 14/640, 270 unter Hinweis auf BGH, Urt. v. 14.02.1978
- X ZR 19/76.
13 So Wagner in: MünchKomm, BGB, 8. Aufl. 2018, § 852 Rn. 5.14
Reuter in: Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung,
Teilbetrag
2, 2016, S. 595: „Tatsächlich verlangt § 852 S. 1 BGB beides:
Die Be-reicherung begrenzt die Ersatzfähigkeit des Schadens;
umgekehrt be-grenzt der Schaden die Herausgabepflichtigkeit der
Bereicherung.“ Vgl. auch schon S. 594: „Weder gibt er (§ 852 S. 1
BGB) einen Berei-cherungsanspruch unabhängig von einem Schaden des
Verletzten noch erlaubt er dem Verletzten, dem Verletzer mehr
Bereicherung ab-zuverlangen, als ihm an Schaden entstanden
ist.“
15 So Ebert, NJW 2003, 3035, 3037.16 Vieweg in: Staudinger, BGB,
2015, § 852 Rn. 2 und 9; Wagner in:
MünchKomm, BGB, § 852 BGB Rn. 6; BGH, Urt. v. 10.06.1965 - VII
ZR 198/63; BGH, Urt. v. 14.02.1978 - X ZR 19/76.
17 BGH, Urt. v. 10.06.1965 - VII ZR 198/63.
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1111
JANUAR
2021JM 1
anderen an der Tat Beteiligten zugeflossen ist. Heute herrscht,
wie vielfach betont wird, eine „wirtschaftliche Betrachtungsweise“
bei der Beurteilung eines Vermö-genszuwachses auf der Seite des
Schädigers.18 Entschei-dend ist nur, dass die Begehung der
unerlaubten Hand-lung für die eingetretene Vermögensmehrung beim
Schädiger kausal gewesen ist.
C. Schaden und Schadensersatzanspruch des An-spruchstellers
I. Der verjährte Schadensersatzanspruch
Die Überlegungen zur Anwendung des § 852 Satz 1 BGB auf die
Abgasfälle sollen sich hier an dem „Musterfall“ eines privaten
Kraftfahrzeug-Käufers orientieren, der einen Neuwagen aus der
Produktpalette des Herstellers von einem Vertragshändler erworben
hat und dessen Kraftfahrzeug sich später als abgasmanipuliert
herausge-stellt hat. Für diesen Musterfall ist nach der
„Doppel-schritt-Prüfung“ zu § 852 Satz 1 BGB vorrangig der
Scha-densumfang eines verjährten Schadensersatzanspruchs zu
ermitteln, weil er jedenfalls den Restschadensersatzan-spruch
„deckelt“, d.h. selbst im Fall einer darüber hinaus-reichenden
Vorteilserlangung/Bereicherung des Schädi-gers den Anspruch aus §
852 Satz 1 BGB im Umfang beschränkt. Nach dem erwähnten
„Grundsatzurteil“ des BGH vom 25.05.2020 ist hierfür der inzwischen
verjährte Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller aus § 826 BGB
zugrunde zu legen. Dabei ist unbedeutend, dass die-ses Urteil
keinen Neuwagen, sondern einen Gebrauchtwa-gen zum Gegenstand
hatte; die Ausführungen des Urteils gelten gleichsam „erst recht“
für einen Neuwagenkauf. Da der Senat den Schaden darin gesehen hat,
dass der Käufer ohne die unerlaubte Handlung des Herstellers den
Kaufvertrag nicht gewollt und nicht abgeschlossen hätte, liegt der
Schaden in dem nicht gewollten Kaufvertragsab-schluss mit der
Pflicht zur Kaufpreiszahlung an den Ver-käufer, d.h. beim
Neuwagenkauf an den Händler. Zugrun-de zu legen ist mithin als
Schaden zunächst der vom Käufer an den Händler gezahlte
Brutto-Kaufpreis ein-schließlich Mehrwertsteuer. Dieser Betrag ist
im Einzelfall leicht festzustellen.
An dem gezahlten Kaufpreis als Ausgangspunkt der
Scha-densberechnung ändern spätere Umstände – wie die Auf-deckung
des verdeckten Sachmangels oder insbesondere die Durchführung des
Software-Updates – nichts; der gem. § 826, § 249 Abs. 1 BGB mit dem
Vertragsschluss entstan-dene Anspruch des Geschädigten gegen den
Hersteller auf (Rück-)Zahlung des Kaufpreises erlischt nicht, wenn
sich der (objektive) Wert oder Zustand des Fahrzeugs in der
Fol-
ge aufgrund späterer Umstände ändert; hierdurch wird der „unter
Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungs-rechts des
Klägers sittenwidrig herbeigeführte ungewollte Vertragsschluss, der
im Rahmen des § 826 BGB den Scha-den begründet, [...] nicht
rückwirkend zu einem gewollten Vertragsschluss“.19
II. Anrechnung von Nutzungsvorteilen über den
Ver-jährungseintritt hinaus
Es kann – ungeachtet der früheren Kontroversen in der Lite-ratur
und Rechtsprechung – nach den „Diesel-Urteilen“ des BGH vom
25.05.2020 und vom 30.07.2020 als nunmehr ge-sichert angesehen
werden, dass sich der Kraftfahrzeug-Käu-fer auf seinen
Schadensersatzanspruch im Wege der scha-densersatzrechtlichen
Vorteilsanrechnung die aus dem Kraftfahrzeug-Einsatz gewonnenen
Gebrauchsvorteile (die „gezogenen Nutzungen“) „abziehen“ lassen
muss, weil er „im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche
Bereiche-rungsverbot nicht besser gestellt werden [darf], als er
ohne das schädigende Ereignis stünde“.20 Für diese
Vorteilsan-rechnung (Anrechnung der Nutzungsentschädigung) hat der
Senat eine Formel verwendet, die einerseits die gezogenen
Nutzungsvorteile und andererseits über den wertbildenden Faktor der
Laufleistung auch den Wertverlust des Fahrzeugs berücksichtigt:
Nutzungsvorteil =
Bruttokaufpreis x gefahrene Strecke (seit Erwerb)
Erwartete Restlaufzeit im Erwerbszeitpunkt
In einem seiner Urteile vom 30.07.2020 hat der 6. Senat „in
Fortführung“ seines Grundsatzurteils vom 25.05.2020 zudem zum
Ausdruck gebracht, dass im Einzelfall „der Schadensersatzanspruch
des Käufers eines mit einer unzu-lässigen Abschalteinrichtung für
die Abgasrückführung versehenen Fahrzeugs [...] durch die im Wege
des Vorteils-ausgleichs erfolgende Anrechnung der Nutzungsvorteile
vollständig aufgezehrt werden [kann]“ (Leitsatz).21 In casu erwies
sich auf der Basis der Berechnungsformel zum Nut-zungsausgleich,
dass „der mit dem Kaufpreiserstattungs-anspruch geltend gemachte
finanzielle Schaden durch die geldwerte Fahrzeugnutzung bereits
vollständig ausgegli-chen wurde“. Eine Begrenzung der
Vorteilsanrechnung auf den Wertverlust des Fahrzeugs hat der Senat
für „nicht an-gezeigt“ gehalten. Wie sich an den Reaktionen auf
diese Rechtsprechung und an weiteren Entscheidungen schnell
18 Vgl. etwa Vieweg in: Staudinger, BGB, 2015, § 852 Rn. 9
m.w.N.19 BGH, Urt. v. 25.05.2020 - VI ZR 252/19 Rn. 58.20 BGH, Urt.
v. 25.05.2020 - VI ZR 252/19 Rn. 65.21 BGH, Urt. v. 30.07.2020 - VI
ZR 354/19 Rn. 15.
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12
Die Monatszeitschrift
gezeigt hat, führt diese Formel in einer Vielzahl der
Scha-densersatzfälle nach § 826 BGB jedenfalls im Klein- und
Mittelwagensektor binnen einiger Jahre zu einer ganz er-heblichen
Minderung der im Ergebnis zuzusprechenden Schadensersatzhöhe, wenn
nicht zu einer Reduzierung auf null wegen vollständiger Aufzehrung
durch die Vorteilsan-rechnung.
Es kommt aber für den Restschadensersatzanspruch ein wichtiger
Gesichtspunkt hinzu. Für die Berechnung des Restschadens bei § 852
Satz 1 BGB, bei der der tatsächlich entstandene Schaden des
Anspruchstellers die Höhe des bereicherungsrechtlichen
Anspruchsumfangs „deckelt“ (Schritt eins der
Doppelschritt-Prüfung), ist der maßgebli-che Zeitpunkt nicht etwa
nach dem Zeitpunkt des Verjäh-rungseintritts des Anspruchs aus §
826 BGB zu bestim-men, sondern kann sich nur nach demjenigen der
endgültigen freiwilligen Restschadenszahlung bzw. nach dem Termin
der letzten mündlichen Verhandlung im § 852er-Verfahren richten.
Mit anderen Worten: Es findet eine Vorteilsanrechnung über den
Verjährungseintritt des zugrunde liegenden Schadensersatzanspruchs
hinaus statt. Andernfalls bliebe die für die Limitierung des
Rest-schadensersatzanspruchs maßgebliche Schadensfeststel-lung
unvollkommen, weil die Vorteilsanrechnung vorzeitig abgebrochen
würde; dann aber könnte dem Gerechtig-keitspostulat der
Vorteilsanrechnung, dem sog. schadens-ersatzrechtlichen
Bereicherungsverbot, nicht vollumfäng-lich Rechnung getragen
werden. Dies kann jedenfalls in vielen Abgasfällen von vorherein,
d.h. ohne dass es über-haupt auf einen erlangten Vorteil beim
Geschädigten an-kommt, zu einer vollständigen Aufzehrung des
Restscha-densersatzanspruchs führen.
III. Keine Deliktszinsen nach § 849 BGB
Es ist nach der neuesten BGH-Rechtsprechung zu den Abgasfällen
auch unzweifelhaft, dass Deliktszinsen nach § 849 BGB nicht als
Schadensersatzposten zugunsten des Geschädigten einschlagen und
deshalb nicht bei der Limitierung des Restschadensersatzanspruchs
zu be-rücksichtigen sind. Selbst wenn im Einzelfall nach der obigen
Formel – Schaden gleich Bruttokaufpreis abzüg-lich des
Nutzungsvorteils, wobei sich dieser Nutzungs-vorteil errechnet aus
dem Bruttokaufpreis multipliziert mit der seit Erwerb gefahrenen
Strecke, dann geteilt durch die erwartete Restlaufzeit im
Erwerbszeitpunkt – noch ein (nicht aufgezehrter) Schaden des
Anspruchstel-lers übrig bleiben sollte, findet dessen Betrag keine
Er-höhung durch eine Verzinsung des ursprünglichen
Erstattungsanspruchs nach § 849 BGB, weil der BGH mit guten Gründen
und zu Recht die Voraussetzungen dieser Vorschrift verneint hat:
Denn dieser Zinsanspruch soll
mit einem pauschalierten Mindestbetrag den Verlust der
Nutzbarkeit einer entzogenen oder beschädigten Sache ausgleichen,
der durch den späteren Gebrauch dersel-ben oder einer anderen Sache
nicht ausgeglichen wer-den kann. In den Abgasfällen aber haben die
Geschädig-ten regelmäßig „als Gegenleistung für die Hingabe des
Kaufpreises ein in tatsächlicher Hinsicht voll nutzbares Fahrzeug“
erhalten.22 Es bleibt damit mangels Berück-sichtigung von
Deliktszinsen im „ersten Schritt“ der Doppelschritt-Prüfung des §
852 Satz 1 BGB dabei, dass der Anspruchsteller a limine nur einen
Restschadens-ersatz erwarten kann, der sich aus dem gezahlten
Brut-tokaufpreis abzüglich der vollen Nutzungsvorteile (über den
Verjährungseintritt des ursprünglichen Anspruchs hinaus) errechnet.
Diese a priori-Deckelung dürfte viele Anspruchsteller für die
Verfolgung eines Restschadens-ersatzanspruchs mutlos werden
lassen.
IV. Keine Anspruchsentstehung nach dem 22.09.2015
Es darf zudem in Erinnerung gerufen werden, dass der 6. Senat in
einer seiner vier Entscheidungen vom 30.07.202023 zu den
Abgasfällen erkannt hat, dass Käufer, die ihr Fahr-zeug erst nach
dem 22.09.2015 erworben haben, keinen Anspruch aus § 826 BGB mehr
erheben konnten, weil des-sen Voraussetzungen nach der
Verhaltensänderung des Herstellers, insbesondere nach der an den
Kapitalmarkt ge-richteten Ad-hoc-Mitteilung, von diesem Tage an
nicht mehr vorliegen, und zwar unabhängig von ihren Kenntnis-sen
über die Abgasfälle im Allgemeinen und von ihren Vor-stellungen
über die Betroffenheit ihres Fahrzeugs im Be-sonderen. Jedenfalls
scheiden Erwerber mit Kaufvertrag erst nach 22.09.2015 auch für den
Restschadensersatz aus: Wo überhaupt kein (verjährbarer)
Deliktsanspruch entstan-den ist, kann für einen Käufer auch niemals
ein Restscha-densersatzanspruch nach § 852 Satz 1 BGB zur
Entstehung gelangen.
D. Das „erlangte Etwas“ des Herstellers
I. Der Herstellergewinn pro Kraftfahrzeug im Ein-zelfall
Für den zweiten Schritt der Doppelschritt-Prüfung des § 852 Satz
1 BGB ist auf das durch die unerlaubte Hand-lung „erlangte Etwas“
beim Hersteller abzustellen. Dafür
22 BGH, Urt. v. 30.07.2020 - VI ZR 354/19 Rn. 19; vgl. auch OLG
Koblenz, Urt. v. 28.08.2019 - 5 U 1218/2018 Rn. 138; OLG Hamm, Urt.
v. 10.09.2019 - 13 U 149/18 Rn. 97; OLG Celle, Urt. v. 22.01.2020 -
7 U 445/2018 Rn. 72 f. m.w.N.
23 BGH, Urt. v. 30.07.2020 - VI ZR 5/20 Rn. 35 ff.
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1313
JANUAR
2021JM 1
sind grds. die Umstände des Einzelfalls maßgeblich, die bei
einem Neuwagenverkauf von einem Vertragshändler durch-aus
verschieden gelagert sein können. Bekanntlich verkauft der
Hersteller bei seinem auf vertriebsvertraglich gebunde-ne
Vertragshändler als Absatzmittler gestützten Vertriebs-system jedes
einzelne Kraftfahrzeug an einen Vertrags-händler, der es regelmäßig
mit „Händlermarge“ an den Endkunden verkauft. Es leuchtet ein, dass
sich im Einzelfall nach mehreren Jahren der vom Hersteller für ein
bestimm-tes Kraftfahrzeug vom Händler erzielte Preis kaum noch
in-dividuell-konkret ermitteln lässt, wohl auch nicht vom
Her-steller selbst, der insoweit die sekundäre Darlegungslast
trägt.
In dieser Konstellation liegt es nahe, im Rahmen der Schätzung
analog § 287 Abs. 1 und 2 ZPO auf eine pau-schalisierte
Betrachtungsweise auszuweichen, für die der sekundär
darlegungsbelastete Hersteller die „Schät-zungsgrundlagen“ zu
liefern hat, mithin das Augenmerk auf die durchschnittliche
„Herstellermarge“, also den „verdienten Gewinn“ für Kraftfahrzeuge
im Durch-schnittsfall des in Rede stehenden Typs zu richten. Dieser
pro Neuwagen verdiente Gewinn ist für alle
Kraftfahr-zeug-Hersteller in Deutschland seit langem Gegenstand des
allgemeinen Interesses und auch der spezialisierten
wissenschaftlichen Forschung. Auch wenn die Zahlen laut Professor
Willi Dietz vom Institut für Automobilwirtschaft (IFA) „eines der
bestgehüteten Geheimnisse der Branche“ sind,24 sind sie doch
weithin ermittelbar; sie sind nicht nur im einschlägigen
wissenschaftlichen Schrifttum, sondern zum Gutteil in der Presse
einschließlich dem Internet für die Allgemeinheit verfügbar. Neben
dem IFA an der Hoch-schule für Wirtschaft und Umwelt in Geislingen
an der Steige hat sich das Center Automotive Research
(CAR-In-stitut der Universität Duisburg-Essen)25 insoweit
beson-ders verdient gemacht. Es ist bspw. „erforscht“, was die
Hersteller im Allgemeinen und durchschnittlich für einen Neuwagen,
der für die Kunden im Jahr 2019 durchschnitt-lich 26.780 € gekostet
hat, im Ergebnis „verdienen“. Da-bei herrschen erhebliche
Unterschiede nicht nur zwischen den verschiedenen Herstellern,
sondern auch zwischen „Massenfahrzeugen“ und „Premium-Marken“, bei
denen auch ein Gewinn von 15 % erzielbar ist. Unter Hintanstel-lung
von Einzelheiten, die sich aus den publizierten Stu-dien der
genannten Institute ergeben, kann aufgrund al-lein der
Internet-Veröffentlichungen jedenfalls gesagt werden, dass der
größte deutsche Automobilhersteller „pro Neuwagen gerade mal 395
Euro Gewinn im ersten Halbjahr 2019 eingespielt hat.“26 Die
betriebswirtschaft-lich und finanzwissenschaftlich ermittelten
Zahlen sind am sog. EBIT-Wert orientiert (earnings before interest
and taxes) orientiert. Selbst unter Einbeziehung des hochprei-
sigen Premiumsektors liegt der EBIT-Wert pro Kraftfahr-zeug für
den größten deutschen Automobilhersteller im Jahr 2019
durchschnittlich jedenfalls im nur dreistelligen Bereich; an Klein-
und Mittelklassewagen hat er im Jahr 2016 deutlich unter 500 € pro
Kraftfahrzeug verdient.
II. Neuwagengeschäft
Für den Musterfall des Neuwagenkaufs bedeutet das vor-gestellte
Zahlenwerk, dass im zweiten Schritt der Doppel-schritt-Prüfung zu §
852 Satz 1 BGB, d.h. für die Ermitt-lung des vom Hersteller im
Einzelfall „erlangten Etwas“, unter Anwendung der
Schätzungsgrundsätze des § 287 BGB in der großen Mehrzahl der Fälle
höchstens von einem mittleren dreistelligen Euro-Betrag ausgegangen
werden kann. Außerhalb vielleicht des Sektors hochpreisi-ger
Premiumfahrzeuge sieht der Neuwagenkäufer in den VW-Abgasfällen
damit einen Restschadensersatzan-spruch aus § 852 Satz 1 BGB als
auf höchstens 500 € limi-tiert. Dieser Restschadensersatzanspruch
ist dabei nur er-reichbar, wenn der Neuwagenkäufer überhaupt noch
einen Schaden in mindestens dieser Höhe geltend ma-chen kann. Zu
berücksichtigen ist zudem immer, dass er entsprechend § 255 BGB
sein Fahrzeug zur Übergabe und Übereignung Zug-um-Zug gegen eine
Ersatzzahlung be-reithalten muss. In allen Urteilen, in denen die
Käufer/Er-werber mit unverjährten deliktsrechtlichen Ansprüchen aus
§ 826 BGB gegen den Hersteller „zum Zuge“ kamen, stand immer eine
Zug-um-Zug-Verurteilung in Rede. Hin-tergrund ist das
schadensersatzrechtliche Bereicherungs-verbot: Könnte der
Käufer/Erwerber sein Eigentum an dem Kraftfahrzeug zusätzlich zu
der Schadensersatzzah-
24 Vgl. hierzu und zum Folgenden Meidenbauer, Neue Studie – Das
ver-dienen die Autobauer in:
www.bild.de/auto/auto-news/neuwagen/stu-die-autopreise-31691828.bild.html;
siehe auch Weinzierl, Das verdie-nen Autobauer pro Fahrzeug in:
www.produktion.de/wirtschaft/margen-ranking-das-verdienen-autobauer-pro-fahrzeug-104.html;
Viehmann, Überraschende Zahlen – Das verdienen BMW, VW oder Porsche
wirklich an ihren Autos in:
www.focus.de/auto/ratgeber/kos-ten/gewinne-steigen-groesse-ist-nicht-alles-ueberraschende-zahlen-das-verdienen-die-hersteller-wirklich-an-ihren-autos_id_5829607.html;
vgl. ferner Dudenhöffer, Was verdienen die Autobauer pro Auto in:
www.absatzwirtschaft.de/was-verdienen-die-autobauer-pro-auto-87631/
(alle zuletzt abgerufen am 08.11.2020).
25 Vgl. www.uni-due.de/car/studien (zuletzt abgerufen am
08.11.2020).26 Dudenhöffer, Was verdienen die Autobauer pro Auto
in: www.absatz-
wirtschaft.de/was-verdienen-die-autobauer-pro-auto-87631/
(zuletzt abgerufen am 08.11.2020); vgl. zu den Zahlen auch
Viehmann, Über-raschende Zahlen – Das verdienen BMW, VW oder
Porsche wirklich an ihren Autos in:
www.focus.de/auto/ratgeber/kosten/gewinne-steigen-groesse-ist-nicht-alles-ueberraschende-zahlen-das-verdienen-die-hersteller-wirklich-an-ihren-autos_id_5829607.html;
(zuletzt abgeru-fen am 08.11.2020).
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14
Die Monatszeitschrift
lung (abzüglich der Nutzungsvorteile) behalten, stünde er im
Ergebnis besser da als ohne das zum Schadensersatz verpflichtende
Ereignis. Dieser Gesichtspunkt schlägt auch auf den
bereicherungsrechtlich verlängerten Scha-densersatzanspruch aus §
852 Satz 1 BGB durch, der sei-ner Rechtsnatur nach ein
Schadensersatzanspruch bleibt.
An dieser Stelle darf der Hinweis nicht fehlen, dass sich aller
Voraussicht nach viele potenziellen Anspruchsteller durch die
Abhängigkeit ihres Ersatzanspruchs aus § 826, § 852 Satz 1 BGB von
einer Zug-um-Zug-Übereignung ihres Fahrzeugs an den Hersteller
letztlich daran gehin-dert fühlen werden, eine Rechtsdurchsetzung
in Angriff zu nehmen. Der Grund hierfür ist, dass sie vielfach
inzwi-schen, d.h. nach den erfolgreich durchgeführten
Soft-ware-Updates und ihren bisherigen Erfahrungen, mit ihrem
Fahrzeug zufrieden sein dürften. Hinzu kommt, dass bei vielen
ursprünglich „Abgasgeschädigten“ durch den Verlauf der Ereignisse
die „Rückabwicklungsbereit-schaft“ abgeschmolzen sein dürfte.
Freilich muss man hierbei sorgfältig zwischen der rechtlichen und
der wirt-schaftlichen Lage unterscheiden: Rechtlich besteht der
Restschadensersatzanspruch aus § 826, § 852 Satz 1 BGB dem Grunde
nach unabhängig von den Ereignissen nach dem Vertragsschluss. Wie
der BGH in seiner Grund-satzentscheidung vom 25.05.2020 zum
Ausdruck ge-bracht und betont hat, ist sein
Sittenwidrigkeitsverdikt auf die „Verletzung des wirtschaftlichen
Selbstbestim-mungsrechts“ der Käufer/Erwerber und auf den
„sitten-widrig herbeigeführten ungewollten Vertragsschluss“
gestützt und dabei unabhängig von einer „objektiven Werthaltigkeit
von Leistung und Gegenleistung“ oder von einer späteren
Werterhöhung (durch die Software-Updates).27 Insbesondere kann der
„sittenwidrig herbei-geführte ungewollte Vertragsschluss, der im
Rahmen des § 826 BGB den Schaden begründet, [...] durch das [...]
durchgeführte Software-Update nicht rückwirkend zu einem gewollten
Vertragsschluss [werden]“.28 Wirt-schaftlich aber werden sich viele
betroffene Kunden durch die Software-Updates bereits
zufriedengestellt fühlen und das Interesse an einem (der Höhe nach
viel-leicht sehr enttäuschenden) Schadensersatzanspruch Zug-um-Zug
gegen Übereignung ihres Fahrzeugs verlo-ren haben. Es mag sich
vielfach gegenüber einem Rest-schadensersatzsanpruch mit
Fahrzeugverlust als wirt-schaftlich günstiger darstellen, sich mit
dem Status quo zu arrangieren und das Fahrzeug zu behalten,
weiterzu-veräußern oder bei einem Neuerwerb in Zahlung zu ge-ben.
Schließlich haben die Geschädigten – wie der BGH zutreffend
festgestellt hat – regelmäßig „als Gegenleis-tung für die Hingabe
des Kaufpreises ein in tatsächlicher Hinsicht voll nutzbares
Fahrzeug“ erhalten.29 Es darf
auch nicht unerwähnt bleiben, dass bei einem inzwi-schen
eingetretenen Verlust des Fahrzeugs etwa durch eine
Weiterveräußerung oder einen Diebstahl die erhal-tenen Surrogate
gleichfalls „herausgegeben“ bzw. in Ab-zug gebracht werden müssen,
um dem schadensersatz-rechtlichen Bereicherungsverbot zu
genügen.
III. Gebrauchtwagengeschäft
Auch die Käufer eines abgasmanipulierten Gebrauchtwa-gens sind
bei den VW-Abgasfällen in die Überlegungen zur Bedeutung und
Anwendung des Restschadensersatzan-spruchs nach § 852 Satz 1 BGB
einzubeziehen.30 Nachdem auch Gebrauchtwagenkäufer mit Ansprüchen
aus § 826 BGB gegen den Hersteller „bis zum BGH“ erfolgreich
durchdringen und gleichfalls Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises
abzüglich der Vorteilsanrechnung nur die gezo-genen Nutzungen
erstreiten konnten, können sich andere abgasgeschädigte
Gebrauchtwagenkäufer darauf besin-nen, nach Ablauf der
Verjährungsfrist des § 826 BGB auf einen Restschadensersatzanspruch
gegen den Hersteller zu rekurrieren.
Hier ist indes die Rechtslage eindeutig. Der Anspruch ist
abzulehnen, weil es an einem „erlangten Etwas“ des Herstellers
fehlt. Knappe, aber klare Worte hat das LG Osnabrück in seinem
Urteil vom 03.07.2020 gefunden:31 „Die Beklagte hat indes durch die
von ihr begangene unerlaubte Handlung jedenfalls in Bezug auf den
Kläger nichts erlangt. Der Kläger hat den streitgegenständli-chen
Pkw nicht von der Beklagten, sondern von der Fa. X in Y als
Gebrauchtwagen erworben. Die Beklagte ist mit-hin durch den
Abschluss des hiesigen Kaufvertrages in keiner Weise bereichert.“
Bei genauerer Betrachtung mag man ergänzen, dass der
Gebrauchtwagenverkauf auf dem „Zweitmarkt“ – gleichviel ob er
unmittelbar „von Privat an Privat“ oder über einen
Gebrauchtwa-genhändler innerhalb oder außerhalb des
Hersteller-Ver-triebsnetzes erfolgte – außerhalb der
Wertschöpfungs-
27 BGH, Urt. v. 25.05.2020 - VI ZR 252/19 Rn. 46.28 BGH, Urt. v.
25.05.2020 - VI ZR 252/19 Rn. 58.29 BGH, Urt. v. 30.07.2020 - VI ZR
354/19 Rn. 19; vgl. auch OLG Koblenz,
Urt. v. 28.08.2019 - 5 U 1218/2018 Rn. 138; OLG Hamm, Urt. v.
10.09.2019 - 13 U 149/18 Rn. 97; OLG Celle, Urt. v. 22.01.2020 - 7
U 445/2018 Rn. 72 f. m.w.N.
30 Außer Betracht bleibt hier das Leasinggeschäft im
Neuwagensektor, bei dem vor allem zwischen dem absatzfördernden
Hersteller- bzw. Händler-Leasing über eine mit dem Hersteller
konzernverbundene Lea-singgesellschaft („Auto-Bank“) einerseits und
der Abwicklung über ein unabhängiges Leasinginstitut andererseits
zu unterscheiden ist. Auch bleiben die Besonderheiten von
Vorführwagen und von Drittfahr-zeugen/Konzernfahrzeugen
unberücksichtigt.
31 LG Osnabrück, Urt. v. 03.07.2020 - 6 O 842/20 Rn. 40 ff.
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JANUAR
2021JM 1
A. Einleitung
Der BGH1 hat eine Entscheidung des OLG Köln2 zum An-lass
genommen, nochmals deutlich zu machen, dass die zum „Schockschaden“
entwickelten Grundsätze auch in dem Fall anzuwenden sind, in dem
das haftungsbegrün-dende Ereignis kein Unfallereignis im
eigentlichen Sinne, sondern eine fehlerhafte ärztliche Behandlung
ist. Eine Rechtfertigung dafür, die Ersatzfähigkeit von
„Schock-schäden“ im Fall ärztlicher Behandlungsfehler weiter
ein-zuschränken als im Fall von Unfallereignissen, bestehe grds.
nicht.
B. Begriff des „Schockschadens“
Unter einem Schockschaden, vom RG auch Fernwirkungs-schaden
genannt, versteht man im Allgemeinen die seeli-sche Erschütterung,
die ein bei einem Schadensereignis selbst nicht Verletzter
erleidet. Das Schadensereignis kann z.B. ein Unfall, ein
Verkehrsunfall eine Straftat aber auch eine medizinische Behandlung
sein. Der Schockschaden ist ein Körperschaden, eine
Gesundheitsverletzung, unab-hängig davon, ob es sich um einen
schweren Schockscha-den im Sinne der BGH-Rechtsprechung handelt
oder ob der Verletzte lediglich eine psychische Beeinträchtigung in
Form von Leid und Trauer empfindet, die nicht über das „normale
Maß“ hinausgehen.
Die Rechtsprechung zum Schockschaden und zum schwe-ren
Schockschaden entwickelte sich in Bezug auf Verkehrs-unfälle
zunächst mit tödlichem Ausgang. Anspruchsteller waren nächste
Angehörige, die den Tod des Unfallopfers psychisch nicht
verkrafteten. Dabei unterscheidet die
Rechtsprechung zwischen Angehörigen, die den (tödlichen) Unfall
miterlebt haben und solchen, denen die Todesnach-richt überbracht
wurde.
Alsbald richtete sich der Focus aber auch auf Dritte, die durch
den Anblick von Unfallfolgen psychisch beeinträch-tigt wurden.
C. Auswirkungen des Schockschadens
Diese mittelbar oder unmittelbar Beteiligten erlitten
• posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS),• Angststörungen,•
depressive Störungen oder• somatoforme Störungen.
D. Schadensersatz nach einem Schockschaden
I. Schockschaden nach Tod oder schwerer Verlet-zung eines
Angehörigen
Schadensersatzansprüche nach einem Schockschaden sind dogmatisch
und rechtspolitisch unbedenklich. Das gilt auch für das
Schmerzensgeld, da die Gewährung von Schmer-zensgeld auch sonst
nicht davon abhängt, wie die Gesund-heitsverletzung herbeigeführt
worden ist.3
kette des Herstellers liegt: der Hersteller kann aus dem
Gebrauchtwagenverkauf zwischen dem Eigentümer/Ver-äußerer und dem
Käufer/Erwerber weder einen unmit-telbaren noch einen mittelbaren
Vermögensvorteil zie-hen. Der Vermögensschaden des
Käufers/Erwerbers, der auch in den Gebrauchtwagenfällen im
Abschluss eines nicht gewollten Kaufvertrags liegt, findet auch bei
wirt-schaftlicher Betrachtungsweise keinerlei Entsprechung
in einem Vermögenszuwachs des Herstellers, der inso-weit durch
die unerlaubte Handlung nichts erlangen konnte. Soweit bei etwaigen
Zweit- oder Drittverkäufen desselben Kraftfahrzeugs als
Gebrauchtwagen ein den tatsächlichen Wert übersteigender Kaufpreis
realisiert wird, fließt dieser Mehrwert allein dem
Gebrauchtwa-genverkäufer zu, ohne dass der Hersteller daran
vermö-gensmäßig partizipieren könnte.
Schockschaden nach schwerer Schädigung eines Angehörigen
VRiOLG a.D. Lothar Jaeger
1 BGH, Urt. v. 21.05.2019 - VI ZR 299/17; vgl. auch BGH, Urt. v.
10.02.2015 - VI ZR 8/14; BGH, Urt. v. 27.01.2015 - VI ZR
548/12.
2 OLG Köln, Urt. v. 12.07.2017 - 5 U 144/16.3 Vgl. Schiemann in:
Staudinger, BGB, 2017, § 249 Rn. 39.
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16
Die Monatszeitschrift
Der BGH billigt, wenn überhaupt, nur den Angehörigen eines
Verletzten einen Schmerzensgeldanspruch für einen Schockschaden
zu.
Eine Besonderheit der von einem Schockschaden Betrof-fenen
besteht darin, dass sie durch die Verletzungshand-lung selbst nicht
verletzt wurden, dass sie nur mittelbar Verletzte sind. Bis auf
gesetzlich geregelte Ausnahmen (§ 844 BGB) billigt das deutsche
Recht nur dem selbst an Rechtsgütern Verletzten Ersatzansprüche zu.
Ein An-spruch nur mittelbar betroffener Hinterbliebener auf-grund
der Verletzung oder des Todes eines Angehörigen im Sinne eines
Schmerzensgeldes für den Verlust von Angehörigen existierte grds.
nicht. Aus diesem Grund ist 2017 mit § 844 Abs. 3 BGB ein
Hinterbliebenengeld ein-geführt worden.4 Die Besonderheit des
Hinterbliebenen-geldes besteht aber zusätzlich darin, dass es kein
Schmerzensgeld ist und nur an einen „Hinterbliebenen“ gezahlt wird,
dass es also den Tod des Angehörigen vor-aussetzt.
Diese gesetzliche Regelung, die seit dem 22.07.2017 in Kraft
ist, wird auf die Rechtsprechung zum Schmerzensgeld für einen
Schockschaden nicht ohne Einfluss bleiben. Wenn für den Tod eines
Angehörigen ohne den Nachweis einer er-heblichen psychischen
Störung statt eines Schmerzensgel-des ein Hinterbliebenengeld
gezahlt wird, wird die Mehr-zahl der Anspruchsteller sich mit dem
Hinterbliebenengeld zufriedengeben. Kann er dagegen den hohen
Ansprüchen des BGH zur Begründung eines Schockschadens genügen und
entsprechend substantiiert vortragen, ist damit zu rechnen, dass
das Schmerzensgeld für einen Schockscha-den, das derzeit in einem
Einzelfall schon 100.000 € betra-gen hat,5 weiter steigen wird.
II. Besondere Voraussetzungen für Schadensersatz-ansprüche nach
einem Schockschaden
1. Anforderungen der Rechtsprechung an die Quali-tät des
Gesundheitsschadens
Die Rechtsprechung (des BGH) macht die Ersatzfähigkeit von
Schockschäden naher Angehöriger von mehreren (wei-teren)
Voraussetzungen abhängig:
• Es muss ein Gesundheitsschaden vorliegen, der nach Art und
Schwere den Rahmen dessen überschreitet, was an Beschwerden bei
einem solchen Erlebnis nor-malerweise aufzutreten pflegt.
• Es genügt nicht, dass aus medizinischer Sicht eine Ver-letzung
der Gesundheit gegeben ist. Vielmehr müssen die Beeinträchtigungen
nach der allgemeinen Verkehrs-auffassung als ernsthafte Erkrankung
betrachtet wer-den.6
• Erleidet der Angehörige „nur“ psychosomatische Be-schwerden,
die sich im Rahmen der Erlebnisverarbei-tung halten, sind diese
grds. dem allgemeinen Lebens-risiko zuzurechnen,
Schadensersatzansprüche bestehen nicht.
• Der Anlass für den Schock muss verständlich, also ge-eignet
sein, bei einem durchschnittlich Empfindenden eine entsprechende
Reaktion auszulösen.
• Der Ersatzanspruch ist (bisher) beschränkt auf nahe
An-gehörige.
2. Medizinische Relevanz der Beeinträchtigungen
Danach bedeuten seelische Erschütterungen wie Trauer oder
seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren
Verletzung eines Angehörigen er-fahrungsgemäß ausgesetzt sind,
nicht ohne Weiteres eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1
BGB an-gesehen, auch dann nicht wenn sie von Störungen der
physiologischen Abläufe begleitet werden und für die körperliche
Befindlichkeit medizinisch relevant sind. Die Anerkennung solcher
Beeinträchtigungen als Gesund-heitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1
BGB widerspricht nach Ansicht des BGH der Absicht des Gesetzgebers,
die Deliktshaftung gerade in § 823 Abs. 1 BGB sowohl nach den
Schutzgütern als auch nach den durch sie gesetzten
Verhaltenspflichten auf klar umrissene Tatbestände zu beschränken
und Beeinträchtigungen, die allein auf die Verletzung eines
Rechtsgutes bei einem Dritten zurück-zuführen sind, mit Ausnahme
der §§ 844, 845 BGB er-satzlos zu lassen.
Psychische Beeinträchtigungen können in diesen Fällen deshalb
nur dann als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB
angesehen werden, wenn sie pathologisch fass-bar sind und über die
gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene
beim Tod oder einer schwe-ren Verletzung eines nahen Angehörigen
i.d.R. ausgesetzt sind.7 Das sind z.B. posttraumatische
Belastungsstörungen gem. F43.1 des ICD 10 GM,8
4 Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld
vom 21.07.2018 – in Kraft getreten am 22.07.2017, BT-Drs.
18/11.397, S. 12.
5 OLG Frankfurt, Urt. v. 06.09.2017 - 6 U 216/16 - VersR 2018,
560 mit Anmerkung L. Jaeger.
6 Diederichsen, VersR 2005, 433.7 BGH, Urt. v. 10.02.2015 - VI
ZR 8/14; BGH, Urt. v. 27.01.2015 - VI ZR
548/12; BGH, Urt. v. 17.04.2018 - VI ZR 237/17; BGH, Urt. v.
11.05.1971 - VI ZR 78/70; BGH, Urt. v. 04.04.1989 - VI ZR 97/88;
OLG Nürnberg, Urt. v. 27.02.1998 - 6 U 3913/97; KG, Urt. v.
10.06.2004 - 12 U 315/02.
8 OLG Stuttgart, Urt. v. 10.08.2017 - 1 U 52/15,
unveröffentlicht. Dabei bedeutet ICD International Classification
of Diseases und GM German Modifikation.
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Der Anspruchsteller muss die den Anspruch begründenden
Voraussetzungen darlegen, Voraussetzungen, die oft so hoch sind,
dass sein Sachvortrag nicht ausreicht, sodass die Instanzgerichte
den Schmerzensgeldanspruch nach einem Schockschaden oft ohne
Weiteres als nicht hinreichend substantiiert ablehnen.
Daraus folgt:
Wird der Tod oder die schwere Verletzung eines Menschen durch
einen Dritten verursacht, bedeutet das für den An-gehörigen eine
andere, eine schwerwiegendere Belas-tung, als der Tod oder der
schwerste Gesundheitsschaden eines Angehörigen erfahrungsgemäß und
üblicherweise bewirkt.
Erfahrungsgemäß versterben Menschen nur selten sehr plötzlich,
sodass Angehörige nur selten mit dieser Situa-tion konfrontiert
werden. Erfahrungsgemäß sind die An-gehörigen durch Krankheit oder
Alter auf den bevorste-henden, möglicherweise baldigen Tod des
Angehörigen vorbereitet, das Ereignis trifft sie nicht plötzlich
und völlig unerwartet. Dementsprechend fallen auch Leid und Trauer
„milde“ aus, wenn der Angehörige gedanklich und ge-fühlsmäßig
bereits auf den Tod des Angehörigen einge-stellt ist.
Erfahrungsgemäß kommt es nicht zu einem Gesundheits-schaden, der
nach Art und Schwere über das hinaus geht, was an Beschwerden bei
einem solchen Erlebnis normaler-weise aufzutreten pflegt. Deshalb
soll ein Angehöriger nach einem von einem Dritten zu vertretenden
Schaden Ersatz für einen dadurch erlittenen Schockschaden verlangen
kön-nen, wenn die Beeinträchtigungen nach der allgemeinen
Verkehrsauffassung als ernsthafte Erkrankung zu betrach-ten
ist.
Diese Rechtsprechung des BGH beruht auf der Erkenntnis, dass
nicht jeder Angehörige Leid und Trauer in einem Maß empfindet, das
als Gesundheitsschaden zu bezeichnen wäre. Ob für einen
Schadensersatzanspruch wegen eines Schockschadens aber erst dann
die Voraussetzungen gege-ben sind, wenn ein schwerer Schockschaden
im Sinne der Rechtsprechung vorliegt, erscheint doch fraglich.
Schon die unterschiedlichen Entscheidungen der Obergerichte zeigen,
dass ein sog. schwerer Schockschaden nicht einheitlich be-urteilt
wird.
E. Sch