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Fundberichte aus Österreich Tagungsband 2 2015
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2015_Theune, Archäologische Fundmassen und Massenfunde aus ehemaligen Konzentrationslagern

May 13, 2023

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Josh Lange
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Fundberichte aus ÖsterreichTagungsband 2 • 2015

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Wien 2015Sigel: FÖTag 2, 2015

Herausgegeben vom Bundesdenkmalamt

Fachgespräch

» Massenfunde – Fundmassen. Strategien und Perspektiven im Umgang mit Massenfundkomplexen«

21. August 2014, Mauerbach (Niederösterreich)

Nikolaus Hofer (Hrsg.)

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© 2015 by BundesdenkmalamtAlle Rechte vorbehaltenhttp://www.bda.at

Verlag: Ferdinand Berger & Söhne Ges.m.b.H., 3580 Hornhttp://www.verlag-berger.at

Herausgeber: Mag. Nikolaus HoferBundesdenkmalamt, Abteilung für ArchäologieHofburg, Säulenstiege, 1010 [email protected]

ISSN: 2410-9193

Redaktion: Mag. Nikolaus HoferBildbearbeitung: Stefan SchwarzSatz und Layout: Martin SpiegelhoferLayoutkonzept: Franz SiegmethCovergestaltung: Franz SiegmethCoverbild: Neuzeitliche Keramikgefäße aus Wien-Nußdorf, Kahlenberger Straße 26Foto: Petra Laubenstein, BundesdenkmalamtDruck: Ferdinand Berger & Söhne Ges.m.b.H., 3580 Horn

Gratis-Download: http://www.bda.at

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Nikolaus Hofer

7 Tagungsbericht zum Fachgespräch »Massen-funde – Fundmassen« am 21. August 2014 in der Kartause Mauerbach

Alice Kaltenberger

9 Scherbenmassen und kein Ende – eine nicht verrottende Hinterlassenschaft. Keramische Massenfunde und Fundmassen als wissenschaftliches Potenzial

Daniela Kern

13 Gedanken zur Auswertung großer Siedlungs-materialien anhand von Beispielen aus Ostösterreich

Maria Windholz-Konrad

21 Die Verwaltung der enormen Fund- und Datenmengen aus 20 Jahren archäologischer Forschung im steirisch-oberösterreichischen Salzkammergut

Hauke Jöns

25 Überlegungen zur wissenschaftlichen Analyse von Fundmassen. Forschungsstrategien zwischen Desideraten und Machbarkeiten im Grenzbereich von Natur- und Kulturwissenschaften

Claudia Theune

37 Archäologische Fundmassen und Massenfunde aus ehemaligen Konzentrationslagern

Andreas Heege

43 Keramische Fundmassen und Massenfunde. Bearbeitungsbeispiele aus Liechtenstein, Niedersachsen und dem Rheinland

52 Abkürzungsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

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Einleitung

Objekte und Gegenstände von Ausgrabungen aus jüngeren Epochen nehmen im Vergleich zu jenen aus älteren Zeit­abschnitten in großem Ausmaß zu. Schon aus mittelalter­lichen Siedlungsgrabungen werden stets immense Mengen von Keramik geborgen; in der frühen Neuzeit ist ein weiterer Anstieg der Fundmassen zu verzeichnen. An Fundorten des 20. Jahrhunderts ist noch einmal eine zusätzliche Zunahme festzustellen. Für die zeitgeschicht liche Archäologie ist au­ßerdem zu bemerken, dass nicht nur Keramik beziehungs­weise Porzellan und Glas – also die klassischen Funde des Alltags aus Ausgrabungen, die im Zusammenhang mit der Nahrungsmittelzubereitung und ­aufnahme stehen – in großen Mengen vorliegen, sondern auch Objekte aus zahl­reichen anderen Kontexten, die sonst häufig unterrepräsen­tiert sind.

Weiters ist zu beachten, dass der Umgang mit Dingen aller Art sich seit dem 19. Jahrhundert und besonders im 20. Jahrhundert geändert hat. Während für ältere Zeiten pos­tuliert wird, dass Objekte eine lange Lebensdauer hatten, die auch durch die begrenzte Verfügbarkeit von Ersatzob­jekten und eine sorgfältige Behandlung beziehungsweise Reparatur gewährleistet wurde, sind zusätz liche Faktoren zu beachten. Menschen des Mittelalters und auch noch der frühen Neuzeit besaßen und verwendeten deutlich weniger Dinge als wir heute. In der jetzigen Zeit geht man in Mittel­europa von weit über 1.000 Objekten aus, die eine einzelne Person besitzt.1 Voraussetzungen für diese Entwicklung sind unter anderem signifikant höhere Bevölkerungszahlen, eine allgemein erhöhte Produktionsleistung und ein erhöhter Konsum, aber auch die Einführung von neuen – in älteren Zeiten unbekannten – Gegenständen. Für die hier näher zu betrachtenden ehemaligen Konzentrationslager ist weiters zu beachten, dass Objekte an diesen Orten spezifischen ›Ar­chäologisierungsprozessen‹ unterlagen, die ebenfalls ein hohes Fundaufkommen begünstigten.

Archäologie in ehemaligen Konzentrationslagern wird seit rund 25 Jahren praktiziert. Ausgehend von Forschungen in Deutschland und wenig später in Polen und Österreich gibt es inzwischen auch Untersuchungen in den Niederlan­den und Großbritannien beziehungsweise an anderen Inter­nierungslagern in Finnland, den USA, Kanada und anderen Ländern. So wurden schon an et lichen Standorten Ausgra­bungen durchgeführt und stets ist in den (Vor­)Berichten zu lesen, dass neben den bau lichen Strukturen eine große Menge an Funden geborgen worden sei. Diese bau lichen Befunde, etwa Grundrisse von Baracken der Häftlinge und

1 Hahn 2005, 81–83.

der SS­Wachmannschaften, Funktionsgebäuden oder Tö­tungseinrichtungen, werden detailliert beschrieben, disku­tiert und interpretiert. Die Mehrheit der Kleinfunde findet dagegen in der Regel nur eine summarische Würdigung, die sich auf die Auflistung der Artefaktgruppen beschränkt be­ziehungsweise eine Zuweisung der Objekte an die Häftlinge oder die Bewacher vornimmt. Nur mit wenigen Dingen setzt man sich detailliert auseinander. Dies sind beispielsweise Funde mit Namenseingravierungen oder Häftlingsnum­mer. Es sind also Gegenstände, die bestimmten Personen zugewiesen werden können und so eine personalisierte Geschichte ermög lichen. Auch Objekte, die einen Hinweis auf die Grausamkeit des Lagerterrors geben, erhalten große Aufmerksamkeit. So sind die detaillierten Auswertungen der

Archäologische Fundmassen und Massenfunde aus ehemaligen Konzentrationslagern

Claudia Theune

Abb. 1: Bei Ausgrabungen in Hartheim (Oberösterreich) wurden in einer Grube über 800 Objekte entsorgt, die vielfach als persönliche Gegenstände der Häftlinge angesprochen werden können.

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Fundmassen selektiv und werden selten umfassend durch­geführt.2

Zusätzlich muss beachtet werden, dass die Konservierung der Objekte aus ehemaligen Konzentrationslagern oder an­deren Internierungslagern ungleich aufwändiger ist als bei Fundorten älterer Zeitstellung. Dies liegt einerseits an den Fundmassen, deren nachhaltige Behandlung viel Zeit kostet, andererseits aber auch an neuen Konservierungsmethoden, die aufgrund neuer Materialien entwickelt werden müssen. Vor allen Dingen sind unter den Funden große Konvolute, die nicht lediglich gereinigt werden können (wie zum Bei­spiel Glas, Keramik oder Porzellan) und daher eine intensi­vere Behandlung erfordern.

Das Fundaufkommen in ehemaligen Konzentrationslagern

Ehemalige Konzentrationslager sind Orte, an denen eine sehr große Anzahl von Menschen auf engstem Raum zu (über)leben versuchte. In den normierten Häftlingsbaracken waren anfangs rund 500 Personen untergebracht, gegen Kriegsende oft deutlich über 1.000 oder noch mehr Gefan­gene. Hinzu kommen noch die Bewacher. Für Mauthausen geht man davon aus, dass kurz vor der Befreiung rund 65.000 Personen inhaftiert waren.3 Dem standen ca. 600 Bewacher gegenüber. Zwar besaßen einerseits die Häftlinge nicht viele Dinge, doch wirkt sich hier die hohe Menschenzahl auf die Gesamtanzahl der Objekte aus. Andererseits hatten die Wachmannschaften eine Vielzahl an persön lichen Sachen zur Verfügung beziehungsweise stand für sie beispielsweise Ess­ und Trinkgeschirr in genügender Anzahl bereit. In einem Lager gab es zudem zahllose Dinge, die für den Betrieb er­forderlich waren, seien es die Inventare und Ausstattungen von Büros, Küchen, Krankenrevieren oder Werkstätten, aber

2 Als Beispiele seien genannt: Müller 2010; Myers 2013. – Derzeit werden allerdings einige Abschlussarbeiten erstellt, sodass in absehbarer Zu­kunft mehr Zusammenstellungen vorliegen werden.

3 Siehe http://www.mauthausen­memorial.at/db/admin/de/index_main.php?cbereich=1&cthema=33&carticle=21&fromlist=1 [Zugriff: 15. 12. 2014].

selbstverständlich auch von den Tötungseinrichtungen. So kommen in der Summe Fundmassen zusammen.

Daneben müssen noch die Baracken und diverse andere Gebäude, aber auch die Stacheldrahteinzäunung und Um­mauerung mit all ihren Einzelelementen als materielle Kul­tur zusätzlich eingerechnet werden. Im letzten Kriegsjahr gab es in Mauthausen im Hauptlager, in den Erweiterungen der Lager 2 und 3, im Sanitätslager, aber auch im Bereich der SS­Baracken und Werkstätten deutlich über 50 Gebäude mit ihrer kompletten Ausstattung. Es handelt sich also um Fund­orte, an denen auf dichtem Raum enorme Fundmassen und auch Massenfunde vergesellschaftet waren.

Die Mehrzahl der Objekte wurde bald nach der Befreiung von den Orten entfernt oder ›archäologisiert‹. Bis kurz vor der Befreiung waren das gesamte Inventar und der gesamte Besitz der Häftlinge und der Bewacher noch in Benutzung. Die SS­Wachmannschaften versuchten den Terror zu ver­tuschen und bauten teilweise die Apparaturen, die mit den Tötungseinrichtungen oder den Gaskammern zusammen­hingen, ab und versteckten diese. Sie verließen zudem meist kurz vor der Ankunft der Alliierten die Lager und nahmen sicherlich ihre eigenen, persön lichen Dinge mit. So verblieb das gesamte Inventar bis zur Befreiung vor Ort.

Direkt nach der Befreiung war es zunächst das vordring­liche Bestreben, die überlebenden Häftlinge gesund zu pflegen und sie dabei zu unterstützen, in die Freiheit bezie­hungsweise nach Hause zu gelangen. Gleichzeitig wurden insbesondere schrift liche Dokumente, Fotografien und an­dere Beweismittel zum Terror von den Alliierten – den Sie­gern über die Nationalsozialisten – beschlagnahmt. Auch die Regierungen der Länder, aus denen die Häftlinge stammten, waren an Dokumenten interessiert, welche die Gefangenen aus den jeweiligen Ländern betrafen. Außerdem nahmen die Häftlinge zahlreiche Dinge mit, teilweise schon mit dem Vorhaben, diese in Ausstellungen zu zeigen. Insbesondere gelangte sehr viel Material in die damalige Tschechoslowa­kei.4 Trotzdem blieb noch sehr vieles zurück.

4 Perz 2006, 39–44.

Abb. 2: In einem Teich im Stein-bruch von Mauthausen wurden die Einrichtungen und Geräte des Steinbruchs entsorgt. Dazu gehören auch et liche Loren, von welchen eine mit zugehörigem Untergestell geborgen und kon-serviert wurde; sie wird nun in der Ausstellung präsentiert.

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Archäologische Fundmassen und Massenfunde aus ehemaligen Konzentrationslagern

entfernt werden soll. Müllgruben werden gezielt angelegt, um einen Ort zu haben, an dem das Genannte entsorgt wer­den kann. Es ist ein begrenzter Ort und kein größeres Areal, an dem diese Objekte konzentriert abgelagert werden. Aus dem Mittelalter kennen wir schon Latrinen, die als Abfall­gruben gedient haben, auch aus der Neuzeit wissen wir von Orten, die als Müllgruben angelegt wurden.

Während der Betriebszeiten der Konzentrationslager wurde der Müll an bestimmten, festgelegten Orten abge­lagert. Es ist also davon auszugehen, dass in allen Lagern Müllgruben vorhanden waren.6 Sicherlich wurden diese Plätze nach Kriegsende weiter verwendet, aber auch neue Gruben angelegt, um die Vielzahl der nicht mehr verwen­deten und benötigten Dinge zu entsorgen. Die zu Beginn der 2000er­Jahre ausgehobene Müllgrube nördlich des Lagerdreiecks in Sachsenhausen bei Berlin war rund 30 m lang, etwa 5,6 m breit und 2 m bis 3 m tief. Sie umfasste also rund 500 m3 Rauminhalt und war dicht mit Funden gefüllt: Kleinfunde wie Knöpfe, Münzen, Zahnbürsten, Kämme, grö­ßere Objekte wie Koch­ und Essgeschirr, aber auch Einrich­tungsgegenstände beziehungsweise Teile davon, außerdem Motorenteile, ein Fahrradrahmen, eine Schreibmaschine und eine Fülle von Bauelementen. Insgesamt sind es rund 5,5 t Funde. Das Gewicht der Funde sagt jedoch nur bedingt etwas über die Anzahl der Funde aus. Eisenfunde sind erheb­lich schwerer als Objekte aus Aluminium. In Sachsenhausen wurden ca. 1.650 Fundnummern vergeben, wobei mehrere gleichartige Funde in einer Fundnummer zusammengefasst wurden, die tatsäch liche Anzahl also erheblich höher liegt.7 In Buchenwald8 (Thüringen) wurden den Müllgruben über 6.400 Objekte entnommen. Ähn liche Dimensionen hatte zum Beispiel die Müllgrube in Westerbork9 (Niederlande). Eine kleine Grube wurde bei der ehemaligen Euthanasie­anstalt in Hartheim (Oberösterreich) freigelegt; hier fanden sich dicht gedrängt über 800 Objekte (Abb. 1).10 Bislang noch nicht oder kaum ausgegraben sind Gruben und andere Ent­sorgungsorte in Mauthausen. Einer dieser Orte ist ein Teich im ehemaligen Steinbruch, wo offensichtlich die Einrichtung und der Gerätebestand des Steinbruchs beseitigt wurden. Neben zahlreichen sogenannten Kleinfunden sind gerade in den groß dimensionierten Gruben auch Lastwagen oder Loren, Schienenstränge und andere Großgeräte entsorgt worden (Abb. 2).

Aufgrund des großen Fundaufkommens ist grundsätz­lich zu überlegen, ob die Müllgruben tatsächlich ausgegra­ben werden sollten oder ob ein sicherer Verbleib im Boden das Fundgut nicht besser schützen würde. Wenn jedoch eine komplette Bergung der Müllgruben notwendig ist, ist ein effizientes System einer ersten Schnellinventarisation beziehungsweise klassifikatorischen Erfassung zu erstellen. Ohne Zweifel gehört es heute zum Standard in der Archäo­logie, dass Fundkomplexe in (Bild­)Datenbanken erfasst werden (Abb. 3). Neben formalen Kriterien wie einer Ob­jektansprache und allgemeinen Beschreibungen, Angaben zur Herkunft, zum Material und zu den Maßen sind auch Hinweise zur Herstellungsweise (industriell/handgefertigt) beziehungsweise gegebenenfalls Beschriftungen aller Art oder auch der Erhaltungszustand festzuhalten. Aufgrund

6 Freund liche Mitteilung von Bertrand Perz (Universität Wien). 7 Müller 2010, 102. 8 Hirte 2000. 9 Schute 2012.10 Klimesch 2007, 181.

Zusätzlich wurden die Lager schnell gezielt gesäubert. Manches wurde für schon früh geplante Ausstellungen an den ehemaligen Tatorten aufbewahrt, vieles wurde aber auch für nicht oder wenig erhaltenswert erachtet. Mobile und transportable Dinge entsorgte man in großen Müllgru­ben. Die besondere Situation mit den hohen Fundmengen bedingte daher sehr große, oft viele Kubikmeter umfas­sende Gruben. So wirkte das Gelände schon sehr bald gerei­nigt und aufgeräumt.

Wegen Seuchengefahr wurden außerdem einige Be­reiche von den Befreiern niedergerissen oder auch nieder­gebrannt. Weitere Baracken, die noch als intakte Gebäude nützlich waren, wurden noch einige Zeit als Internierungs­ oder Flüchtlingslager weitergenutzt.5 Teilweise wurden sie auch gezielt sorgfältig abgetragen und an andere Orte ver­bracht und weitergenutzt; unbeschädigte Gebäude waren ein wertvolles Gut in dieser Zeit. Der ehemals dicht bebaute Raum in den Lagern wurde somit schnell licht.

Zusätzlich ist zu beachten, dass man in der zweiten Hälfte der 1940er­Jahre und in den frühen 1950er­Jahren an einigen Standorten schon Gedenkstätten für eine nachhal­tige Erinnerung an den nationalsozialistischen Holocaust und Terror plante. An diesen Orten fand eine bewusste Aus­einandersetzung mit den noch vorhandenen Relikten statt. Hier ist aber auch zu bedenken, dass damals in keinem Fall das komplette ehemalige Lager mit all seinen Erweiterun­gen und Außenbereichen in das Konzept einbezogen wurde, vielmehr konzentrierte man sich in der Regel auf zentrale Bereiche wie den Appellplatz, die Tötungseinrichtungen und manche Funktionsgebäude sowie ausgewählte Baracken. Diese Planungen führten also ebenfalls zu einer Reduktion der gesamten ehemaligen materiellen Kultur.

An anderen Plätzen, insbesondere an den über 1.000 Au­ßenlagern der Konzentrationslager in Europa, aber auch an einigen der Hauptstandorte, waren zunächst keine Gedenk­stätten geplant. Hier wurde die oberfläch liche Reinigung des Geländes so umfassend betrieben, dass schon bald nach dem Krieg gar keine sichtbaren Spuren mehr vorhanden waren.

Diese Abtragungen wurden hauptsächlich oberflächlich durchgeführt, während die zahlreichen Objekte direkt unter der Erdoberfläche, im Boden, verblieben. Wir finden sie bei den Ausgrabungen dicht unter der Grasnarbe in ehemaligen Kontexten der Baracken oder anderer Gebäude oder in den Müllgruben. Wir haben es also in den ehemaligen Konzen­trationslagern mit vielschichtigen Komplexen von Fund­massen und Massenfunden zu tun. So werden zunächst die Aspekte der Fundmassen der Müllgruben dargelegt und an­schließend kurz Komplexe besprochen, die Massenfunde in zeitgenössischen Befundkontexten beinhalten.

Die Müllgruben

Müllgruben beinhalten – schon als Befundkategorie an sich – eine sehr hohe Funddichte und Massen von Funden aller Art. In Müllgruben wird das entsorgt, was überflüssig ist, was nicht mehr benötigt wird, was keinen besonderen Wert mehr hat, was wertlos ist, stört, aus dem Blickfeld bewusst

5 Die ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen (Brandenburg) und Buchenwald (Thüringen) wurden vom Sommer 1945 bis 1950 als »Sowje­tische Speziallager« genutzt.

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Claudia Theune

ermöglicht schon eine erste Auswertung, unabhängig von der eventuell zeitaufwändigen Konservierung. Es ist zudem zu überlegen, ob solche – wenn auch noch im Arbeitsprozess befind lichen – Datenbanken nicht über das Internet einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden kön­nen.11 Erst dann wird dieser und der Fachkollegenschaft das Ausmaß der Fundmassen, aber auch die Vielfältigkeit und Aussagekraft der Funde verständlich.

Unbedingt ist außerdem darauf zu achten, das gebor­gene Fundmaterial zeitnah zu konservieren. Dies beinhal­tet die Bereitstellung einerseits der finanziellen Mittel und personellen Kapazitäten, andererseits aber auch entspre­chender Laborbedingungen, die die Konservierung der sehr unterschied lichen Materialien (etwa Porzellan, Glas, zahlrei­che Metalle einschließlich Aluminium, diverse Kunststoffe, aber auch organische Objekte aus Textilien, Leder oder auch Holz beziehungsweise Objekte aus mehreren verschiede­nen Materialien) oder auch der teilweise sehr großen Ob­jekte (etwa Maschinenteile oder zum Beispiel die Lore aus dem Steinbruch in Mauthausen) ermöglicht. Weiters sollten schon im Vorfeld die kurz­ und langfristigen Aufbewah­rungsmodalitäten geklärt werden.

11 Zwei derartige Datenbanken – allerdings nur mit ausgewählten Stücken – wurden für die Fundkonvolute aus Buchenwald und Mittelbau­Dora im Internet veröffentlicht: http://www.buchenwald.de/955/ [Zugriff: 8. 1. 2015].

der noch relativ kurzen Lagerzeit im Boden sind die Eisenge­genstände häufig noch nicht so stark korrodiert, sodass eine konkrete Ansprache der Objekte, einschließlich Eingravie­rungen und Ähn lichem, in der Regel möglich ist.

Gerade die häufig anzutreffenden handgefertigten oder modifizierten Objekte geben Hinweise auf die Überlebens­strategien der Häftlinge, die so versuchten, für das täg liche Dasein unerläss liche Dinge herzustellen. Häftlingsnummern, Initialen oder vollständige Namen können sicherlich als Ver­such gewertet werden, das wenige Hab und Gut zu kenn­zeichnen. Durch die Beschriftungen können mög licherweise weitere Verknüpfungen erstellt werden. Diese Angaben lassen sich mit Datenbanken der Häftlinge verbinden und ermög lichen so weitere Erkenntnisse zu Einzelschicksalen. Industrielle Beschriftungen und Firmenkennzeichnungen geben Hinweise auf die Zuliefererbetriebe beziehungsweise die Betriebsorganisation der Konzentrationslager. Solche Gegenstände sind sicherlich in einzelnen Datensätzen auf­zunehmen. Bei anderen Objekten ist gegebenenfalls eine zusammenfassende Aufnahme sinnvoll. Eine Gruppe von industriell und völlig gleichartig hergestellten Essschüsseln könnte beispielsweise unter Angabe der rekonstruierbaren Anzahl gemeinsam erfasst werden. Diese Fundaufnahme

Abb. 3: Aufnahmemaske der Datenbank für die Funde aus österreichischen Konzentrationslagern.

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Archäologische Fundmassen und Massenfunde aus ehemaligen Konzentrationslagern

gen zugeordnet werden können. Es ist immer wieder zu beobachten, dass sich Häftlinge aus Mangel an allgemein zur Verfügung stehenden Gegenständen überlebensnot­wendige Dinge wie etwa Löffel aus anderen Gegenständen selbst gefertigt haben. Auch Essgeschirr wurde modifiziert, um gegebenenfalls bestimmte rar ausgegebene Lebensmit­tel aufzuheben oder auch zu verarbeiten. Zudem versuchten die Häftlinge (wie oben erwähnt), das eigene Essgeschirr und Besteck persönlich zu kennzeichnen. Auch all diese Ob­jekte müssen selbstverständlich konserviert und für die wei­tere Analyse und Präsentation aufbereitet werden.

Ausnahmen könnten in Bezug auf das gesamte Koch­ und Tischgeschirr gemacht werden (Porzellanteller, Becher, Glasgefäße), welches den Bewachern zuzuordnen ist. Ohne Zweifel sollte die Gesamtmenge in den zu führenden Daten­banken und Listen erfasst werden, eine umfassende Konser­vierung ist aber wohl nicht in vollem Umfang erforderlich. Dasselbe mag für Baumaterialien, Einrichtungsgegenstände wie Schilder oder Möbelbeschläge gelten. Auch hier wird man nach einer kompletten (summarischen) Erfassung eine repräsentative Auswahl von Objekten treffen, die angemes­sen konserviert und weiter untersucht werden.

Massenfunde in den ehemaligen Konzentrationslagern

Bei den Ausgrabungen im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen wurden die Untersuchungen verschiedener La­gerbereiche nach bestimmten Fragestellungen durchgeführt. Bei der ersten Ausgrabung im Sanitätslager sollte zunächst grundsätzlich der Erhaltungszustand der Bodenrelikte eru­iert werden. Da es sich um einen Bereich handelt, der relativ schnell nach der Befreiung komplett abgetragen beziehungs­weise teilweise wohl auch wegen Seuchengefahr abgebrannt worden ist, handelte es sich um einen klassischen Boden­befund eines Gebäudes. Zwar waren die Häftlingsbaracken genormte leichte Holzgebäude, deren Konstruktion im Sani­tätslager heute an der Oberfläche nicht mehr vorhanden ist, jedoch war der Holzaufbau auf einem Streifenfundament auf­gebaut, welches an et lichen Stellen innerhalb der Grasober­fläche noch zu sehen ist. Es wurde der Kopf einschließlich des Eingangsbereiches einer ehemals rund 9,50 × 40 m großen Baracke ausgegraben. Der Schnitt war insgesamt 18 m breit und reichte bis an die Nachbarbaracken; die Länge betrug 8 m (ca. 140 m2). Von der Baracke wurden also deutlich weniger als 20 % freigelegt. An einigen Stellen konnten Brandspuren festgestellt werden, sodass die Baracke 6 wohl zumindest teilweise dem Feuer zum Opfer gefallen ist. Entsprechend der anzunehmenden Vernagelung der Hölzer waren Nägel unterschied licher Größe eine Hauptfundgruppe. Insgesamt wurden in diesem Teilstück der Baracke über 2.500 Nägel ge­borgen (siehe Abb. 3), die sich aufgrund der unterschied lichen Länge und Nagelkopfausprägung zu unterschied lichen Typen zusammenfassen lassen. Und sicherlich wurden nicht alle Nägel geborgen. Weitere häufig auftretende Funde, die eben­falls als Bestandteile der Baracken selbst angesehen werden können, sind Beschläge der Türen oder Fensterglas (Abb. 4). Man mag nun einwenden, Nägel oder zerscherbtes Fenster­glas des 20. Jahrhunderts seien keine so bedeutenden Funde, ein Verlust sei tragbar. Aber eine vergleichbare Diskussion um Wertigkeit betrifft dann auch kleine Wandscherben einfacher Gebrauchskeramik aus römischer Zeit oder aus dem Mittelal­ter beziehungsweise der Neuzeit.

Ich halte es zur Bewältigung der Fundmassen für sinn­voll, dass gegebenenfalls nicht alle Objekte mit der gleichen Sorgfalt konserviert werden. Hier sind besondere Aspekte beziehungsweise die Zuordnung der Funde zu bestimmten Personengruppen oder Funktionsbereichen in den Lagern zu berücksichtigen. Ohne Zweifel sollten die im weitesten Sinn zu den persön lichen Gegenständen der Opfer gehörenden Dinge bevorzugt behandelt werden, aber auch Objekte der Täter sind historisch bedeutsam. Wichtig sind Häftlingsmar­ken, Bestandteile der Kleidung (Textilien, Schuhe, Knöpfe, Gürtel und Koppelschlösser und andere Verschlüsse, Ab­zeichen), Hygieneartikel (Zahnbürsten, Kämme, Rasierzeug, aber auch Spiegel, Medizin, Prothesen) und Gegenstände, die als persön liche Habe angesehen werden können. Zwar liegen diese Dinge in großer Anzahl vor, sodass auch hier von Fundmassen gesprochen werden kann, sie weisen jedoch vielfach eine individuelle Gestaltung auf. Für eine Auswer­tung in Bezug auf die Überlebensumstände und ­strategien der Häftlinge, aber auch für die Betrachtung der Täter sind diese Gegenstände von hohem Wert. Zudem handelt es sich hierbei um Objekte, die gerne für Ausstellungen in den Ge­denkstätten verwendet werden.

Bei dem weiten Bereich der Haushaltsgegenstände sind andere Aspekte zu bedenken. Koch­ und Essgeschirr und das Besteck der Opfer wie der Bewacher liegen stets in großer Anzahl vor. Dabei handelt es sich um einfache Blechnäpfe oder Schalen beziehungsweise auch Soldatengeschirr; bei den Besteckteilen sind besonders die Löffel zahlreich ver­treten. All dies sind Objekte, die in erster Linie den Häftlin­

Abb. 4: Als häufig auftretende Funde können Bauelemente der Gebäude oder Gebäudeeinrichtung angesprochen werden. In der Regel handelt es sich um unterschied liche Eisenbeschläge.

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Claudia Theune

LiteraturverzeichnisHahn 2005: Hans Peter Hahn, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005.Hirte 2000: Ronald Hirte, Offene Befunde. Ausgrabungen in Buchenwald. Zeitgeschicht liche Archäologie und Erinnerungskultur, Braunschweig 2000.Klimesch und Rachbauer 2007: Wolfgang Klimesch und Markus Rach-bauer, Veritatem dies aperit. Vernichtet. Vergraben. Vergessen. Archäologische Spurensuche in Schloss Hartheim, Studien zur Kulturgeschichte von Oberös­terreich 17, Linz 2007, 177–190. Müller 2010: Anne Kathrin Müller, Entsorgte Geschichte. Entsorgte Ge-schichten. Die Funde aus einer Abfallgrube auf dem Gelände der Gedenkstätte Sachsenhausen und die Bedeutung zeitgeschicht licher Archäologie, unpubli­zierte Magisterarbeit Humboldt­Universität Berlin, 2010.Myers 2013: Adrian T. Myers, The Archaeology of Reform at a German Pris-oner of War Camp in a Canadian National Park during the Second World war (1943–1945), http://works.bepress.com/adrianmyers/32/ [Zugriff: 11. 12. 2014].Perz 2006: Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006.Schute 2002: Ivar Schute, Vogelvrij erfgoed? De archeologische waarde van kampterreinen uit de Tweede Wereldoorlog, ArchaeBrief 2, 2012, 16–23.

AbbildungsnachweisAbb. 1: Wolfgang Klimesch, ArcheonovaAbb. 2–3: Claudia Theune

Abb. 4–5: Iris Winkelbauer

AutorinUniv.­Prof. Dr. Claudia TheuneUniversität WienInstitut für Urgeschichte und Historische ArchäologieFranz­Klein­Gasse 11190 [email protected]

Auch die übrigen Fundgruppen wie Kochgeschirr oder Geschirr im Rahmen der Nahrungsmittelzubereitung und ­aufnahme sind häufig. Essschüsseln, Kochtöpfe (Abb. 5) oder Getränkeflaschen zum Beispiel treten jeweils in Char­gen von mehreren Dutzend auf. Angesicht der anderen Konvolute ist der Begriff »Massenfund« jedoch wohl nur be­dingt anzuwenden.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass jeder Boden­eingriff in ehemaligen Konzentrationslagern immer mit der Bergung von Fundmassen einhergeht. Ein angemessener Umgang mit den Objekten bedarf daher einer genauen Kon­zeption, wobei finanzielle Ressourcen nicht nur für die Aus­grabung selbst, sondern auch für die weitere Behandlung der Funde ebenso notwendig sind wie eine tiefe zeit liche Planung, die die Erfassung, die Konservierung und die Ana­lyse berücksichtigt. So wie schon die Planung der Ausgra­bung selbst unter einer bestimmten Fragestellung steht, ist auch die Auswertung der Funde fragestellungsgeleitet vor­zunehmen. Die standardmäßige Erfassung in Datenbanken ermöglicht einen leichten Zugriff auf die Funde, die jeweils von Interesse sind.

Zusammenfassung

Die quantitative Menge von Objekten aus archäologischen Komplexen nimmt seit der Neuzeit immens zu; verschiedene Aspekte wie eine stetig wachsende Bevölkerung, die fort­schreitende Einführung neuer Gegenstände aller Art oder ein erhöhtes Konsumverhalten sind einige der ausschlagge­benden Gründe. An zeitgeschicht lichen Fundorten ist daher stets mit einem sehr großen Fundaufkommen zu rechnen. Bei Untersuchungen in ehemaligen Konzentrationslagern ist zudem zu beachten, dass hier auf engstem Raum so viele Menschen untergebracht waren, wie es der Einwohner­zahl einer Mittelstadt entspricht. So ist es leicht vorstellbar, dass auch bei klein dimensionierten Ausgrabungen enorme Fundmassen anfallen. Daneben sind immer wieder große Konvolute gleichartiger Gegenstände festzustellen. Dies gilt besonders für Nägel, Beschläge und Scharniere, Fensterglas oder andere Bauelemente, mit denen die Holzbaracken oder andere Gebäude und Einrichtungen zusammengebaut wur­den. Ebenso sind Objekte der Nahrungsmittelzubereitung oder ­aufnahme in beträcht licher Anzahl vorhanden.

Neben den Funden aus geschlossenen historischen Kon­texten, wie den ehemaligen Baracken, gibt es in den Lagern große Müllgruben, in denen – insbesondere nach der Befrei­ung – Objekte aller Art entsorgt wurden. Müllgruben sind a priori Befunde, die Fundmassen beinhalten. Auch wenn die Dimensionierung der Grube selbst unterschiedlich sein kann, die grundsätzlich dichte Auffüllung mit entbehr lichen oder nicht verwendeten Dingen birgt ein großes Konvolut an Funden. Sinnvollerweise sind daher die wissenschaft liche Erfassung, die Konservierung, die Methodik der Bearbeitung und die fundierte Analyse von archäologischen Funden aus ehemaligen Konzentrationslagern fragestellungsgeleitet; dies bedingt dann auch eine gezielte Auswahl der zu erfor­schenden Gegenstände.

Abb. 5: Auf den Transporten konnten Häftlinge wenige persön liche Habe mitnehmen, dazu zählt auch Geschirr. In Gunskirchen fanden sich zahlreiche Kochtöpfe unterschied licher Größe aus Email. Die ungarischen Beschriftun-gen verweisen auf die Herkunft der Häftlinge.