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2 Internationale Zirkulation: Einflussfaktoren 2.1 Sprache In seiner Studie Translation and the Reception and Influence of Latin American Literature in The United States aus dem Jahr 2010 hat James Remington Krause, ein Schüler von Earl Fitz und in dessen Tradition verankert (Lowe/Fitz 2009), ein wichtiges Referenzwerk publiziert, um Fragen danach zu klären, welchen Einfluss das brasilianische Portugiesisch als Exklusionsfaktor für die internatio- nale Anerkennung von Clarice Lispectors Werk gehabt haben könnte. Remington Krause fragt danach, welchen Einfluss Übersetzungen auf die Erfolgsgeschichte lateinamerikanischer Autoren in den USA zur Zeit des Boom lateinamerikanischer Literatur auf dem US-amerikanischen Buchmarkt hatten. Er orientiert sich in sei- nem Übersetzungsbegriff an Earl FitzArbeiten sowie an Edith Grossmanns Stu- die Why translation matters, in der sie schreibt: And the very concept of world literature as a discipline fit for academic study depends on the availability of trans- lations(Grossmann 2010: 13). Diese Überlegung ist auch hinsichtlich der Arbeit zu Lispectors Weltliteratur-Werdung entscheidend: Natürlich muss im Rahmen der aktuellen Weltliteraturdebatte die Praxis des Übersetzens mit seinen westlich geprägten, institutionellen Strukturen kritisch gesehen werden. Fragen danach, wie es überhaupt zu Übersetzungen kommt oder dazu, dass etwas nicht übersetzt wird, wer die entscheidenden Akteure sind, die Übersetzungen anstoßen, diese Fragen sind natürlich von großem Interesse. Remington Krause insistiert hier auf einem weiteren, sehr entscheidenden Punkt: Nicht nur die Frage, ob und wann ein Text übersetzt wurde, ist zentral, sondern ebenso die so entscheidende wie heikle Frage, wie die Qualität der Übersetzung zu bewerten ist. Er schreibt: Trans- lation mediates the exchange of literature in the Americas, the success of which depends upon reliable translations. But what happens when a translation distorts the most salient aspects of the original text?(Remington Krause 2010: 1). Rezeption brasilianischer Literaturen in den USA: Zur Qualität von Übersetzungen In seiner Studie untersucht er, wie ,schlechteenglische Übersetzungen kanoni- scher lateinamerikanischer Texte deren Rezeption in den USA beeinflussten und lenkt damit die Perspektive erstmals in dieser Weise auf Übersetzungspro- zesse und -qualität. Auch wenn der Boom lateinamerikanischer Literaturen in den USA sehr beforscht ist, ist diese Perspektive auf die Übersetzungsleistung Open Access. © 2021 Leonie Meyer-Krentler, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110748406-002
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2 Internationale Zirkulation: Einflussfaktoren - De Gruyter

Apr 05, 2023

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2 Internationale Zirkulation: Einflussfaktoren

2.1 Sprache

In seiner Studie Translation and the Reception and Influence of Latin AmericanLiterature in The United States aus dem Jahr 2010 hat James Remington Krause,ein Schüler von Earl Fitz und in dessen Tradition verankert (Lowe/Fitz 2009),ein wichtiges Referenzwerk publiziert, um Fragen danach zu klären, welchenEinfluss das brasilianische Portugiesisch als Exklusionsfaktor für die internatio-nale Anerkennung von Clarice Lispectors Werk gehabt haben könnte. RemingtonKrause fragt danach, welchen Einfluss Übersetzungen auf die Erfolgsgeschichtelateinamerikanischer Autoren in den USA zur Zeit des Boom lateinamerikanischerLiteratur auf dem US-amerikanischen Buchmarkt hatten. Er orientiert sich in sei-nem Übersetzungsbegriff an Earl Fitz’ Arbeiten sowie an Edith Grossmanns Stu-die Why translation matters, in der sie schreibt: „And the very concept of worldliterature as a discipline fit for academic study depends on the availability of trans-lations“ (Grossmann 2010: 13). Diese Überlegung ist auch hinsichtlich der Arbeitzu Lispectors Weltliteratur-Werdung entscheidend: Natürlich muss im Rahmender aktuellen Weltliteraturdebatte die Praxis des Übersetzens mit seinen westlichgeprägten, institutionellen Strukturen kritisch gesehen werden. Fragen danach,wie es überhaupt zu Übersetzungen kommt oder dazu, dass etwas nicht übersetztwird, wer die entscheidenden Akteure sind, die Übersetzungen anstoßen, dieseFragen sind natürlich von großem Interesse. Remington Krause insistiert hier aufeinem weiteren, sehr entscheidenden Punkt: Nicht nur die Frage, ob und wannein Text übersetzt wurde, ist zentral, sondern ebenso die so entscheidende wieheikle Frage, wie die Qualität der Übersetzung zu bewerten ist. Er schreibt: „Trans-lation mediates the exchange of literature in the Americas, the success of whichdepends upon reliable translations. But what happens when a translation distortsthe most salient aspects of the original text?“ (Remington Krause 2010: 1).

Rezeption brasilianischer Literaturen in den USA: Zur Qualität vonÜbersetzungen

In seiner Studie untersucht er, wie ,schlechte‘ englische Übersetzungen kanoni-scher lateinamerikanischer Texte deren Rezeption in den USA beeinflusstenund lenkt damit die Perspektive erstmals in dieser Weise auf Übersetzungspro-zesse und -qualität. Auch wenn der Boom lateinamerikanischer Literaturen inden USA sehr beforscht ist, ist diese Perspektive auf die Übersetzungsleistung

Open Access. ©2021 Leonie Meyer-Krentler, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk istlizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0International Lizenz.https://doi.org/10.1515/9783110748406-002

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relativ neu. Zwei Annahmen, von denen Remington Krause ausgeht, sollenauch im Hinblick auf die Arbeit mit Übersetzungen Clarice Lispectors in denfolgenden Teilen dieser Studie als relevant erachtet werden: (1) „translationmatters. I do not view it as an impossible task“ (Remington Krause 2010: 12),sowie (2) die Annahme „that both good and bad translations exist, a point thathelps us understand the overall problem of translation failure“ (RemingtonKrause 2010: 13). Remington Krause kommt in seiner Studie zu dem weitrei-chenden Schluss, dass brasilianische Literaturen insgesamt, bedingt durchcqazschlechte Übersetzungsleistungen, auf dem US-amerikanischen Buchmarktmarginalisiert worden sind. Seinen Ausführungen zur US-amerikanischen Rezep-tion jeweils verschiedener Werke der Autoren Borges, Neruda und Machado deAssis zufolge ist der Erfolg eines Werkes in den USA in den späten 1960er Jahren,in denen auch der erste Lispector-Roman in die USA übersetzt wurde (A maçã noescuro, 1967 erschienen bei Knopf als The Apple in the Dark), direkt von der Quali-tät der jeweiligen Übersetzung abhängig.

Vorab sei gesagt, dass ein Pauschalurteil im Sinne einer ,Marginalisierungdurch schlechte Übersetzungen‘ Lispectors Geschichte nicht gerecht würde, dasie – ungewöhnlicherweise – gerade mit der genannten ersten Übersetzung insEnglische durch Gregory Rabassa eine ihrem Werk vergleichsweise sehr gut ge-recht werdende Übersetzung erfuhr und dieser Fall dementsprechend nicht unterdie von Krause analysierten Fälle gefasst werden kann. Interessant sind hier dieEinschätzungen, die Rabassa selbst vorgenommen hat. In If This Be Treason.Translation and Its Dyscontents: A Memoir schildert der Übersetzer seine Sicht auf„untranslatable words“ und „the impossibilities of translation“, und rückt etwa„regionalisms“ in den Fokus: “Regional and local literature has a flavor that isimmediately sensed in the original language. […] The transfer of local or regionalidiom into another language, therefore, must be listed as another of the impossi-bilities of translation” (Rabassa 2005: 24). Zu „expletives“ schreibt er: „If anyform of word can be called untranslatable, meaning having a close adherence tothe word-for-word meaning of the original, it is the expletive“ (Rabassa 2005: 25).Über „insults“: „The fact that insults cannot be rendered so closely as we mightlike means that while words can be translated directly, cultures themselves can-not be without grotesque distortion“ (Rabassa 2005: 26). Auch in den Teilen „WordsCannot Express …“ und „You Can’t Say ‘Ain’t’ in Spanish“ thematisiert Rabassa dieSchwierigkeit, Sprache von ihrem kulturellen Kontext zu lösen. Zu seiner Überset-zungserfahrung mit Lispector hat er, anders als manche der späteren Übersetzer(auch ins Englische) kommentiert, es sei nicht übermäßig schwierig gewesen, ihrenRoman zu übersetzen, gerade weil sie eine Sprache verwende, die nicht von Regio-nalismen lebe. Rabassas Übersetzungsleistung sticht aus dem Bild, das Remingtonzeichnet, positiv heraus, was die Beobachtung unterstützt, dass es in Lispectors

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Fall um ein komplexes Ineinander verschiedener Faktoren geht, die bedingt haben,dass sie nicht erfolgreicher kanonisiert worden ist. Verfehlte Übersetzungen habenihre Rezeptionsgeschichte dabei aber generell so sehr bedingt, dass es Sinn macht,Remingtons Analyse noch etwas weitergehender zu bedenken. Was macht eine,gute‘ oder ,schlechte‘ Übersetzung aus? Remington bietet folgende, auch für dieArbeit mit Lispectors Texten richtungsweisende Antwort: „Although occasionalstylistic missteps are inevitable, a translation truly fails, I will argue, only whenit consistently misinterprets and, consequently, misrepresents the source text.“(Remington Krause 2010: 1–2). Er räumt ein, dass es dabei natürlich eine Band-breite gebe: „translation ,failure‘ occurs along a sliding scale; there are differentlevels and kinds of failure“ (Remington Krause 2010: 2).

Was dies im Detail bedeutet, lässt sich nur anhand konkreter Texte herausar-beiten. Positiv gewertet wird bei Remington Krause das Beispiel von The Aleph andOther Stories 1933–1969, bei dem Borges selbst dem Übersetzer Norman Thomas diGiovanni als Co-Übersetzer zur Seite stand, ein Werk, das nach Remington Krause„had no perceived negative effect on Borges’ reception in the United States“ (2010:6). Als Beispiel für „translation failure“ wiederum wird Robert Scott-BuccleuchsÜbersetzung von Dom Casmurro analysiert. Remington Krause begründet sein Ur-teil einer „translation failure“ in der Zusammenfassung seiner Analyse wie folgt:

The translator here excises nine chapters, realigns others, and subsequently blunts theEnglish-speaking reader’s ability to access the crucial metanarrative structure, which isfundamental in understanding the overall brilliance of the novel. The excision of thesechapters weakens the relationships between author, narrator, and reader that one findsthroughout the novel, which converts an exceptionally original narrative into a very con-ventional one. (Remington Krause 2010: 7)

Er beschreibt, wie diese Übersetzung eine angemessene Rezeption des Werkes inden USA verhindert habe und Machado de Assis’ Reputation auf dem Feld derInter-American Studies zerstört habe, „because the unsuspecting reader takes theScott-Buccleuch version of this Brazilian masterpiece as a reliable translation“(Remington Krause 2010: 7). Dieser Effekt, dass Defizite einer Übersetzung derAutorin selbst bzw. dem Original zugeschrieben werden, weil kein Bewusstseinfür mögliche Übersetzungsfehler bzw. überhaupt für Übersetzungsprozesse vor-handen ist und ganz einfach auch keine Kenntnis der Originalsprache, lässt sichbei Lispector anhand von anderen Übersetzungen ebenfalls beobachten (vgl. Ka-pitel 4). Wichtig in Bezug auf Lispector ist Remington Krauses Argumentationhinsichtlich der Frage, was „gute“ Übersetzungen ausmache (vgl. insbesondereRemington Krause 2010: 13–19), ganz besonders aber ein Punkt, an dem er EdithGrossman hinzuzieht: Der Leser einer gelungenen Übersetzung „will perceive thetext, emotionally and artistically, in a manner that parallels and corresponds to

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the aesthetic experience of its first readers“ (Grossmann 2010: 7, vgl. RemingtonKrause 2010: 14–15). Auf Grossmann geht auch seine Überzeugung zurück, dasses nicht unbedingt einer wortgetreuen Übersetzung bedarf, um eine gelungenezu erzeugen:

Fidelity is the noble purpose, the utopian ideal, of the literary translator, but let me repeat:faithfulness has little to do with what is called literal meaning. […] A translator’s fidelity isnot to lexical pairings but to context – the implications and echoes of the first author’stone, intention, and level of discourse. Good translations are good because of they are faith-ful to this contextual significance. They are not necessarily faithful to words or syntax,which are peculiar to specific languages and can rarely be brought over directly […].

(Grossmann 2010: 70–71)

Walter Benjamin diskutiert den Effekt, der sich ergibt, wenn ein Übersetzer Textgewissermaßen manipuliert, um ihn dem Leser zugänglich zu machen, ein inLispectors Übersetzungsgeschichte immer wieder auftretender Fall. Die Essenzeines Textes sei aber niemals Information. Remington verweist auf Benjamin, umzu einem Begriff dessen vorzudringen, was er als „Essenz“ bezeichnet: „But do wenot generally regard as the essential substance of a literary work what it containsin addition to information – as even a poor translator will admit – the unfatho-mable, the mysterious, the „poetic“, something that a translator can reproduceonly if he is also a poet?“ (Benjamin 1968: 71–72, zitiert nach Remington Krause2010: 16)

Anhand dieser Herleitung von Benjamin kommt Remington Krause zu fol-gender Definition der Übersetzungsarbeit:

The literary translator, therefore, is not a mere messenger or cipher of codes; he or she isa co-creator with the author. The translator must render the aesthetic aspects of the workas well as impart the information transmitted in the content. (Remington Krause 2010: 16)

Er kommt zu dem Schluss, dass das Problem nicht nur einzelne Übersetzungenbetrifft, sondern dass die gesamte Rezeption brasilianischer Literaturen in denUSA nach dem Boom spanischsprachiger Literaturen bis auf wenige Ausnah-men gescheitert ist:

Certainly, there are other factors involved, as well as examples that serve as an exceptionto this trend, such as Jorge Amado. Regardless, poor translations lead to poor receptionand, in the case of Brazil, these „failed“ translations have involved some of Brazil’s grea-test writers and have, as a consequence, seriously compromised the reputation of Brazi-lian letters in the United States and in the developing field of Inter-American literature.

(Remington Krause 2010: 8)

Weitere „failed translations“, auf die Remington Krause näher eingeht, sind eng-lischsprachige Übersetzungen von O cortiço von Aluisio Azevedo, Macunaíma

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von Mario de Andrade, und Grande sertão: verdedas, von João Guimarães Rosa.Sie alle seien aus unterschiedlichen Gründen gescheitert, zeigen aber durchgän-gig ein hohes Maß an Fehlinterpretation grundlegender Charakteristika, oder ihrer„Essenz“, um mit Benjamin zu sprechen, sodass es zu einer Rezeption zentralerWerke der brasilianischen Literatur in den USA in vielen Fällen nicht gekommensei (Remington Krause 2010: 8). Dieser Kontext ist sicher sehr entscheidend, umLispectors Publikationsgeschichte außerhalb Brasiliens zu verstehen, auch wennihr Fall nicht leicht einzuordnen ist. Immerhin war die erste Übersetzung insEnglische durchaus gelungen, wenn man Remington Krauses Argumentations-weise der Übersetzung als Übertragung einer ästhetischen Essenz folgt, auchhinsichtlich der Innovationskraft des Textes. Es gab aber in der Folge auch,schlechte‘ englische Übersetzungen, so hat es zumindest Benjamin Moser bemän-gelt, als er nach dem Erfolg seiner 2009 in den USA erschienenen Lispector-Bi-ographie bei dem amerikanischen Verlag New Directions durchsetzte, einige vonLispectors Romanen neu übersetzen und teilweise auch mit Vorworten versehenzu lassen (vgl. Morgan Teicher 2011) – auch letzteres sicher ein Bestreben, einenKontext, ein Verständnis für das Eigene, Ungewohnte an Lispectors Literatur zuschaffen. In den verschiedenen Zielsprachen ist das Ausmaß der Auswirkungendessen, dass hier Literatur aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt wer-den sollte und musste, natürlich unterschiedlich. Bevor nun auch Fragen nach an-deren Einflussfaktoren für Exklusionseffekte besprochen werden sollen, soll andieser Stelle noch kurz auf Besonderheiten des französischen und deutschenRezeptionskontextes für brasilianische Literatur zu Lispectors Lebzeiten ein-gegangen werden.

Übersetzungen brasilianischer Literatur in Frankreich und Deutschland

Brasilianische Literatur insgesamt erfuhr in Frankreich erstmals im Kontext derBuchmesse 1982 in Paris eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. Einert2018: 124). Sondernummern des Magazine Littéraire, von Bicéphale und Europeerschienen zum Thema. In Deutschland setzten erste Bemühungen, brasiliani-sche Autoren zu etablieren, bereits etwas früher ein: Ungewöhnlich detailliertesMaterial dazu ist durch den umfangreichen Nachlass des Suhrkamp-VerlegersSiegfried Unseld zugänglich. Aus Katharina Einerts Archivstudien (Einert 2018)zum Siegfried-Unseld-Nachlass bzw. dem Lateinamerikaprogramm des deutschenSuhrkamp Verlages in den 1960er und 1970er Jahren geht hervor, dass es durchausBemühungen der Beraterinnen und Berater des Verlegers Unseld gab, neben Au-torinnen und Autoren aus dem spanischsprachigen Lateinamerika auch brasiliani-sche Literatur zu publizieren und zu fördern.

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Auf Initiative des Übersetzers Meyer-Clason, der auch Lispector in den 1960erJahren bereits ins Deutsche übersetzte, seien in den 1960er Jahren bereits einigeBrasilianer im Verlag erschienen (u. a. Adonias Filho), in den 1960er Jahren wirdder von verschiedenen deutschen Verlagen publizierte Jorge Amado zum bekann-testen brasilianischen Autor in deutscher Übersetzung. Als man sich bei Suhrkampdaranmachte, eigens ein Lateinamerika-Programm zu erstellen und auf der Buch-messe 1976 in Frankfurt auch entsprechend zu bewerben, befand sich allerdingsunter den zu diesem Anlass zusammengestellten 17 Autoren nur ein Brasilianer:Osman Lins. An Maria Dessauer, die zuständige Suhrkamp-Lektorin, habe UnseldsLateinamerika-Beraterin Michi Strausfeld im November 1975 bezüglich des BandesMaterialien zur lateinamerikanischen Literatur geschrieben, dass sie die brasiliani-sche Literatur erstmal ausklammere (Einert 2018: 121). Der zur Buchmesse erschie-nene Materialienband bezieht sich also allein auf spanischsprachige Literaturen,ein Band Brasilianische Literatur, herausgegeben von Michi Strausfeld, erschiendann 1984. Obwohl es schon einige brasilianische Autoren im Verlag gab, ent-schied man sich in den 1970er Jahren, den Schwerpunkt auf die hispanoamerikani-schen Romane zu legen.

Die brasilianische Literatur, so kann man mit Blick auf das Archivmaterialzusammenfassend sagen, galt als eine wertvolle, aber weitgehend unbekannteLiteratur, die schwer zu vermitteln sein würde. Zumal es, im Vergleich etwa zuden spanischsprachigen Literaturen, noch weniger in Frage kommende Über-setzerinnen und Übersetzer gab.

2.2 Ästhetik

Zu den Einflussfaktoren, die die weltweite Zirkulation und Rezeption von ClariceLispectors Werk geprägt haben, zählt sicherlich auch ihre einzigartige Ästhetik, ihrBruch mit den Lesegewohnheiten ihrer Zeit. Sehr allgemein gesagt war wohl ge-rade das erzählerisch Innovative, durch das ihr Werk überhaupt eine solch überge-ordnete Bedeutung erlangen konnte, gleichzeitig eine der größten Hürden, wennes darum ging, es überhaupt im Ausland und dann noch einem breiteren Publikumbekannt zu machen. Dies gilt insbesondere, wenn man das Zusammenwirken derhier zunächst getrennt besprochenen Faktoren bedenkt: brasilianisches Portugie-sisch als Ausgangssprache, eine in höchstem Maße unkonventionelle Ästhetikund Clarice Lispectors Sonderstellung als Frau in einem zutiefst machistischgeprägten Literaturbetrieb. Das konkrete Zusammenwirken solcher Faktorenkann anhand von Auszügen aus der Übersetzungs-, Zirkulations- und Rezepti-onsgeschichte in den verschiedenen Sprachräumen (zunächst in Brasilienselbst, dann in Frankreich, in Deutschland und in der englischsprachigen Welt)

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nachvollzogen werden. Doch zunächst einmal soll hier die Frage verhandelt wer-den: Was an ihrer Ästhetik trug dazu bei, dass die Vorbedingungen für eine inter-nationale Rezeption ihres Werkes nicht gerade günstig waren?

Bruch mit Konventionen: Auf der Suche nach einer Sprache

Clarice Lispectors Prosa ist geprägt von der Suche nach ,Worten hinter denWorten‘, nach einer Sprache, die konventionalisierte Muster aufbricht und dahin-ter etwas anderes, Essentielles hervorholt. „Müsste ich meinem Leben einenTitel geben, er lautete: Auf der Suche nach dem Ding selbst“, schrieb sie ein-mal (Moser 2013a: 331). Aus der Sicht ihrer Leserinnen und Leser ließe sichsagen: Sie formulierte in Worten, was als Ahnungen, als Gefühle vorher nurvage zugänglich gewesen war.

Als Illustration für dieses sprachliche Vordringen in unwegsames Geländemag der Band Água viva dienen, dessen Erzählstimme der Lispector-SpezialistAntonio Maura so beschreibt: „[…] se introduce en aquello que late detrás delpensamiento, en un lungar donde no hay palabras ni silencio, un espacio fronte-rizo donde se mueven nebulosas de sensaciones que son algo más que vacío yaún no han recibido un nombre que las identifique“ (Maura 2014: 75). Água vivastammt aus einer späten Schaffensphase der Autorin und erschien im Original1973. Das Werk, das heute zu ihren zentralen Texten gezählt wird, sollte in einerersten Fassung der Autorin einen anderen, auf ihre Suche nach einer Sprache an-spielenden Titel tragen: „Atrás do pensamento: Monólogo com a vida“ (Maura214: 69). Wenn man bedenkt, dass Clarice Lispector zeitlebens nach Ausdrucks-formen für etwas suchte, das sie als Essenz des Lebendigen empfand, nach „lapalabra que pesca lo que no es palabra“, wie Maura angelehnt an eine Lispector-Formulierung aus Água viva schreibt (Maura 2014: 78), dass Lispector zu lesenimmer auch ein wenig ist ,wie in unbekannten Gewässern fischen‘ – dann wird einStück weit deutlich, wie es möglich war, dass diese Autorin bei manchen Leserneine immense Faszination auslöste, während sie von anderen als schwer zugäng-lich und unverständlich, als ,hermetisch‘ abgelehnt wurde. Für ihre Rezeption inBrasilien lässt sich der Vorwurf der Hermetik ihrer Literatur bis in die 1970er Jahrehinein als sehr dominant belegen. Lispector selbst stimmte es vor diesem Hinter-grund skeptisch, dass sie in ihrem letzten Lebensjahrzehnt in Brasilien so populärwurde: Offenbar verstand sie nicht, wieso man sie plötzlich zu verstehen glaubte.5

5 Vgl. ihre diesbezüglichen Kommentare in einem Interview mit Julio Lerner für TV Cultura:https://www.youtube.com/watch?v=w1zwGLBpULs.

2.2 Ästhetik 17

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Die deutsche Übersetzerin Sarita Brandt äußerte sich in einem Briefwechsel mitdem zuständigen Lektor beim Suhrkamp-Verlag über ihre Übersetzungsarbeit aneinem Auszug von Aqua viva einmal wie folgt:

Ich muß gestehen, am liebsten hätte ich einfach weiter übersetzt, da war etwas, das michnicht mehr losließ. Während des Übersetzens habe ich oft an unser Gespräch auf derBuchmesse gedacht, an die Schwierigkeiten vieler, einen Zugang zu Lispectors Schreib-weise/Lebensform zu finden. Dabei geht es wohl kaum um „verstehen“, sondern eher um„übersetzen“. Jeder für sich selbst.

(Brief von Sarita Brandt an Jürgen Dormagen, 23.10.91, SUA)

Interessant in diesem Zusammenhang sind gerade auch die frühen Reaktionenauf Lispectors Werk in Brasilien, die den Sonderstatus unterstreichen, denLispector nicht nur im Hinblick auf ihre Literatur, sondern auch biographischzeitlebens hatte. Benjamin Moser beschreibt in seiner Biographie, wie sehr immerwieder betont worden sei, dass Lispector Brasilianerin sei – in einem Maße, wiees einem in Brasilien geborenen Autor wohl niemals widerführe. Clarice Lispectorselbst machte ihrem Biographen zufolge unzutreffende Angaben zu dem Alter, indem sie Anfang der 1920er Jahre mit ihrer Familie vor dem Bürgerkrieg in der Uk-raine6 floh, um nach Brasilien zu emigrieren: Sie sei erst zwei Monate alt gewe-sen, habe sie behauptet, „ein Versuch, sich auf das niedrigste glaubwüdigeAlter festzulegen“, tatsächlich sei sie aber schon ein Jahr alt gewesen, worausihr Biograph folgert: „Clarice Lispector wünschte sich nichts sehnlicher, alsdie Geschichte ihrer Geburt neu zu schreiben“ (Moser 2013a: 23). Zweifellosfühlte sich die erwachsene Autorin Clarice Lispector als Brasilianerin, und dasbrasilianische Publikum hat sie, davon zeugt die Moser-Biographie eindrucks-voll, als brasilianische Autorin verehrt und angenommen (Moser 2013a: 25).„Aber von Beginn an begriffen die Leser, dass sie eine Außenseiterin war“,schreibt er weiter. Der Dichter Lêdo Ivo hat sich zu dem eigentümlichen Ver-hältnis von Lispectors Literatur zum Brasilianischen sehr treffend geäußert:

Eine greifbare und annehmbare Erklärung für das Geheimnis von Lispectors Sprache undStil wird es zweifellos nicht geben. Die Fremdheit ihrer Prosa ist eine der schlagenstenErscheinungen in der Geschichte unserer Literatur, ja, in der Geschichte unserer Sprache.

6 Es handelt sich um einen Bürgerkrieg im Kontext des Ersten Weltkriegs: 1917 hatte die ge-samtukrainische Ratsversammlung die Macht über die Volksrepublik beansprucht, mit dem„Brotfrieden“ zwischen den Mittelmächten und der Ukrainischen Volksrepublik im Februar1918 entstand für kurze Zeit ein unabhängiger ukrainischer Staat. Kiew wurde von Bolschewi-ken besetzt, aber durch einen wiederum von den Deutschen unterstützten Staatsstreich ent-stand ein Machtvakuum, das in einen Bürgerkrieg mündete. Im Dezember 1918 begannenschwere Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung.

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Diese Grenzprosa im Zeichen von Auswanderung und Einwanderung verweist uns auf kei-nen unserer berühmten Vorläufer. […] Man ist geneigt zu sagen: Sie, die eingebürgerteBrasilianerin, hat eine Sprache eingebürgert.7

Ästhetik und Lesarten. Emotionale Resonanz

Wie lassen sich nun diese so stark divergierenden Reaktionen auf Lispectors Li-teratur genauer skizzieren? Wie lässt sich die Kluft verstehen zwischen großerResonanz bei den einen und ebenso ausgeprägtem Unverständnis, großem Un-willen zur Auseinandersetzung mit ihren Texten bei den anderen?8 In einem In-terview hat sich die Autorin dazu selbst einmal geäußert:

Am 1. Februar 1977 gab Clarice Lispector ein Interview für den brasiliani-schen Sender TV Cultura, was schon deshalb bemerkenswert ist, weil sie sonstkeine Fernsehinterviews gab. Bemerkenswert ist weiterhin, in welcher Weise sieim Gespräch mit dem Journalisten Júlio Lerner Bezug auf das Ermüden ihrerSchaffenskraft nahm, ja, wie sie das Ende ihrer schöpferischen Arbeit und ihresLebens zu spüren schien, was nicht zuletzt in dem viel zitierten Satz „Ich spre-che aus meinem Grab“ seinen Ausdruck fand.9 Sie war 56 Jahre alt. Noch imselben Jahr, im Dezember dann starb sie. Clarice Lispector geht in diesem Ge-spräch neben Passagen, in denen sie lange schweigt, auf einige grundlegendeFragen zu ihrem Werk ein, und nimmt dabei auch Stellung zur hier aufgeworfe-nen Frage nach den so disparaten Leserreaktionen. Lerner fragt sie in diesemInterview: „Welches Ihrer Bücher erreicht das junge Publikum am besten?“ DaraufLispector: „Kommt darauf an. Das kommt wirklich darauf an. Mein Buch Die Pas-sion nach G.H. zum Beispiel – einmal besuchte mich ein Portugiesischlehrer vomInstituto Pedro II und sagte, er habe das Buch viermal gelesen und könne nichtsagen, worum es darin geht. Am nächsten Tag kommt eine junge Frau von sieb-zehn Jahren, eine Studentin, und sagt, das sei ihr Lieblingsbuch. Man wird einfachnicht schlau daraus.“ Lerner: „Und ist Ihnen das auch bei anderen Ihrer Arbeitenpassiert?“ Antwort Lispector: „Ja. Entweder berühren sie die Leute oder eben nicht.

7 Hier zitiert nach Moser (2013a: 25), vgl. auch https://www.youtube.com/watch?v=LlcKiZIMw7o.8 Diese beiden Reaktionsweisen lassen sich in ganz unterschiedlichen Kontexten belegen,etwa in Deutschland und Brasilien, vgl. Lispector (2013), https://www.youtube.com/watch?v=w1zwGLBpULs.9 Offenbar hatte Clarice Lispector auch in den Jahren zuvor (u. a. 1972, vgl. Moser 2013a: 455)darüber gesprochen, dass sie sterben könnte, sie glaubte offenbar über mehrere Jahre, dass siean Krebs erkranken würde. Moser (2013a) schreibt, im Juni 1977 habe sie krankheitsbedingteBeschwerden entwickelt.

2.2 Ästhetik 19

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Also, mir scheint, daß Verstehen keine Frage der Intelligenz ist, sondern davon,dass man etwas fühlt, daß man in Verbindung tritt. So sehr, daß der Lehrer, derPortugiesisch, Literatur, unterrichtet und bestens geeignet sein müsste, mich zuverstehen, mich eben nicht verstand, die Siebzehnjährige hingegen las das Buchein ums andere Mal. Anscheinend gewinne ich durchs mehrmalige Lesen, was fürmich eine Erleichterung ist.“10 So könnte man es vielleicht auf den Punkt bringen:Lispectors literarische Texte erfordern eine zeitaufwändige, manchmal mehrmaligeLektüre,11 und nur, wer einen starken emotionalen Zugang zu diesen Texten hat,wird diesen Aufwand betreiben.

Dieser Aspekt der sich einstellenden oder aber ausbleibenden emotiona-len Resonanz hat zu Effekten geführt, die sich auf die Übersetzungsgeschichteder Autorin ausgewirkt haben, aber nicht immer einfach zuzuordnen sind. EinBeispiel hierfür wäre die Auswahl Lispectors für das Verlagsprogramm desamerikanischen Verlagshauses Alfred A. Knopf, ohne dass eine kontinuierli-che Zusammenarbeit zustande gekommen wäre. Der Verleger Alfred A. Knopfhatte 1967 zunächst die Wirkung von Clarice Lispectors Literatur auf anderezur Grundlage für seine Publikationsentscheidung gemacht und A maçã no es-curo als The Apple in the Dark publiziert, eine Entscheidung, die auf eine Emp-fehlung des Übersetzers Gregory Rabassa zurückgeht (Rabassa 2005), sowieauf den Umstand, dass in Knopfs Augen Lispector zusammen mit GuimarãesRosa die ,Autorin der Stunde‘ in Brasilien zu sein schien. Dort wurde sie inintellektuellen Kreisen hoch gelobt, was Knopf im Zuge einer Brasilienreiseund auf der Suche nach brasilianischer Literatur für sein Programm zu Ohrenkam. Allerdings wird Knopf auch zitiert mit einer Aussage, nach der er bei sei-ner eigenen Lektüre „nichts verstanden“ habe (Moser 2009: 259; Shakespeare2014) – eine Erfahrung, die an die Lektüreerlebnisse des von Lispector erwäh-nten Portugiesischdozenten erinnern mag.

Ganz anders äußerte sich wiederum der Übersetzer, der ihren Roman fürKnopf ins Englische brachte: Gregory Rabassa, der Lispector fast zeitgleich mitJulio Cortázars Hopscotch übersetzte, fertigte mit The Apple in the Dark eine unterExperten sehr anerkannte, erste umfangreiche Übersetzung Lispectors ins Engli-sche an. Rabassa empfand das Übersetzen als nicht übermäßig fordernd undscheint keine Schwierigkeiten mit Lispectors Literatur gehabt zu haben, wie er in IfThis Be Treason (2005) berichtet, vielmehr wunderte er sich über Kommentare, dieauf die vermeintliche Unvereinbarkeit männlicher und weiblicher Perspektiven

10 Hier zitiert nach Lispector (2013: 49), vgl. auch https://www.youtube.com/watch?v=w1zwGLBpULs.11 Vgl. dazu auch die Ausführungen des Übersetzers Luis Ruby (2013).

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abzielten, ging danach jedoch zu neuen Aufgaben und Autor/innen über. Langeblieb dies der einzige Roman Clarice Lispectors auf Englisch. Über solche punktu-ellen, aber zunächst nicht nachhaltigen Kontakte zu potentiellen Gatekeepern(Marling 2016) auf internationaler Ebene hinaus – was bedeutet nun LispectorsÄsthetik einer ,Suche nach Worten hinter den Worten‘ für die Übersetzung?

Ästhetik und Übersetzung. Das ,Irrationale‘

Clarice Lispector hat in vielen ihrer Texte daran gearbeitet, etwas zu öffnen,wozu die Sprache zuvor keinen Zugang hatte. Es ging ihr darum, mittels Spra-che Verborgenes, Unterbewusstes an eine rezipierbare Oberfläche zu transpor-tieren.12 Im Zusammenhang mit diesem zentralen Thema ihrer Literatur musseine besondere Herausforderung mitgedacht werden, die ihre Texte für Über-setzungen mit sich brachten: Zwar handelte es sich um Prosa, diese jedochwich oftmals sehr stark von etablierten sprachlichen Regeln und Konventio-nen ab. Dies begann bereits bei Aspekten wie der Wortstellung oder der Zei-chensetzung, die in der Übersetzung bzw. im Lektorat der Verlage nicht seltenauf Anpassungsversuche an eine vermeintlich ,literarischere‘ oder ,korrektere‘Ausdrucksweise in der Zielsprache stießen. Die ,Fremdheit‘ des Lispector’schenTextes sollte dabei eliminiert werden.13 Der Argentinier Julio Cortázar, der inBezug auf Übersetzungen, wenngleich mit ganz anders angelegten Texten, aufähnliche Schwierigkeiten stieß, hat in seinem Text „Musicalidad y humor enla literatura“ sehr treffend beschrieben, was er als ,das Irrationale eines Tex-tes‘ bezeichnet.14 Dieses ,Irrationale‘ trifft dabei einen für das Verständnis vonLispectors Übersetzungsgeschichte sehr wesentlichen Aspekt literarischer Texte.Julio Cortázar ist auch deshalb ein wertvoller Bezugspunkt, weil er zeitgleich zuClarice Lispector publizierte, weil er selbst Übersetzer war und mehrere Zielspra-chen der Übersetzungen seines eigenen Werkes beherrschte und nicht zuletztauch weil einige Übersetzungsprozesse zu Cortázar-Übersetzungen ungewöhnlich

12 Vgl. dazu den Band Clarice Lispector in der Reihe „Leben in Bildern“ des Deutschen Kunst-verlags (Meyer-Krentler 2019).13 Vgl. zu dem sehr wegweisenden Aspekt der ,Fremdheit‘ in der Übersetzung Esther KinskysBand Fremdsprechen (2019).14 Der Text ist Teil der Lecturas de Berkeley, die Cortázar 1980 gehalten hat. Vgl. zu einer kriti-schen Sicht auf deren Publikation Joaquín Marco 2014. In dem hier hergestellten Zusammen-hang erscheint es nichts desto trotz sinnvoll, diese recht spontanen Äußerungen des Autors zuseinem Schreiben heranzuziehen.

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gut dokumentiert sind.15 Cortázar berichtet, er habe bezüglich seiner Erzählungenoft erlebt, dass Texte korrekt übersetzt worden seien, dass nichts an Informationfehle, aber doch etwas Wesentliches nicht übermittelt werden konnte:

Mi problema es cuando me traducen: cuando se traducen cuentos míos a un idioma queconozco, muchas veces me encuentro con que la traducción es impecable, todo está dichoy no falta nada pero no es el cuento tal como yo lo viví y lo escribí en español porque faltaesa pulsación, esa palpitación a la cual el lector es sensible porque si a algo somos sensi-bles es a las intuiciones profundas, a las cosas irracionales; lo somos aunque muchasveces la inteligencia se pone a la defensiva y nos prohíbe, nos niega ciertos accesos.16

(Cortázar 2016: 153–154)

Die Annahme, dass so etwas wie der ,Pulsschlag‘ eines Textes existiert, kannHinweise darauf geben, was es im Kern eigentlich ist, das in Lispectors Überset-zungsgeschichte immer wieder verfehlt worden ist. Cortázar ist sich bewusst da-rüber, wie schwer dieser Aspekt der Übersetzungsarbeit zu greifen und auchÜbersetzern zu vermitteln ist, wenn er schreibt: „Sobre cosas como el humor en laliteratura y en mis cosas, la música, el juego, lo lúcido, uno tiene más una intuiciónque un concepto, más una práctica que una teoría, y cuando los quiere atrapar teó-ricamente tienden a escapar” (Cortázar 2016: 149). Es gebe Fälle, wo man in einerÜbersetzung exakte Entsprechungen wiederfinde, im Sinne der Übertragung einesInhaltes, aber der Übersetzung dennoch das Entscheidende fehle:

[…] es muy difícil explicarlo a ciertos traductores porque se quedan asombrados. “¡Sí,pero está bien traducido!” Tu dijiste esto, aquí dice así: es exactamente lo mismo. “Sí, esexactamente lo mismo pero le falta algo.” Es exactamente lo mismo en el plano de laprosa, como transmisión de un mensaje, pero le falta esa aura, esa luz, ese sonido pro-fundo que no es un sonido auditivo sino un sonido interior que viene con ciertas manerasde escribir prosa en español.” (Cortázar 2016: 154)

Das Verhältnis zwischen Musikalität und Irrationalem beschreibt Cortázar so:

[E]l sentimiento más que la conciencia, la intuición de que la prosa literaria […] puededarse como pura comunicación y con un estilo perfecto pero también con cierta estruc-tura, cierta arquitectura sintáctica, cierta articulación de las palabras, cierto ritmo en eluso de la puntuación o de las separaciones, cierta cadencia que infunde algo que el oídointerno del lector va a reconocer de manera más o menos clara como elementos de carác-ter musical. (Cortázar 2016: 150–151)

15 Vgl. Gregory Rabassa (2005) zur englischsprachigen Übersetzung, sowie zur besonders gutdokumentierten deutschen Übersetzung bei Suhrkamp den Band von Katharina Einert (2018).16 Katharina Einert hat auf die Gemeinsamkeiten von Cortázars Verständnis der irrationalenSeite eines Textes mit Walter Benjamins übersetzungstheoretischen Ausführungen hingewie-sen (Einert 2018: 198).

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Dieser Rhythmus, die Musikalität, der Sound eines Textes können stark von un-gewohnten grammatischen Strukturen und insbesondere von der Interpunktiongeprägt sein. Dies lässt sich sowohl im Spanischen verschiedener lateinameri-kanischer Länder wie im brasilianischen Portugiesisch beobachten. Über nichtregelkonforme Verwendung von Interpunktion sind verschiedene Auseinander-setzungen zwischen Verlagen und lateinamerikanischen Autor/innen in dieserPhase belegt. Cortázar selbst berichtet von Problemen mit Verlagen wegen Kor-rekturen an seiner Interpunktion – in einem Fall seien auf einer Seite 37 Kom-mata ergänzt worden (Cortázar 2016: 152). An anderer Stelle hat sich Cortázarbezüglich einer Lezama Lima-Übersetzung an dessen Übersetzer Meyer-Clasongewandt, um auf die besondere Interpunktion Lezama Limas hinzuweisen.Katharina Einert verweist in ihrer Dissertationsschrift auf Korrespondenzen, ausdenen hervorgeht, laut Cortázar setze Lima „die Kommata dort, wo der an derLunge erkrankte kubanische Autor sie atemtechnisch für notwendig hielt, wäh-rend ja Cortázar […] die Interpuntion als ein Mittel nutzt, dem Text einen eigenenPulsschlag zu verleihen.“ (Einert 2018: 199). Wegweisend ist das Interpunktions-Problem für die Übersetzungen von Lispector-Texten, weil es auf ein generellesProblem der Übersetzungspraxis verweist und im Falle dieser Autorin gleichzeitigauch ein besonders wichtiges Charakteristikum literarischen Schreibens markiert,bewegt sich doch Lispectors Interpunktion immer wieder geradezu programma-tisch jenseits grammatischer Korrektheit.

Die erste Übersetzung, die ein Text Lispectors überhaupt erfuhr, war dieÜbersetzung ihres Debuts ins Französische bei Plon in Paris. Ihre Reaktion aufdie Übersetzungsfahnen und ihre diesbezügliche Korrespondenz mit dem franzö-sischen Verleger verweisen darauf, dass Fragen der Interpunktion zu den erstenmarkanten Punkten gehörten, in denen sich Lispector bezüglich der Überset-zungen ihres Werkes überhaupt äußerte (vgl. dazu ausführlich Kapitel 4.1.2).Man gewinnt angesichts der offensichtlichen Fehlleistung dieser Übersetzungden Eindruck: Nur wer ihr Werk und ihren sprachkritischen Anspruch verstan-den und verinnerlicht hätte, wäre in der Lage, eine Übersetzung zu finden fürihre eigenwilligen Texte, denen es wesenhaft eingeschrieben ist, eine gewisseIrritation hervorzurufen. Gerade bei einem solchen Werk wäre es von Vorteil,würde ein Übersetzer viele Texte einer Autorin übersetzen, sich in dieses Werkund seinen sehr eigenen Charakter17 hineindenken und – ja, insbesondere

17 Im Folgenden wird immer wieder vom „Charakter“ oder den „Charakteristika“ eines Wer-kes gesprochen. Die Übersetzerin Esther Kinsky verwendet mit Blick auf die Übersetzungs-Herausforderung in einem ähnlichen Sinne in ihrem Band Fremdsprechen. Gedanken zumÜbersetzen die Wendung „den Text zur Geltung bringen“ (Kinsky 2019: 72), sowie den Begriff„Wesen des Textes“ (Kinsky 2019: 59), verweist aber auch darauf, dass es keine einheitliche

2.2 Ästhetik 23

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auch -fühlen, wie es Cortázar fordert, wenn er Aufmerksamkeit für das „Irra-tionale“ literarischer Texte einfordert. Benjamin Moser, der den Roman TheHour of the Star ins Englische übersetzte, nachdem er über ein Jahrzehnt hin-weg sehr intensiv an seiner Biographie über Clarice Lispector gearbeitet hatte,spricht von den Echos der anderen Texte, die beim Übersetzen wichtig gewe-sen seien:

So one of the professional skills I have developed is not just translating from Portuguese,which is hard enough, but translating Clarice Lispector’s Portuguese, which is a verystrange, allusive, and poetic language. Doing it well requires knowing what she meanswhen she uses certain words in certain contexts. A lot of them wouldn’t be obvious if youweren’t familiar with the rest of her work – but it’s very important to keep the echoes there.

(Esposito 2011)

Es ist sicher für jede Autorin und jeden Autor günstig, eine Kontinuität mitguten Übersetzer/innen zu erleben, die sich demnach dann in das gesamte Werkoder in große Teile davon einarbeiten. In Clarice Lispectors Fall lässt sich bereitsfesthalten, dass häufige Übersetzerwechsel im Zusammenspiel mit den besonde-ren, durch ihre Ästhetik bedingten Anforderungen als besonders problematischgelten müssen.

In seiner stilistischen und linguistischen Studie A frase caótica (estructurada prosa moderna) analysiert Francisco de Assis Dantas Lispectors Debut Pertodo coração selvagem sowie drei andere Romane von Cornélio Pena, AntônioCallado und Autran Dourado, um die Funktion einer ,neuen Sprache‘ zu erfas-sen, die introspektive Romane aus Brasilien präge und von der oft gesagt wurde,sie habe die Brasilianische Prosa verändert. Er betont die besondere Bedeutungder Zeichensetzung in diesen Romanen, insbesondere in der Inszenierung desFragmentarischen und des Inneren Monologs (Dantas 1991). Ein solches Ver-ständnis brachten, so könnte man vereinfacht sagen, nur die wenigsten Überset-zer mit, wenn sie vereinzelt einmal einen Lispector-Text übersetzten. Und dieSchwierigkeit liegt nicht nur bei den Übersetzern, wie man sieht, wenn man nocheinmal auf den Fall der Neuübersetzung von The Hour of the Star (ausführlicherdazu Kapitel 4.3.3) eingeht. Die zuständige Verlegerin Barbara Epler beschreibtdie Zusammenarbeit mit dem Übersetzer Benjamin Moser – wohlgemerkt im Jahr2011, vor dem Hintergrund einer langen, wenn auch nicht sehr erfolgreichen in-ternationalen Übersetzungsgeschichte Lispectors seit 1954:

übersetzungstheoretische Begrifflichkeit für die hier gemeinten wesentlichen Eigenheiteneines literarischen Textes gebe, die es in der Übersetzung zu respektieren gilt.

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I am bent on fixing grammar and addressing various rough spots and making the Englishread as smoothly as possible (up to a point, of course, especially with a writer as radicalas Clarice). So, while I loved the energy and verve of his new translation, I still had manylittle fixes. And then I had to unbend my mind and, yes, bend my backbone. Because 95percent of my edits were rejected: as we spent a couple of hours on the telephone (afterhe’d read my scanned edit), a colleague was in my office as I gave up point after point;Ben would reply when I fixed a point of grammar: “Barbara, Clarice knew proper Portu-guese; she chose to splinter that construction” or “Barbara, Clarice could have made thatgrammatically correct: she chose not to!” I’d concede, muttering, “OK, OK … ” and I wellremember how my co-worker looked at me with pity as I was swatted down again andagain. Though in spots here and there Ben would remark, “Oooh, that’s a good one!That’s my mistake! Yes please fix that!” Ben is after the most radical and close-to-the-bone reproduction of Clarice’s original oddities. And for me, it took a new talent to acceptthat: having worked through the new translation overnight, fixing things, and then tomeet with such resistance, and then decide to be open-minded. (Esposito 2011)

Wenn ein Text sehr stark über die von Cortázar so benannte irrationale Ebenefunktioniert – ist es besonders herausfordernd, ihn zu übersetzen? Oder, umdie Erfahrung der zitierten Verlegerin aufzugreifen – ist es besonders herausfor-dernd, solche Übersetzungen zu respektieren? Die Übersetzerin Esther Kinskykommentiert in ihrem Band Fremdsprechen. Gedanken zum Übersetzen ihreErfahrung mit Verlagen bzw. Lektor/innen:

Die Frage, wie viel Bodensatz der Fremde in einer Übersetzung bleiben darf, wird seltengestellt. Einig ist man sich allgemein, dass das Urteil „Hört sich gar nicht übersetzt an!“,als höchstes Lob zu verstehen ist. Sollte das wirklich so sein, dass die Illusion der „Hiesig-keit“ eine Garantie für Qualität ist? (Kinsky 2019: 73)

Wie zentral das Thema des fremd Klingenden, des Irrationalen, des ,Pulsschlags‘eines Textes, der oftmals mit Fragen nach Satzbau und Interpunktion einhergeht,für Lispector-Übersetzungen ist, vermittelt der von Diane E. Marting herausgege-bene Band Clarice Lispector. A Bio-Bibliography, erschienen in der Reihe „Bio-Bibliographies in World Literature“. Darin finden sich kurze Kritiken zu denverschiedenen Übersetzungen von Lispectors Texten (die vor dem Publikati-onsjahr des Bandes 1993 erschienen sind). Sieht man sich darin einmal dieKommentare bzw. Kurzkritiken zu den Übersetzungen von A hora da estrelaan, lässt sich dies deutlich nachvollziehen. Der Text erschien im Oktober 1977,kurz bevor Clarice Lispector im Dezember desselben Jahres starb. Er gehört in-ternational zu den meistbesprochenen der Autorin (Peixoto 1993: 42).

1984 erscheint der Text zunächst in Paris bei Éditions des femmes in einerÜbersetzung von Marguerite Wünscher als L’heure de l‘étoile. In einem Kommen-tar zur Übersetzung, verfasst von der kanadischen Literaturwissenschaftlerin,

2.2 Ästhetik 25

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Journalistin und Übersetzerin Claire Varin, heißt es in Anspielung auf die Über-setzungsgeschichte in Frankreich:

This is another ethnocentric version which employs an excessive French and constantlytends to clarify the original by adding precision where vagueness is called for, by addingparaphrasing and by the imposition of a logical order of the writer’s thought. Lispector’sabrupt syntax has been smoothed out and her language is unnecessarily enriched. Theliterariness and endless embellishing are opposed to the author’s bare style of writing.

(Peixoto 1993: 43)

„Lispector’s abrupt syntax has been smoothed out“ – diesen Kommentar findetman so oder ähnlich bei vielen Kommentaren zu Übersetzungen von Lispector-Texten, insbesondere ins Französische, aber auch ins Englische. Dass ein abrupter,irritierender Rhythmus ausgeglichen wird – die Tendenz ist das, was LispectorsTexten wohl am häufigsten als Eingriff im Sinne einer ,schlechten‘, den ,Puls-schlag‘, das ,Irrationale‘ ihrer Texte nicht respektierenden Übersetzung widerfah-ren ist.18 In einer weniger ausgeprägten Form findet sich diese Tendenz lautKurzkritik von Tanya T. Fayen in der englischsprachigen Version The Hour of theStar, die 1986 erstmals in der Übersetzung von Giovanni Pontiero erschien. Fayenschreibt:

The translation faithfully reproduces the succinct prose and masculine voice of the origi-nal. However, Pontiero’s policy of reparagraphing and condensing or reordering Lispec-tor’s abrupt, staccato paragraphs and sentences is widespread and creates a smoother,yet altered English version. Occasionally, pronoun shifts misattribute phrases. None-theless, Lispector’s unique style and vision shine through. (Peixoto 1993: 43)

Die Rezeptionsgeschichte im englischen Sprachraum zeigt das Potential diesesTextes, dem nach dem frühen Tod der Autorin 1977 noch einmal besondere Auf-merksamkeit des Lesepublikums zuteil wurde. Wie sieht die Kritik der Überset-zung dieses Textes ins Spanische aus? Gibt es auch dort die Tendenz, den Textin bestehende Sprachkonventionen einzupassen, ihn „smoother“ zu gestaltenund damit wesentliche Charakteristika des Originals nicht mit zu übersetzen?

1989 erschien in Madrid bei Siruela die spanischsprachige Übersetzung ausder Feder von Ana Poljak. Tanya T. Fayen schreibt diesbezüglich: „Poljak’stransparent translation, in a lovely hardbound edition, is a pleasure to read. TheSpanish flows as smoothly or roughly as the Portuguese; the original rhythm,

18 Der Roman ist bereits 1985 auch auf deutsch in Curt Meyer-Clasons Übersetzung erschienenals Die Sternstunde. Der Kommentar dazu bei Marting ist allerdings sehr oberflächlich undmehr auf Fragen der „Korrektheit“ der Übersetzung bezogen, ähnlich wie der Kommentar zur1988 auf Holländisch erschienenen Ausgabe ist dies bezüglich der hier behandelten Aspektenicht weiter aussagekräftig.

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emphasis and punctuation are left intact. Only rarely does Portuguese word choicepass into Spanish: this is Clarice Lispector as she would have written in Spanish”(Peixoto 1993: 43).

Unter Rückbezug auf die bereits ausführlich dargelegte These RemingtonKrauses – Misserfolge in den USA beruhen im Falle mehrerer lateinamerikani-scher Autoren auf schlechten Übersetzungen, brasilianische Literatur sei in be-stimmten Fällen besonders unzureichend übersetzt – ist es zumindest interessantzu sehen, dass im spanischsprachigen Bereich – dem einzigen Sprachraum, indem Lispector teilweise (vgl. Argentinien) ähnlichen Erfolg hatte wie in Brasilienselbst – offenbar zu diesem wichtigen Zeitpunkt eine besonders gute Übersetzungvorlag.

2.3 Gender

Zu der Zeit, als man in den USA gerade begonnen hatte, Clarice Lispector neuzu entdecken und die US-amerikanische Rezeptionswelle ihrem Höhepunkt ent-gegenstrebte, erschien der Roman The Blazing World (2014) der US-amerikani-schen Autorin Siri Hustvedt. In diesem fiktiven, teils essayistischen Text (dt.:Die gleißende Welt, 2015) befasst sich Hustvedt mit dem männlich dominiertenNew Yorker Kunstbetrieb. Der deutsche Verlag schreibt auf dem Buchumschlagüber den Inhalt des Romans:

“Die gleißende Welt” ist der Titel eines utopischen Romans von Margaret Cavendish, dieim 17. Jahrhundert als eine der ersten Frauen überhaupt unter ihrem eigenen Namen pu-blizierte. Als frühe Universalgelehrte ist sie Vorbild und Idol von Harriett Burden, derWitwe eines einflussreichen New Yorker Galeristen. Nach dessen vorzeitigem Tod in densiebziger Jahren beginnt Harriett – in der öffentlichen Wahrnehmung nichts als die Frauan der Seite des berühmten Mannes, aber in Wahrheit hochtalentiert – ein heimliches Ex-periment: eine Karriere als Installationskünstlerin, die sich hinter dem angeblichen Werkdreier männlicher “Masken” verbirgt, das in Wahrheit sie selbst erschaffen hat.

(Hustvedt 2015)

Tatsächlich feiern alle drei Künstler schon bald beträchtliche Erfolge, währendHarriet Burden unbekannt bleibt, allerdings erzählt Hustvedt nicht nur von derMarginalisierung, sondern auch von der Selbstsabotage der dahinterstehendenKünstlerin, die letztlich mit ihrem Experiment scheitert und das Geschaffenenicht mehr für sich reklamieren kann. Neben der Romanhandlung sind vorallem die ausführlichen Recherchen und Reflexionen zu Gender-Dynamiken inder New Yorker Kunst- und Literaturszene von Bedeutung, in deren Kontextman die Rezeption von Clarice Lispector problemlos einfügen könnte. Auch sieist zu Lebzeiten in den USA nicht weiter beachtet worden – Lispector lebte viele

2.3 Gender 27

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Jahre in Washington, nicht in New York, und schrieb auf Portugiesisch, aller-dings gab es Übersetzungen – bevor es zu einem postumen Erfolg 30 Jahre nachihrem Tod kam. Rosemary Lerner, eine (ebenfalls fiktive) Wissenschaftlerin, diesich mit Harriet Burdens Werk beschäftigt, schreibt:

Dann ist da noch die Sache mit dem Geschlecht. Frauen haben oft länger gebraucht alsMänner, um in der Kunstszene Fuß zu fassen. Die außergewöhnliche Alice Neel arbeiteteohne viel Beachtung, bis sie über siebzig war. Louise Bourgeois hatte ihren Durchbruchmit der Ausstellung im MOMA 1982. Da war sie siebzig. Wie Burden wurden diese Frauennicht ignoriert, erlangten aber erst spät in ihrer Karriere herausragende Anerkennung.

(Hustvedt 2015: 98)

Diese Worte treffen sehr genau auch die Situation von Clarice Lispector, die1977 einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag starb, kurz nachdem sie in der portugie-sischsprachigen Welt als Autorin breitere Anerkennung erfahren hatte und vieleJahre, bevor sie zu internationaler Bekanntheit gelangte. Allerdings ist es nicht ein-fach, Lispectors Rezeptionsgeschichte aus dem hier dargestellten allgemeinen undin Hustvedts Bearbeitung ja auch teils fiktiven Kontext herauszulösen und ganzkonkret die Frage zu beantworten, welche Rolle es für ihre Rezeptionsgeschichtespielte, dass sie eine Frau war. Die Frage danach, wie sehr und auf welche Weisees bei den Verzögerungen und Schwierigkeiten in der internationalen Zirkulationund Rezeption von Clarice Lispectors Werk um Gender-Themen ging, ist also sozentral wie schwer zu beantworten. Genau genommen stellen sich zwei Fragen.Zum einen: In welcher Weise bedingte die postume Rezeption und Verbreitungvon Clarice Lispectors literarischem Werk durch feministische Netzwerke und Ver-lage ihre Publikations- und Rezeptionsgeschichte im Ausland? (Damit zusammen-hängend auch: War Clarice Lispector selbst Feministin?) Zum anderen: WelcheRolle spielte Lispectors Sonderstellung als Frau zu ihren Lebzeiten in einem ma-chistisch geprägten System?

Feministische Ästhetik? Labels und Lispectors ,Antibelletristik‘

In einem Interview mit verschiedenen Lispector-Expert/innenen hat Scott Espo-sito die viel besprochene Frage nach dem Feminismus Lispectors vor einigenJahren neu aufgeworfen:

On the one hand, her books seem extremely well-suited to the ideas typically associatedwith feminist thought. But on the other hand, her work seems like such an outlier – andher life itself was so strange – that I’m hesitant to lump her in there with authors whowere working more consciously as feminists. So I’d like to ask you how you see her work –feminist or not. (Esposito 2011)

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Die antwortenden Expert/innen sind sich einig darüber, dass es Lispectors Litera-tur nicht entspreche, sie mit politischen Labels zu versehen, das Feminismus-Label und Lispector seien wie „a cage in search of a bird“, meint die VerlegerinBarbara Epler. Benjamin Moser, der ebenfalls zu der Runde der Interviewten ge-hört, räumt ein:

That said, she was most definitely a feminist. She was one of the very first women lawgraduates in this country. She was one of the very first female journalists. She was Brazil’sfirst great woman writer and a great deal of her work centers on women and women’slives. But I think that her feminism came more from a general belief in the dignity andequality of all people – powerfully engrained, and based on the early experience of seeingher family destroyed by racism – than to the kind of political feminism that one sees inwriters who were her contemporaries. (I’m thinking of people like Simone de Beauvoir.)

(Esposito 2011)

In Frankreich war man diesbezüglich zeitweise ganz anderer Meinung. Die Ver-einnahmung durch den französischen Feminismus insbesondere in den 1980erJahren ist inzwischen, zumindest in Ansätzen, kritisch aufgearbeitet worden.Ab 1980 erfolgt laut Russotto gleichzeitig die

[…] consagración internacional, y una relectura en clave feminista. Se insiste en la ‘gende-rización’ de su temática, de acuerdo a los modos de significar el mundo, y al evidenciarobsesivamente el mismo lugar de enunciación desde el cual se emite la voz narrativa. Sehace cada vez más referencia a la representación de conflictos identitarios, a la presenciaconstante del orden femenino no sólo en la anécdota sino en la misma técnica composi-tiva radial, descentrada, y en una visión de la sexualidad cósmica e indiferenciada.

(Russotto 2013: 28–29)

Russotto beschreibt diese Rezeption im Kontext des Feminismus und die Detailsder verschiedenen Ansätze bzw. Rezipient/innen, dann kommt sie zu der, ge-rade was die Lispector-Rezeption angeht, in Frankreich sehr einflussreichen Au-torin und feministischen Literaturwissenschaftlerin Helène Cixous: Russotto fasstsie unter die Rubrik der „diálogos cómplices, identificaciones, escenas y recreacio-nes de su mismo universo transpuesto a otros ámbitos” (Russotto 2013: 32). Sehrbekanntes Beispiel ist die Arbeit Vivre l’Orange (1979) von Helène Cixous.

Cixous spielte zu dieser Zeit eine herausragende Rolle im französischenakademischen und literaturkritischen Feld und ist Lispectors bekannteste Für-sprecherin in diesen Jahren. Sie entwickelte ihr Konzept der „écriture fémenine“inspiriert von Lispectors Werk, oder wie Russotto formuliert: „basándose en lainstrumentalización creativa de varios textos de Clarice“ (Russotto 2013: 32).Das Stichwort „Instrumentalisierung“ ist hier zentral, denn genau die Instru-mentalisierung dieser Inspirationen an Lispector ist es, was der Autorin letz-lich geschadet hat, weil sie eine einseitige Rezeption durch Autorinnen mit

2.3 Gender 29

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feministischen Positionen befördert hat und es nur noch vermeintlich die Textevon Lispector sind, die hier im Zentrum stehen. Kommentiert hat diesen Effektauch Rosemary Arrojo:

Cixous’s feminist approach to reading which professes to treat the texts as well as the au-thorial name of Clarice Lispector with ‘extreme fidelity’ and outside the traditional opposi-tion between dominant and subaltern, is far from letting the alterity of Lispector’s workspeak as such and, in fact, ends up celebrating its own interests and goals.

(Arrojo 1999: 144)

Ebenfalls in diese Richtung eines mangelnden Respekts gegenüber den Urhe-berrechten der Autorin geht folgende allgemeine Feststellung zur Publikationspra-xis: „Las antologías, por ejemplo, suelen ser una fiesta de la máxima libertad, confechas y títulos libremente alterados” (Russotto 2013: 27).

Zu Recht fragt Arrojo allerdings auch: „[…] is it possible for a self-professedpacifistic, protective reading not to be also an interfering translation?” (Arrojo1999: 144). Es ist sicher richtig und auch sehr wichtig, die so wirkungsmächtigeRezeption durch Hélène Cixous unter diesen beiden Aspekten, zwischen diesenPolen zu sehen: Es gibt Aspekte der ganz klaren Instrumentalisierung und solche,die mehr in Richtung einer interferierenden Übersetzung gehen. Inzwischen lie-gen hervorragende Arbeiten zu den Texten Lispectors vor, die im Kontext desfranzösischen Feminismus rezipiert worden sind. So hat etwa Ottmar Ette (2021)eine sehr aufschlussreiche Perspektive auf Lispectors Text Uma aprendizagem ouO livro dos prazeres von 1969 formuliert. Er schreibt: „Was Clarice Lispector andieser frühen Stelle ihres Experimentaltextes einführte, ist die Sprache des Kör-pers, mehr noch, des weiblichen Körpers, welche in den Diskursen der sechzigerund siebziger Jahre unter dem Druck neuer feministischer Theoriebildungen inder Tat von größter Bedeutung wurde“ (Ette 2021: 714). Er verweist darauf, dasssich solche Ansätze nicht nur bei weiblichen Autorinnen finden und macht Paral-lelen zu Theoremen von Roland Barthes aus. Weiterhin erläutert er einige Punkte,die weit über diesen spezifischen Text Lispectors charakteristisch für ihr Schaffensind:

Auf diese kunstvolle Weise enthält der Text schon von seiner experimentellen literarischenForm her ungeheuer viele Unbestimmtheits- und Leerstellen, was viele Feministinnen dersechziger und siebziger Jahre nicht zufriedenstellen konnte, richtet dieser autofiktionaleRoman doch keinerlei Kampfansage an den patriarchalischen, männlichen Diskurs in einemoffenen, militanten Sinne. Der männliche Diskurs zielt […] vermittels des männlichen Blicksja nicht weniger als der weibliche auf den weiblichen Körper, der zentral gestellt wird. Aller-dings sind die Formen der Distanzierung – also der Ironie, des Pastiche und der Parodie – sokunstvoll in diesen Text eingewoben, dass es schwerfällt, ihn in einen Thesenroman zurück-zuübersetzen. Denn dafür taugt Clarices starker autofiktionaler Roman über komplexe Selbst-findungsprozesse nicht! (Ette 2021: 717)

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Dass Lispectors Ästhetik nur sehr bedingt als ,feministisch‘ bezeichnet werdenkann, bedeutet nicht, dass das Label ,Feminismus‘ für ihre Publikationsgeschichtenicht sehr entscheidend gewesen wäre. Wäre sie international überhaupt bekanntgeworden ohne den französischen Verlag Édition des femmes? Auch in Deutsch-land war es ein Frauenbuchverlag, der in Reaktion auf die französische Ausgabeals erster die Rechte an ihrem Roman Die Passion nach G.H. kaufte – und hier zeigtsich, wie sehr das Label des Feminismus ihr auch geschadet hat: Nicht nur, weilsie bei Lilith in Berlin nicht sehr professionell übersetzt wurde, sondern auchwegen der Hindernisse, die dieser Rechtekauf für den nächsten interessiertenVerlag bedeuten sollte, für Suhrkamp – dort musste man jahrelange Verhand-lungen um die Rechte und aufwändige Überarbeitungen bestehender Überset-zungen in Kauf nehmen. 2011 stellte ein Literaturkritiker der Neuen ZürcherZeitung entsetzt fest, dass kein einziger der Texte Clarice Lispectors – die so-wohl bei Suhrkamp als auch bei Rowohlt erschienen waren – auf deutschmehr lieferbar sei, und befasste sich mit den Hintergründen dessen. „Der mili-tante französische Feminismus vereinnahmte sie ebenso fahrlässig wie effizi-ent als wegbereitende Vordenkerin“ schreibt Felix Philipp Ingold (2011), „währendsie in Deutschland vorab als Exponentin der in der in den achtziger Jahren neu er-schlossenen Kunstprosa Südamerikas wahrgenommen wurde“. Dieser Kommentarspielt auch auf programmatische Entscheidungen des Suhrkamp-Verlages in den1970er/80er Jahren hinsichtlich einer Auswahl lateinamerikanischer Literatur fürdas deutschsprachige Publikum an, in dessen Kontext Lispector verlegt wurde. Diegenannten Zuordnungen haben nicht „funktioniert“, sie passten nicht zu demWesen ihrer Texte. Diese Beobachtung versucht Ingold in mehreren Anläufen,so könnte man sagen, zu konkretisieren. 2011 schildert er zunächst die miss-glückte Rezeptionsgeschichte, der er die Einzigartigkeit des Lispector’schenWerkes gegenüberstellt, das er als kunstskeptisch beschreibt:

Lispector selbst hat sich derartigen Zuordnungen stets widersetzt, war keiner Schule, kei-nem Trend verpflichtet, und lehnte das Gemachte, das ,Literarische‘ an der Literatur kon-sequent ab, da ihr die Authentizität, Sensualität, Spontaneität des Schreibens wichtigerwar als der Kunstcharakter des Geschriebenen. Zu den staunenswerten Qualitäten ihrerTexte gehört gerade die Tatsache, dass sie in stilistischer wie kompositorischer Hinsichtzwar mangelhaft ausgearbeitet sind, dass aber ebendiese künstlerische Unbedarftheit sofrisch und dreist und wahrhaftig zur Wirkung kommt wie in manchen Werken der so ge-nannten primitiven Kunst. (Ingold 2011)

Als anlässlich des Länderschwerpunktes Brasilien der Frankfurter Buchmesse2013 eine Übersetzung von Mosers Lispector-Biographie sowie zwei Romaneim deutschen Verlag Schöffling & Co erscheinen, spricht Ingold (2013) voneinem „Werk, das in seiner Antibelletristik einzigartig dasteht“, nennt es „ihr

2.3 Gender 31

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sperriges, dunkles, unmittelbar faszinierendes und doch kaum fassbares Werk“.Er zitiert Lispector aus einem Essay:

„Ich erzählte niemandem davon“, gestand sie in einem kleinen Essay über ihre literari-sche Arbeit: „Ich durchlebte diesen Schmerz allein. Das Schreiben ist mir immer schwer-gefallen, auch wenn der Ausgangspunkt das war, was man eine Berufung nennt. Mankann eine Berufung haben, aber keine Begabung, das heißt gerufen werden, aber nichtwissen, wie man den Weg zurücklegen soll.“

(Ingold 2013, vgl. auch Moser 2013a: 107–108)

Das ist das Zentrum von Lispectors Ästhetik, könnte man vereinfachend sagen:Das Ringen um einen neuen, noch unbeschrittenen Weg. Es spielt dabei eine„antibelletristische“ Haltung von Clarice Lispector sicherlich eine wesentlicheRolle, ein Bruch mit tradierten belletristischen Erzählweisen, der dazu beigetra-gen hat, dass der Erfolg beim breiteren Lesepublikum so lange ausblieb.

Lispectors Biographie und die Marginalisierung von Frauen

Als 1967 zum ersten Mal eine Monographie Clarice Lispectors auf Englisch er-schien, wurde die Sonderstellung, die sie als Frau innehatte, in den Reaktionender Literaturkritik deutlich. Bei dem Band handelt sich um die bei Alfred A.Knopf erschienene Übersetzung des Romans A maçã no escuro, in dem die Iden-titätssuche der zentralen Figur Martim verhandelt wird. Auch wenn sehr vielevon Lispectors Texten um Frauenfiguren kreisen, ist sie sowohl in Frankreichals auch in der englischsprachigen Welt von namhaften Verlagen (Gallimard,Knopf) erstmals mit einem Text publiziert worden, dessen zentrale Figur einMann ist. Man sehe sich einmal an, was The New York Times Book Review unterdem Titel „Afraid to be Afraid“ publizierte: Der Autor und Journalist CourtlandtDixon Barnes Bryan sieht Lispector zwar als „inspired and, at times, beautifulwriter“ aber bemängelt unter anderem, dass keine weibliche Schriftstellerin inder Lage sei, eine männliche Identitätssuche zu porträtieren (Bryan 1967). Vonähnlichen Vorbehalten berichtet der Übersetzer Rabassa, wenn er beschreibt,welches Unverständnis ihm entgegengebracht wurde, weil er die Prosa einerFrau übersetzte: „As we entered the age of assorted chauvinism I was continu-ally asked if I had found any problems in translating a female author“ (Rabassa2005: 73). Darüber hinaus erzählt er:

I heard that the editor at Knopf was outraged at the audacity of a female writer to have amale protagonist (actually, the two women involved in the story could be said to share thatrole to a large extent). I wondered why he wasn’t upset that I, a male, dared to translate a

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novel written by a female author, and shouldn’t recrimination have been directed at Tolstoiand Flaubert among so many others? (Rabassa 2005: 73)

Es gab, das wird anhand dieses kurzen Beispiels deutlich, im Alltag ungeheureHürden und Vorbehalte zu überwinden, die mit Clarice Lispectors Literatur selbstzunächst einmal sehr wenig zu tun hatten. Spätere Kommentare zu diesem einzi-gen Roman, der zu Clarice Lispectors Lebzeiten ins Englische übersetzt wurde,haben die immense sprachliche Innovationskraft des Romans gewürdigt, ein As-pekt, der offenbar lange von genderbedingten Vorbehalten verdeckt und kaumwahrgenommen worden ist.19 Die vereinzelten Publikationen von Übersetzungenzu A maçã no escuro in renommierten Verlagen der westlichen Welt sind ohne grö-ßere Aufmerksamkeit zu erzeugen wieder in Vergessenheit geraten.20 Erst mit demkontinuierlichen Engagement des feministischen Pariser Verlages Éditions desfemmes ab dem Ende der 1970er Jahre (und übrigens auch mit Texten, die diePerspektiven von Frauen transportieren, A maçã no escuro ist dort nicht erschie-nen) geriet Lispectors Gesamtwerk mehr in den Blick.

Unter den wenigen Autorinnen und Autoren, die sich überhaupt mit der Be-deutung von Genderaspekten hinsichtlich der Verbreitung von Lispectors Werkbeschäftigt haben, sticht Lispectors englischsprachiger Biograph Benjamin Moserdeutlich heraus. Moser, der nach dem Erfolg seiner Biographie Lispectors TheHour of the Star selbst neu übersetzte und zudem zum Herausgeber ihres Wer-kes in den USA wurde, kombiniert eine immense Detailkenntnis zu Lebenund Werk Lispectors mit Einschätzungen zu den globalen, den weltliterari-schen Zusammenhängen, in denen dieses Werk zu sehen ist. Unter anderemreflektiert er die im Kontext dieser Studie so unumgängliche wie schwer zubeantwortende Frage: Was bedeutete es für Clarice Lispectors Werk und fürseine Rezeption, dass sie eine Frau war? Eine Frage, die unter anderem des-halb nur unzureichend beantwortet werden kann, weil es kaum sinnvolleVergleichsmöglichkeiten gibt. Zwar wird Lispector mitunter als eine „verges-sene Autorin des Boom“ lateinamerikanischer Literaturen im 20. Jahrhundertbezeichnet, mitunter zusammen mit der mexikanischen Autorin Elena Garro ge-nannt (Thays 2012), letztlich gibt es aber keine weiterreichenden Untersuchungen

19 Nancy Gray Diaz schreibt: „Some of the best criticism of ME [A maçã no escuro, AnmerkungLMK] focuses on Clarice’s innovative use of language and on her thematics of language. MElike PGH [The Passion according to G.H., Anmerkung LMK], problematizes the spoken – and,by extension, the written – word as that which coincides with cognition of otherness, but sincethat otherness is made dramatically unfamiliar by the caracter’s existential crisis, the word isno longer adequate to express the sensation or the thing.” (Marting 1993: 95).20 Sehr vereinzelt wird der Roman allerdings auch im 21. Jahrhundert noch übersetzt, so etwa2019 ins Schwedische (Tranan, Stockholm).

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zu Clarice Lispector in diesem Kontext und auch keine andere Frau aus Latein-amerika, die zeitgleich ein ähnlich komplexes und innovatives Werk geschaffenhätte wie Clarice Lispector. Moser schreibt an einer Stelle, er habe nie herausge-funden, woran es gelegen habe, dass Lispector nicht früher erfolgreicher auch imAusland publiziert und bekannt wurde. Sie werde allein in Brasilien und Latein-amerika „gebührend gewürdigt“:

Außerhalb Lateinamerikas sieht das bedauerlicherweise ganz anders aus, und ich habemich lange gefragt, warum sie im Rest der Welt so unbekannt ist. Das ist auch deswegenungewöhnlich, weil Clarice Lispector als Ehefrau eines Diplomaten viele Jahre im Auslandverbrachte, in der Schweiz, Italien, England und den USA, wo viele ihrer Romane und Erzäh-lungen entstanden. Liegt es etwa daran, dass sie auf Portugiesisch schrieb, einer Sprache,deren literarische Werke außerhalb ihres eigenen Verbreitungsgebiets so wenig wahrgenom-men wurden, dass man sie als „Grab des Geistes“ schalt? Oder liegt es daran, dass man eineFrau und Mutter zweier Söhne, die sich nach ihrer Scheidung gelegentlich mit Schönheits-tipps ihr Geld verdiente und deren Chanel-Kostüme und modische Sonnenbrillen sie alsDame der High Society von Rio auswiesen, nicht als mystisches Genie und Intellektuelle er-kannte? Oder liegt es vielmehr gerade daran, dass sie als Jüdin so wenig dem literarischenKlischee entsprach, demzufolge ein lateinamerikanischer Autor jemand mit einem Schnurr-bart zu sein hat, der Geschichten vom Urwald und aus den Favelas erzählt? Warum der ge-wöhnliche Leser Clarice Lispector nicht kennt, habe ich nicht herausgefunden, aber währendmeiner Recherchen entdeckte ich, dass viele berühmte Schriftsteller oft über Jahre eine heim-liche Leidenschaft für sie hegten. (Moser 2013b: 25)

Mit dieser Haltung – er wisse nicht, woran es letztlich liege, dass sie internatio-nal nicht bekannter wurde – beugt Moser einer einseitigen Darstellung der un-gewöhnlichen Erfolgs-/Misserfolgsgeschichte Lispectors als gänzlich auf ihrenSonderstatus als Frau in einer damals noch fast ausschließlich von Männern do-minierten Verlagswelt zu Recht vor. Von Interesse ist in diesem Zusammen-hang auch, auf welche Weise er selbst hier wie auch an anderen Stellen dieFrau Lispector mit ihrem Werk vermischt (Moser 2015 a/b) und „Clarice“ alsSynonym für beides als ,Geliebte‘ inszeniert. In einem Roundtable-Gesprächmit der amerikanischen Verlegerin Barbara Epler (New Directions) und dembritischen Filmproduzenten David Randall erläutert er gegenüber dem Journa-listen Scott Esposito: „When you read for a living, so as you and I do, it’s so-metimes hard to remember how meeting a book can be like meeting a lover,but that is what I felt. From the very first lines […] I just fell in love with her.“(Esposito 2012). Moser nutzt die Effekte einer solchen Inszenierungsweise derFrau Lispector, um Aufmerksamkeit für die längst verstorbene und vielerortsvergessene Autorin zu erzeugen. Dabei inszeniert er nicht nur das eigene Ver-hältnis zu der Autorin als Liebesgeschichte, er wählt unter den prominentenVerfechtern von Lispectors Werk auch andere Männer aus, die ihre Bewunde-rung ähnlich emotional und genderspezifisch formulieren. Als Beleg für ihre

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Relevanz führt er keine Frau, aber zwei Männer an: Orhan Pamuk, der ThePassion according to G.H. gelesen habe und von der Autorin fasziniert sei.„Und der berühmte mexikanische Romancier und Drehbuchautor GuillermoArriaga ist davon überzeugt, dass man Clarice Lispector nicht lesen kann,ohne sich in sie zu verlieben“ (Moser 2013: 25).

Clarice Lispector hat 85 Kurzgeschichten geschrieben, die 2015 erstmals ge-sammelt in einem Band in einer englischen Übersetzung erschienen (Lispector2015). Moser, der Herausgeber dieses Bandes ist, hat darauf hingewiesen, dassdiese Zusammenschau ihrer Erzählungen von entscheidendem Interesse für dasVerständnis ihres Werkes und seiner literaturgeschichtlichen Bedeutung sei, weilsie eine besondere Charakteristik und Leistung Lispectors sichtbar mache:

It is an accomplishment of whose historical significance the author herself cannot havebeen aware, for it could only appear retrospectively. And its force would be considerablydimished if it was an ideological expression rather than a natural outgrowth of the aut-hor’s experiences. This accomplishment lies in the second woman she conjures. ClariceLispector was a great artist; she was also a middle-class wife and mother. If the portrait ofthe extraordinary artist is fascinating, so is the portrait of the ordinary housewife, whoselife is the subject of the stories. As the artist matures, the housewife, too, grows older.When Lispector is a defiant adolescent filled with a sense of her own potential – artistic,intellectual, sexual – so are the girls in her stories. When, in her own life, marriage andmotherhood take the place of precocious childhood, her caracters grow up, too. When hermarriage fails, when her children leave, these departures appear in her stories. When theauthor, once so gloriously beautiful, sees her body blemished by wrinkles and fat, her ca-racters see the same decline in theirs; and when she confronts the final unravelling of ageand sickness and death, they are there beside her. (Moser 2015a: 12–13)

Moser zieht aus all dem eine weitreichende Schlussfolgerung: „This is a recordof woman’s entire life, written over a woman’s entire life. As such, it seems tobe the first such total record written in any country” (Moser 2015a: 13).

Er präzisiert diese Beobachtung noch:

A wife and a mother; a bourgeois, Western, heterosexual woman’s life. A woman who wasnot interrupted: a woman who did not start writing late, or stop for marriage or children, orsuccumb to drugs or suicide. A woman who, like so many male writers, began in her teensand carried on to the end. A woman who, in demographic respects, was exactly like most ofher readers. Their story had only been written in part. Before Clarice, a woman who wrotethroughout her life – about that life –was so rare as to be previously unheard-of.

(Moser 2015a: 13–14)

Moser selbst kommentiert: “The claim seems extravagant, but I have not identi-fied any predecessors” (Moser 2015a: 14). Er gibt einige Beispiele erfolgreicherFrauen, von denen er Lispector abgrenzt: “Edith Wharton was far from middle-class; Colette hardly lived, or wrote about, a conventional bourgeois life. Others

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– Gabriela Mistral, Gertrude Stein – had, like many male writers, wives of theirown.” Moser kommentiert, wie sich Lispector mit den Schwierigkeiten weibli-cher Rollenvorgaben und auch mit praktischen Auseinandersetzungen, die eineDoppelrolle als Mutter und Schriftstellerin mit sich brachte, in ihren Erzählun-gen auseinandersetzte. Er kommentiert auch einen Zusammenhang ihrer Publi-kationsschwierigkeiten mit ihrem Geschlecht:

Like so many women writers everywhere, Clarice was ignored by publishers, agonizingly,for years on end. As even the greatest women were, she was consistently placed in a sepe-rate (lower) category by reviewers and scholars. (As late as the 1960s, Virginia Woolf her-self was rarely found on syllabi). Clarice persisted anyway, once remarking that she didnot enjoy being compared to Virginia Woolf because Woolf had given up: “The terribleduty is to go to the end.” (Moser 2015a: 14–15)

Sucht man nach Vergleichspunkten oder auch einer Möglichkeit zur Überprüfungvon Mosers Thesen innerhalb der brasilianischen Literatur, stößt man auf den2016 erschienenen Band Elas por Elas. Histórias de mulheres contadas por grandesescritoras brasileiras, der folgende Autorinnen vorstellt, die in ihren Texten Erfah-rungen von Frauen literarisieren: Clarice Lispector, Rachel de Queiroz, NélidaPiñon, Adriana Falcão, Lygia Fagundes Telles, Ana Cristina Cesar, Maria ValeriaRezende, Adélia Prado, Cíntia Moscovich, Pagu, Livia Garcia-Roza (Strausz 2016).Vergleichbar wäre Lispector im Hinblick auf ihre Biographie am ehesten mit Né-lida Piñon, Rachel de Queiroz, Adélia Prado und Lygia Fagundes Telles. LuisaTrias Floch hat Lygia Fagundes Telles als „hermana literaria“ von Clarice Lispectorbezeichnet (Trias Floch 2006: 309), was die Inszenierung weiblicher Innensichtenbetrifft. Antonio Maura zeigt auch die Grenzen dieses Vergleichs auf innerliterari-scher Ebene auf, die beiden Autorinnen unterscheiden sich, so Maura, fundamen-tal in der „problemática de sus personajes“ (Maura 2014: 87); er verweist auf dieTranszendenz-Thematik bei Lispector. Selbstverständlich gibt es unter den vielenPublikationen zu Lispectors Werk auch andere Vergleiche mit weiblichen Intel-lektuellen/Autorinnen, wie z. B. eine Studie von Myriam Jiménez Quenguan, dieMaura erwähnt und die Lispector mit Teresa de Jesús und María Zambrano kon-textualisiere (Maura 2014: 56). Allerdings findet sich keine Autorin, die in ebensolcher Weise wie von Moser beschrieben die für Lispector benannten, charakte-ristischen biographischen Merkmale zusammenbrachte und zugleich eine Konti-nuität im Schreiben erreichte.

Sicher ist einer der Gründe für dieses Durchhalten, dieses Nicht-Verstum-men Clarice Lispectors im Gegensatz zu so vielen anderen Frauen ihrer Zeitauch in den ganz konkreten Umständen ihrer Biographie zu suchen. Kurz nach-dem ihr Debutroman erschienen war, heiratete sie einen Diplomaten, durchdessen Beruf bedingt sie viele Jahre in Europa und den USA lebte. Zwar konnte

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sie in Brasilien an ihren frühen schriftstellerischen Erfolg zunächst nicht an-knüpfen und geriet eine Zeitlang in Vergessenheit, gleichzeitig hatte sie aberanders als viele andere Frauen ihrer Zeit die Möglichkeit, auch nach der Geburtihrer Kinder weiterhin zu schreiben – ein dringendes Bedürfnis, gerade im Aus-land, wo sie sich oft sehr einsam fühlte. Auch wenn sie unter ihrem Exil als Diplo-matenfrau gelitten hat, hatte sie in den 15 Jahren ihrer Abwesenheit von Brasilien(1944–1959) täglich die Möglichkeit und den Raum, zu lesen und zu schreiben,weil sie Vollzeit-Angestellte hatte und weil sie keinem Brotberuf nachgehenmusste. Moser stellt ganz richtig fest, dass es schwer vorstellbar wäre, dassdas in dieser Zeit entstandene literarische Werk einer Mutter von zwei Kindernneben einer Berufstätigkeit als Journalistin hätte entstehen können. Später,nach der Trennung von ihrem Mann und mit den beiden Söhnen zurück inBrasilien, arbeitete sie dann als Journalistin, daher diese Überlegung: „But de-spite its disadvantages, perhaps exile – this series of exiles – explains how she ma-naged to write” (Moser 2015a: 18). Sie selbst berichtete nach ihrer Scheidung vonGeldschwierigkeiten, trotz ihrer Arbeit als Journalistin und der monatlichen Über-weisungen ihres Exmannes. Diese Umstände von außen und im Nachhinein einzu-schätzen ist sicher nicht einfach, gerade durch die schwere Krankheit ihres älterenSohnes – er litt an Schizophrenie und benötigte enge Betreuung – fast unmöglich.Feststellen lässt sich aber doch: Sie hatte und nutzte die Möglichkeit, weiterzu-schreiben, zumal Lispector eine erfahrene Schriftstellerin und Journalistin gewor-den war und auch ihre literarischen Texte in der Regel sehr viel schneller verfassteals in den ersten Jahren. Maura betont die Tragweite eines weiteren Konventions-bruch unter vielen in Lispectors Leben, indem er darauf verweist, dass es in den1950er Jahren in Brasilien in bestimmten Gesellschaftsschichten zwar akzeptiert ge-wesen sei, dass eine Frau ihren Mann für einen anderen verlasse, dass sie aber mitihrer Entscheidung, allein zu leben bzw. auch um ihrer Arbeit willen eine Tren-nung zu forcieren, ein gesellschaftliches Tabu gebrochen habe und keinerlei gesell-schaftliche Anerkennung erwarten konnte (Maura 2014: 60).

Auch literarisch, das betont Moser wie so viele andere Kritiker auch, warLispector ungewöhnlich stark auf sich gestellt: „Clarice was fundamentally wit-hout a tradition. She was an immigrant, and though she had the ancient EuropeanJewish Tradition behind her, that world, particularly in the tiny shtetl where shewas born, was not easily adaptable to modern urban lives. And in the literature ofthe language she wrote, the subject of modern women no more existed than didwoman writers themselves” (Moser 2015a: 16). Die große Faszination und auch dieIrritation, die ihr Debut auslöste, ist immer mit der Innovationskraft zusammenzu-denken, die Lispector damals mitbrachte.

Moser versucht auch eine Art Vergleich: Die beschriebenen Lebensumstände –keine Notwendigkeit des Broterwerbs über viele entscheidende Jahre, die Freiheit

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zum Schreiben, eine fundierte Bildung21 – hatten auch andere Frauen ihrer Zeit inBrasilien:

Why, then, did so few develop their talents? Most were trapped inside the structures thatblocked women everywhere: lack of education and forced motherhood topped the list.But they where also blocked by a generalized unconcern with what they might have tosay, an unspoken attitude that women didn’t do certain things. To be a foreigner, on theother hand, meant an exemption from the normal ways of doing things. It was a produc-tive cultural alienation, and the other side of alienation is freedom. (Moser 2015a: 18–19)

Gerade die Erfahrung des Fremdseins, des Nicht-Dazugehörens, die ihr in ihremErwachsenenleben so sehr zu schaffen machte, so klingt hier an, befähigte ClariceLispector auch, ihr einzigartiges literarisches Werk auf den Weg zu bringen. Wasbedeutete dieser Status als ,Fremde‘ nun im Detail für Prozesse des Gatekeeping?

2.4 Gatekeeping

Es ist bereits angeklungen, wie stark Rezeptionswellen und auch Phänomeneausbleibender Rezeption in Lispectors Fall offensichtlich mit dem Agieren be-stimmter Figuren einhergingen – Verlegerinnen und Verleger, Übersetzerinnenund Übersetzer, Herausgeberinnen und Herausgeber. Wie lässt sich nun das Po-tential von Akteur/innen und Begegnungen theoretisch fassen, die die Zirkula-tion eines literarischen Werkes wie das Clarice Lispectors befördert haben? Wielässt sich der Einfluss bestimmter Figuren im Netzwerk einer Autorin belegen,die in einem weltliterarischen Sinne relevant sind – oder hätten sein können?Während ein Netzwerk, das um Alfred A. Knopf und Gregory Rabassa in denUSA anlässlich der Publikation von The Apple in the Dark 1967 hätte entstehenkönnen, kein tragendes Potential entfaltete, steht hinter dem internationalenDurchbruch Clarice Lispectors mit den Übersetzungen ihrer Werke in Frank-reich ab 1978 bei Éditions des femmes ein Frauennetzwerk, das ihr Werk nach-haltig und erfolgreich förderte, wenngleich auch teils stark vereinnahmte. Vongrundlegender Bedeutung für die Analyse von Gatekeeping-Prozessen ist WilliamMarling (2016): Gatekeepers: The Emergence of World Literature and the 1960s.Marling analysiert darin den Prozess, in dem das Werk der vier Autoren GabrielGarcía Márquez, Charles Bukowski, Paul Auster und Haruki Murakami zu ,Weltli-teratur‘ wurde. Dabei arbeitet er – aufbauend auf den Theorien insbesonderevon Bourdieu, Randall Collins und David Damrosch –mit sehr umfangreichem

21 Für ihre Bildung hatte Lispectors Vater unter schwierigsten ökonomischen Umständen ge-sorgt, sie hatte wie sehr wenige andere Frauen damals Jura studiert. Vgl. Moser 2013: 111–129.

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Archivmaterial zu den vier Autoren und tritt damit dem Dilemma einer reintheoretischen Weltliteraturdebatte ohne konkrete Materialanalysen entgegen, wenn-gleich auf eine extrem anglozentrische Art, die wiederum theoretisch nichtunproblematisch ist. Nichtsdestotrotz: Einige Fragen zum Prozess der Kanoni-sierung als Weltliteratur lassen sich nur anhand ganz konkreter Materialiendiskutieren, etwa die wichtige Frage: „To what extent does it depend on indi-vidual agency as opposed to a/historic forces?“ (Marling 2016: 3).

An dieser Stelle soll es vorwiegend um die „individual agency“ von gate-keeper-Figuren gehen, die man auch in Lispectors im Vergleich zu jemandemwie García Márquez sicher wenig paradigmatisch gelagertem Fall sehr viel ge-zielter beleuchten kann als es die bisherige Forschung getan hat. Marling fragtanschließend an Damroschs „What is world literature?“: „Who makes world li-terature circulate and how?“ (Marling 2016: 3). Zu Recht verweist Marling aufdie Komplexität dieser Frage und auf die Schwierigkeiten, die Dynamiken litera-rischer oder ökonomischer Systeme, die zeitgleich interagieren, wenn Weltlite-ratur entsteht, überhaupt zu erfassen. Er löst dies, indem er wie Damrosch einestark westliche bzw. US-amerikanische Perspektive einnimmt, mit der Begrün-dung, die angloamerikanische Verlagsindustrie sei entscheidend für die Entste-hung von Weltliteratur und die Datenlage, was Archivmaterial und Statistikenangehe, sei hier herausragend gut (Marling 2016: 4). Er untersucht also das Feldder Weltliteratur mit Fokus USA zwischen 1960 und 2010 und zeigt, wie kultu-relles Kapital entsteht, das dann genutzt wird, um Grenzen zu überwinden.Auch wenn es auf einer theoretischen Ebene nicht weiter an erster Stelle darumgehen kann, ob nun Paris (Pascale Casanova) oder New York (Marling) im Zent-rum der Analyse stehen sollte (vgl. Marling 2016: 6), ist die Analyse von Marlingeine sehr ertragreiche, was bestimmte Aspekte von Weltliteratur-Fragen angeht –eben wegen der Grundlage einer belastbaren Materialbasis.

Marling dokumentiert und interpretiert unter anderem García Márquez’Entwicklung seit den 1960er Jahren im Kontext eines sich globalisierendenBuchmarktes und beleuchtet insbesondere auch seine ästhetische Entwick-lung im Zusammenhang seines Gatekeeper-Netzwerkes, aus dem Marling achtFiguren/Kontexte herausgegriffen hat, unter anderem den Übersetzer Rabassa,der auch Lispector übersetzte, sowie García Márquez’ Freund und Förderer PlinioApuleyo Mendoza. Darüber hinaus finden auch bisher zu wenig beachtete Ein-flüsse wie die von García Márquez’ Agentin Carmen Balcells neu festgelegtenLizenzbedingungen für den globalen Buchmarkt Beachtung – zwar ist die Bezie-hung zwischen García Márquez und Balcells sehr bekannt, aber sie ist zuvor nichteingehender bearbeitet worden, so wie es bei Marling der Fall ist. Festhalten lässtsich, dass Lispector in Bezug auf Rabassa/Knopf/Balcells (von der sie ab Mitte der1970er Jahre vertreten wurde) mit einigen zentralen Figuren zusammenarbeitete,

2.4 Gatekeeping 39

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die in anderen Fällen den Erfolg von lateinamerikanischen Autoren am interna-tionalen Buchmarkt massiv befördert haben. Marling löst sich, auch das istein äußerst wichtiger Punkt, radikal von der Annahme, Prozesse der weltlite-rarischen Selektion seien im Wesentlichen von Vorbedingungen nationallite-rarischer Kontexte abhängig: „Local failure is not limiting and local successguarantees little. Success in World Literature is about gatekeeping“ (Marling2016: 2).

Einige Beobachtungen zu Lispectors Kontakten und Förderern sind in die-sem Kontext von Bedeutung: Zum einen agierten ihre kontinuierlichen Fördererzu Lebzeiten hauptsächlich im brasilianischen, teils auch im argentinischenKontext, der lokale Erfolg nahm auf die internationale Rezeption in mehrerenPhasen wenig Einfluss, was Marlings These bestätigt. Zum anderen waren Be-ziehungen zu Schlüsselfiguren für eine internationale Zirkulation bei ClariceLispector von einer deutlich größeren Distanz zwischen den Akteuren geprägt,als es für die von Marling untersuchten vier Autoren dokumentiert ist. Weiter-hin ist festzuhalten: Die beiden stärksten Beispiele eines vergleichsweise „er-folgreichen“ Gatekeeping, was die Rezeption in den für eine internationaleZirkulation entscheidenden Zentren bzw. den europäischen und US-amerika-nischen Buchmarkt angeht, traten nach Clarice Lispectors vergleichsweise frühemTod auf – nachdem sie im Dezember 1977 mit nicht einmal 57 Jahren gestorbenwar. In den 1970er und 1980er Jahren waren dies in erster Linie Helène Cixous unddas Netzwerk um Éditions des femmes, sowie nach der Jahrtausendwende ihr Bio-graph, Übersetzer und Herausgeber Benjamin Moser. Auch Übersetzerinnenwie Elisabeth Bishop in den USA oder Sarita Brandt in Deutschland könnteman unter diese Förderer fassen – oder die Literaturwissenschaftlerin und Au-torin Claire Varin in Kanada. Gemeinsam haben diese so verschiedenen Perso-nen, dass sie jeweils kaum oder keinen persönlichen Kontakt zu der Autorinunterhielten, dafür eine innige Verbundenheit mit dem Werk bekundet haben.Im Umkehrschluss bedeutet dies, ein weiterer wichtiger Unterschied zu denvon Marling untersuchten Netzwerken: Clarice Lispector hat das Wirken ihrerGatekeeper nicht mehr selbst beeinflussen können.

Die ,doppelte Isolation‘ zu Clarice Lispectors Lebzeiten

Es gab, anders gesagt, unter den entscheidenden Förderern auf internationalerEbene niemanden, der oder die nennenswert viel Zeit mit Lispector verbrachte –anders als etwa bei García Márquez, der beispielsweise mit Plinio Apuleyo Men-doza reiste und eine Zeit des Exils gemeinsam verlebte. Die ,persönlichen Bande‘,die so entstehen, fehlten bei Lispector weitgehend, was sicherlich mit vielen

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Faktoren zu tun hat, sicher aber auch mit den ganz äußerlichen, dass Lispectorzunächst (1946–1959) als Diplomatenfrau die Wege und Stationen ihrer Ausland-saufenthalte nicht selbst bestimmte und diese sich nicht nach ihren literarischenAmbitionen richteten, anders als bei zahlreichen anderen lateinamerikanischenAutoren der Zeit, die sich in Barcelona oder Paris niederließen (vgl. z. B. GarcíaMárquez oder Cortázar). Später, zurückgekehrt nach Rio de Janeiro und getrenntvon ihremMann (1959–1977), lebte Lispector dann als alleinerziehende Mutter zweierKinder, eines davon schwer krank, ein völlig anderes Leben als ihre überwiegendmännlichen brasilianischen Autorenkollegen und die Förderer, die es durchaus gab:1964 beispielsweise, als sich für Clarice Lispector eine große Erleichterung dadurchergab, dass sie erstmals im Verlag ihrer Freunde Fernando Sabino und RubemBraga publizieren konnte und lange Jahre der permanenten Verlagssuche in Brasi-lien endlich beendet waren. Auch Érico Verissimo und Lucio Cardoso waren ent-scheidende Förderer, die Liste ließe sich lang fortschreiben. Starke Förderer hatteClarice Lispector aber vor allem auf nationaler Ebene in Brasilien, teilweise auchim spanischsprachigen Lateinamerika.

Es entstand eine doppelte, gewissermaßen über Kreuz liegende Isolation:Zum einen eine (teilweise selbst bestimmte) Isolation der Autorin zu ihren

Lebzeiten im internationalen Kontext: Was Gatekeeping-Beziehungen auf inter-nationaler bzw. auf den westlichen europäischen und US-amerikanischen Lite-raturbetrieb bezogener Ebene angeht, war Clarice Lispector wenig vernetzt unddabei vor allem auch wenig nachhaltig vernetzt. In manchen Fällen muss dieZusammenarbeit mit ihr schwierig und kraftraubend gewesen sein, man denkeetwa an ihr unzuverlässiges Verhalten gegenüber der Autorin Elisabeth Bi-shop, die einige Erzählungen ins Englische übersetzte und ein hilfreicher Kon-takt für sie hätte sein können – der Autor Colm Tóibín berichtet davon inseinem Vorwort zu der US-amerikanischen Neu-Übersetzung von The Hour ofthe Star (Tóibín 2011: viii).

Zum anderen entstand eine von Kritikern beförderte Isolation ihres Werkesim brasilianischen Kontext, sodass sie früh und ohne Bezüge innerhalb derNationalliteratur allein auf weltliterarischer Ebene verortet wurde. Dies stand ingewissem Kontrast zu ihrer Vernetztheit in der Welt der brasilianischen Kunst-und Literaturszene, gerade auch nach ihrer Rückkehr nach Brasilien 1959.

Was bedeutet nun diese Konstellation: wenig Kontakte auf internationalerEbene bei gleichzeitig fehlender Einordnung in die brasilianische Literatur? Wasbedeutet, um es konkreter zu fassen, Gatekeeping im Hinblick auf bei LispectorsGatekeepern immer wieder auftretende Tendenzen der vermeintlichen ,Vervoll-ständigung‘ und der Vereinnahmung von Clarice Lispectors Werk, gerade wenndieses Werk nur in Übersetzungen rezipiert werden konnte? Auch hier ist derBezug zu Marling interessant: Die Arbeit von Marling skizziert anhand von

2.4 Gatekeeping 41

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Materialien, wie verschiedene Gatekeeper García Márquez zu einer einzigar-tigen Ästhetik verholfen haben und wie er gewissermaßen als Teil eines Netz-werkes zu einer Gründungsfigur der Weltliteratur im 20. Jahrhundert wurde.Gatekeeping- Prozesse können auch literarische Ästhetik betreffen, das zeigtdas Beispiel deutlich.22 Es ist natürlich immer und für jeden Autor, jede Autorineine sehr interessante und oft auch schwer zu beantwortende Frage, wie dieseAspekte zusammenhängen. Während Marling für García Márquez beschreibt, wieGatekeeper die Ästhetik des späteren Nobelpreisträgers entscheidend mitgeprägthaben, ist der interessante Punkt bei Clarice Lispector eher im postumen Gesche-hen verankert: Es gab offenbar eine Tendenz, ihre literarische Arbeit ,vervollstän-digen‘ zu wollen, das heißt, die Rolle der Übersetzer/innen, Rezeptor/innen undKritiker/innen ging über das Vermittelnde in mehreren Fällen weit hinaus. Dashat zu starken Verfälschungsaspekten geführt, wie insbesondere das viel dis-kutierte, französische Beispiel der Rezeption durch Hélène Cixous gezeigt hat.Russotto schreibt zu diesem Thema ganz allgemein: „Apropiación, recodifica-ción, vampirización incesante del texto clariciano, es lo que parece evidenciarseen buena parte de la recepción crítica” (Russotto 2013: 33). Russotto thematisiertdarüber hinaus die starke emotionale Bindung vieler Kritiker/innen, Wissenschaft-ler/innen und Förderer an Lispectors Werk:

Creo que existe una comunidad de obsesivos clariceanos y clariceanas como yo, dispersapor el mundo, que en ciertos momentos de su vida piensa ardientemente en Clarice comoen una „cosa“ propia; en un idiolecto que nos da un cierto „aire de familia“. ¿Estudiar estaobra nos hará diferentes? ¿Nos habrá cambiado por efectos del ensimismamiento que pro-duce? ¿Seremos, como ella, carcomidos internamente por la misma búsqueda, y por nues-tros vacíos, placeres, abandonos? Tal vez seamos víctimas del “efecto boomerang”, otranotable consecuencia para la crítica cuando dirige sus baterías al texto clariceano y laspreguntas le son devueltas con poder mortífero y recrecido, cuestionando el mismo acto delectura. […] Tal vez detenernos en sus páginas nos ha educado en un “estilo” singular y unmodo de hacer crítica diferente: pasión, tolerancia, independencia de códigos limitantes yterminología marcada, y felicidad al emprender la propia búsqueda sobre todo.

(Russotto 2013: 37–38)

Das Zitat zeigt einige Parallelen dieser Lektüre-Erfahrung mit der persönlichenzwischenmenschlichen Begegnung und Auseinandersetzung, wie sie Gatekeeper-Beziehungen oft prägt. In Marlings Darstellung von García Màrquez’ Gatekeeper-Kontakten spielt ein Aspekt der Nähe eine wesentliche Rolle, ein Charakteristikumin der Beziehung, das es möglich macht, dass Krisen überwunden werden können,

22 Allerdings ist Marlings Darstellung zu dem Einfluss verschiedener Gatekeeper auf GarcíaMárquez’ ästhetische Entwicklung in einigen Aspekten nicht überprüfbar, was die Stärke sei-nes Arguments etwas schmälert.

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ohne dass der Kontakt nachhaltig gestört wird. Dies beinhaltet gleichzeitig einenAspekt des nicht Zweckmäßigen, nicht rein Materialistischen, nicht allein am eige-nen Profit gemessenen. Deutlich wird bei Russotto darüber hinaus eine hohe Inten-sität der Bedürfnisse, die mit Lektüreerfahrungen verbunden sein können: Es gehtum Identität, um Identifikation auch, um Aneignung, um die Suche nach einemureigenen persönlichen Stil, um die Integration von Ängsten und Fragen und diedamit verbundene Abkehr von Fremdbestimmtheit. All dies macht sicherlich einenHintergrund für das ,postume Gatekeeper-Potential‘ bei Clarice Lispector aus.

Bei Lúcia Peixoto Cherem (2013) findet sich ein Kapitel mit der Überschrift:„Leitura de Clarice Lispector na França e no Brasil: Uma leitura de identificaçãomáxima?“. Diese starke Identifikation hat es zweifellos gegeben, aber es fälltauch auf, dass Kritiker solcher Positionen, wie Claire Varin in Kanada, die etwaHélène Cixous’ Haltung kritisiert und ein Stück weit korrigiert hat, ein ungewöhn-lich emotionales Verhältnis zu Lispectors Literatur haben. Clarice Lispectorsbrasilianischer Zeitgenosse Guimarães Rosa hat ein Zitat geprägt, das sie selbstnachweislich sehr mochte, weil sie ihren literarischen Ansatz darin verstandenfand, und das auch in diesem Kontext der emotional aufgeladenen Rezeptionwegweisend sein mag. Er schrieb ihr: „Clarice, eu não leio você para a literatura,mas para a vida“ (Montero 1999: 231). Diese emotionale, lebensbezogene Ebenein der Rezeption, die dann postum relativ starke Gatekeeper hervorgebracht hat,stark, was die kontinuierliche Bindung an ein Werk und Förderung auch überKrisenmomente und Verkaufsschwierigkeiten hinweg betrifft, hat Peixoto Cheremin Bezug auf Claire Varins Positionierung sehr pointiert herausgearbeitet. InBezug auf Claire Varins wertvolle, kritische Relativierung der Position von Cixousund ihren Hinweis auf die Gefahren von identifikatorischer Rezeption schreibtPeixoto Cherem:

Claire Varin nos mostra que foi necessário precaver-se dessa identificação que poderiacontaminar, e assim, prejudicar seu trabalho. Ao mesmo tempo, percebe que o texto deClarice Lispector exige um tratamento diferenciado. Não acredita que os moldes da críticatradicional possam dar conta dos mistérios presentes nos textos da autora brasileira, que,segundo Claire, desconcerta. Suas imagens, sua sintaxe são estranhas.

(Peixoto Cherem 2013: 36)

Varin schreibt zur Rezeption Lispectors weiterhin: „ou se entra em contato conela ou não se entra“ (Varin 1995: 17). Peixoto Cherem versucht dies als einenRezeptionsaspekt des „Telepathischen“ genauer zu greifen. Was zunächst eso-terisch klingen mag, hat im Kontext der Lispector-Rezeption durchaus erhellen-den, präzisierenden Charakter. Lispector selbst hatte Olga Borelli gegenübereinmal ihre Haltung zu ihren Kritikerinnen und Kritikern wie folgt kommentiert:„Eu não entendo o que eles falam, mas lamento esse falso vanguardismo,

2.4 Gatekeeping 43

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cheio de modismos, frio, calculista, pouco humano. A melhor crítica é aquelaque entra em contato com a obra do autor quase telepaticamente” (Borelli1988: xxiii). Begreift man „Telepathie“ im Sinne der Wortschöpfung von Fre-deric W. H. Myers aus dem Jahr 1882, dann geht es um eine Bezeichnung fürdie Fähigkeit, Gedanken, Antriebe, Empfindungen oder Gefühle über eineräumliche Distanz hinweg von sich auf eine andere Person oder von eineranderen Person auf sich zu übertragen. Man beobachtet diese im Telepathie-Begriff anklingende, intime Nähe zwischen Text und Rezipient/in – oder dievöllige Abwesenheit von Nähe, dieses entweder/oder, in Kommentaren zuLispectors Werk immer wieder, auch in der Abgrenzung zu ihren Texten: Esist dann oftmals eine gänzliche Ablehnung, ein Unverständnis, als sei kei-nerlei Zugang möglich. Das Bild der „Kontaktlosigkeit“ passt dazu durchaus.Die Autorin selbst hat diese Erfahrung, dass es bestimmte Bedingungen braucht,damit ihre Literatur verstanden werden kann, einmal in einer Widmung aufge-griffen. In ihrem Roman Die Passion nach G.H., den sie als besonders zentral fürihr Oeuvre empfand (Maura 2014: 59), wendet sie sich „A possíveis leitores“, „Anmögliche Leser“:

Êste livro é como um livro qualquer. Mas eu ficaria contente se fôsse lido apenas por pess-oas de alma já formada. Aquelas que sabem que a aproximação, do que quer que seja, sefaz gradualmente e penosamente – atravessando inclusive o oposto daquilo de que se vaiaproximar. Aqueles pessoas que, só elas, entenderão bem devagar que êste livro nada tirade ninguém. A mim, por exemplo, o personagem G.H. foi dando pouco a pouco uma ale-gria difícil; mas chama-se alegria. C.L. (Lispector 1964: 5)

Sarita Brandt übersetzt dies für die deutsche Suhrkamp-Ausgabe so:

Dieses Buch ist wie jedes andere auch. Trotzdem würde ich mich freuen, wenn es nur vondenen gelesen würde, deren Seele bereits geformt ist. Von denen, die wissen, dass die An-näherung an etwas – was immer es auch sein möge – sich Schritt für Schritt und auf stei-nigem Weg vollzieht, indem man selbst das Gegenteil dessen durchlebt, dem man sichannähert. Von denen allein, die nach und nach verstehen werden, daß dieses Buch nie-mandem etwas wegnimmt. Mir zum Beispiel gab die Figur G.H. allmählich eine schwierigeFreude; aber dennoch eine Freude. (Lispector 1990: 5)

Hier ist vieles bereits angelegt: insbesondere der Hinweis, dass es Zeit braucht,sich einen Text von Clarice Lispector anzueignen, weiterhin auch, dass es dabeidarum geht, sich regelrecht auf diese Erfahrung einzulassen und nicht zuletzt,dass nur bestimmte Leserinnen und Leser für diese Erfahrung geeignet seinwerden.

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2.5 Clarice Lispectors Werk weltweit

Um die für die folgenden Kapitel getroffene Auswahl von Sprachen und Über-setzungen einschätzbar zu machen, mag ein kurzer Überblick über ClariceLispectors Werk in den verschiedenen Sprachräumen hilfreich sein. Laut Indextranslationum der Unesco, der Übersetzungen ab 1979 verzeichnet, sind dieSprachen, in die Lispector am häufigsten übersetzt wurde (in der dargestelltenReihenfolge): Spanisch, Französisch, Englisch, Deutsch und Italienisch. EineDurchsicht aller erschienenen Übersetzungen vor 1979 – vergleichsweise sehrviel weniger Titel – ändert an diesem Verhältnis nichts. Im spanischsprachigenRaum ist Lispectors Werk zunächst ausschließlich in Lateinamerika erschienen,vor allem in Argentinien und Kolumbien, bevor nach dem Ende der Franco-Diktatur in den 1980er Jahren dann spanische Verlage dazukamen. Die wichtigstenargentinischen Verlage in den 1970er Jahren sind Sudamericana in Buenos Aires(hier erschienen allein zwischen 1973 und 1977 vier Lispector-Monographien),sowie Corregidor und Santiago Rueda. A paixão segundo G.H. erschien 1979 inspanischer Übersetzung zunächst in Caracas (Monte Avila). 1977 hatte erstmalsein Verlag mit Sitz in Spanien eine Lispector-Übersetzung gebracht (Alfaguara) –den Debutroman Perto do coração selvagem. Die Rezeption Clarice Lispectors au-ßerhalb Lateinamerikas erfolgte im Wesentlichen nach ihrem Tod im Dezember1977. Ab den späten 1980er Jahren erschienen eine ganze Reihe von Lispector-Titeln recht kontinuierlich bei Siruela in Madrid, wo zuletzt anlässlich ihres 100.Geburtstages im Jahr 2020 eine ganze Reihe ihrer Titel im Rahmen einer „Biblio-teca Clarice Lispector“ neu aufgelegt wurden. Sehr wesentlich für die Rezeptionin der gesamten westlichen Welt war die Publikation ihres Werkes durch denfranzösischen Verlag Éditions des femmes ab 1978, durch den ihr Werk erstmalsbreiter zirkulierte, nachdem die frühere Übersetzung eines Romans für die re-nommierten Verlage Alfred A. Knopf (USA) und Gallimard (Frankreich) 1967 bzw.1970 nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte. Für die französischen, eng-lischsprachigen und deutschen Verlage, die das Werk Clarice Lispectors publi-ziert haben, finden sich in diesem Band jeweils detaillierte, mit Kommentarenversehene Übersichten, weshalb hier nicht im Detail darauf eingegangen wird. Inmehreren Sprachräumen hat sich die Rezeption Clarice Lispectors in ausgepägtenWellen abgespielt, in Deutschland beispielsweise wurde ihr Werk phasenweisevon den beiden Verlagen Suhrkamp und Rowohlt verlegt, um dann mit demEnde der 1990er Jahre wieder vollständig (und für viele Jahre) vergriffen zu sein.Der wichtigste Verlag, der Lispector in Italien vertrat, war Feltrinelli, wenn auch

2.5 Clarice Lispectors Werk weltweit 45

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mit sehr viel weniger Texten.23 Die meisten italienischen Lispector-Ausgaben er-schienen zwischen 1986 und 2003.

Neben den oben genannten Sprachen erschienen auch in nordeuropäischenLändern seit den 1980er Jahren einige Lispector-Texte (in dieser Reihenfolge, wasdie Zahl der Übersetzungen ihres literarischen Werkes angeht): in Schweden, denNiederlanden, Finnland, Dänemark und Norwegen. Zwei Bände Lispectors (A pai-xão segundo G.H. und Erzählungen) wurden bereits 1984 – ungewöhnlicherweise –ins Japanische übersetzt.

Weiterhin erschienen vereinzelte Texte auf Hebräisch, Tschechisch (aufTschechisch u. a. im Vergleich mit anderen Sprachen 1973 recht früh das DebutLispectors) und Polnisch. In der Zeit seit 2009, als Lispector auf dem US-amerika-nischen Buchmarkt neue Aufmerksamkeit zuteil wurde, kommen wieder Sprachenhinzu, in die zuvor noch nicht übersetzt worden war: etwa Griechisch, Kroatischund Chinesisch. Im Jahr 2020, als Clarice Lispectors Geburtstag sich zum 100. Maljährte, erschienen in verschiedenen Ländern zudem Jubiläumsausgaben bereitspublizierter Werke.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die vorliegenden Übersetzungen lasseneine Perspektive auf Übersetzungs-Dynamiken hinsichtlich von Süd-Süd-Ach-sen, wie sie im Zuge der Kritik an eurozentrischen Modellen der Weltliteraturbe-trachtung in den vergangenen Jahren verstärkt eingefordert worden sind, nichtzu. Es wäre in diesem Fall durch die Materiallage bedingt schlicht nicht mög-lich, hier zu fundierten Ergebnissen zu kommen, wobei abzuwarten bleibt, obnach der Erfolgswelle in den USA und der Verleihung des PEN Translator Prize2016 für die Übersetzung der gesammelten Erzählungen von Clarice Lispectoran die amerikanische Übersetzerin Katrina Dodson zum Beispiel in China in ei-nigen Jahren genügend Übersetzungen vorliegen werden, um die hier vorge-nommene Forschung um diese Dimension erweitern zu können.24

23 Lieferbar sind 10 Titel (Recherche am 26.11.2017).24 Zu den aktuellen Entwicklungen im chinesischen Verlagswesen ist die Arbeit von YehuaChen (2020) sehr aufschlussreich. Nach Auskunft von Frau Chen, für die ich mich herzlich be-danke, liegen im Chinesischen folgende Ausgaben vor (Zeitpunkt der Anfrage 18.12.2019): 2016erschien eine Übersetzung des Erzählungsbandes Felicidade clandestina:《隐秘的幸福》(Yinmide xingfu) in der Übersetzung von Min Xuefei im Verlag Shanghai 99 Readers/Shanghai Litera-ture and Art Publishing House. Eine Neuausgabe erschien 2018 bei People’s Literature Publi-shing House. Bereits 2013 hatte Min Xuefei A hora da estrela für Shanghai 99 Readers übersetzt,ebenfalls in Reaktion auf den Erfolg in der englischsprachigen Welt:《星辰时刻》(Xingchenshike, Neuausgabe 2019: People’s Literature Publishing House).

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