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Neues aus der Forschung 32 Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2 verfallen – all das hinterließ ein un- gewöhnlich zerstörerisches Erbe. Die internen Spannungen und oft bitteren Konkurrenzen verschiedener Akteure um Macht und Einfluss erreichten ei- nen neuen Höhepunkt während des „Arabischen Frühlings” in 2011, der zur Bildung einer Übergangsregierung unter Präsident ʿAbd Rabbuh Manṣūr Hādī und, mit dem Beginn des Nati- onalen Dialogs zu einer Neuverhand- lung der politischen Legitimität und territorialen Integrität des Staates führte. Mit der umstrittenen Idee eines Föderalstaats, bestehend aus fünf bis sechs Provinzen (sing. iqlīm), rückt der große Traum von nationaler Einheit wieder in die Ferne. Iqlīm Ṣaʿda wa l-Jawf Das problematische Erbe einer möglichen föderalen Provinz Marieke Brandt Die zweitgrößte dieser angedachten föderalen Provinzen ist die „Provinz Ṣaʿda und al-Jawf“ (Iqlīm Ṣaʿda wa l-Jawf), die aus den beiden gleichna- migen heutigen Gouvernoraten im äußersten Norden des Landes an der Grenze zu Saudi-Arabien bestehen würde. Ṣaʿda und al-Jawf haben ei- niges miteinander gemeinsam. Wäh- rend in vielen anderen Landesteilen die Umbrüche der vergangenen De- kaden zu profunden Veränderungen der sozialen Organisation und einem Bedeutungsverlust der Stammeskul- tur geführt haben, wird der äußerste Norden des Landes noch immer von starken tribalen Normen und Tradi- tionen geprägt. Der westliche Teil des Gouvernorats Ṣaʿda wird von fünf Mitgliedsstämmen der Khawlān b. ʿĀmir-Stammeskonföderation be- wohnt, der östliche Teil von Ṣaʿda und al-Jawf wird von Gruppen der Bakīl-Konföderation dominiert, ins- besondere der Wāʾilah und Dahm (dieser Teil der Bakīl wird auch die „nördlichen Hamdān” oder Hamdān al-Shām genannt). Während des Bür- gerkriegs 1962-1970 zwischen „re- publikanischen“ und „royalistischen“ Kräften unterstützten weite Teile der Khawlān b. ʿĀmir und Hamdān al- Shām die Royalisten. Die Republik konnte sich im äußersten Norden des Jemen erst sehr spät und mühevoll etablieren, als 1970 die letzten roya- listischen Truppen in Kitāf im Osten der Provinz Ṣaʿda geschlagen wurden. Jedoch genoss das Imamat noch lange nach seiner Entmachtung Sympathien in der lokalen Bevölkerung. Die sāda (sing. sayyid; Nachkommen des Pro- pheten, die während der Imamszeit die Regierungs- und Verwaltungselite stellten) besetzten lange Zeit weiter- hin Schlüsselpositionen in der lokalen Verwaltung (Stookey 1978: 254-255; Die politischen Umbrüche der vergangenen Jahre haben zu tiefgreifenden Veränderungen in der politischen Landschaft des Jemen geführt. Der Nationale Dialog zwischen den verschiedenen Interessenvertretern, der im Januar 2014 abgeschlossen wurde, kreiste nicht nur um eine Neuverhandlung der politischen Legitimität, son- dern auch der territorialen Integrität des Landes. Wie schwierig indes die Umsetzung der von vielen Teilnehmern favorisierten Lösung eines föderalen Staates werden könnte, zeigt ein Beispiel aus dem nördlichsten Teil des Landes, wo die heutigen Gouvernorate Ṣaʿda und al-Jawf zu einer einzigen großen Nordprovinz zusammenge- legt werden könnten. Diese scheinbar periphere Region hat sich in den vergangenen Jahrzehnten – zunächst weitgehend unbemerkt – in eine Brutstätte von Konflikten verwandelt, die heute internationale Auswirkungen entwickelt haben. Dieser Beitrag fasst die extremen wirtschaftlichen, politischen und religiösen Bruchlinien dieser Region zusammen, die eine praktische Umsetzung der möglichen föderalen Lösung behindern werden. Was ist Jemen? Für viele ist Jemen ein Hort des internationalem Terroris- mus und von krimineller Gewalt gegen Ausländer; ein Land, das vom umstrit- tenen politischen Erbe des früheren Langzeitpräsidenten ʿAlī ʿAbdullah Ṣāliḥ dominiert wird. Andere mit subtilerem Blick und historischer Per- spektive sehen ein komplexes sozio- politisches Universum. Jahre bitteren Bürgerkriegs in den 1960ern gegen das zaydītische Imamat im früheren „Norden”, und der Kampf gegen die britische Okkupation im früheren „Süden”, Nord und Süd nach Ende des Kalten Krieges für eine kurze Zeit friedlich vereint, um Mitte der 1990er Jahre in Bürgerkrieg gegeneinander zu Der westliche Teil des Gouvernorats Ṣaʿda wird von den hohen Bergen des Sarawāt geprägt, einer Gebirgskette, die parallel zur westlichen Küste der Arabischen Halbinsel verläuft. Hier ein Dorf in Rāziḥ mit Qāt- und Kaffeepflanzungen nahe der saudi- arabischen Grenze. Foto: M. Brandt
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[2014b] Iqlīm Ṣaʿda wa l-Jawf: Das problematische Erbe einer möglichen föderalen Provinz [in German]

Jan 21, 2023

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Lilli Zabrana
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Neues aus der Forschung

32 Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2

verfallen – all das hinterließ ein un-gewöhnlich zerstörerisches Erbe. Die internen Spannungen und oft bitteren Konkurrenzen verschiedener Akteure um Macht und Einfluss erreichten ei-nen neuen Höhepunkt während des „Arabischen Frühlings” in 2011, der zur Bildung einer Übergangsregierung unter Präsident ʿAbd Rabbuh Manṣūr Hādī und, mit dem Beginn des Nati-onalen Dialogs zu einer Neuverhand-lung der politischen Legitimität und territorialen Integrität des Staates führte. Mit der umstrittenen Idee eines Föderalstaats, bestehend aus fünf bis sechs Provinzen (sing. iqlīm), rückt der große Traum von nationaler Einheit wieder in die Ferne.

Iqlīm Ṣaʿ da wa l-JawfDas problematische Erbe einer möglichen föderalen Provinz

Marieke Brandt

Die zweitgrößte dieser angedachten föderalen Provinzen ist die „Provinz Ṣaʿda und al-Jawf“ (Iqlīm Ṣaʿda wa l-Jawf), die aus den beiden gleichna-migen heutigen Gouvernoraten im äußersten Norden des Landes an der Grenze zu Saudi-Arabien bestehen würde. Ṣaʿda und al-Jawf haben ei-niges miteinander gemeinsam. Wäh-rend in vielen anderen Landesteilen die Umbrüche der vergangenen De-kaden zu profunden Veränderungen der sozialen Organisation und einem Bedeutungsverlust der Stammeskul-tur geführt haben, wird der äußers te Norden des Landes noch immer von starken tribalen Normen und Tradi-tionen geprägt. Der westliche Teil des Gouvernorats Ṣaʿda wird von fünf Mitgliedsstämmen der Khawlān b. ʿĀmir-Stammeskonföderation be-wohnt, der östliche Teil von Ṣaʿda und al-Jawf wird von Gruppen der Bakīl-Konföderation dominiert, ins-besondere der Wāʾilah und Dahm (dieser Teil der Bakīl wird auch die „nördlichen Hamdān” oder Hamdān al-Shām genannt). Während des Bür-gerkriegs 1962-1970 zwischen „re-publikanischen“ und „royalistischen“ Kräften unterstützten weite Teile der Khawlān b. ʿĀmir und Hamdān al-Shām die Royalisten. Die Republik konnte sich im äußersten Norden des Jemen erst sehr spät und mühevoll etablieren, als 1970 die letzten roya-listischen Truppen in Kitāf im Osten der Provinz Ṣaʿda geschlagen wurden. Jedoch genoss das Imamat noch lange nach seiner Entmachtung Sympathien in der lokalen Bevölkerung. Die sāda (sing. sayyid; Nachkommen des Pro-pheten, die während der Imamszeit die Regierungs- und Verwaltungselite stellten) besetzten lange Zeit weiter-hin Schlüsselpositionen in der lokalen Verwaltung (Stookey 1978: 254-255;

Die politischen Umbrüche der vergangenen Jahre haben zu tiefgreifenden Veränderungen in der politischen Landschaft des Jemen geführt. Der Nationale Dialog zwischen den verschiedenen Interessenvertretern, der im Januar 2014 abgeschlossen wurde, kreiste nicht nur um eine Neuverhandlung der politischen Legitimität, son-dern auch der territorialen Integrität des Landes. Wie schwierig indes die Umsetzung der von vielen Teilnehmern favorisierten Lösung eines föderalen Staates werden könnte, zeigt ein Beispiel aus dem nördlichsten Teil des Landes, wo die heutigen Gouvernorate Ṣaʿda und al-Jawf zu einer einzigen großen Nordprovinz zusammenge-legt werden könnten. Diese scheinbar periphere Region hat sich in den vergangenen Jahrzehnten – zunächst weitgehend unbemerkt – in eine Brutstätte von Konflikten verwandelt, die heute internationale Auswirkungen entwickelt haben. Dieser Beitrag fasst die extremen wirtschaftlichen, politischen und religiösen Bruchlinien dieser Region zusammen, die eine praktische Umsetzung der möglichen föderalen Lösung behindern werden.

Was ist Jemen? Für viele ist Jemen ein Hort des internationalem Terroris-mus und von krimineller Gewalt gegen Ausländer; ein Land, das vom umstrit-tenen politischen Erbe des früheren Langzeitpräsidenten ʿAlī ʿAbdullah Ṣāliḥ dominiert wird. Andere mit sub tilerem Blick und historischer Per-spektive sehen ein komplexes sozio-politisches Universum. Jahre bitteren Bürgerkriegs in den 1960ern gegen das zaydītische Imamat im früheren „Norden”, und der Kampf gegen die bri tische Okkupation im früheren „Süden”, Nord und Süd nach Ende des Kalten Krieges für eine kurze Zeit friedlich vereint, um Mitte der 1990er Jahre in Bürgerkrieg gegeneinander zu

Der westliche Teil des Gouvernorats Ṣaʿda wird von den hohen Bergen des Sarawāt geprägt, einer Gebirgskette, die parallel zur westlichen Küste der Arabischen Halbinsel verläuft. Hier ein Dorf in Rāziḥ mit Qāt- und Kaffeepflanzungen nahe der saudi-arabischen Grenze. Foto: M. Brandt

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Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2 33

Brandt: Iqlīm Ṣaʿda wa l-Jawf

Niewöhner 1985: passim; vom Bruck 1998: 167-169; Weir 2007: 286; Weir 2011), wurden jedoch zunehmend he-rausgefordert und verdrängt durch die Emporkömmlinge der neuen Republik: der Stammesführer bzw. Shaykhs.

Aus Sicht des republikanischen Staates besaß diese große, periphere Nordregion den Ruf, nie sehr viel Staatseinfluss akzeptiert zu haben und eine Politik der Selbstverwaltung zu verfolgen. Der republikanische Staat wiederum reagierte auf die „Unregier-barkeit” der Region mit drastischen Strafmaßnahmen, die in Jahrzehnte ökonomischer Vernachlässigung, po-litischer Marginalisierung und ter-ritorialer Isolation resultierten. Der Regierungseinfluss blieb schwach und punktuell und konzentrierte sich auf die politische Patronage der tribalen Eliten anstatt für eine konsistente Ent-wicklung und die Bereitstellung von staatlicher Infrastruktur für die ein-fache Bevölkerung zu sorgen – eine Politik, die Konflikte innerhalb der lo-kalen Gesellschaften und ihren Eliten generierte, die durchaus im Interesse des an Selbsterhaltung interessierten Regime waren. Phillips (2011) hat die-se jemenitische Spielart des divide et impera die „Politik der permanenten Krise“ genannt. Insbesondere die Re-gion von al-Jawf blieb lange so pe-

ripher, dass al-Jawf als Gouvernorat erst ab 1980 Form annahm und nur allmählich unter die nominelle Kon-trolle des Zentralstaats kam (Burrowes

1995: 198). Das riesige Territorium von al-Jawf, welches weit in die Rubʿ al-Khālī-Wüste hineinreicht, blieb jahrzehntelang praktisch von der Au-

Das Gouvernorat Ṣaʿda geht im Osten in die Dünenlandschaften der Rubʿ al-Khālī über, der großen arabischen Sandwüste. Das Gouvernorat al-Jawf liegt zum größten Teil in dieser Wüste. Das Foto zeigt die Gegend von Biʾr al-Mahāshimah, einem wich-tigen Versammlungsort der Bakīl fernab menschlicher Besiedlung mit geschütztem (hijra) Status. Foto: F.M. Mann

Gouvernorate im Norden des Jemen und wichtige, im Text vorkommende Orte Kartographie: S. Adler

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34 Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2

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ßenwelt abgeschnitten und gilt heute unter Wissenschaftlern als eine der unzugänglichsten und unerforschtes-ten Regionen der Erde.

Diese scheinbar periphere Region ist heute zu einer zentralen Krisen-region in unserer globalisierten Welt geworden. In den Jahrzehnten der Iso-lation und Marginalisierung verwan-delte sie sich – zunächst weitgehend unbemerkt – in eine Brutstätte von Konflikten, die heute internationale Auswirkungen entwickelt haben und durch die offene oder verdeckte In-volvierung regionaler Supermächte wie Saudi-Arabien und Iran, sowie den US-amerikanischen Drohnenkrieg im Jemen weiter zugespitzt werden. Diese Konfliktpotenziale bestehen vor allem in der zunehmenden religiösen Radikalisierung der Region, der Aus-bildung einer grenzüberschreitenden Schattenwirtschaft, und dem weiter schwelenden Grenzkonflikt mit Saudi-Arabien.

Religiöse RadikalisierungIn den vergangenen Dekaden sind Ṣaʿda, und zunehmend auch al-Jawf, zum Schauplatz einer facettenreichen religiösen Radikalisierung geworden, die zur Emergenz von radikalen sun-nitischen (salafistisch-wahhabitischen und „dschihadistischen”) Gruppen und deren zaydītisch-schiitischen Ge-genspielern (Anṣār Allah oder „Ḥūthī” Rebellen) führte – eine Entwicklung, welche die Entstehung von religiösen

Bruchlinien zwischen Sunniten und Schiiten in vielen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens widerspiegelt.

Diese religiöse Radikalisierung ist die Bankrotterklärung des historischen Projekts im Jemen, die Unterschiede zwischen den Konfessionen zu über-brücken. Dieses Projekt, das von Cook (2000) als „Sunnisierung der Zaydiy-ya“ und von Haykel (2003) als „tradi-tionistisch“ bezeichnet wurde, begann bereits im 15. Jahrhundert, wurde von der Imamsdynastie der Qāsimiten auf-genommen und nach der Revolution 1962 von der Republik weitergeführt. Dieses traditionistische Projekt war letztendlich ein Machtinstrument der jeweils herrschenden politischen Elite und sah eine größtmögliche Annähe-rung und Angleichung der verschie-denen muslimischen Konfessionen im Jemen vor, hauptsächlich aber der beiden großen Gruppen der schi-itischen Zayditen und der sunnitischen Schafiiten. Die Umsetzung des tradi-tionistischen Projekts wurde durch die der Zaydiyya innewohnende Tole-ranz gegenüber anderen Konfessionen begünstigt (vom Bruck 2010). Durch das traditionistische Projekt gab es bis in die jüngere Geschichte des Je-men nur wenige Probleme zwischen den Konfessionen; der Imam einer Moschee konnte Zaydit sein und die Betenden Sunniten, oder umgekehrt, das war kein Problem. Seit der jeme-nitischen Einheit 1990 ist das traditi-onistische Projekt jedoch zunehmend

entgleist, v.a. als der Staat begann, die Konfessionen gegeneinander aus-zuspielen und/oder sie zur Erreichung seiner politischen Ziele zu instrumen-talisieren (Bonnefoy 2008a). Dieses geschah etwa mit den jementischen Afghanistan-Veteranen, die 1994 ge-gen den Süden in den Bürgerkrieg ge-schickt und später zur Keimzelle von al-Qaida im Jemen wurden, aber auch mit den Salafisten, bei deren Ausbrei-tung nicht nur die jemenitische Regie-rung, sondern auch reiche Förderer und Geldgeber aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten eine Schlüsselrolle spielten; die jemenitische Salafiyya ist jedoch alles andere als eine „fünf-te Kolonne“ des saudischen Wahha-bismus (Bonnefoy 2008b). In Ṣaʿda gerieten vor allem die Salafisten und die Zayditen zunehmend miteinan-der in Konflikt, da die Salafisten ver-suchten, die lokale Bevölkerung ge-gen die nach wie vor herausgehobene Position der sāda in der zaydītischen Religionsgemeinschaft aufzuwiegeln und zudem gewalttätig gegen jahr-hundertealte zayditische Traditionen wie das Errichten von Grabsteinen und das Besuchen von Gräbern vorgingen – Praktiken, die von Salafisten als bidʿa (unislamische Neuerungen) angesehen und rigoros bekämpft werden (Hay-kel 1995; Haykel 2003: 127-138). Die wirtschaftliche Vernachlässigung und Marginalisierung der während der Imamszeit politisch bedeutenden Provinz und ihrer Bewohner, die Aus-breitung radikaler sunnitischer Grup-pen im Herzland der Zaydiyya und ihre Politik der Nadelstiche und ag-gressiven Provokationen gegenüber den Zayditen führte letztendlich zur Entstehung einer vielschichtigen zay-ditischen Gegenbewegung, die mit verschiedenen (religiösen, parteipo-litischen, sozialen, später auch mili-tärischen) Mitteln gegen die Margi-nalisierung der Zaydiyya ankämpfte. Der einflussreichste Flügel dieser Be-wegung, der heute unter dem Namen Anṣār Allah oder „Ḥūthīs“ bekannt ist, führte von 2004 bis 2010 sechs Kriege (die so genannten „Ḥūthī-Kriege“) ge-gen die Zentralregierung in Sana‘a, die sie für die Marginalisierung ihrer Konfession verantwortlich machen und sie der Kollaboration mit ihren religiösen Gegnern beschuldigen. Während dieser zunehmend brutalen Kriege, die sich durch die Involvierung lokaler Stämme von Runde zu Runde ausweiteten und schließlich während des sechsten Ḥūthī-Kriegs 2009/2010 zu einer humanitären Katastrophe mit tausenden Toten und einer Viertelmil-

Das Besuchen von Gräbern – hier von Opfern des Ḥūthī-Konflikts im Khawlān-Massiv in Ṣaʿda – ist eine zaydītische Tradition, die von den Salafisten als „unislamisch“ angesehen wird. Foto: Jaʿfar al-Ruways

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Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2 35

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lion Binnenflüchtlingen führten, konn-ten sich weder die Regierung noch die Ḥūthīs militärisch entscheidend durchsetzen, und dies obwohl Saudi-Arabien während des sechsten Ḥūthī-Kriegs auf Seiten der jemenitischen Regierung in die Kämpfe eingriff. Der sechste Ḥūthī-Krieg endete mit einem Waffenstillstand (sulḥ), den die jeme-nitische Regierung den Ḥūthīs auf-zwang, in dem sich jedoch jede Seite als Sieger sah.

Seit dem Beginn der Protestwelle des Arabischen Frühlings in 2011 senkte sich die Waagschale zugunsten der Ḥūthīs. Die Regierung war nach in-ternen Spaltungen damit beschäftigt, sich selber an der Macht zu halten, und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit und Kampfkraft auf die Hauptstadt Sana‘a. Das entstehende Machtvakuum in den nördlichen Landesteilen führte zu einer enormen Erstarkung der Ḥūthīs. Seit Beginn des Arabischen Frühlings haben die Ḥūthīs erreicht, was sie während der sechs Kriegsrunden nicht durch-setzen konnten: Die Vorherrschaft über weite Teile des zayditischen Herzlandes des Jemen. Sie stellen heute die de facto Regierung eines Schattenstaates dar, der außer dem Gouvernorat Ṣaʿda auch Teile der angrenzen Gouvernorate al-Jawf, ʿ Amrān und Ḥajjah umfasst. Die-ser Ḥūthī-Schattenstaat ist nur noch nominell mit dem Rest des Jemen ver-bunden, vermeidet gleichzeitig aber vorsichtig jedes formale Anzeichen einer Autonomie.

Seit Etablierung der Ḥūthī-Herr schaft, die auch auf lokaler Ebene weder un-umstritten noch unangefochten ist, nehmen die direkten Konfrontationen zwischen Ḥūthīs und radikalen Sunni-ten weiter zu. Diese Konflikte tragen deswegen die Züge eines jihād (eines „Heiligen Krieges“, gleichwohl unter Muslimen), weil sie nun nicht mehr mit dem Umweg über den Staat aus-gefochten werden. Der Staat verhält sich seit dem Waffenstillstand von 2010 passiv. Die Kämpfe zwischen den schiitischen Ḥūthīs und radikalen Sunniten konzentrieren sich zurzeit in der Auseinandersetzung um das Dār al-Ḥadīth in Dammāj, einem großen salafistischen Bildungszentrum nahe der Stadt Ṣaʿda mit tausenden Stu-denten, darunter viele Ausländer (Haykel 2002; Padnos 2011; Bon-nefoy 2008b). Muqbil al-Wādiʿī, der Gründer des Dār al-Ḥadīth, war ein scharfer Kritiker der Muslimbrüder und von al-Qaida gewesen, aber die Bedrohung durch die erstarkenden Ḥūthīs hat die radikalen sunnitischen Fraktionen zusammenrücken lassen; die Konfrontationen in Dammāj und weiten Teilen von Ṣaʿda und al-Jawf tragen heute mehr denn je die Züge eines „clash of fundamentalisms“ (nach einem Ausdruck von Weir). Zurzeit sind nicht nur Muslimbrüder, sondern auch al-Qaida auf Seiten der Salafisten in diese Kämpfe involviert. Al-Qa‘ida verfügt in Wāʾilah im Os-ten der Provinz Ṣaʿda nahe der saudi-

arabischen Grenze über eines ihrer größten Trainingslager mit zeitweise bis zu 800 aktiven Kämpfern. Das US-Department of State sieht die jemeni-tische al-Qaida als einen der weltweit aktivsten und gefährlichsten Ableger von al-Qaida an, und die Anwesenheit dieses Camps in unmittelbarer Nähe der saudi-arabischen Grenze, seine Involvierung in die Ḥūthī-Kriege und nun auch in dem Kampf um Dammāj wirft viele heikle Fragen auf.

Alle Seiten verfügen über Unter-stützung seitens lokaler Stämme. Die tribalen Loyalitäten werden jedoch – ebenso wie während der Ḥūthī-Kriege – sehr häufig von weltlichen Beweg-gründen getragen: ein Shaykh oder Stamm, der Dammāj unterstützt, muss nicht sunnitisch oder gar salafistisch sein, und die tribalen Unterstützer von al-Qaida folgen zumeist nicht deren radikaler transnationaler Agenda. Stämme und Shaykhs haben häufig eigene Rechnungen zu begleichen, die weit älter sind als das Problem in Dammāj. Sie nutzen den Kampf um Dammāj, um historische tribale Feh-den um Ehre, Territorium, Macht und Vorherrschaft auszutragen – Fehden, die häufig bis auf die Zeit der Revolu-tion 1962 zurückgehen, manche weit darüber hinaus (Brandt 2013). Der Kampf um Dammāj ist daher weder ein Machtkampf lokaler Gruppen und Eliten, noch ist er ein „Heiliger Krieg“. Er ist vielmehr alles zugleich: soziale, politische, religiöse und tribale Be-

Die Region Ṣaʿda und Teile der benachbarten Gouvernorate werden von schweren religiösen Auseinandersetzungen zwischen schiitischen Zaydīs und radikalen Sunniten erschüttert. Zurzeit konzentrieren sich die Auseinandersetzungen im Kampf um das salafistische Bildungszentrum in Dammāj (Gebäudekomplex links), wenige Kilometer südöstlich der Stadt Ṣaʿda. Foto: Mareb Press

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36 Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2

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weggründe und Interessen vermischen sich miteinander. Generalisierungen dieser überkomplexen Geflechte sind zu vermeiden; allein die Betrachtung der Einzelfälle in ihren historischen Dimensionen und lokalen Determina-tionen vermag Licht in diese Gefüge zu bringen.

SchattenwirtschaftEin weiteres Erbe der Vergangenheit ist das Vorhandensein einer grenz-überschreitenden Schattenwirtschaft, die sich weitgehend der Kontrolle durch die betroffenen Staaten ent-zieht (Lichtenthäler 2003: 66-68; Al-Rammah und Awass 2009). Der in Teilen der Bevölkerung vorhandene Widerstand gegen den Systemwechsel in der frühen YAR in Ṣaʿda und al-Jawf hatte negative Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung der Region. Aufgrund der Persistenz traditioneller Loyalitäten nach 1970 betrachtete die Regierung in Sana‘a die Region bis weit in die 1980er Jahre als ungebro-chen „royalistisch“ (al-Sufyānī 2004: 134, 137) und reagierte mit einer spürbaren Verweigerung staatlicher Investitions-, Infrastruktur- und Ent-wicklungsprojekte (Kopp und Schwei-zer 1984; Gingrich und Heiss 1986). Der Produktionssektor der Region blieb schwach, und die allgemeine Entwicklung verlief ungleichmäßig und stockend und konzentrierte sich auf Regionen in der Nähe von größe-ren Städten und wichtigen Handels-routen.

Zwar gehören die geologischen Becken von Ṣaʿda (östliches Ṣaʿda),

al-Jawf und Rubʿ al-Khālī zu den be-deutendsten Reserven von Erdöl und Erdgas in Südarabien. Diese Reserven an fossiler Energie sind jedoch bisher weitgehend unerschlossen geblieben, da ungeklärte Territorialansprüche zwischen Jemen und Saudi-Arabien eine Erschließung der Öl- und Gas-felder verhinderten. Seit dem Grenz-vertrag von Jeddah im Jahr 2000 (s.u.) zwischen Jemen und Saudi-Arabien ist zwar der Weg für die Erschließung fossiler Ressourcen frei. Die Bewoh-ner der Grenzregionen blockieren jedoch die Erschließungsvorhaben, da sie Teilhabe an der Entwicklung der Öl- und Gasfelder fordern. Das Beispiel des benachbarten Maʾrib hat gezeigt, dass die Einnahmen aus dem Energiesektor weitgehend an der lo-kalen Bevölkerung vorbeifließen, und dass diese hochprofitable Industrie häufig keine Entwicklung und Teilha-be der lokalen Bevölkerung mit sich bringt. Die gewaltsamen Proteste der Bewohner dieser Regionen gegen die „Ausbeutung“ durch den Staat und in-ternationale Ölfirmen sind zudem ein Ausdruck davon, dass ihnen keinerlei Rechtsweg zur Verfügung steht, um ihre Ansprüche auf friedliche Weise durchzusetzen.

Anstatt von staatlichen Investitionen und Entwicklungsprojekten zu profi-tieren, wurde lokale Entwicklung vor allem von privater Hand geleistet. Ein florierender Privatsektor entstand, der insbesondere auf der enormen Auswei-tung von Handelsaktivitäten beruhte. Der Handelssektor wurde von den seit 1970 neu entstandenen tribalen

Eliten dominiert, die allein über die finanziellen Mittel und die nötigen nationalen und transnationalen Netz-werke und Verbindungen verfügten, die einen reibungslosen Ablauf ihrer Aktivitäten garantierten. „Handel“ ist jedoch ein dehnbares Konzept, insbesondere in Ṣaʿda und al-Jawf, wo der Begriff eine weite Bandbreite legaler und illegaler Wirtschaftsak-tivitäten abdeckt. Die weitgehende Abwesenheit staatlicher Strukturen und Institutionen bei gleichzeitiger Durchlässigkeit der internationalen Grenze zwischen Jemen und Saudi-Arabien – der Grenze zwischen einem der ärmsten und einem der reichsten Staaten der Welt – begünstigte die Ausbildung einer enormen Schatten-wirtschaft. Insbesondere die Bakīl-Segmente Wāʾilah und Dahm im Osten von Ṣaʿda und in al-Jawf sind in le-gale und illegale grenzüberscheitende Handelsaktivitäten großen Ausmaßes involviert, und ihre Shaykhs haben fast ohne Ausnahme ihre Vermögen in Schmuggel gemacht (Lichtenthä-ler 2003: 87-88). Dieser grenzüber-schreitende Handel wird begünstigt und gefördert durch die plurilokalen und transnationalen Verwandtschafts-beziehungen der Grenzstämme, deren Territorien vielerorts durch die inter-nationale Grenze zerschnitten werden.

Einige Shaykhs der Region steuern heute riesige illegale Handelsflüsse von Jemen über die „grüne Grenze“ durch den weiten Raum der Rubʿ al-Khālī bis nach Riyāḍ und die Golf-staaten im Norden, wobei ihre entle-genen Stammesterritorien entlang der Grenze als Drehscheibe für Schmug-gelgut dienen. Der legale und illegale Handel mit Konsumgütern, Medika-menten, Waffen, Munition, Alkohol, Drogen und illegalen Immigranten ist ein zentraler Teil des ökonomischen Profils der Provinz; nicht zu Unrecht werden die Grenzshaykhs im Jemen mit der „kolumbianischen Mafia“ ver-glichen. Diese Schattenwirtschaft hat heute einen spürbaren Einfluss auf die nationale und internationale Sicher-heit entwickelt, da sie nicht nur ein enormes Ausmaß an Drogen, Waffen und Explosivstoffen beinhaltet, son-dern auch Schleuseraktivitäten für den internationalen Terrorismus (al-Qaida).

Grenzkonflikt mit Saudi-ArabienDas Ausmaß von Schmuggel ist ein Indikator dafür, inwieweit ein Staat seine Peripherien und Grenzen zu kontrollieren vermag. Um sich gegen den Zustrom von Konterbande und

Blick über die Stadtmauer in die Altstadt von Ṣaʿda, deren Architektur von Stampflehmbauten dominiert wird. Große Teile der Stadt sind heute beschädigt oder zerstört. Foto: M. Brandt

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Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2 37

Brandt: Iqlīm Ṣaʿda wa l-Jawf

illegalen Immigranten (insbesondere potentiellen Terroristen) zu schützen, beabsichtigt Saudi-Arabien seit dem jemenitisch-saudischen Grenzvertrag von Jeddah im Jahr 2000 die Errich-tung eines Grenzzauns (siyāj), der zu den teuersten und größten Grenzzaun-projekten der Welt gehört und von der European Aeronautic Defense and Space Company (EADS) gebaut wird. Dieser Grenzzaun, der physisch der früheren innerdeutschen Grenze ähnelt, reprä-sentiert die ultimative Verletzung des legitimen Rechts der Grenzbewohner, innerhalb eines 20km-Korridors frei die Grenze zu überqueren; ein Recht, das ihnen sowohl vom Grenzvertrag von Ṭāʾif (1934) als auch vom Vertrag von Jeddah (2000) zugesichert wird.

Der Vertrag von Jeddah zerschnei-det – ebenso wie sein Vorgänger, der Vertrag von Ṭāʾif – das Stammes-territorium der Khawlān b. ʿĀmir-Konföderation und einiger Segmente der Hamdān al-Shām in jeweils einen saudischen und einen jemenitischen Teil (und platziert weitere, ehemals jemenitische Stämme der ʿAsīr-Kon-föderation auf saudischem Territori-um). Dadurch hat die saudische Grenz-politik einen entscheidenden Einfluss auf das, was Herzog (1990: 135) “transboundary social formation” ge-nannt hat: das Ausmaß, in dem poli-tische, ökonomische, kulturelle und religiöse Netzwerke sich in der Grenz-region überlappen. Der bisher „fluide” Charakter der jemenitisch-saudischen Grenze war eine Konsequenz aus den Bestimmungen des Vertrags von Ṭāʾif (1934) und des Vertrags von Dschidda (2000) zwischen Jemen und Saudi-Arabien, die den Grenzbewohnern in-nerhalb eines 20km-Korridors weitrei-chende Befugnisse zum visumsfreien Grenzübertritt verleihen (Schofield 2000; al-Enazy 2005; Heinze 2010). Zugleich waren die jemenitischen tri-balen Eliten der Grenzregionen fest in saudische Patronagenetzwerke eingebunden und wurden zu wich-tigen Verbündeten des Königreichs bei seinem Bemühen, die umstrittene Grenze, die saudische Interessen über-mäßig begünstigt, zu sichern. Jedoch begann Saudi-Arabien die ständigen freien Grenzübertritte zunehmend als Bedrohung seiner inneren Sicherheit und Stabilität anzusehen, insbeson-dere wegen der starken Zunahme von Schmuggel- und Schleuseraktivitäten. Nach dem Vertrag von Jeddah im Jahr 2000 begann das Königreich damit, die Demarkationsarbeiten im Gebiet östlich von Najrān abzuschließen, in dem die Grenze noch nicht eindeu-

tig festgelegt war. Anschließend, ab 2003, begann Saudi-Arabien in einem nächsten, kontroversen – und anfäng-lich noch zögerlichen – Schritt damit, die Grenze durch die Errichtung eines Grenzzauns auch physisch zu imple-mentieren.

Der Bau des Grenzzauns fokussierte 2003 anfänglich eine Gegend östlich der saudischen Oasenstadt Najrān, wo die so genannte Ṭāʾif-Linie in die weitgehend undemarkierten Gebiete der Rubʿ al-Khālī übergeht. In dieser Gegend war die saudische Patronage-politik zuvor entgleist und hatte zu Problemen mit einem Segment der Wāʾilah geführt, das zudem besonders aktiv in der grenzüberscheitenden Schmuggelwirtschaft ist. Die Mitglie-der dieses peripheren, aber wohlha-benden und militärisch besonders gut gerüsteten Segments hatten sich im Jahr 2000 bereits gewaltsam gegen die saudischen Demarkationsarbeiten zur Wehr gesetzt und dabei die Mit-arbeiter der deutschen Hansa Luftbild GmbH von ihrem Territorium vertrie-ben, die von der saudischen Regie-rung mit der Vermessung der Grenze beauftragt worden war. Internatio-nale Vermittlung brachte die Saudis dazu, wegen der Proteste die Befesti-gungsarbeiten in dieser Region wieder einzustellen. Der Bau des Grenzzauns ruhte dann für zehn Jahre, während deren sechs Ḥūthī-Kriege stattfanden. Erst 2013 ist wieder Bewegung in die Konstruktion des Grenzzauns gekom-men, diesmal unwidersprochen durch

die jemenitische Übergangsregierung, jedoch weiterhin umstritten bei den Bewohnern des jemenitischen Grenz-lands. Diese Wende in der saudischen Grenzpolitik wurde durch die Ausbrei-tung des Ḥūthī-Konflikts entlang der Grenze und insbesondere die Macht-ergreifung der Ḥūthīs im Frühjahr 2011 ausgelöst: Der Ḥūthī-Konflikt hat das fragile Gleichgewicht an der Grenze ausgehebelt, das seit Endes des Bürgerkrieges in den 1960er Jahren auf der staatlichen Patronage lokaler tribaler Eliten beruhte. Die Wieder-aufnahme der Grenzsicherung durch die Saudis auf Kosten der gesetzlich garantierten Bewegungsfreiheit der Grenzbewohner ist gleichbedeutend mit einem Wendepunkt in der Ge-schichte der saudischen Grenzpolitik im Jemen, weil das Königreich die Be-festigungen heute, und im Gegensatz zu 2003, als nicht mehr verhandelbar ansieht.

Ein isolierter SchattenstaatDie Ḥūthī-Kriege sind ein Epiphäno-men der tiefgreifenden Bruchlinien, die die nördlichsten Teile des Jemen durchziehen, und deren Wurzeln in unvollkommener Staatsbildung, Elite-konflikten, religiöser Radikalisierung und einer signifikanten Ungleichver-teilung von Einkommen und Ressour-cen auf lokaler und nationaler Ebene liegen. Die Ḥūthī-Kriege haben diese Konflikte weiter verschärft, statt sie zu lösen. Auch nach dem Waffenstillstand von 2010 gehen die Kämpfe vielerorts

Die Ḥūthī-Kriege haben nicht nur bei den Konfliktparteien, sondern auch unter der einfachen Bevölkerung viele Opfer gefordert. Foto: Tom Finn

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Neues aus der Forschung

38 Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2

Brandt: Iqlīm Ṣaʿda wa l-Jawf

Die Ḥūthī-Rebellen werden von Mitglie-dern der gleichnamigen al-Ḥūthī-Familie angeführt. ʿ Abd al-Malik al-Ḥūthī ist ein jüngerer Halbbruder des 2004 getöteten ersten Anführers der Rebellion.

Foto: al-Masīrah

auf lokaler Ebene weiter. So wurden nicht allein die Konfliktparteien, son-dern die weite Teile der Bevölkerung sukzessive zu Opfern (und Tätern) in einem Krieg, der mörderisch, aber nicht zu greifen ist, denn er entzieht sich weitgehend der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Bericht-erstattung der Medien. Die verschie-denen Gruppen im Krisengebiet sind heute derartig miteinander verfeindet, dass eine Versöhnung zwischen ihnen für lange Zeit ausgeschlossen scheint.

Heute, drei Jahre nach Ende des letzten „offiziellen“ Kriegs in Ṣaʿda, haben die Ḥūthīs über ihren Herr-schaftsbereich hinaus nationalen Einfluss und Gestaltungsmacht ent-wickelt; die Dezentralisierung- und Föderalismusdebatten der vergange-nen Dekade und die Protestbewegung der jemenitischen Variante des „Ara-bischen Frühlings“, der 2011 begann, haben durch die Ḥūthīs wichtige, wenn auch ambivalente Impulse er-halten. Die Ḥūthīs haben sich, wenn auch misstrauisch, über die Ṣaʿda-Arbeitsgruppe in den Nationalen Di-alog (Heinze 2013) eingebracht, und bisher sind viele ihrer Forderungen erfüllt worden, unter anderem die Er-arbeitung eines Gesetzes, in dem das Recht auf die Ausübung ihres zaydi-tischen Glaubensweges geschützt und gesetzlich legitimiert wird, eine Ent-schuldigung des Staates für die sechs

Ḥūthī-Kriege, und die Kompensation politischer Gefangener und der Opfer der Kriege.

Zugleich ist die Region isolierter als jemals zuvor. Der jemenitische Staat auf der einen und Saudi-Arabien auf der anderen Seite kontrollieren alle Zugangswege über Land. Vor allem in ʿAmrān südlich von Khaywān und in al-Jawf wird weiter zwischen Ḥūthīs und Iṣlāḥ-treuen Milizen gekämpft. Die Straßen, die von Sana‘a nach Norden führen, sind umkämpft oder durch tribale Straßensperren abge-riegelt. Sie zu befahren ist gefährlich; Entführungen und Ermordungen von Einheimischen sind an der Tagesord-nung. Die Autofahrt von Sana‘a nach Ṣaʿda, vor wenigen Jahren noch eine Fahrt von fünf bis sechs Stunden, kann nun zwei Tage in Anspruch nehmen. Tourismus existiert nicht mehr, und die wenigen ausländischen Besucher werden von der Ḥūthī-Führung in ih-rem isolierten Reich wie Staatsgäste behandelt. Das Ausweichen auf andere Transportwege ist derzeit unmöglich; es gibt in Ṣaʿda und al-Jawf keine Flughäfen, die mehr sind als einfache Landebahnen für kleinere Maschinen, die Ḥūthīs besitzen keine Flugzeuge, und auch ihre Pläne, die Hafenstadt Mīdī am Roten Meer zu kontrollieren, sind gescheitert.

Der Widerstand der Bevölkerung dieser Region gegen den Grenzzaun ist daher keine nationalistische Kam-pagne, die auf die Wiedererlangung von Territorien abzielt, die Jemen 1934 an Saudi-Arabien verlor. Viel-mehr schnürt der Grenzzaun Ṣaʿda und al-Jawf vollends die Luft ab, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Zwar scheinen die Saudis mittlerweile das Gespräch mit den Ḥūthīs zu suchen, die sie während des sechsten Ḥūthī-Krieges noch rigoros bekämpft haben. Das Königreich ist trotz des Zauns auf Kooperation mit seinen neuen Nach-barn angewiesen, um den angeblichen iranischen Einfluss in der Gegend zurückzudrängen, und auch der re-ligiöse Eifer der Salafisten in Ṣaʿda macht ihnen langsam Sorgen. Auch die Ḥūthīs haben ein vitales Interesse daran, dass der grenzüberschreitende Handel nicht vollends erliegt. Jedoch ist fraglich, in welcher Form eine An-näherung zwischen dem Königreich und dem Ḥūthī-Schattenstaat zustande kommen kann. Die saudische Politik in der Region hat nicht nur die Ḥūthīs, sondern auch zentrale Stämme jahr-zehntelang verbittert, insbesondere die Bakīl im Osten von Ṣaʿda und in al-Jawf: zu eng war die Zusammenar-

beit zwischen den Saudis und ihren Rivalen und „Cousins“ von Ḥāshid.

Die internen Bruchlinien und Kon-flikte werfen auch die Frage auf, ob zukünftige föderale Provinzen über-haupt entlang der alten Gouvernorats-grenzen gezogen werden können. In Ṣaʿda und al-Jawf folgen die territo-rialen Grenzen der Gouvernorate und ihrer internen Distrikte häufig histo-rischen tribalen Grenzen. Stämme sind jedoch keine einheitlichen Blöcke, die bestimmten politischen Loyalitäten folgen. Wegen der Dominanz der Ḥūthīs wäre die Grenze einer Nord-provinz nicht nur eine territoriale, sondern auch eine politische Grenze, und Teile der Wāʾilah und Dahm so-wie einige zentrale tribale Gruppen in Ṣaʿda selbst würden niemals freiwillig Teil einer Ḥūthī-dominierten Nord-provinz werden, sondern sie hoffen verzweifelt auf eine „Rückkehr des Staates“. Gleichzeitig sind die Sufyān im gleichnamigen Distrikt im Norden und Osten des Gouvernorat ʿAmrān zentrale Verbündete der Ḥūthīs. Das Vorhandensein solcher Allianzen und Konflikte würde eine praktische Aus-handlung der territorialen Dimensi-onen zukünftiger föderaler Provinzen enorm verkomplizieren.

Dies sind die historischen Altlasten und offenen Fragen, mit denen die Region sich – gleichgültig ob als Gou-vernorat, föderale Provinz oder als Ḥūthī-Schattenstaat – in Zukunft aus-einandersetzen muss. Sie sind weit mehr als lokale oder innenpolitische Fragen, sondern haben überregionale und in einigen Bereichen sogar inter-nationale Auswirkungen, die nicht nur die Aufmerksamkeit der Konferenz des Nationalen Dialogs, sondern auch einer an Sicherheit und Stabilität in-teressierten Weltöffentlichkeit erfor-dern.

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Neues aus der Forschung

Jemen-Report Jg. 45/2014, Heft 1/2 39

Brandt: Iqlīm Ṣaʿda wa l-Jawf

Dr. Marieke Brandt, Beirätin für Literatur in der DJG, forscht am Institut für Sozi-alanthropologie (ISA) der Österreichischen Akademie der Wis-senschaften in Wien

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über die tribalen Gesellschaften des nördlichen Jemen. Zurzeit arbeitet sie an einem Buch über Stammespolitik während des Huthi-Konflikts. [email protected]